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Frau von der Recke in Berlin 1814 – 1816 | 1 |
Wiener Kongreß. Belle-Alliance 1815 | 27 |
Körners in Berlin 1814 | 47 |
Kunstsachen bei Kohlrausch 1815 | 60 |
Musik. Schauspiel. Geselligkeit | 80 |
August in unserm Hause. Curschmann. Religiöse Gespräche. Einsegnung. Bloch. Meines Vaters Unfall 1815 | 146 |
Lilli und Klein 1818 | 183 |
Universitätszeit in Berlin 1818. 1819 | 203 |
Dienstjahr bei den Pioniren 1818. 1819 | 240 |
Litteratur und Kunst 1819 | 269 |
Reise nach Dresden 1819 | 283 |
Heidelberg 1819. 1820 | 305 |
München 1820 | 343 |
Baden 1820 | 378 |
Löbichau. Berlin. Baireuth 1820 | 387 |
Paris. Lyon. London 1820. 1821 | 412 |
Tante Jettchen hatte uns aus Nachod die Kunde mitgebracht, daß Frau von der Recke, nachdem sie in Karlsbad den Sprudel getrunken, im Herbste 1814 wie gewöhnlich nach Berlin kommen werde. Ihre frühere Wohnung an der Neuen Promenade war nicht zu haben, und es traf sich sehr glücklich, daß die Wohnung im zweiten Stocke unseres Hauses um diese Zeit frei wurde. Wir konnten also die verehrte Frau für den Winter bei uns aufnehmen, und sie war ihrerseits nicht weniger damit zufrieden, in dem wohlbekannten Hause ihres „ unvergeßlichen Freundes Nicolai “sich niederlassen zu können.
Dieser Zeit werde ich stets mit Freude und Dankbarkeit gedenken. Die Persönlichkeit jener einzigen Frau hatte, wenn man sich ihr ganz hingab, etwas erhebendes; man fühlte sich in ihrer Gegenwart vornehm, es würde niemandem eingefallen sein, vor ihr etwas ungehöriges oder gemeines zu sagen. Alle übrigen Betrachtungen traten vor dieser einen Thatsache in den Hintergrund. Uns jüngeren Leuten, die wir für Göthe schwärmten, war freilich ihre Vorliebe für Tiedges Urania unerklärlich, doch ehrten wir ihren Geschmack, selbst nachdem wir mehrmals, gleich -2 sam wettlaufend, vergeblich angesetzt hatten, die Urania ganz durchzulesen. Göthe sagt darüber: er halte es für überflüssig, das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit zu beweisen, da man so viel anderes nothwendigeres auf der Welt zu thun habe.
Der große Erfolg, den die Urania am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland erlangte, beruht hauptsächlich auf der Harmonie der Klänge, der nicht leicht ein empfängliches Ohr sich verschließen kann, auf dem Wohllaute des rhythmischen Ganges und dem durchweg musikalischen Baue der Verse. Dies fühlte der Musiker Zelter deutlich genug, als er an Göthe schrieb: Wie eine solche Gedankenarmuth manchmal zu einem schönen Verse kömmt!
Frau von der Recke hatte Tiedgen in Halle kennen gelernt, als sie im Jahre 1804 ihrer Gesundheit wegen nach den Bädern von Ischia gehn wollte. Tiedge schloß sich dieser Reise an, und seitdem lebten die beiden Seelenverwandten in unzertrennlicher Freundschaft, ohne daß jemals der leiseste Verdacht einer unlauteren Verbindung an Elisas sittliche Höhe hinanreichen konnte. Tiedges Urania hatte gleich bei ihrem ersten Erscheinen an Frau von der Recke die unbedingteste Verehrerin gefunden. Sie hielt dies Gedicht für die vollkommenste Schöpfung der deutschen Poesie, sie besaß es in verschiedenen Ausgaben und in mehreren Exemplaren. Sie ward nicht müde, dasselbe mit immer neuem Genusse durchzulesen. So wie andre fromme Seelen zur Erbauung in der Bibel oder im Gesangbuche lesen, so begann sie morgens ihr Tagewerk mit einem Gesange aus der Urania. Ich sah später in Heidelberg bei ihrem Neffen, dem Grafen Paul von Medem3 (zuletzt russischem Gesandten in Wien) ein Exemplar der Urania, das sie ihm als höchstes Zeichen ihrer Liebe geschenkt. Man bemerkte darin, wie sie angefangen hatte, die schönsten Stellen mit Tinte zu unterstreichen, und wie nach und nach das ganze kleine Maroquin-Bändchen zu dieser Ehre gelangt war. Bei einer ferneren Lesung wurde eine Menge der ausgesuchtesten Stellen, gewiß ein Drittel des Buches, doppelt unterliniirt, und einige ganz überschwängliche Verse zeigten sogar eine dritte Potenz des Lobes. Ein Freund von mir machte es als einen negativen Vorzug der Urania geltend, daß ihre Lesung durchaus nicht aufregend sei. Nach einem heftigen Nervenfieber konnte er in der langen Reconvalescenz gar keine kräftige geistige Nahrung vertragen. Wenn man ihm aus Göthe oder Schiller vorlas, so fing er an zu weinen, und bekam Nervenzufälle; nur aus der Urania konnte er stundenlang vorlesen hören, ohne daß es ihm etwas schadete.
Als wir bei dem ersten Besuche mit meinen Aeltern die bequem und prächtig eingerichteten Zimmer Elisas betraten, fielen meine Blicke sogleich auf die großen und kleinen Oelbilder, die alle Wände bedeckten. Es waren darunter trefliche Bildnisse der kurländischen Verwandten von Graffs Meisterhand, ferner Brustbilder von Klopstock, Gleim, Wieland, die wir nach den Kupferstichen in des Grosvaters Nicolai Stube erkannten, ein Kniestück der Herzogin von Kurland in leuchtender Farbe von Gerard in Paris. Der Schreibtisch war ein Muster eleganter und sorgfältiger Ausstattung, bedeckt mit allen kleinen Zierlichkeiten einer vornehmen Existenz.
Mit herzgewinnender Freundlichkeit und mit jenem seelenvollen Organe, das die Frauen in Kurland und4 Preußen auszeichnet, hieß Frau von der Recke uns willkommen, und fragte zuerst nach Fritzens und nach Lillis Alter. Als die Reihe an mich kam, sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit: Dein Alter, mein lieber Gustav, kann ich nicht vergessen: denn du bist so alt wie meine Kopfwunde! Hierbei deutete sie mit der schöngeformten Hand auf eine tiefe Narbe, die an ihrer rechten Schläfe unter der weißen Kantenhaube sichtbar war, aber ihr edles Gesicht gar nicht entstellte.
Damit hatte es folgende Bewandniß. Sie machte mit ihrer Schwester, der Herzogin von Kurland, eine Spazierfahrt in einem Vierspänner mit zwei Vorreitern. Beim Nachhausefahren wollte der erste Vorreiter sich in seiner neuen Uniform vor dem Fenster seiner Geliebten zeigen. Er warf, ohne seinem Kameraden einen Wink zu geben, im schnellsten Trabe die beiden Vorderpferde herum, und alsbald stürzte der Wagen in einen tiefen Graben. Die Herzogin kam ohne bedeutende Verletzungen davon, aber bei Frau von der Recke drückte sich ein schweres goldnes Medaillon mit dem Bildnisse der Kaiserin Katharina II., das sie am Halse trug, tief in die Schläfe ein, und brachte ihr eine lebensgefährliche Wunde bei, an der sie viele Wochen zu leiden hatte. Dies geschah in Löbichau, dem Landgute der Herzogin, gerade an meinem Geburtstage, am 27. Okt 1798.
Vor Tiedge, als einem berühmten deutschen Dichter, empfand ich von vorn herein eine große Verehrung. Es hatte sich schon, als er in Nachod wohnte eine freundliche Beziehung zu ihm angeknüpft. Tante Jettchen rühmte ihm meinen Fleiß im lateinischen, und darauf schrieb er mir einen gut stylisirten lateinischen Brief, den ich noch5 unter meinen Papieren aufbewahre. Er beschreibt darin die einsame Lage des hohen Schlosses in den schneebedeckten Bergen, und verspottet die verkehrte Einrichtung der östreichischen Maut. Dieser Brief machte mir die gröste Freude, aber auch nicht geringe Noth, als mein Vater mir erklärte, daß ich nun auch lateinisch antworten müsse. Dies sah ich selbst wohl ein, aber Form und Inhalt verursachten mir die gröste Schwierigkeit. Endlich kam denn doch mit Hülfe meines lateinischen Sprachlehrers eine leidliche Antwort zu Stande.
Auch mit meiner Schwester stand Tiedge im Briefwechsel. Tante Jettchen hatte ihm manches aus ihren originellen, und an drolligen Wendungen reichen Briefen mitgetheilt. Er ließ meiner Schwester sagen, sie möge ihm doch auch einmal schreiben, sie entschuldigte sich bei der Tante damit, daß der Anfang ihr so schwer werde. Darauf sandte ihr Tiedge eine allerliebste Elpistel in Versen, worin er auf diese Wendung einging, und ihr mit vielem Humor sagte, wenn der Anfang ihr zu schwer werde, so möge sie ihn nur weglassen, und ihm einen Brief ohne Anfang schicken.
Bei so vielen freundlichen Beziehungen konnte es nicht fehlen, daß der Aufenthalt der Frau von der Recke in unserm Hause uns alle mit Behagen erfüllte. Sie empfing alle Abend ihre Freunde bei einer Tasse Thee. Obgleich die Unterredung mit ihr sich in einem engen Kreise bewegte, so überströmte doch der Glanz ihrer Persönlichkeit alle ihr näher tretenden mit einer wohlthätigen Wärme. In ihren klaren blauen Augen lag eine unbewußte Hoheit, vor der jedermann unwillkührlich sich beugte. Die unbeschreibliche Gutmüthigkeit ihrer reinen Seele leuchtete6 aus jedem ihrer Worte hervor. Sehr oft habe ich tadelnde Aeußeungen über Personen, aber niemals ein liebloses Urtheil von ihr gehört.
Es ist mir oft so vorgekommen, als ob Göthe bei der Darstellung der Macaria in Meisters Wanderjahren an Frau von der Recke gedacht. Wie hoch er die edle Elisa persönlich verehrt, davon zeugt ein Brief an sie aus dem Jahre 1811, der zuerst in dem Kataloge der Göthe-Ausstellung in Berlin 1861 p. 84 bekannt gemacht wurde, und den ich hier noch einmal mittheilen will.
„ Weimar, den 8. Nov. 1811. Sie haben mir, verehrte Freundin, seit meinen Jünglingsjahren so viel Gunst und Freundschaft erwiesen, daß ich wohl hoffen darf, Sie werden auch diesmal den Knaben gütig aufnehmen. Beschauen Sie die in diesem Bändchen (‹ Aus meinem Leben ›) aufgeführte Bilderreihe mit nachsichtiger Aufmerksamkeit, und sagen mir ein treues Wort, wie sie Ihnen erscheint und was Sie von der Folge erwarten und hoffen.
Seit manchen Jahren bin ich Zeuge der schönen Wirkungen, die Ihnen das Vaterland zu verdanken hat, und ich muß mir im voraus die Erlaubniß erbitten, davon zu seiner Zeit nach meiner Ueberzeugung sprechen zu dürfen.
Bey so viel unerläßlichen Widerwärtigkeiten, die der Mensch zu erdulden hat, bei unvermeidlicher Spannung und Widerstreit, macht er sich oft ganz willkührlich ein Geschäft sich von andern abzusondern, andre von andern zu trennen. Diesem Uebel zu begegnen haben die vorsehenden Gottheiten solche Wesen geschaffen, welche durch eine glückliche Vermittlung dasjenige was sich ihnen nähert7 zu vereinigen, Misverständnisse aufzuheben, und einen friedlichen Zustand in der Gesellschaft herzustellen wissen. Sagte ich nun: Sie, verehrte Freundin, gehören zu diesen; so würde ich viel zu wenig sagen. Denn auf meinem Lebenswege ist mir niemand begegnet, dem jene Grabe mehr wäre verliehen worden als Ihnen, oder der einen so anhaltenden, so schönen Gebrauch von derselben gemacht hätte.
Auch ich und die Meinigen haben davon vergangenen Sommer die wünschenswerthesten Wirkungen erfahren. Meine Frau, die sich Ihnen angelegentlichst empfiehlt, ist noch immer durchdrungen und bewegt von Ihrer Güte, und in unsrem kleinen Familienkreise wird Ihr Andenken als eines wohlthätigen Genius verehrt. Möge uns das Glück beschert seyn Ihnen, Verehrte, wieder an der heilsamen Quelle zu begegnen, und uns von Ihrem Wohlbefinden gegenwärtig zu überzeugen.
Möchten Sie uns gelegentlich Ihrer unvergleichlichen fürstlichen Schwester, Ihren liebenswürdigen Nichten, namentlich der Fürstin von Hohenzollern, auf das dringendste empfehlen, nicht weniger uns in das Andenken des Hr. Tiedge zurückrufen, so würden Sie uns aufs Neue und wiederholt verpflichten. Erlauben Sie, daß ich nun schließe und mich verehrend unterzeichne Göthe. “
Selten verging eine Woche, ohne daß wir einen oder ein paar Abende oben bei Frau von der Recke zubrachten, gewöhnlich gingen wir um die Theestunde erst zu Tiedge, in dessen matterleuchtetem Zimmer es an einer belebten litterarischen oder politischen Unterhaltung niemals fehlte. Tiedge war in der poetischen Litteratur gut bewandert,8 und machte mich auf manches Werk aufmerksam, das ich alsbald aus des Grosvaters Bibliothek hervorsuchte, um es kennen zu lernen. Gern erzählte er von seinem früheren Aufenthalte in Halberstadt bei Gleim, dessen patriotische Grenadirlieder aus dem siebenjährigen Kriege uns schon in eine gewisse mythische Ferne gerückt waren. Die eben erschienenen „ Geharnischten Sonette “von Rückert übten begreiflicher Weise, als aus der nächsten Vergangenheit hervorgewachsen, einen weit größeren Reiz, und wurden neben Theodor Körners Leyer und Schwert eifrig gelesen. Gleims anerkannte Gutherzigkeit und Wohlthätigkeit wußte Tiedge nicht genug zu rühmen; gegen jüngere Talente sei er im Ganzen nachsichtig und duldsam gewesen, nur eines habe ihn in Zom versetzt, wenn jemand die religiösen oder moralischen Wahrheiten in Zweifel ziehn oder unsicher machen wollte. Tiedge bat einst um die Vergünstigung, ihm den Anfang seines didaktisch-religiösen Gedichtes Urania, dessen Plan er schon als Student in Halle gefaßt, vorlesen zu dürfen. Die erste Strophe lautete:
Was ist Wahrheit? Weilt sie noch auf Erden?
Oder kann die Lichtgeborne nur
Jenseits dieses Sterns gefunden werden?
Wo erscheint der Himmelstochter Spur?
Hier wurde er schon von Gleim unterbrochen: Ja, da haben wir’s – alles unsicher machen – alles mit Zweifeln benagen – warum soll Wahrheit nicht auf Erden gefunden werden? So ging es eine ganze Weile fort, ehe der erschrockne Dichter zu Worte kommen, und dem erzürnten Kritiker versichern konnte, er werde die beanstandete Strophe mit den vielen Fragezeichen zurückziehn9 und hoffe sie einmal wo anders anwenden zu können. Der Friede war bald geschlossen, und die Vorlesung nahm ihren ungestörten Fortgang. Es ist mir jetzt selbst verwunderlich, daß ich jenen nur einmal gehörten Vers behalten, da ich aber die Anekdote manchen Freunden öfter wiederholte, so blieb die Strophe, der ein voller melodischer Fluß nicht abzusprechen ist, unwillkührlich haften.
Tiedge hatte Jurisprudenz studirt, seine Examina gemacht, und bei einem Gerichtshofe als Beisitzer gearbeitet. Als solcher erhielt er die Aufgabe, einen angeklagten Kriminalverbrecher zu vertheidigen. Dies schien ihm anfangs ganz unmöglich, weil er sich aus den Akten von der Schuld des Delinquenten überzeugt hatte. Einige Zeit war er in der grösten Bedrängniß, allein die Arbeit mußte doch gemacht werden. Er erhielt eine Unterredung mit dem Angeklagten, faßte einige Aeußerungen desselben mehr von der poetischen, als von der juristischen Seite auf, dachte sich die That mit allen mildernden Umständen, und entwarf die Vertheidigung mit einer solchen Wärme der Darstellung und in einem so blühenden Style, daß er zu seiner eignen Verwunderung das höchste Lob des Gerichtshofes ärndtete, und seinen Delinquenten mit der leichtesten Strafe durchbrachte.
Später erhielt Tiedge auf Gleims Verwendung die Stelle eines Kanonikus am Domkapitel zu Halberstadt, und konnte nun in einer sorgenfreien Existenz sich seiner Neigung zur Dichtkunst ganz hingeben.
Mit dem fruchtbaren, einst viel gelesenen Romanenschreiber Lafontaine in Halle stand Tiedge in genauster Freundschaft. Lafontaine bearbeitete am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn die bürgerlichen Familien -10 geschichten in so geschickter Weise, daß sie beim großen Publikum vielen Beifall fanden. Die pure Unschuld der Heldinnen, den übermäßigen Edelmuth der Helden, den thränenreichen Kampf zwischen Pflicht und Liebe wußte er auf anziehende Weise in dem bestimmten Umfange von drei Bänden darzustellen. Aber seine Charaktere entbehren der tieferen psychologischen Begründung und seine Situationen der fesselnden Kraft. Sehr bald verließ ihn die Erfindungsgabe so gänzlich, daß er immer dieselben Motive wiederholte. Indessen fehlte es manchen seiner Schriften nicht an innerer Wahrheit. In dem Romane: Saint Julien beschreibt er die Schicksale einer reichen Pariser Familie, die während der ersten französischen Revolution vom Strudel des Unglücks erfaßt, eingekerkert, mit der Guillotine bedroht, ihres Vermögens beraubt, zuletzt nach Deutschland in den dürftigsten Umständen gerettet wird. Diese erfundene tragische Geschichte wurde von vielen Lesern für wahr gehalten, und Lafontaine als Herausgeber erhielt von mehreren Seiten, von ungenannten und genannten Personen nicht unbeträchtliche Geldsendungen zur Unterstützung der armen Familie Saint Julien.
In seinen späteren Jahren wurde Lafontaine sehr korpulent, und schrieb seine Romane nur noch mechanisch ohne vieles Nachdenken. Einst traf Tiedge den dicken Mann in Hemdsärmeln an seinem Schreibtische sitzend und unter strömenden Thränen an einem Manuscripte arbeitend. Worüber weinst du? – Ueber das namenlose Unglück der beiden Liebenden in meinem Romane. – So gieb sie doch zusammen. – Ach, das kann ja vor dem Ende des dritten Bandes nicht geschehn!
Bei näherem Umgange konnte ich bald bemerken, daß11 Tiedge auf meinen Heros Goethe nicht gut zu sprechen war. Es ließen sich auch kaum entgegengesetztere Richtungen denken, als Tiedges unbestimmte, marklose Gefühlsverschwommenheit und Göthes großartige, sichere Plastik. Ich fühlte wohl, daß auf eine Discussion gar nicht einzugehn sei; aber es war mir interessant, Göthen, den der Kreis der jüngeren Freunde auf den Schild des Ruhmes erhob, von einem ihm gleichaltrigen Genossen tadeln zu hören. Das Gute und Große in Göthes Werken, das Tiedge doch nicht wegleugnen konnte, ward als selbstverständlich mit Stillschweigen übergangen, die Ausstellungen wendeten sich gegen untergeordnete Dinge, gegen den doppelten Schluß der Stella, – in der Ausgabe von 1787 durch Bigamie, in den folgenden Ausgaben durch Selbstmord – gegen die Leichtfertigkeit im Wilhelm Meister, gegen die wahrhaft schlechte Tendenz der Mitschuldigen, ein Stück, das mir ebenfalls von Anfang an widerstand, bei dem weder die Feinheit des Dialogs, noch der goldne Klang der Rhythmen mich mit der Kotzebueschen Gemeinheit des Inhaltes versöhnen konnten. Der Triumph der Empfindsamkeit ward mit Recht als albern und ganz unbedeutend bei Seite geschoben, und als ich den prachtvollen Monolog der Proserpina rühmte, so ward dessen Ungehörigkeit an dieser Stelle auf das schärfste betont. Später fand ich in den Tages - und Jahresheften (1780. 27. p. 5. Ausg. von 1840), daß Göthe selbst darüber sagt: die Proserpina ward freventlich in den Triumph der Empfindsamkeit eingeschaltet und ihre Wirkung vernichtet.
Ein besonders strenges Gericht ließ Tiedge über die Römischen Elegien ergehn, und behauptete, es ständen in der ersten Ausgabe der fünften Elegie v. 17 Worte, die sich12 nicht mit dem Anstande vertrügen (Hintern statt Rücken). Da die Ausgabe nicht zur Hand war, so konnte ich nur meine bescheidenen Zweifel äußern, daß Göthe so geschrieben habe. Als ich die Ausgabe lange nachher erhielt, sah ich, daß Tiedge Unrecht gehabt hatte. Wissen Sie denn, fragte er mich eines Abends, wie der herrliche Sohn des Bacchus und der Aphrodite heißt, der den Dichter in der eilften Elegie auf dem Altare der Grazien mit Rosen und Myrten bekränzt? Schlagen Sie im Hederich nach, und Sie werden finden, das es niemand anderes ist als – Priap! Diese Wahrheit konnte ich nicht läugnen, und tröstete mich mit der Hoffnung, daß die meisten Leser und Leserinnen den bekannteren Sohn Amor im Sinne haben würden.
In solchen Unterhandlungen verging die Zeit, bis der Bediente durch ein solennes: die Frau Gräfin lassen bitten – uns in den strahlenden Salon nach der andern Seite hinübernöthigte. Diese allgemein gebrauchte Benennung: Frau Gräfin, war mir auffallend, da ich wußte, daß Herr von der Recke nur ein simpler Edelmann gewesen, bis ich erfuhr, daß eine „ Reichsgräfin von Medem “wohl eine Mesalliance mit einem simpeln Edelmann eingehn, aber nie ihren Karakter als Gräfin verlieren könne.
Im Gesellschaftsaal fanden wir einen größeren oder kleineren Kreis aller derer, die wie wir durch Frau von der Reckes Nähe sich angezogen fühlten; gegen alle negativen, kritischen, unzufriedenen und spöttischen Naturen übte sie eine abstoßende Kraft aus. Ein fleißiger Abendgast war mein Pathe Göckingk, der durch die unbedingte Sicherheit seiner Gegenwart und durch die Entschiedenheit seines Urtheils allen Besuchern imponirte. Von Berliner Litteraten kamen Franz Horn, Professor Wolke, Direktor13 Zeune u. a. Einen schönen, schlanken, jungen Mann nannte man mir als den Doktor von Bethmann-Hollweg aus Frankfurt a. M. Von kümmerlichem Aussehn und stotternder Sprache war der Dichter Schink, über welchen Tiedge sehr naiv und mit voller Ueberzeugung mir mittheilte: Schink habe auch einen Faust geschrieben, aber eben als er ihn herausgeben gewollt, sei der Faust von Göthe erschienen, und diese Priorität habe das später ans Licht getretene Stück von Schink sehr beeinträchtigt.
Läugnen will ich nicht, daß es manche Abende bei Frau von der Recke gab, an denen es sehr steif und trocken herging: dann wußte Tiedge auf eine geschickte Weise sich nach seinem Zimmer zurückzuziehn, indem er vorgab, ein Buch holen zu wollen, oder dergleichen, und sobald wir diese List gemerkt, folgten wir ihm nach, um bei ihm das angefangene Gespräch fortzusetzen. Darüber gab es denn am andern Tage von Frau von der Recke gelinde Vorwürfe, und wenn ich mich nicht enthalten konnte, es unumwunden auszusprechen, daß der alte General von Schlieffen oder der Kammerherr von Ende aus Dresden doch gar zu langweilig gewesen seien, so pflegte sie mit unnachahmlicher ernster Grazie zu sagen: mein lieber Gustav, in der großen Welt mußt du lernen, dich mit Anstand zu ennuyiren! Es läßt sich denken, wie wenig diese gute Lehre fruchtete.
Meine näheren Freunde, August und Paul wurden auch bei Frau von der Recke eingeführt. Der erste bewegte sich in dem ungewohnten Kreise mit vieler Leichtigkeit und mit natürlichem Anstande, aber der gute Bücherwurm Paul konnte sich in dieser neuen Welt nicht gleich zurecht finden. Er gab uns, und noch mehr sich selbst14 reichlichen Stoff zum Lachen: denn er besaß eine große Virtuosität im possirlichen Ausmalen gesellschaftlicher Verlegenheiten, in die er nur zu leicht gerieth. Ich verglich ihn deshalb oft mit dem Walt in Jean Pauls Flegeljahren. Als bei dem ersten Besuche Frau von der Recke ihm die Hand zum Kusse hinreichte, so machte er es wie der Graf von Kaunitz mit dem Papste Pius VI. Er drückte die dargebotene Hand ganz freundschaftlich, anstatt sie zu küssen.
Frau von der Recke beschäftigte sich in diesem Winter mit der Redaction ihrer italiänischen Reise, die bald darauf in der Nicolaischen Buchhandlung herauskam. Sie fällt in eine Zeit (1804), wo wenig in Italien gereist wurde, und hat das Verdienst, daß sie manches angiebt, was bei andern Reisenden als bekannt vorausgesetzt wird. Neue Ansichten über Kunst darf man nicht erwarten, dagegen spiegelt sich überall die reine Menschenliebe der edeln Verfasserin. Mit wahrem Heißhunger lauschte ich den mündlichen Mittheilungen über Italien, und konnte mir kein größeres Glück denken, als den sonnigen Himmel, die Pracht der Pflanzen, die merkwürdigen Ruinen mit eignen Augen zu sehn.
Ueber Ischia, dessen Heilquellen Frau von der Recke mit gutem Erfolge gebraucht hatte, wußte Tiedge in schönen poetischen Bildern sich auszulassen, und mit gutem Humor beschrieb er einen Eselritt auf den Epomeo: wie er nach langem mühseligen Reiten in der ärgsten Hitze auf dem Gipfel angelangt, vor Durst der herrlichen Aussicht über Land und Meer nicht habe genießen können, und wie er dem Eseltreiber durch Zeichen verständlich gemacht, daß er irgend eine Erfrischung wünsche; der15 dienstfertige Bursch habe ihn etwas bergabwärts zu einem Eremiten geführt; der schmutzige Mönch sei nicht bloß mit einer großen Flasche Wein und mit Brodt gleich zur Hand gewesen, sondern habe noch ein andres Gericht in Form eines Eierkuchens herbeigebracht; weil aber Tiedge einen natürlichen Widerwillen gegen alles gebackne und zusammengepappte empfinde, dessen Entstehung er nicht kenne, so habe er zur Verwunderung des Eremiten diese Schüssel dem Eseltreiber abgetreten, dem auch der Inhalt der großen Weinflasche trefflich gemundet; selbst die Bezahlung des gastfreien Eremiten habe er seinem Sancho Pansa überlassen, da er zu seinem Schrecken bemerkt, daß er gar kein Greld bei sich führe, und bei diesem Geschäfte werde wohl weder der Eremit noch der Eseltreiber zu kurz gekommen sein.
Den Winteraufenthalt in Rom hatte Frau von der Recke, nach ihrer gewissenhaften Art auch zur Erlernung des italiänischen benutzt. Ihr Lehrer, der Professor Giuntotardi, ein lebhafter und gebildeter Mann, wurde von seinen Freunden öfter mit dem Verse des Ariost geneckt:
Me misero, che giunto tardi sono!
den Orlando ausspricht, als er bemerkt, daß Medoro ihm bei der schönen Angelica zuvorgekommen. Giuntotardi machte darauf ein witziges Sonett, des Inhalts, daß der welcher spät kömmt, nicht immer zu spät kömmt, und daß es bei manchen Gelegenheiten sehr gut sei, zu spät zu kommen. Tiedge besaß das Sonett, und es thut mir noch jetzt leid, daß ich keine Abschrift davon genommen.
In jenem Winter lebte auch Kotzebue in Rom, und16 verkehrte viel bei Frau von der Recke. Er schrieb ebenfalls eine italiänische Reise, verfuhr aber dabei mit seiner gewöhnlichen Liederlichkeit. Eines Abends saß er bei Tiedge, als dieser von einem Besuche des Daches der Peterskirche zurückgekommen war. Wie sieht es denn da oben aus? fragte Kotzebue, ich muß in meiner Reise doch etwas darüber sagen, und bin zu faul, um hinaufzusteigen. Nun beschrieb ihm Tiedge mit vieler Emphase die Größe der himmelansteigenden Kuppel und die gewaltige Ausdehnung des Daches; er bediente sich dabei des Ausdruckes, der Raum sei so groß wie ein Markt. Darauf hin soll in Kotzebues Reise sich die Stelle finden: das Dach der Peterskirche ist von großer Ausdehnung, es wird zuweilen oben Markt gehalten. In welcher Weise Kotzebue die Antiken auffaßte, ergiebt sich aus seiner Bemerkung über die Mediceische Venus, sie komme ihm vor wie eine hübsche Kammerzofe, die der Hausherr im Bade überrasche. Eines Mittags richtete Frau von der Recke an Kotzebue die höchst naive Frage: lieber Freund, Sie haben so vieles hübsche geschrieben, aber die Kritik findet immer etwas daran zu tadeln; warum schreiben Sie nicht einmal ein Buch, das ganz gut ist? Gott soll mich strafen, gnädige Frau, rief Kotzebue in seiner gemeinen Art, wenn ich’s nicht so gut mache, als ich kann! ein Schelm giebt mehr, als er hat!
Das Weihnachtsfest 1814 ward in unserem Hause sehr froh verlebt. Jeder nahe und ferne Hausfreund erhielt irgend eine Kleinigkeit zum Geschenke; meine Schwester Lilli begleitete die Gaben mit ein paar harmlosen gereim -17 ten Zeilen. Sie besaß bei einer scharfen Beobachtungsgabe zugleich die Kunst, alle kleinen Schwächen und Eigenheiten der Freunde auf eine so gutmüthige Art zur Sprache zu bringen, daß niemand sich verletzt fühlte. Dies Talent übte sie auch diesmal, und versetzte uns alle in die heiterste Stimmung.
Für Tiedge hatte mein Vater einen besonderen Scherz bereitet. Es war gerade damals eine Reihe von kolorirten Köpfen als Kinderspiel erschienen. Drei einzelne horizontale Pappstreifen enthielten 1) Stirn und Augen, 2) Nase, 3) Mund und Kinn. Durch Verwechselung der Streifen kamen die tollsten Fratzen zum Vorschein. Zu diesem albernen Spiele ließ mein Vater einen besonderen Titel „ Karakterköpfe aus Tiedges Urania “drucken, und auf den Umschlag kleben. Wir alle freuten uns auf Tiedges Gesicht beim Anblicke dieser Köpfe.
Zur Schadloshaltung erhielt er noch ein schönes neues Schreibebuch mit weißem Papier: denn mein Vater hatte bemerkt, daß das alte zerfetzte Büchlein auf seinem Tische fast ganz vollgeschrieben sei. Auf dem ersten Blatte der neuen Kladde stand:
Ich mache keine Verse,
Herr Tiedge, mach’ er se!
Dies letzte Geschenk fiel Tiedgen zuerst in die Hand, und machte ihm große Freude. Auch den Titel der Karakterköpfe betrachtete er anfangs mit Wohlgefallen, und öffnete begierig das Futteral. Als er von dem absurden Inhalte Kenntniß genommen, verfinsterten sich seine ohnehin nicht freundlichen Züge, und er sagte verdrießlich zu dem daneben stehenden Herrn Ritter: es ist doch unglaublich, auf welche Albernheiten die Leute verfallen! 18Unser kaum unterdrücktes Lachen belehrte ihn bald, daß es sich um eine Mystification handle, und halb ärgerlich, daß er die Sache nicht gleich gemerkt, humpelte er an seinem Krückstocke zu den übrigen Weihnachtstischen. Er hatte nämlich mit dem alten Dichter Tyrtäus die entfernte Aehnlichkeit, daß er lahm war. Als Knabe zeigte er einen unüberwindlichen Widerwillen gegen Spinnen. Sein Vater wollte ihm diese Unart abgewöhnen, und hielt ihm einst eine Spinne dicht vor das Gesicht. Das Kind verfiel in Zuckungen, die Sehnen des einen Fußes verrenkten sich, und konnten nie wieder gerade gemacht werden.
Tiedge fand Wohlgefallen an meiner Handschrift, und gab mir einige seiner Gedichte zum abschreiben. Dies that ich mit vielem Eifer, und konnte dabei nur noch mehr den Abstand gegen Göthe wahrnehmen. Als ich mit Paul darüber in’s Gespräch kam, so tadelte er mit Recht meine Neigung, an alles den höchsten Maasstab anzulegen; er meinte, es könne doch nicht jeder schreiben wie Göthe, und indem er, wie gewöhnlich, in ein sophistisches Extrem überging, bewies er mir, es sei sogar ein Verdienst der übrigen Dichter, daß sie Göthen nicht gleich kämen, sonst würde ja Göthe nicht der erste sein!
Das Werk, an dem Tiedge arbeitete, hieß „ der Markt des Lebens. “ Es wurden darin mehrere, in unserm Kreise bekannte Persönlichkeiten dargestellt, aber die Karakteristik war so unbefriedigend und die Zeichnung so unsicher, daß die Glätte der Schale für den mangelnden Kern unmöglich schadlos halten konnte.
Um seine eignen Angelegenheiten bekümmerte sich Tiedge gar nicht; es war daher für ihn sehr heilsam, daß19 Frau von der Recke als seine Vormünderin für alles sorgte. Den Bücherschrank in seiner Stube durchmusterte ich manchmal in der Hoffnung, neues darin zu finden: allein die Unvollständigkeit der meisten Werke setzte mich in Betrübniß. Er hatte die einzelnen Bände verliehen, ohne zu wissen an wen, und erwartete treuherzig aber vergeblich die Rückgabe. Mit unbedachter Freigebigkeit verschenkte er Wäsche und Kleider an irgend einen Bittenden, der sich Zutritt zu ihm zu verschaffen wußte. Junge Litteraten erhielten sehr häufig Exemplare der Urania, an denen der Verleger Eberhard in Halle es nie fehlen ließ. Tiedge war völlig außer Stande, jemandem eine Bitte abzuschlagen, war sich auch dieser Unfähigkeit selbst sehr wohl bewußt. Hievon hatte ich Gelegenheit, mich in späteren Jahren zu überzeugen, als ich ihn einmal in Dresden besuchte.
Herr von Rosenzweig, sächsischer Legationssekretär und Tiedges allerwärmster Verehrer, verfaßte eine deutsche Uebersetzung von Thomsons Jahreszeiten in kaum lesbaren Hexametern, und ließ sie auf seine Kosten drucken. Drei Exemplare wurden auf Pergament abgezogen: ein Dedikationsexemplar für die russische Kaiserin, das zweite für den Verfasser, das dritte für Tiedge. Die Herstellungskosten eines jeden mochten sich auf 50 bis 60 Thaler belaufen. Als ich den zierlichen Oktavband in rothem Saffian auf Tiedges Tische liegen sah und genauer untersuchte, gerieth ich in ein Entzücken, dessen nur Bibliophilen beim Anblicke einer solchen Seltenheit fähig sind, und konnte nicht genug Worte des Lobes finden. „ Ich schenke Ihnen das Buch “, sagte Tiedge plötzlich, „ denn ich kann es nicht brauchen und lese es nicht. “ Daß ich anfangs gegen eine20 solche Schenkung mit allen Kräften protestirte, versteht sich von selbst. „ Bedenken Sie “, sagte ich, „ daß nur drei Exemplare davon existiren! “– Und wenn es das einzige wäre, so würde es in Ihrer großen Bibliothek besser aufgehoben sein, als bei mir. – Aber was wird Herr von Rosenzweig sagen? – Er ist nach Rußland abgereist und kömmt nie wieder! – Wie kann ich ein solches Geschenk von Ihnen annehmen? – Thun Sie es immer; sonst schenk’ ich es einem andern, der mir weniger lieb ist als Sie. Gestern war Sapphir bei mir, und fand großes Wohlgefallen daran; wenn er morgen wiederkömmt, so stehe ich für nichts! – Hier entstand in meiner Brust ein gewaltiger Widerstreit der Gefühle. Hätte ich nicht die feste Ueberzeugung gehabt, daß Tiedge, vermöge seines schwachen Karakters, die schöne Ausgabe unfehlbar an Sapphir weggeben werde, wenn dieser sie hinlänglich lobte, so hätte ich mich wohl nicht entschlossen, sie anzunehmen, so aber war mir der Gedanke unerträglich, ein solches Kleinod in den Händen eines unwissenden Juden zu sehn; ich gab endlich Tiedges wiederholten Bitten nach, und bewahre dies Pergamentexemplar als ein theures Andenken an den lieben Freund.
Im Januar 1815 kam die Fürstin Pauline von Hohenzollern-Hechingen, Nichte der Frau von der Recke, zum Besuche nach Berlin, und belebte die Abendzirkel ihrer Tante durch ihre muntre Gegenwart. Sie erinnerte sich meiner mit vieler Freundlichkeit, und brachte mir Grüße von ihrem, in den Haaren gerauften Sohne Constantin; ich hütete mich aber wohl, von diesen Vorkomnissen meinen Schulkameraden irgend etwas mitzutheilen. Gegen ihren ehemaligen Vormund Göckingk war die Fürstin von der21 liebenswürdigsten Laune, sie umarmte und küßte ihn zu widerholten Malen, erinnerte ihn, wie streng er früher gegen sie gewesen, daß er ihr nicht erlaubt, sich in Kartoffeln ganz satt zu essen, und schmeichelte ihm auf alle Weise. Er nahm dies alles mit lächelndem Humor auf, wußte ihre Angriffe mit heiterem Ernste abzuschlagen, und bewahrte in allen Stücken seine ruhige Superiorität. Ein geistreicher Scherz folgte dem andern, und niemand von uns dachte an diesen Abenden daran, nach Tiedges stillem Stübchen hinüberzuschleichen.
Die Wohnung in unserem Hause hatte neben vielen Annehmlichkeiten für Frau von der Recke auch manches unbequeme. Die zwei Treppen wurden ihr sauer, da sie anfing, an asthmatischen Beschwerden zu leiden. Durch eine Grille des Baumeisters war der Mittelsaal der unteren Wohnung im ersten Stocke höher gemacht, als die Nebenzimmer; es mußten also im zweiten Stocke die Nebenzimmer durch zwei Stufen mit den Mittelräumen verbunden werden. Dies erregte vielfaches Ungemach, und war besonders für Tiedges Klumpfuß sehr beschwerlich. Als daher eine bequeme Parterrewohnung im kurländischen Hause unter den Linden frei wurde, nahm Frau von der Recke den Vorschlag ihrer jüngsten Nichte, der Prinzessin Dorothea, sehr gern an, diese Wohnung im Herbste 1815 zu beziehn.
Hier im elegantesten und vornehmsten Theile der Stadt wurden die Abendgesellschaften bei Frau von der Recke der Vereinigungspunkt aller derer, die auf feinere Bildung Anspruch machten. Einheimische und Fremde aus allen Ständen strömten in solcher Menge herbei, daß man zuweilen in den geräumigen Zimmern sich kaum bewegen konnte. 22Wie oft wünschten wir unsere kleineren Versamlungen in der Brüderstraße zurück! Doch gewährten uns die Abende im kurländischen Hause die schönsten musikalischen Genüsse. Mehrere durchreisende Klaviervirtuosen fanden hier die beste Gelegenheit, sich einer gewählten Gesellschaft durch ihr Spiel bekannt zu machen, ehe sie mit der Ankündigung ihrer öffentlichen Konzerte vor das Publikum traten. Ausgezeichnete Gesangtalente rechneten es sich zur Ehre, in diesem Kreise sich hören zu lassen. Die ausführenden Musiker merkten gar bald, daß der edlen Wirtin kein größerer Gefallen geschehn könne, als durch den Vortrag eines Stückes aus Himmels Kompositionen zur Urania. Die Züge der hohen Frau erheiterten sich, sobald es am Klavier ertönte: Mir auch war ein Leben aufgegangen, oder: Heil’ge Nacht, du führest deine Globen. Diese Lieder hörten wir nach und nach von den verschiedensten Stimmen und mit sehr wechselndem Ausdrucke: wir konnten uns überzeugen, daß die Weichheit der musikalischen Modulationen mit dem dämmerhaften Karakter des Gedichtes im besten Einklang stehe. Sehr gespannt waren wir, als es hieß, Himmel selbst werde erscheinen, und etwas von seinen Sachen vortragen. Wir erwarteten einen zarten schmachtenden Virtuosen, aber welche Enttäuschung ward uns bereitet, als ein gedunsener kahler Dickwanst hereinstolperte, der alle Spuren einer zügellos hingebrachten Jugend an seinem alten verwelkten Körper trug. Doch versöhnte sein meisterhaftes Spiel mit seinem abstoßenden Aeußeren. Etwas mußte ja wohl an ihm gewesen sein, da Göthe ihn durch ein eignes Gedicht gefeiert hatte. Für den klangvollen Schmelz des Anschlags wüßte ich nur Ludwig Berger mit Himmel zu vergleichen. 23
Einen unbeschreiblichen, fast möchte ich sagen einzigen Genuß gewährten die Vorträge des Fürsten Anton von Radzivil. Er war gerade damals mit der Komposition des Faust beschäftigt, die noch jetzt unter den geistlichweltlichen Werken einen ehrenvollen Platz einnimmt. Mit ihm fand Frau von der Recke die reichlichsten Anknüpfungspunkte des Gespräches, da sie in den Jahren 1791 u. 1792 mit ihrer Schwester der Herzogin längere Zeit in Warschau lebte, wegen eines ärgerlichen Prozesses zwischen dem letzten Herzoge von Kurland und seinen Landständen; die Sache kam bei der Krone Polen, als dem obersten Lehnsherrn zum Austrag, und die Stände wurden abgewiesen. Die Krone Polen bestand nun schon lange nicht mehr, Kurland war an Rußland gefallen, von den großen polnischen Geschlechtern hatten die Radzivil sich nach Berlin gewendet. Der Fürst Anton lebte mit einer preussischen Prinzessin, einer Muhme König Friedrich Wilhelms III., in der glücklichsten Ehe, und sah sich von einer blühenden, hoffnungsreichen Familie umgeben. Seine beiden Söhne ließ er das Werdersche Gymnasium besuchen, damit sie nicht in vornehmer Abgeschlossenheit verharren, sondern frühzeitig lernen sollten, sich in die Welt zu schicken.
Den Vater Radzivil durfte man als das vollendete Muster eines feingebildeten Edelmannes betrachten. Von hoher kräftiger Gestalt that die mit den Jahren zunehmende Korpulenz der Elasticität seiner Bewegungen keinen Eintrag. Seine ausgesuchte Höflichkeit machte nicht den Eindruck kalter Herablassung, sondern sie trug den Stempel eines aus dem Herzen kommenden Wohlwollens. Wenn wir des Abends vor der Theestunde zu Tiedge kamen,24 so fanden wir nicht selten bei ihm den Fürsten im eifrigen Gespräch über Gegenstände der Kunst oder Litteratur. Sein nicht gewöhnliches musikalisches Talent veranlagte ihn, erst einzelne Lieder aus dem Faust zu komponiren, woraus denn nach und nach die vollständige Partitur entstand. Wenn er sich auch zur Instrumentirung seiner Ensemblestücke der praktischen Orchesterkenntniß des Kapellmeisters Schneider bediente, so that dies der Originalität seiner Schöpfungen keinen Eintrag. Er spielte das Violoncello mit hinlänglicher Fertigkeit, um sich zu seinen Liedern begleiten zu können, die er mit einem angenehmen Bariton vortrug. So hörten wir von ihm an verschiedenen Abenden: Der Schäfer putzte sich zum Tanz – Es war einmal ein König u. a. Die seelenvolle Innigkeit des Vortrages und die geniale Behandlung des Instrumentes, das der menschlichen Stimme so nahe sich anschmiegt, erregten zugleich Erstaunen und Bewunderung. Das Violoncello selbst war ein unschätzbarer Straduari, der an Adel des Tons nicht leicht übertroffen werden konnte.
Für einen feinen Zug wahrer Vornehmheit mußte ich es halten, daß der Fürst seinen Gesang ausschließlich an die Wirtin des Hauses richtete; er schien mir dadurch andeuten zu wollen, daß er nicht für jedermann singe, und nur ihr zu Gefallen in einem größeren Kreise sich hören lasse. Ihre warme Danksagung erwiederte er mit einem ehrfurchtsvollen Handkusse, die Lobsprüche der übrigen Gäste empfing er mit jener Grandezza, die ohne abstoßend zu sein, doch das Bewußtsein ausdrückte, er begehre und bedürfe nicht des Beifalls.
Auf seine Veranlassung hatte Göthe zwei kleine Geisterchöre eingeschoben, den ersten hinter den Worten:25
Blut ist ein ganz besondrer Saft:
den zweiten hinter den Worten: Ich gratulire dir zum neuen Lebenslauf!
Obgleich Radzivil das Deutsche fast eben so gut verstand, als das Polnische, so merkte man doch an einigen wenigen Stellen, daß das Deutsche nicht seine Muttersprache sei. Den oben angeführten Vers:
hat Göthe gewiß als einen adonischen mit einem Vorschlag skandirt, Radzivil komponirt ihn, gewiß nicht richtig, als wären es drei Trochäen:
Auch läßt er Gretchen in ihrem Liede singen:
als ob Faust vor ihr hinausgeschaut hätte.
Frau von der Recke besuchte, wie schon erwähnt, in jedem Sommer Karlsbad, um den Sprudel zu trinken. Sie wohnte dort gewöhnlich in dem Hause ihres Arztes, des Dr. Mitterbacher, von dessen zahlreicher Familie sie eben so sehr, wie von der unsrigen, geehrt und geliebt ward. Die älteste Tochter Wilhelmine kam im Herbste 1815 mit26 Frau von der Recke nach Berlin, und schloß sich bald in enger Freundschaft an meine Schwester Lilli an. Es wurde mit mehreren Bekannten und Freunden eine gemeinsame Tanzstunde angeordnet, in der Fräulein Minchen vor allen andern durch Schönheit und Anmuth glänzte. Auf mich machte sie den tiefsten Eindruck. Der Gedanke an sie erschien mir wie die Morgenröthe eines hellen Tages, und wenn sie mich ansah, war mir, als ständ’ ich in der Sonne. Ich ließ meine Erregung in begeisterten Versen ausströmen, ja ich hatte die Kühnheit, ihr einige Gedichte, welche ich für die gelungensten hielt, durch einen Freund überreichen zu lassen. Allein sie war so unerfahren in dergleichen Angelegenheiten, daß sie in ihrer Unschuld die Verse zu Frau von der Recke trug. Diese nahm die Sache ganz ernsthaft. Von ihren liebevollen und eindringlichen Vorstellungen war ich wie zerknirscht; lange konnte ich mich nicht zurechtfinden: denn ich hatte eben nur im Drange meines natürlichen Gefühls gehandelt. Frau von der Recke nahm im Frühjahre 1816 ihre schöne Pflegbefohlene mit nach Karlsbad zurück; mir aber kam die freundliche Erscheinung niemals wieder aus dem Sinne. Mehrere Jahre später sah ich sie in Karlsbad wieder, und 1824 ward zu dem Bunde der Herzen auch der der Hände hinzugefügt, der nun schon 47 Jahre besteht.
Bald nach der Eroberung von Paris trat in Wien der Friedenskongreß zusammen, der die Geschicke Europas auf lange Zeit ordnen sollte. Eine solche Versamlung war seit dem Bestehen des europäischen Staatenverbandes noch nicht dagewesen. Nicht nur waren die drei siegreichen Monarchen, Franz, Alexander und Friedrich Wilhelm persönlich zugegen, es strömte auch eine ganze Menge der deutschen mediatisirten und noch nicht mediatisirten Fürsten herbei, um ihre Duodez-Interessen durch Schmeichelei und Intrigue zu fördern. Daß man dem besiegten Frankreich eine Stimme im Rathe der Fürsten gönnte, wollte uns gar nicht in den Sinn. Als man erfuhr, daß der Fürst von Talleyrand, als Vertreter Frankreichs, mit seiner Nichte, der schönen Prinzessin Dorothea, jetzigen Gräfin von Périgord, nach Wien gereist sei, sagte der Grosvater Eichmann: Gebt Acht, der alte Fuchs wird sie alle über den Löffel barbiren! England sandte seinen Premierminister Castlereagh, Rußland den Grafen von Nesselrode, Preußen war durch den Fürsten von Hardenberg und durch Wilhelm von Humboldt vertreten, für Oestreich endlich fungirte der Fürst von Metternich, der nicht bloß als Wirt die Honneurs der Versamlungen machte, sondern auch durch seine geistige Ueberlegenheit fast ganz28 von selbst an die Spitze des Kongresses trat. Sein unbedingter Absolutismus, der Oestreich und beinahe ganz Europa mehr als ein Menschenalter hindurch in den schmählichsten Banden gehalten, trat damals noch nicht so grell hervor, als später. Man erfuhr wohl, daß er von den reinsten monarchischen Gesinnungen beseelt, aber auch dem Ausdrucke entgegenstehender Meinungen zugänglich, und im persönlichen Umgange von einer unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit sei.
Hier wird es am Orte sein, eine Aeußerung von ihm aus seiner spätesten Zeit aufzuzeichnen, die er im Jahre 1846 in einem Kreise vertrauter Diplomaten gethan. Wenn ich zurückdenke, sagte der damals 73jährige Staatskanzler, wie es gekommen, daß ich seit so vielen Jahren die Staatsgeschäfte mit Glück geleitet, so finde ich die Ursache darin, daß ich in Betreff der Sachen die gröste Strenge beobachtet, doch in Betreff der Personen mich immer von den wohlwollendsten Gesinnungen habe leiten lassen.
Diese Eigenschaft eines wohlwollenden geistigen Uebergewichtes trat schon auf dem wiener Kongresse hervor, wo hundertfältige Forderungen und Ansprüche wie die Wogen eines wildbewegten Meeres durcheinander liefen. Als Metternich im Anfange des Kongresses auf kurze Zeit nach Ungarn gereist war, gewannen die Debatten ein so krauses Ansehn, daß man einstimmig beschloß, die Sitzungen auf 14 Tage auszusetzen, bis er zurückgekehrt sei.
Von den Verhandlungen des Kongresses, die später in ausführlichen Werken niedergelegt wurden, gaben uns die Zeitungen nur magre Andeutungen; was man durch einige befreundete Reisende von dem lustigen wiener Leben erfuhr, war nicht eben geeignet, von der Sittlichkeit der29 versammelten Diplomaten einen guten Begriff zu geben. Im Taumel des Siegesrausches glaubte man sich noch mehr als sonst erlauben zu können. Der wiener Hof veranstaltete mehrere glänzende Ballfeste zu Ehren der fremden Herrscher und Minister. Der Gang der Verhandlungen wurde dadurch in etwas angehalten: daher sagte der greise Fürst von Ligne, der schon unter Friedrich II. für den witzigsten Mann seiner Zeit gegolten hatte: le congrès danse, mais il ne marche pas! Zärtliche Verbindungen zwischen den Friedensstiftern und den anwesenden vornehmen und geringen Damen waren an der Tagesordnung. Eifersucht, als ein Zeichen der Schwäche, konnte bei den starken Geistern nicht aufkommen. Kaiser Alexander von Rußland bemühte sich um eine reizende fremde Fürstin. Als er ihr einst einen Vormittagsbesuch machte, begegnete ihm auf der Treppe der Fürst Metternich, der eben von der Dame herabkam, und den Kaiser mit einem graziös-satirischen Lächeln grüßte. Von der armenischen Fürstin Bagration erzählte man, daß sie sich gerühmt habe, es sei ihr gelungen, den ganzen Kongreß ohne alle Zwistigkeiten bei sich zu vereinigen.
Da die Karte von Europa, und besonders die von Deutschland neu zu entwerfen war, so brauchte man vor allen einen tüchtigen Statistiker. Als solcher leistete der Staatsrath Hoffmann aus Berlin die allerwichtigsten Dienste. Er hatte die Seelenzahl jedes deutschen Dorfes im Kopfe, und war bald bei den Specialberathungen, wo es sich um den Austausch und die Kompensation einzelner Landestheile handelte, eine unentbehrliche Person geworden. Man nannte ihn deshalb den Seelen-Hoffmann, oder mit einem anderen Ausdrucke den Seelenverkäufer. 30
In dem Gewirre so vieler sich bekämpfenden Interessen war Preußen ohne Zweifel in der schwierigsten Stellung. Durch den Heldenmuth seiner Krieger hatte es einen ehrenvollen Platz unter den europäischen Grosmächten errungen; nun galt es, diesen Platz gegen offnen Widerstand und heimliche Misgunst siegreich zu behaupten. Fürst Hardenberg war mit allen Eigenschaften ausgerüstet, um diese Aufgabe zu lösen. Daß er sie nicht so gelöst, wie die hochfliegenden Hofhungen der preußischen Patrioten mit allzugroßer Selbstüberhebung erwarteten, das darf man weniger ihm, als den ungünstigen Umständen, unter denen er arbeitete, zur Last legen. Ueber ihn sagte Wilhelm von Humboldt in richtiger Erkenntniß der damaligen Weltlage: wenn man einem Dichter hätte aufgeben wollen, einen poetischen Karakter für die preußischen Verhältnisse zu erfinden, so hätte er keinen glücklicheren darstellen können, als den Fürsten Hardenberg. Die Lage Hardenbergs, dieses durch und durch preußischen Staatsmannes, wurde noch dadurch erschwert, daß er an seinem Könige gar keinen Rückhalt fand. Im Gefühle der Unzulänglichkeit seiner geistigen Mittel war der König nicht dazu zu bewegen, durch mündliche Besprechung mit den anderen Monarchen manche große oder kleine Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen, so oft Hardenberg ihn auch dazu aufforderte. Kaiser Alexander war gescheut und verschlagen genug, um für sich selbst zu unterhandeln. Vom Kaiser Franz wußte man, daß er sich eifriger als je mit der Siegellackfabrikation beschäftige, und nach gewohnter Weise alle Abend sein Quartettchen spiele. Bei den auftauchenden Schwierigkeiten, die etwa zu seiner Kenntniß kamen, pflegte er zu sagen: soll mich31 doch wundern, wie der Metternich sich da herausziehn wird! Doch war er auch gern bereit, wenn Metternich es verlangte, auf seine treuherzige Weise durch persönliche Besprechung in den Gang der Geschäfte fördernd einzugreifen.
So kam es denn, daß Oestreich außer dem Vollbestande der früheren Monarchie auch noch Galizien, als ein Stück der polnischen Beute erhielt, und überdies mit den herrlichen italienischen Provinzen, der Lombardei und Venetien bedacht ward. Wer hätte nicht damals den östreichischen Kaiserstaat als einen der mächtigsten und solidesten Staatskörper betrachtet? Man hielt es für ein Zeichen der ausgedehntesten Macht, daß dort manche allgemeinen Regierungsverordnungen in 16 verschiedenen Sprachen gedruckt wurden; man pries das Talent des Kaisers Franz, daß er den ungarischen, böhmischen, kroatischen und italienischen Deputationen je in ihrer Sprache zu antworten wisse. Niemand ahnte, daß nach 50 Jahren das erwachte, oder wenn man will, wach gerufene Nationalitätsprincip dem Kaiserstaate die schwersten Kämpfe bereiten werde.
Rußland erhielt auf dem Kongresse außer dem, den Schweden entrissenen Finnland, noch das Hauptstück der polnischen Beute, das Königreich Polen mit der Hauptstadt Warschau. Von einer Wiederherstellung des Königreiches Polen unter einheimischen Fürsten war auf dem Wiener Kongresse niemals ernsthaft die Rede. Die dort versammelten Staatsmänner waren der Ansicht, daß eine solche künstliche Schöpfung nicht sowohl eine Vormauer gegen Rußland, als vielmehr eine beständig drohende Gefahr für alle Nachbarstaaten sein werde. Kaiser Alexander32 war aber weit davon entfernt, die polnische Nationalität vernichten zu wollen, er begnügte sich mit einer einfachen Personalunion, und machte seinen Bruder Konstantin zum Vicekönig von Polen.
Womit sollte nun Preußen für seine heldenmüthigen Anstrengungen abgefunden werden? Man dachte anfangs daran, ihm Sachsen und Hannover zuzutheilen, allein auf Hannover erhob England seine Familienansprüche, und für Sachsens Erhaltung kämpfte besonders Talleyrand, der gleich anfangs den verfänglichen Grundsatz aufstellte, daß kein legitimer Monarch seines Landes ganz beraubt werden dürfe. Es wurde der Vorschlag gemacht, den König von Sachsen am Rheine zu entschädigen, und dies schien vielen sehr annehmlich, weil das bigotte katholische Regentenhaus, das in dem protestantischen Sachsen niemals festen Fuß fassen konnte, dort am Rhein lauter katholische Unterthanen erhalten hätte. Auch dieser Ausweg erhielt keinen Beiall. Das Königreich Sachsen wurde nicht ganz mediatisirt, aber was noch schlimmer war, getheilt. Es hieß, daß Talleyrand, der das Geld übermäßig liebte, für seine thätige Beihülfe vom Könige von Sachsen eine Million Thaler, oder nach einem anderen Berichte, eine Million Dukaten erhalten habe.
Dacht’ ich’s doch, daß es so kommen werde! rief der Grosvater Eichmann bei dieser Nachricht. Da möchte man ja wünschen, daß der alte Blücher den lahmen Mephistopheles mitsammt der Brücke von Jena in die Luft gesprengt hätte! Es ging damals die Anekdote von Mund zu Munde, daß Blücher im Frühjahr 1814 die Brücke von Jena in Paris „ wegen ihres niederträchtigen Namens “wollte in die Luft sprengen lassen. Vergebens waren die Vor -33 stellungen seiner Umgebung, er blieb auf seinem Sinne. Die französischen Behörden überreichten ihm eine Eingabe, worin erwähnt ward, daß der Fürst von Talleyrand sich auf das wärmste für die Erhaltung der Brücke verwende. Der alte Blücher soll unter die Eingabe eigenhändig geschrieben haben: Die Brücke wird gesprengt, und es sollte mir sehr angenehm sein, wenn der Herr Fürst von Talleyrand sich vorher darauf setzte! Nur durch die Ankunft der drei verbündeten Monarchen sei, so hieß es, die Ausführung dieses Vandalismus verhindert worden.
Aus Wien erfuhr man ferner, daß der Kronprinz von Preußen (nachher König Friedrich Wilhelm IV. ) aus einer romantischen Vorliebe für schöne Gegenden und alte gothische Dome, besonders dahin gewirkt habe, die herrenlosen Rheinprovinzen für Preußen zu erwerben. Die andern Mächte ließen es geschehn, vielleicht nicht ohne heimliche Schadenfreude, weil Preußen dadurch in die prekärste geographische Lage versetzt, im Osten von Rußland, im Westen von Frankreich bedroht wurde, die sich gelegentlich über Preußen hinweg die Hände reichen konnten. Hardenberg ging endlich, nach vergeblichen Versuchen ein besseres Resultat zu erreichen, auf die ungünstige Kombination ein, weil er mit richtigem Blicke erkannte, was möglich sei zu erreichen, und was nicht. Wer hätte damals voraussehn können, daß diese oft beklagte Zweitheilung Preußens in eine östliche und westliche Hälfte den Grund zu seiner jetzigen Größe legen werde! Wenn irgendwo, so läßt sich hier das Walten einer historischen Vorsehung freudig anerkennen. Nach wenig Jahren hatte Preußen durch zweckmäßige Einrichtungen die anfangs34 widerstrebenden katholischen Rheinlande mit den alten Provinzen auf das engste verkittet. Nach 50 Jahren verlor Oestreich seine schönen italiänischen Besitzungen, und Preußen erhob sich durch den Erwerb des ganzen, zwischen seinen beiden Hälften gelegenen Ländercomplexes zu einem glücklich abgerundeten, völlig deutschen Staate.
Einen Beweis seiner monarchischen Gesinnung gab der Wiener Kongreß durch die Umwandlung der 300 Jahre alten holländischen Republik in ein erbliches Königreich. Unpassend genug verschmolz man diese durchaus protestantischen Provinzen mit dem katholischen Belgien, und erlebte nach 15 Jahren die gewaltsame Trennung der beiden ungleichartigen Theile.
In Italien, dessen Geschichte ich immer mit großer Vorliebe verfolgte, konnte der Wiener Kongreß anfangs nicht gleich alles auf den alten Fuß setzen. Murat hatte sich gegen seinen Schwager Napoléon erklärt, und blieb daher vorläufig im Besitze von Neapel; aber der Erzherzog von Oestreich kehrte als Grosherzog nach Toscana zurück, und die kleinen norditalischen Herzogthümer wurden wiederhergestellt.
Der Papst Pius VII. erhielt den ganzen Kirchenstaat zurück. Der erste Gebrauch seiner wiedererlangten Macht bestand darin, daß er gegen alle Beschlüsse des Wiener Kongresses protestirte, die seiner geistlichen Oberherrschaft irgend zuwider liefen, und daß er den Jesuitenorden wiederherstellte, den Papst Clemens XIV., Ganganelli im Jahre 1773 aufgehoben. Diese Schritte erregten um so mehr Verwunderung, als Pius VII. sich dabei des Rathes seines Staatssekretäres Consalvi bediente, der für einen aufklärten Mann galt, insofern bei einem Kardinal35 der römischen Kirche im 19. Jahrhundert von Aufklärung die Rede sein kann. Consalvi hatte in den Jahren 1810 und 1811 mit Napoléon I. wegen eines Konkordates unterhandelt, und dabei nicht gewöhnliche diplomatische Talente entwickelt. Was irgend gegen den brutalen Eigenwillen des französischen Herrschers zu erreichen war, das hatte Consalvi erreicht. Dreimal hatte er den Entwurf des Konkordates zurückgezogen, ehe es in seiner endgültigen Fassung angenommen wurde. Auf dem Wiener Kongresse vertrat Consalvi die Interessen des Papstes. Hier kam er mit den bedeutendsten Diplomaten in Berührung, und hatte Gelegenheit, ihre Ansichten mit den seinigen zu vergleichen. Erst ganz kürzlich (im Frühjahr 1868) veröffentlichte ein römisches Journal Auszüge aus Consalvis Briefen, die er während jener Zeit geschrieben. Die darin entwickelten Grundsätze scheinen mir so merkwürdig, und sind gewiß so wenig bekannt, daß ich einiges daraus kurz anführen will.
Consalvi berichtet von einer langen vertraulichen Unterredung, die er mit Hardenberg und Humboldt gehabt. Bei ihnen habe er die gröste Geneigtheit gefunden, den kirchlichen Ansprüchen des Papstes gerecht zu werden, insofern sie sich mit den weltlichen Forderungen der übrigen Mächte vertrügen. Die Herren hätten ihm eingestanden, daß das, was man jetzt in Wien feststelle, nur ein halbes Werk sei, das keine Aussicht auf Dauer habe: denn es sei nicht gelungen, die Interessen der Völker mit denen der Fürsten auf eine befriedigende Weise zu verbinden. Was aber ihn (Consalvi) am meisten für die Zukunft besorgt mache, sei der Umstand, das man es nicht werde vermeiden können, nach dem Beispiele Englands in den übrigen Ländern auch die Preßfreiheit einzuführen. Hierin36 liege die gröste Gefahr für die Ruhe und den Frieden Europas. Den schlechten Leidenschaften werde es leicht gemacht, ihr Gift in die Herzen des Volkes zu ergießen, und man dürfe auf die traurigsten Folgen dieser Maasregel gefaßt sein.
Wenn man solche Grundsätze im Jahre 1814 von dem gescheutesten Kardinale aussprechen hört, und wenn man bedenkt, daß nach ihm weit unbedeutendere Geister an der Spitze der römischen Verwaltung gestanden, so darf man sich nicht wundern, daß der Kirchenstaat jetzt (1868) auf der untersten Stufe des intellektuellen Lebens angelangt, nur noch als eine Anomalie, als ein politisches Curiosum durch den Eigensinn des französischen Kaisers aufrecht erhalten wird.
Als eine weniger grelle Anomalie blieben auf dem Wiener Kongresse einige freie Reichstädte, Hamburg, Lübeck und Bremen stehn, die bei der veränderten Verfassung Deutschlands keine Bedeutung mehr hatten. Schon war ihre Mediatisirung beschlossen. Sie verdankten ihre Unabhängigkeit dem kühnen Vorgehen des Bremer Bürgermeisters Smidt. Er wußte es möglich zu machen, daß der Fürst Metternich eines Abends auf seinem Nachttische ein kurzes Memoire vorfand, worin die Sache der freien Städte so kräftig und präcis geführt war, daß der Staatskanzler seinen Sinn änderte und ihnen Autonomie gewährte.
Ganz zuletzt sollen noch, auf Wilhelm von Humboldts Veranlassung, jene Paragraphen in die Wiener Kongreßakte gekommen sein, die den verschiedenen Ländern ständische Verfassung zusichern, die eine freie Schiffahrt auf den inländischen Flüssen, ein gleiches Münz - und Gewichtssyslem anstrebten. Metternich konnte nichts dagegen ein -37 wenden, obgleich er von vorn herein nicht gewillet war, diese Paragraphen für Deutschland, geschweige denn für Oestreich zur Geltung kommen zu lassen. Mit den ungarischen und böhmischen sogenannten Postulatenlandtagen wußte er schon fertig zu werden. Allgemein wurde schon damals der Mangel eines Bundesgerichtes empfunden. Zwar konnte wohl niemand den Wunsch hegen, das frühere Reichskammergericht mit seinen schleppenden Formen wieder eingesetzt zu sehn, allein so schlecht es war, so war es doch immer eine Instanz, bei der die Stände gegen ihre Fürsten, die einzelnen Reichsmitglieder gegen einander sich Rechts erholen konnten. Mochte das Verfahren auch noch so unvollkommen sein, und mochte es auch niemandem einfallen, Oestreich oder Preußen vor das Reichskammergericht laden zu wollen, so gewährte es doch manchmal Schutz gegen die kleinen Tyrannen, welche bekanntlich immer die schlimmsten sind. So war gegen das Ende des 18. Jahrhunderts der Fall vorgekommen, daß ein Fürst von Waldeck wegen gänzlich verwahrloster Finanzwirtschaft unter Kuratel gesetzt, und ihm ein sehr mäßiges jährliches Einkommen ausgeworfen ward. So war es den würtenbergischen Ständen gelungen, gegen ihren Herzog Wilhelm, Schillers Protektor, einen Urtheilspruch zu erlangen, der seiner bodenlosen Verschwendung in etwas steuerte.
Alles dies fiel nun weg; jeder Fürst war ganz und gar souverän, die Völker blieben rechtlos. Es war eine politische Kurzsichtigkeit Metternichs, daß er sich ernsthaft einbildete, die Völker für immer in Unmündigkeit erhalten zu können.
Wenn ich jetzt, nach so vielen Jahren, wo der deut -38 sehe Bund aufgelöst ist, an seine Entstehungszeit zurückdenke, so erinnre ich mich sehr deutlich, daß damals niemand mit den getroffenen Bestimmungen zufrieden war. Als die deutsche Bundesakte im Drucke erschien, schaffte der Grosvater Eichmann sie an, und studirte sie eifrig. Er forderte auch die jungen Leute auf, dasselbe zu thun, aber die Trockenheit des Gegenstandes schreckte uns ab. Der politische Sinn war noch nicht bei den Deutschen erwacht.
Noch hatten die Diplomaten in Wien ihr Friedenswerk nicht ganz vollendet, als die Kunde erscholl, Napoléon habe die Insel Elba verlassen, – er sei in Frankreich gelandet, – er sei überall mit Jubel angenommen, – er marschire auf Lyon, – er befinde sich in Paris, und organisire aufs neue ein furchtbares Heer, um noch einmal das Glück der Waffen zu versuchen. Die Sache ging während weniger Wochen des März 1815 so schnell von Statten, daß man kaum Zeit hatte, sich zu besinnen. Sehr karakteristisch waren die kurzen Artikel des Pariser Moniteur: Die Regierung Seiner Majestät des Königs Ludwigs XVIII. hat Kunde erhalten, daß Bonaparte, der Erbfeind von Frankreich, allen Traktaten zuwider die Insel Elba verlassen hat, – der treulose Korse soll an der Südküste von Frankreich gelandet sein, der auf immer verbannte Exkaiser nähert sich der guten Stadt Lyon, – S. M. der Kaiser Napoléon I. sind wohlbehalten in Paris angelangt, und in den Tuilerien abgestiegen!
In Berlin machte diese Nachricht große Sensation, aber die allgemeine Stimme hielt das Unternehmen Napoléons für einen letzten Versuch, für einen Wurf der Verzweiflung, für ein Va banque, dem kein günstiger Erfolg zur39 Seite stehn könne. Wunderbar genug theilte diesmal der Grosvater Eichmann nicht ganz die siegesfrohe Zuversicht der jüngeren Generation. Er ließ es an Warnungen und besorglichen Mahnungen nicht fehlen. „ Stellt euch nur die Sache nicht zu leicht vor, einen solchen Reiter noch einmal aus dem Sattel zu heben! Jetzt kann er nicht, wie bei Leipzig, von der Uebermacht erdrückt werden, da die Russen und Oestreicher längst nach Hause gezogen sind. Die Preußen werden wohl allein das Bad aussaufen müssen, und nachher einen Hundslohn davontragen. “
Aber unser Vertrauen konnte er nicht wankend machen, als wir sahen, daß die Freiwilligen ebenso wie im März 1813 zu den Fahnen strömten. Die meisten meiner Jugendfreunde standen noch beim Heere, oder kehrten gleich dahin zurück. Ich war damals 16½ Jahr alt, und machte bei meinem Vater einen vergeblichen Versuch, einzutreten; ich berief mich auf das Beispiel des Herrn von Arnim, hatte aber nicht Muth und Kraft genug, das älterliche Haus heimlich zu verlassen. „ Gustav “, sagte der Grosvater mit nassen Augen zu mir, „ du bist ein braver Junge, aber du bist zu schwach! darum bleib hier! Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis wir den Korsen klein kriegen; im nächsten Jahre kannst du immer noch eintreten! “
Wider Erwarten wurde man mit dem Korsen sehr schnell fertig. Sein zweites Kaiserreich dauerte nur 100 Tage. Drei Monate genügten ihm, um aus alten und neuen Soldaten eine vollkommen schlagfertige Armee herzustellen. In den Niederlanden zog sich ein englisches Heer unter Wellington, ein preußisches unter dem 75jährigen Blücher zusammen. In der Gegend von Namur lagerten die verbündeten Heere ungefähr einen Tagemarsch auseinander. 40Die beiden Feldherren hatten die Absicht, so bald als möglich anzugreifen, und versprachen sich, wenn sie angegriffen würden, gegenseitige Hülfe. Napoléon kam ihnen zuvor, und war auch diesmal der Angreifer. Mit richtiger Berechnung der Umstände stürzte er sich am 16. Juni 1815 bei Ligny zuerst auf Blücher, und drängte ihn nach einem äußerst blutigen Schlachttage am Abend zurück. Vergebens verlangte Blücher Hülfe von den Engländern. Wellington erwiederte, er sei noch nicht im Stande zu marschiren. Bei Ligny geschah es, daß der alte Blücher, der sich tollkühn vorgewagt, mit dem Pferde stürzte, und daß ein französisches Kürassirregiment bei ihm vorüber hin - und zurückjagte, ohne ihn zu bemerken. Der General von Nostiz hielt allein bei ihm aus.
Am 17. Juni war Ruhetag; die Preußen verbanden ihre Wunden, und Napoléon ordnete aufs neue seine siegreichen Schaaren. Am 18. wandte er sich mit gewohnter Heftigkeit bei dem Dorfe Waterloo gegen Wellington, und würde ihn vielleicht zurückgedrängt haben, wenn Blücher gleiches mit gleichem vergolten hätte. Wellington begehrte seinerseits am 18. früh Hülfe, und Blücher erwiederte: ich komme! Als seine ermüdeten Truppen sich in Marsch setzten, begann es zu regnen, da rief er freudig: mein Stern von der Katzbach geht auf! und beschleunigte den Schritt. Wellington hielt tapfer aus, und wies alle Angriffe des ungestümen Gegners mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit zurück. Als am Nachmittage seine gelichteten Schlachtreihen wankten, sagte er mit eiserner Ruhe: ich wollte, es wäre Abend, oder Blücher käme! Und Blücher kam! Seine vorauseilenden Adjutanten brachten an Wellington die Nachricht, das ganze preußische Heer sei im Anmarsch. 41Napoléon sah das Bülowsche Corps in seiner rechten Flanke erscheinen, und hielt es anfangs für die Truppen des Marschalls Grouchy, den er nach jener Gegend beordert, doch bald ward er seines Irrthums inne. Er erkannte, daß alles verloren sei, und beschloß, auf dem Schlachtfelde zu sterben. An der Spitze der alten Garde machte er einen letzten verzweifelten Angriff gegen die englischen Batterien, und hielt lange Zeit ruhig im ärgsten Kartätschenfeuer. Ein ruhmvoller Soldatentod war ihm nicht bestimmt. Der Marschall Soult ergriff den Zügel seines Pferdes, und führte den Kaiser fast wider Willen aus dem Schlachtgetümmel. Stumm setzte Napoléon sich in seinen Reisewagen, und dachte gemächlich den Rückzug anzutreten. Da kamen die preußischen Dragoner herangejagt; eilig sprang der Kaiser aus dem Wagen, warf sich ohne Hut auf ein Pferd, und entging mit genauer Noth der Gefangenschaft.
Spät am Abend des 18. Juni trafen Wellington und Blücher bei dem Dorfe Belle-Alliance zusammen. Wellington sagte in seiner kühlen gehaltenen Art: ich danke Ihnen, daß Sie mir diesen schönen Sieg haben gewinnen helfen! Ob er ihn ohne Blücher gewonnen hätte, wird wohl immer zweifelhaft bleiben; genug, daß er gewonnen war. Die weitere Verfolgung des Feindes, zu der Wellington sich für unfähig erklärte, übernahm nun Gneisenau mit solchem Nachdrucke, daß die ganze französische Armee sich in regelloser Flucht auflöste. Gneisenau ließ unter andern den einzigen noch übrigen Tambour auf ein Pferd setzen, das von Napoléons Reisewagen abgespannt war; er schlug rastlos Generalmarsch, so daß die Franzosen glauben mußten, es seien bedeutende Infanteriemassen im Anzuge. 42Alle Artillerie, alles Gepäck, darunter der Reisewagen des Kaisers, und viele Gefangne fielen den Siegern in die Hände.
Napoléons Rolle in Frankreich war nun ausgespielt. Er wollte sich in Boulogne einschiffen, aber englische Kreuzer sperrten den Hafen. In der äußersten Noth schrieb er einen pathetischen Brief an den Prinz-Regenten von England, worin er als Flüchtling die Gastfreundschaft des englischen Volkes anrief. Vielleicht hätte man Grosmuth geübt, und ihn gelind behandelt, aber seine Entweichung von Elba hatte die Sieger gewitzigt, ihm nicht zu trauen. Ein englisches Kriegschiff, der Bellerophon, brachte ihn nach der wüsten Felseninsel S. Helena im atlantischen Oceane, wo er 5 Jahre lang den Qualen seines unersättlichen Ehrgeizes Preis gegeben, hinschmachtete, bis eine schmerzhafte Krankheit am 5. Mai 1821 seine Meteorlaufbahn endigte.
Diese wichtigen Ereignisse meiner Jugend habe ich mir mit aller Ausführlichkeit ins Gedächtniß zurückgerufen, weil es immer heilsam ist, dergleichen große Wendepunkte der Geschichte gegenwärtig zu behalten.
Nach dem Siege von Waterloo oder Belle-Alliance rückten die Preußen und Engländer ungesäumt vor Paris, das sich ohne Schwertstreich ergab. Ludwig XVIII., der seinen schwerfälligen Körper auf der Flucht bis Gent getragen, kehrte nach dem kurzen Intermezzo der 100 Tage wieder in seine Residenz zurück. Die Pariser nannten ihn daher statt Louis dix-huit: Louis tout-de-suite.
Diesmal wurde in Paris besser aufgeräumt, als im Jahre 1814. Aus einer unerklärlichen Galanterie hatte man damals alle geraubten Kunstwerke in Paris gelassen. Die politischen Erfolge, die man erreicht, waren so groß,43 daß die geringeren Forderungen der Gerechtigkeit davor in den Hintergrund traten. Man schrieb diese unerlaubte Nachsicht dem Kaiser von Rußland zur Last, der freilich nichts zurückzufordern hatte, ja sogar 40 Kisten mit den aus Kassel geraubten Gemälden per fas et nefas an sich brachte, und nach Petersburg führte, wo die Bilder trotz aller Reklamationen noch immer in der kaiserlichen Galerie sich befinden. Jetzt verwandte sich Wellington für die Niederländer, der Kaiser Franz forderte die aus Florenz, Mailand und Venedig geraubten Stücke, der Papst Pius VII. und die Spanier blieben auch nicht zurück. So ward der Raub vieler Jahre den rechtmäßigen Herren zurückgestellt. Den Franzosen wollte es anfangs durchaus nicht einleuchten, daß gewaltsam weggeführte Kunstwerke nicht als wohlerworbenes Eigenthum gelten können. Sie sträubten sich so lange, als es irgend anging. Der greise Denon, Napoléons Begleiter in Aegypten, Direktor der Pariser Sammlungen, ein feiner Kenner in allen Kunstfächern, war bei Wegführung der Kunstwerke aus den eroberten Ländern besonders thätig gewesen. Unter andern hatte er im Jahre 1806 die Berliner Kunstkammer und das Münzkabinet geplündert; man kann sich also wohl denken, daß die Preußen nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Er erhob bei der verlangten Rückgabe die grösten Schwierigkeiten. Anfangs wollte er die Sache blos für einen Scherz halten, und schien den Gedanken im Ernst gar nicht fassen zu können. Dann machte er die lächerlichsten Ausflüchte, und hielt die preußischen Kommissäre von einem Tage zum andern hin. Bald war er unwohl oder nicht zu Hause, bald konnte er die Schlüssel nicht finden, bald fehlten die betreffenden Inventarien. Endlich44 riß den Preußen die Geduld, und der Lieutenant Dieterici (später Geheimerath und Direktor des statistischen Bureaus in Berlin) erhielt den Auftrag, mit 16 Mann seiner ukermärkischen Kompagnie bei dem Baron von Denon die Exekution zu vollstrecken. Als er eines schönen Morgens mit seinem kleinen Kommando einrückte, fand er nur die alte Haushälterin in der Wohnung. Eine ganze Reihe von bequemen Entresolstuben war mit dem raffinirten Luxus eines reichen alten Junggesellen eingerichtet; man fand weiche Teppiche und noch weichere Sophas, goldne Spiegel und kostbare Stutzuhren, Oelgemälde und Kupferstiche, Majoliken und etrurische Vasen. Kinder, sagte Dieterici nach seiner humanen Art zu den rauhen Söhnen der märkischen Ebne, setzt eure Gewehre vorsichtig zusammen, macht es euch auf den Kanapés bequem, aber zerbrecht mir nichts! Mir ahnet, daß wir nicht lange hier bleiben werden. Darauf ward der Haushälterin bedeutet, sie habe auf Kosten des Barons von Denon ein sehr gutes Diner und sehr guten Wein für 16 Mann von dem nächsten Traiteur zu besorgen. In dem großen eleganten Salon ward eine fröhliche Tafel aufgeschlagen. Während noch der treflichste Chablis die Runde machte, schickte Denon die verlangten Schlüssel zu den Museen, und die Exekution ward zum Leidwesen der Exekutoren sofort aufgehoben.
Allein nicht bloß der Raub der letzten Napoléonischen Kriege ward zurückerstattet, es sollte noch älteres 200jähriges Unrecht wieder gut gemacht werden. Da der Papst Pius VII. alle die ihm entführten Kunstsachen und vatikanischen Handschriften hauptsächlich durch preußische Hülfe zurückerhielt, so ward er nun von preußischer Seite, auf Wilhelm von Humboldts Veranlassung angegangen,45 die im 30jährigen Kriege von den Baiern geraubte und nach Rom geschenkte palatinische Bibliothek an die Universität Heidelberg zurückzugeben. Diesem gerechten Ansinnen ward zwar nur zum Theil entsprochen, indessen wurden vorläufig 39 palatinische Handschriften der Klassiker, die sich in Paris befanden, nach Heidelberg zurückgeschickt, und Professor Wilken holte später aus der Vaticana die palatinischen altdeutschen Handschriften, die den Römern niemals etwas genutzt hatten. Wie schön sagt darüber Göthe in seinem Briefe an Boisserée vom 21. Februar 1816: den Heidelbergern Glück zu den Manuscripten; wer hätte solche Zeiten erleben sollen, daß die auf dem vatikanischen Gletscher zusammengefrornen Eisschollen wieder würden rheinabwärts treiben.
Obgleich Wilhelm von Humboldt an den Berathungen des Wiener Kongresses den thätigsten Antheil nahm, und besonders da, wo es auf schriftliche Arbeiten ankam, vor den Riß treten mußte, so betrachtete doch seine große Seele diese modernen Vorgänge nur aus der Vogelperspektive. Er besaß Objektivität des Geistes genug, um neben den verzwicktesten diplomatischen Geschäften auch seinen philologischen Studien nachzuhängen. Es ist bekannt, daß er die Uebersetzung von des Aeschylus Agamemnon in Wien vollendete. Die Arbeit entspricht den Anforderungen nicht, die man in neuerer Zeit an die Uebertragungen der Klassiker zu machen gewohnt ist. Humboldt selbst urtheilte später sehr streng über sein eignes Werk, und äußerte sich dahin, daß er die Aeschylus - und Pindarusübersetzungen nur deshalb unternommen, um sich zu überzeugen, daß er die Originale ganz verstehe; er gewann die Ansicht, man dürfe weder den Pindar noch die Chöre46 der Tragiker übersetzen, weil der Reiz und Schmelz des Originales unrettbar dabei verloren gehe. Ihm, der das allgemeine Sprachstudium zur Aufgabe seines Lebens gemacht, öffnete sich ein so weiter Blick über das gesamte Sprachgebiet, daß er die beiden paradoxen Sätze neben einander stellte: alle Menschen sprechen dieselbe Sprache, und: jeder Mensch spricht seine eigne Sprache.
Im Herbste 1814 kam Theodor Körners Familie zum Besuche nach Berlin, seine beiden Aeltern, seine Schwester Emma, seine Tante Doris Stock. Diesen Personen ward allgemeine Liebe und Achtung entgegengetragen.
Der Vater, eine würdevolle Erscheinung, war mit Schiller in der innigsten Freundschaft verbunden gewesen, einer Freundschaft, die sich mehr auf jenen unerklärlichen Zug der Seelen, als auf irgend eine poetische Geisterverwandtschaft gründete. Dies zeigte sich auch durch die, viele Jahre später erfolgte Herausgabe des Schiller-Körnersehen Briefwechsels, den das Publikum so lange mit Ungeduld erwartete. Hier sieht man, wie Schiller durch seine eminente Geisteskraft in wenigen Jahren zum Riesen heranwächst, der mit dem Scheitel die Gestirne berührt, während sein treuer Freund Körner neben ihm stehn bleibt, mit staunender Bewunderung an ihm in die Höhe blickend.
Theodor Körners Mutter, deren Gesicht die Spuren früherer großer Schönheit zeigte, besaß im hohen Grade die Gabe einer ungezwungenen leichtfließenden Unterhaltung. Diese drehte sich freilich meist um Persönlichkeiten, doch wußte sie auch dem unbedeutendsten Vorfalle irgend ein Interesse abzugewinnen. In der Chronik des sächsi -48 schen Hofes war sie auf eine staunenswerthe Weise bewandert; ihr getreues Gedächtniß reichte bis zu geheimen Anekdoten hinauf, die sich in der galanten Umgebung Augusts des Starken sollten zugetragen haben.
Mit gerechtem Stolze und mit wehmüthiger Freude sprachen beide Aeltern von ihrem so früh dahingeschiedenen Sohne, dessen „ Leyer und Schwert “nun schon durch alle deutschen Gaue sich verbreitete. Der Zweck ihrer jetzigen Reise war, seine Grabstätte bei Wobbelin in Meklenburg zu besuchen, und ihm ein einfaches Denkmal errichten zu lassen.
Doris Stock, die jüngere Schwester der Frau Körner, hatte früher durch Geist und Schönheit die bedeutendsten Männer angezogen; durch eine wunderbare Fügung des Schicksals gingen mehrere Verlobungen zurück, und sie beschloß nun, unvermählt zu bleiben. Ihre kleine zierliche Gestalt hatte sich mit den Jahren etwas zusammengeschoben, doch ihr heitres seelenvolles Auge, ihre süßklingende Stimme übten auf mich einen unbeschreiblichen Reiz. Die Schärfe des Urtheils, die man den sogenannten alten Jungfern vorzuwerfen pflegt, übte sie nur gegen ältere Leute, die es sich etwa einfallen ließen, mit ihr anzubinden, und dann sehr bald den kürzeren zogen. Gegen die Jugend war sie immer, bei dem vollen Bewußtsein ihrer geistigen Ueberlegenheit, von der harmlosesten Liebenswürdigkeit, ohne jemals in den widerwärtigen Ton einer sittenpredigenden Gouvernante zu fallen. Als Künstlerin im Pastellfach genoß sie in Dresden eines wohlverdienten Rufes; dabei war sie in der glücklichen Lage, ihr Talent niemals für ihren Unterhalt verwerthen zu dürfen. Ihre Pastellkopien nach vielen bedeutenden Bildern der Dresdner Gallerie49 zeigen hinlänglich, daß sie wie wenig andre befähigt war, in den Geist der italiänischen Meister, besonders Raphaels einzudringen. Diese Kopien befinden sich jetzt auf dem Berliner Kupferstichkabinette. Da sie in mir einen glühenden Kunstverehrer fand, so wurden wir bald sehr gute Freunde; ihr Umgang hat wesentlich fördernd auf meine Ausbildung gewirkt.
Beide Schwestern, Marie und Doris, gedachten gern ihres Vaters, des Leipziger Kupferstechers Stock, von dem Göthe als Student sich unterrichten ließ. Göthe sagt darüber in seinem Leben (2, 136), daß beide Schwestern ihm stets ihre Freundschaft bewahrt hätten, daß die älteste glücklich verheirathet, die jüngere eine ausgezeichnete Künstlerin sei. Den Schwestern blieb jene Studentenzeit gar wohl erinnerlich: denn sie waren beinahe erwachsen. Das Gedächtniß der älteren bewahrte manche kleinen Züge, die an sich unbedeutend, zur Vervollständigung von Göthes Lebensbilde dienen können. Stocks Verhältnisse waren sehr beschränkt. Eine geräumige Bodenkammer in dem großen Breitkopfischen Hause zum silbernen Bären diente ihm, seiner Frau und seinen beiden Töchtern als Arbeits - und Empfangzimmer, in welchem auch der Schüler Platz fand. Während Stock und Göthe je an einem Fenster über ihren Platten schwitzten, saßen die Töchter an dem dritten Fenster mit weiblicher Arbeit beschäftigt, oder sie besorgten mit der Mutter die Küche. Das Gespräch ging ohne Unterbrechung fort, denn schon damals zeigte Göthe eine große „ Lust am Diskuriren. “
Eines Tages sagte Stock: Göthe, meine Töchter wachsen nun heran: was meinst du, worin soll ich die Mädchen unterrichten lassen? In nichts anderem, erwiederte Göthe,50 als in der Wirtschaft. Laß sie gute Köchinnen werden, das wird für ihre künftigen Männer das Beste sein! Der Vater befolgte diesen Rath, und nicht ohne Empfindlichkeit versicherte mich die ältere Schwester, daß sie dies Göthen immer nachgetragen habe, und daß sie in Folge dieses Rathes ihre ganze Ausbildung mit der grösten Mühe sich selbst habe erwerben müssen.
Bei einem kleinen unschuldigen Liebeshandel, den Göthe mit der Tochter von Breitkopf anknüpfte, war Marie Stock seine Vertraute. Auf dem Oberboden stand ein altes, sehr verstimmtes Spinett, an dem die beiden Liebenden die zärtlichsten Duetten sangen, Marie mußte auf der Treppe sitzen bleiben und Wache halten, um von jeder herannahenden Störung sogleich Nachricht zu geben. Als sie Göthen viele Jahre später an diese Jugendzeiten erinnerte, sagte er halb unwillig: Sie haben ja ein verfluchtes Gedächtniß!
Für die aufblühenden Reize der jüngeren Schwester Doris Stock war Göthe nicht unempfindlich. Sie vertraute mir einmal unter dem Sigel der Verschwiegenheit, das ich nun wohl brechen darf, die Göthesche Elegie: Alexis und Dora sei an sie gerichtet gewesen. Freudig überrascht bei dieser interessanten Enthüllung war ich zu blöde, oder hatte nicht Geistesgegenwart genug, um sie zu fragen, ob dem schönen Gedichte eine wahre Anekdote zu Grunde liege?
Nachdem Maria Stock den Kollegienrath Körner in Dresden geheirathet, zog ihre Schwester Doris mit ihr. Das Körnersche Haus wurde nun durch den Geist und die Anmuth der Frauen, so wie durch das musikalische Talent des Mannes ein anziehender Mittelpunkt für Ein -51 heimische und Fremde. Mein Vater, welcher vier Jahre in Dresden privatisirte, gehörte zu den treusten Hausfreunden. Er hat mir oft erzählt, daß er die Mozartschen Lieder, so wie sie eben erschienen, zu Körners kräftiger Baßstimme am Klavier begleitet habe.
Mozart selbst, bei seinem kurzen Aufenthalte in Dresden, verkehrte fast täglich im Körnerschen Hause. Für die reizende und geistvolle Doris stand er in hellen Flammen, und sagte ihr mit süddeutscher Lebhaftigkeit die naivsten Schmeicheleien. Gewöhnlich kam er kurz vor Tische, und setzte sich, nachdem er sich in galanten Redensarten ergossen, an das Klavier, um zu phantasiren. Im Nebenzimmer wurde inzwischen der Tisch gedeckt, die Suppe aufgetragen, und der Bediente meldete, daß angerichtet sei. Aber wer mochte sich entfernen, wenn Mozart phantasirte! Man ließ die Suppe kalt werden und den Braten verbrennen, um nur immerfort den Zauberklängen zuzuhören, die der Meister, völlig in sich versunken und unempfindlich für die Außenwelt, dem Instrumente entlockte. Doch wird man auch des höchsten musikalischen Genusses am Ende überdrüssig, wenn der Magen seine Forderungen geltend macht. Nachdem einige Male die Suppe über Mozarts Spiel kalt geworden war, machte man kurzen Prozeß mit ihm. Mozart, sagte Doris, indem sie ihren schneeweißen Arm sanft auf seine Schulter legte, Mozart, wir gehn zu Tische, wollen Sie mit uns essen? Kuß die Hand, meine Gnädige, werde gleich kommen! Aber wer nicht kam, war Mozart; er spielte ungestört fort. So hatten wir denn oft, schloß Doris ihre Erzählung, bei unserm Essen die ausgesuchteste Mozartsche Tafelmusik, und fanden ihn nach Tische noch am Instrumente sitzen. 52
Während seines Dresdner Aufenthaltes stand Schiller mit dem Körnerschen Hause in ununterbrochener freundschaftlicher Verbindung. Mit welcher liebenswürdigen Gutmüthigkeit Schiller die kleinen Schwächen seines Freundes Körner zum Ziele des feinsten Humors machte, sieht man aus dem kürzlich bekannt gewordenen Scherze: Er hat sich rasiren lassen! Es konnte dem rastlos thätigen Dichter nicht entgehn, daß sein Freund Körner vor lauter Geschäftigkeit oft nicht zu seinen Geschäften komme. Er benutzte dies zu einer Reihe von komischen Scenen, die voll von persönlichen Anspielungen nicht eine einzige anzügliche Stelle enthalten; sie bestätigen Göthes großes Wort über Schiller:
Und hinter ihm im wesenlosen Scheine
Blieb, was uns alle bändigt, das Gemeine!
In den Sommermonaten wohnte Schiller bei der Körnerschen Familie auf dem Weinberge zu Loschwitz in einem mehr als bescheidenen Dachkämmerchen. Unablässig mit seinen geistigen Arbeiten beschäftigt überließ er gern den Frauen des Hauses die Sorge für alles andere. Marie Körner erzählte mir, daß er schon damals die üble Gewohnheit gehabt, nach Tische, und manchmal sogar Abends auf dem Sopha einzuschlafen, ohne die Kniegürtel aufzulösen; dadurch sei das Blut in’s Stocken gerathen, und es sei gar keinem Zweifel unterworfen, daß dies mit zu seinem frühzeitigen Tode beigetragen.
Eines Sommers kam auch Göthe zum Besuche nach Dresden. Ob er mit auf dem Körnerschen Weinberge gewohnt, oder von der Stadt aus seinen Freund Schiller öfter besucht habe, wüßte ich nicht mehr zu sagen. Marie53 Körner erinnerte sich sehr genau, daß eine ganze Menge Xenien in dieser ländlichen Einsamkeit entstanden seien. Die beiden Schwestern saßen zusammen unten in der Wohnstube, und hörten über sich in der Dachkammer die Stimmen der dichtenden Freunde. In kürzeren oder längeren Pausen ertönte ein schallendes Gelächter, zuweilen von sehr vemehmlichem Fußstampfen begleitet. Wenn die Herren um 12 Uhr zum Mittagessen herunter kamen, waren sie äußerst aufgeräumt, und sagten mehr als einmal: heute sind die Philister wieder tüchtig geärgert worden!
Theodor Körners Schwester Emma machte bei jenem kurzen Besuche in Berlin den tiefsten Eindruck auf mich, der sich schwer in Worte fassen läßt. Sie mochte etwa sechs Jahre mehr haben als ich; dies gab ihr vor meinen 16 Jahren einen gewaltigen Vorsprung, so daß an eine sympathische Hinneigung von Gleich zu Gleich gar nicht zu denken war. Von schlanker zierlicher Gestalt bewegte sie sich mit Amnuth und Sicherheit in den ihr fremden Berliner Kreisen. Ihr Kopf zeigte die gröste Aehnlichkeit mit dem ihres Bruders, aber seine starken, fast schroffen Züge waren bei ihr zu einer wahrhaft plastischen Vollendung gemildert; Stirn und Nase von antiker Schönheit, Augen und Haare dunkel, der volle Mund edel geformt und schön geschwungen, die Wangen blaß, kaum von einem leisen Rothe angehaucht. Sie sprach wenig, und wenn sie sprach, so fiel uns anfangs der starke Dresdner Accent unangenehm auf, aber diese kleine Störung ward bald überwunden durch die unbewußte Hoheit ihres Wesens, durch den wohlthuenden Eindruck ihrer reinen Seele. Von innerer Liebe zur Kunst getrieben, fand sie schon früh in ihrer Tante Doris eine gefällige Lehrerin; allein das un -54 vollkommene und vergängliche Pastell genügte der strebsamen Schülerin nicht, sie wandte sich zur Oelmalerei, und machte darin bald solche Fortschritte, daß sie mit ihren Arbeiten alle Bilder der Tante verdunkelte.
Im Zimmer meines Vaters hingen einige schöne Brustbilder von Graff: der alte Graf von Medem in Mitau, bei dem mein Vater als Hauslehrer gelebt, die drei Söhne des Grafen und seine Tochter Dorothea, meines Vaters Schülerin. Diese Bilder hatten wir bisher als etwas alltägliches nur so obenhin angesehn, Emma betrachtete sie mit der grösten Aufmerksamkeit, lobte ihre Vorzüge, und gab uns, da auch einige minder gute Portraits von Darbes in der Nähe hingen, zuerst einen Begriff davon, daß zwischen Bildniß und Bildniß ein bedeutender Unterschied sei. Interessant war es zu bemerken, wie bei diesen lehrreichen Kunsturtheilen die Tante Doris sich mit der Nichte Emma auf eine ganz gleiche Stufe stellte.
Nach wenig Wochen verließen uns Körners, besuchten Theodors Grabstätte bei Wöbbelin und gingen nach Dresden zurück. Wir hofften sie bald wiederzusehn, aber diese Hoffnung ging nur zum Theil in Erfüllung; die liebenswürdige Emma sollte nicht zurückkehren.
Der Aufenthalt des alten Körner in Sachsen gestaltete sich nach den letzten Kriegsereignissen als kein angenehmer. Sein einziger Sohn war für die Befreiung Deutschlands in den Tod gegangen, während sein König zu den treusten Anhängern des Unterdrückers von Deutschland gehörte, und seine Landsleute sammt und sonders den giftigsten Preußenhaß athmeten. Als Theodor seinen Entschluß, in das preußische Heer einzutreten, von Wien aus dem Vater meldete, schrieb ihm dieser einen ausführ -55 lichen begeisterten Brief, worin er seinen patriotischen Entschluß lobte, und ihn zur That aufforderte. Diesen Brief hatte Theodor bei seiner Anwesenheit in unserm Hause meinem Vater gelassen, er war oft vorgelesen und gelobt worden, ein oder der andre Hausfreund hatte ihn auch wohl geliehen, um ihn in weiteren Kreisen mitzutheilen. Er ging von Hand zu Hand, und war nach einiger Zeit spurlos verschwunden. Die deutsche Gesinnung des alten Kömer konnte in dem Napoléonisch gesinnten Dresden nicht unbekannt geblieben sein, und machte seine dortige dienstliche Stellung als Oberappellationsrath zu einer sehr gespannten. Eine Veränderung seiner Lage mußte ihm wünschenswerth erscheinen, und Preußen konnte es als eine Pflicht der Dankbarkeit betrachten, die Hingebung des Sohnes in dem Vater zu ehren und anzuerkennen. Körner vertauschte den sächsischen Dienst mit dem preussischen, und trat mit dem Titel eines Staatsrathes in das Kultusministerium von Altenstein.
Wie sehr erfreute es uns, als Dr. Kohlrausch, der mit dem Titel eines Geheimen Medizinalrathes in demselben Ministerium arbeitete, einige Kunde von den darüber angeknüpften Unterhandlungen brachte, aber wer beschreibt unsern Schmerz, als aus Dresden die Nachricht einlief, Emma Körner sei von den Masern ergriffen, und nach kurzer Krankheit hingerafft worden. Es gab ein trauriges Wiedersehn, als von der Körnerschen Familie nur noch drei Mitglieder nach Berlin zurückkehrten. Das männlich schöne Gesicht des alten Staatsrathes war tief gefurcht, und glich einer im Schmerze erstarrten tragischen Maske, die Staatsräthin schien um 20 Jahre gealtert, wir sahen sie seitdem nie anders als in schwarzen Kleidern. Der56 Verlust der beiden einzigen hochbegabten Kinder in der Blüthe der Jahre war ein so tragisches Schicksal, daß jeder Trostgrund davor verstummte.
Durch den Auszug von Frau von der Recke nach dem kurländischen Hause war die Wohnung in unserem zweiten Stocke leer geworden; die neuen Ankömmlinge aus Dresden zeigten sich sehr zufrieden, dieselbe einzunehmen (März 1816). Bei der Auflösung ihres Hauswesens in Dresden hatten Körners, um die enormen Kosten des Landtransportes zu sparen, fast ihre sämmtliche Habe auf einen Elbkahn laden lassen, der durch niedrigen Wasserstand an den Schleusen verspätet, durch die Packereien der Zollvisitation an der Gränze aufgehalten, mehr als einen Monat brauchte, um nach Berlin zu gelangen. Dies machte anfangs große Noth in der häuslichen Einrichtung. Wir halfen nach Kräften aus, und freuten uns, als endlich alles in Ordnung kam, und die schönen Oel - und Pastellbilder an den Wänden prangten.
Die Kopie von Doris Stock nach der Sixtinischen Madonna gehörte in Betreff der geistigen Auffassung zu den besten Arbeiten dieser Art. Sie mochte im Anfange dieses Jahrhunderts angefertigt sein, wo das unschätzbare Original sich in großer Vernachlässigung, wie es scheint, ohne einen genügenden Firniß befand: denn Doris Stock durfte den Kopf der Madonna und des Christkindes öfters mit einem feuchten Schwamme überfahren, um die Farben recht lebhaft hervortreten zu lassen. Ein Bildniß von Schiller, dessen Meister mir nicht mehr einfällt, zeigte ihn in der bekannten gebückten Haltung, den Kopf in die Hand gestützt. Von vorzüglichem Werthe schien mir ein Eigenbildniß von Emma Körner, Brustbild in einfachem57 schwarzen Sammtkleide mit einer goldnen Kette um den blendend weißen Hals. Nach diesem Bilde richteten sich meine Blicke, sobald ich ins Zimmer trat. Auch ihren Bruder Theodor hatte Emma als Lützower Jäger gezeichnet und gemalt, obgleich sie ihn in dieser Uniform niemals konnte gesehn haben.
In der Körnerschen Wohnung befand sich ein abgelegenes Zimmer, zu dem nur die Familie Zutritt hatte. Hier lag der Nachlaß von Theodor und Emma; Andenken und Reliquien, von denen die Angehörigen sich nicht trennen konnten. Alljährlich an den Geburtstagen der verlorenen Lieben sättigten sie durch die Erinnerung ihren Schmerz. Hier verwahrte der Vater Körner seine Korrespondenz mit Schiller. Aus edler Bescheidenheit ergriff er eine halbe Maasregel, indem er seine Frau verpflichtete, die Briefe nach seinem Tode nicht drucken zu lassen. Er hatte nämlich seinen Freund Schiller in einer sehr bedrängten Lage unterstützt; voller Dankbarkeit schrieb ihm dieser „ Du ganz allein hast mir das Leben gerettet “, und: „ ohne Dich läge ich schon längst auf dem Grunde der Elbe! “ Warum diese Stellen, die ich der späteren mündlichen Mittheilung der Staatsräthin verdanke, beim Drucke weggeblieben sind, ist nicht wohl einzusehn, da die Herausgabe erst nach dem Tode der Staatsräthin erfolgte. Möglicher Weise hat sie die Briefe, worin diese Aeußerungen vorkommen, vernichtet.
Unser freundschaftliches Verhältniß zu Körners wurde durch das häusliche Zusammenleben, an dem sonst so manche Freundschaften scheitern, nur noch mehr befestigt. Der Staatsrath, ein eifriger Musikfreund, wirkte gern als Baß bei unsern musikalischen Aufführungen; die Staatsräthin58 bot wegen ihrer unerschöpflichen Personalkenntniß den älteren und jüngeren Leuten immer eine angenehme Ansprache. Fräulein Stock liebte Abends nichts so sehr als eine Partie Boston, zu der mein Vater sich gern willig finden ließ, an spiellustigen Hausfreunden war kein Mangel, und wenn einmal die vierte Person fehlte, so durfte ich wohl als solche eintreten.
Körners lebten in Berlin sehr eingezogen, und sahen nur einen kleinen Kreis von höheren Staatsbeamten und Künstlern bei sich. Mit Vergnügen erinnre ich mich, dort die Zeichnungen des eben aus Italien zurückgekehrten Malers Zimmermann gesehn zu haben. Kunstvereine gab es damals noch gar nicht; die aufstrebenden Talente zeigten also gern, um bekannt zu werden, ihre Entwürfe und Studien in solchen Kreisen, in denen kunsterfahrene oder kunstliebende Personen sie zu Gesichte bekamen. Besonders anziehend waren für mich die Détails des Mailänder Doms, die mit großer Präcision die wunderbare organische Gliederung des herrlichen Gebäudes angaben. Die Durchführung der reinsten Gothik bis in die letzten Spitzen der Dachthürmchen, erregte um so mehr meine Bewunderung, als ich bis dahin von der Gothik kaum einen Begriff gehabt. Ich wollte daher kaum meinen Augen trauen, als ich später fand, daß Göthe denselben Mailänder Dom einen Marmorberg nennt, der in den elendesten Formen einen erfindungslosen Unsinn verewigt. (Fragm. über Italien 38. p. 167. Ausgabe von 1830.) Die enge Verwandtschaft mit dem von ihm gefeierten Strasburger Münster lag doch auf der Hand.
Zimmermann selbst war auch neben seinen Zeichnungen recht gut anzusehn: ein junger schlanker Mann im altdeutschen schwarzen Rocke, mit freundlichen geistvollen59 Augen und einem allerliebsten Bärtchen auf der Oberlippe. Auf seiner Brust prangte die Denkmünze der Freiheitskrieger. Voller Bescheidenheit legte er uns seine sauberen Blätter vor und gab gern die gewünschten Erläuterungen.
Leider war ihm nur eine kurze Laufbahn bestimmt. Nachdem er sich in Berlin ganz nach seiner Neigung verheirathet, ertrank er im Jahre 1820 auf einer Studienreise im bairischen Hochlande beim Baden. Eine Ansicht vom Dache des Mailänder Doms beim Consul Wagener und ein Trupp Kosacken (beide Bilder jetzt in der Nationalgallerie) zeigen hinlänglich, was man von einem so bedeutenden Talente noch hätte erwarten können.
Zu den aus dem Felde glücklich heimgekehrten gehörte auch der Dr. Kohlrausch. Im Jahre 1816 heirathete er Tante Jettchen, und wurde von nun an als ein Glied unserer Familie betrachtet. Er kaufte sich ein schönes Haus mit Garten in der Dorotheenstraße (damals Letzte Straße genannt) gegenüber der alten Sternwarte, bewohnte den ganzen ersten Stock, und schmückte seine Zimmer mit den vielen trefflichen, in Italien erworbenen Kunstwerken. Hier habe ich die glücklichsten Stunden verlebt, bei deren Erinnerung ich um so lieber verweile, als sie mir zuerst einen weiteren Blick in das Gebiet der Kunst eröffneten. Rauch, Schinkel, Tieck, Wach, Dähling und andre Künstler verkehrten viel bei Kohlrausch; aus ihren gelegentlichen Aeußerungen vor den Bildern suchte ich, so viel als möglich, mich zu belehren. Sonst war ich ziemlich auf mich selbst angewiesen: denn meine Jugendfreunde, Fritz, August und Paul sahen wohl gern hübsche Bilder und Kupferstiche an, aber ich merkte bald, daß ein näheres Eingehn darauf ihnen gar kein Interesse erregte. Von einer öffentlichen Bildergallerie wußte man damals in Berlin eben so wenig, als von einem Antikenkabinet oder einer Samlung von Gypsabgüssen, es war daher eine besondere Gunst des61 Schicksals, daß ich bei einem Privatmanne so viele bedeutende Kunstsachen vereinigt fand.
Kohlrausch hatte sich in den Jahren 1804 – 1808 in Italien aufgehalten, und dort die namhaftesten Künstler kennen gelernt. Wilhelm von Humboldt, der mit seiner Familie in Rom lebte, würdigte ihn seiner Freundschaft und seines vertrauten Umganges. Durch ihn ward er zum Geheimen-Medizinalrath im Kultusministerium ernannt, und erfreute sich viele Jahre lang in Berlin einer ausgedehnten ärztlichen Praxis. Zwar wollten seine Widersacher, an denen es ihm nicht fehlte, behaupten, er wirke mehr durch seine imponirende Persönlichkeit, als durch besonders gründliches medizinisches Wissen, sie mußten aber zugeben, daß er zu den glücklichen Aerzten gehöre. Wenn man ihn recht nöthig brauchte, so kam er gerade vorgefahren, und seine meisten Kuren gelangen. Wir hatten, da er unser Hausarzt war, mehrmals Gelegenheit, dies zu erproben. Im Kunstfache konnte man ihm auch nicht sehr tiefe Kenntnisse zuschreiben, er hatte aber Glück und Geschick genug, um die werthvollsten Sachen zusammenzubringen.
Um die folgenden Angaben verständlich zu machen, will ich hier vorweg bemerken, daß nach dem Tode von Kohlrausch ein Theil seiner Samlungen verkauft ward. Dies hat für die Ueberbleibenden immer etwas schmerzliches, aber dieser Schmerz muß überwunden werden. Gemälde, Kupferstiche, Bibliotheken und alle Samlungen eines Privatmannes gehören gleichsam mit zu seiner Kleidung, von der er sich soviel anschafft, als er gerade brauchen kann. Bei seinem Abscheiden geben die aufgelösten Theile andern Samlern Gelegenheit, etwas wünschenswerthes zu erwerben, die öffentlichen Museen haben62 die Pflicht, das köstlichste als dauernden Besitz für künftige Zeiten dem Volke zu erhalten, und vor dem Verderben zu schützen.
Ein andrer Theil der Samlung meines Oheims blieb in Tante Jettchens Besitz und ging mit ihr nach Hannover. Mehrere sehr werthe Andenken sind mir zu Theil geworden, anderes kam nach Tegel an Wilhelm von Humboldt. Wo ich meinem Gedächtniß trauen darf, da will ich den Befundort der Kunstsachen angeben, und beim Rückblicke in eine so reiche Vergangenheit auch der folgenden Zeiten gedenken.
In dem Bibliothekzimmer meines Oheims prangte auf einem hohen Untersatze, vortheilhaft beleuchtet, ein Gypsabguß der Juno Ludovisi, an dem man sich gar nicht satt sehn konnte. Der Standpunkt war freilich viel zu nahe, auch wenn man das daran stoßende Wohnzimmer mit zu Hülfe nahm, allein auch so war der Eindruck ein überwältigender. Die vollkommne Regelmäßigkeit der Züge hatte anfangs etwas abstraktes, übermenschliches, von der Natur abweichendes, und es dauerte lange, ehe ich mich damit befreunden konnte. Rauch sagte einmal, mit seinen schönen blauen Augen ganz im Anschauen versunken: Das ist ein griechischer Kopf! Ja wohl! krähte Tieck mit seiner feinen Stimme ihm entgegen, so kann die Königin der Götter wohl ausgesehn haben!
Auf den Bücherschränken sah man die Gypsköpfe des Apollo von Belvedere, des Laokoon, der Mediceischen Venus u. a. Diese konnte man nicht recht genießen; denn unglücklicher Weise hatte Kohlrausch dieselben, wie er sagte, auf Schinkels Anrathen, um sie vor Staub und Schmutz zu schützen, mit einem eignen Firniß überziehn63 lassen; aber die Operation mislang und die Büsten waren ganz gelb geworden. Diesem Schicksale entging zum Glücke die herrliche Medusa Rondanini (jetzt in München), die im Bibliothekzimmer auf einer besonderen Konsole ihren Platz erhalten. Hier verbindet sich die höchste Schönheit mit dem graunvollen Erstarren des Todes. Wenn man irgend einen Gesichtsausdruck „ unbeschreiblich “nennen darf, so ist es gewiß der dieser Meduse. Kohlrausch hatte sie stechen lassen und als Etikette in seine Bücher geklebt.
Neben der Juno standen in den Ecken des Zimmers zwei Marmorbüsten von Thorwaldsen, ein Mars und ein Adonis, damals vermuthlich die einzigen Marmorarbeiten dieses Künstlers in Berlin. Von Thorwaldsen selbst wußte Kohlrausch uns manches interessante zu erzählen, wie er als der Sohn eines armen Schiffzimmermannes in Kopenhagen sich zuerst durch geschickte Holzschnitzereien an den Schiffschnäbeln bemerklich gemacht, wie er dann auf die K. Kunstakademie gekommen, aber entsetzlich faul gewesen sei. Beim Herannahen der letzten großen Prüfung war Thorwaldsen in Verzweiflung, weil ihn das Bewußtsein quälte, gar nichts gelernt zu haben. Die Schüler der Bildhauerkunst wurden bei diesem Examen jeder in ein besonderes Zimmer 12 Stunden lang verschlossen, und erhielten Material, um einen Kopf oder ein Basrelief zu modelliren. In der Angst seines Herzens nahm Thorwaldsen ein Fläschchen Rum mit in den Verschluß, und trank es alsbald aus, um sich zu begeistern. Die natürliche Folge davon war, daß er, an starke Getränke gar nicht gewöhnt, in einen tiefen Schlaf verfiel, und erst kurz vor der Eröffnungszeit erwachte. Nun raffte er sich zusammen, und64 modellirte ein Basrelief: Amor auf einem Löwen, das einstimmig den ersten Preis erhielt, und ihm eine Königliche Pension zu mehrjährigem Aufenthalte in Rom sicherte. Allein auch hier that er anfangs für seine Kunst nicht viel, dagegen wußte er sehr genau, wann an der Ripa grande der Tiber die spanischen Schiffe aus Barcellona mit den süßen Weinen angekommen waren, und verfehlte nicht, mit guten Freunden ihnen fleißig zuzusprechen. Erst im neunten Jahre seines römischen Aufenthaltes trat er mit einer Kolossalstatue des Mars hervor, die seinen Ruf als Bildner gründete, und sogleich von einem englischen Lord in Marmor bestellt ward.
Den Kopf dieses Mars besaß Kohlrausch in einer vom Künstler vollendeten trefflichen Wiederholung. Die zurücktretende Stirn und der zornig geöffnete Mund geben dem Gesichte etwas individuelles, das sich zwar von dem gewöhnlichen Typus der Antiken entfernt, aber nichts desto weniger durch Großartigkeit der Auffassung hinreißt. Am nächsten steht dieser Mars den beiden Dioskurenköpfen vom Monte Cavallo.
Ob der liebliche träumerische Adoniskopf mit den zierlich gekräuselten Locken auch einer Statue angehört habe, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Sehr stylvoll und von grandioser Gewandung war eine Madonna mit Christus und Johannes, von Thorwaldsen mit schwarzer Kreide gezeichnet. Man erkannte den Bildhauer in der ruhigen würdevollen Haltung der Madonna und in den vollkommen modellirten Körpern der beiden Kinder. Kam an das K. Kupferstichkabinet in Berlin.
Einen besonderen persönlichen Werth für Kohlrausch hatte eine kleine runde Bleistiftzeichnung von Thor -65 waldsen: Hygieia mit dem Adler Jupiters, als flaches Belief gehalten; die Umschrift lautet: Albertus Thorwaldsen amico suo Kohlrausch.
Endlich hing unter den Zeichnungen von Thorwaldsen eine schöne kolorirte Darstellung: Dante und Virgil auf dem Rücken Geryons in die Hölle hinabsteigend. Diese sauber ausgeführte Zeichnung hielten wir alle für ein Original, und Kohlrausch, der es doch am besten wissen konnte, hatte auf der Rückseite bemerkt, sie sei von Thorwaldsen, bis vor wenigen Jahren Professor Horcher aus Berlin, die Originalzeichnung in schwarzer Kreide im Thorwaldsenmuseum in Kopenhagen vorfand. Das Blatt von Kohlrausch, welches später in meinen Besitz gelangte, hat ganz das Ansehn, als sei es von Joseph Koch gearbeitet.
Vollendet in der Ausführung war eine kleine Marmorstatue des Aeskulap von Rauch, etwa ein Drittel lebensgroß; sie zeigte bei dieser frühen Arbeit die liebevolle Sorgfalt in der Behandlung des Marmors, welcher Rauch bis in seine spätesten Zeiten niemals untreu geworden ist.
Eine Bleistiftzeichnung von demselben Künstler hing über dem Schreibtische von Kohlrausch. In Form eines langen Basreliefs zeigte sie die Wegführung der Helena mit vielen Figuren. Ich wüßte nicht, daß Rauch außer diesem noch andre mythologische Gegenstände behandelt hätte.
Unter mehreren alt-italiänischen Bildern gefiel mir besonders eine kleine Anbetung der Hirten, die sich am nächsten der Zeit des Pietro Perugino anschloß, aber weniger Feinheit in der Ausführung besaß. Ich ergötzte mich immer von neuem an den treuherzigen Gesichtern der Hirten und an ihren originellen Anzügen, die uns66 einen Begriff von den Kleidertrachten des 16. Jahrhunderts gaben. Kam an die städtische Gallerie in Hannover.
Von den neueren Bildern erregte vor allen ein Oelbild des hochbegabten Schick die Aufmerksamkeit der Beschauer: Christus den Kelch segnend, halbe Figur; rechts und links je ein kniender Engel mit einer Fackel; an Reinheit der Zeichnung, Vortrefflichkeit der Ausführung und geistiger Tiefe ein wahrhaft raphaelisches Bild. Ist noch im Besitze des Sohnes von Kohlrausch in Hannover.
Von Schick sah man ferner in einem Rund ein Bildniß der Ministerin von Humboldt, die ihren ältesten Sohn Theodor auf den Knien hält. Der Knabe mit einer einfachen römischen Tunica bekleidet, ist bereits 10 oder 12 Jahr alt, mithin viel zu groß, um sich auf dem Schooße wiegen zu lassen; die Malerei von großer Klarheit und Durchsichtigkeit befindet sich in Tegel.
Ein Brustbild von Kohlrausch, von Schick gemalt, war nicht besonders glücklich in der Auffassung, aber ungemein kräftig in der Farbe. Es gehört jetzt meinem Bruder Moritz.
Zu meinen liebsten Blättern gehörte eine Kreidezeichnung nach A. Carstens von Böndel mit vieler Sorgfalt ausgeführt, und von Schick retouchirt: das goldne Zeitalter. Hier konnte man nicht genug die Schönheit der Figuren, die fließende Harmonie der Linien, die ungesuchte Grazie der Stellungen bewundern. Ist jetzt in meinem Besitz.
Loth mit seinen Töchtern, Oelbild von Joseph Koch, war ausgezeichnet durch die Tüchtigkeit der Komposition, die korrekte Zeichnung und die sorgfältige Ausführung. Diese Eigenschaften versöhnten mit dem verfänglichen67 Gegenstande. Haben doch die alttestamentlichen Legenden das Vorrecht erlangt, daß man an ihnen eben so wenig Anstoß nimmt, als an der griechischen Mythologie. Unter den kleinen historischen Bildern von Koch, deren es nicht viele giebt, halte ich dies für eins der besten. Es hängt in Tegel.
Zwei kleine Sepiazeichnungen von Koch, mit biblischen Figuren staffirt, aus seiner besten Zeit, zeigten die Poesie der Gebirgslinien, die ihm vor allen seinen Zeitgenossen eigen ist. Sein Uebergewicht hierin war so anerkannt, daß Carstens kein Bedenken trug, auf seinen schönen Blättern zum Argonautenzug, die Landschaften durch Koch, wenn auch nicht ganz hineinzeichnen, doch revidiren und in Styl setzen zu lassen. Alexander von Humboldt ließ bei seiner Rückkehr aus Amerika die zu seinem Werke: Vues des Cordillères, gemachten leichten Skizzen von Koch für den Stich auszeichnen, und rief bei einem besonders gelungenen Blatte: Wahrlich, so hat der Kotopaxi ausgesehn!
Nicht bloß eigne Arbeiten, auch eine gute Kopie von Koch befand sich in der Samlung von Kohlrausch: Platons Symposion nach Carstens, ein farbiges Blatt von der grösten Schönheit. Dies so wie die beiden vorigen Sepiazeichnungen sind in meinem Besitz.
Sehr mannigfaltig und werthvoll waren die Arbeiten von Reinhart, mit welchem Kohlrausch in genauer Freundschaft lebte und oft von ihm erzählte. Von dem überkräftigen Wesen dieses wüsten Gesellen sind mir manche Züge im Gedächtniß geblieben. In der ersten Zeit seines römischen Aufenthaltes saß Reinhart mit einigen Freunden in einem Kaffeehause, als ein feister Geistlicher68 mit glänzend rothem Gesichte und vollen Pausbacken hereintrat. Reinhart haßte die Pfaffen aus voller Seele, und als einer der Genossen im Scherze sagte: das ist recht ein Gesicht zum ohrfeigen! so war Reinhart frech genug aufzustehn, und dem ihm ganz unbekannten Manne eine Ohrfeige zu geben. Daß eine so unerhörte That nicht ungestraft hingehn werde, war vorauszusehn. Der Beleidigte wählte aber nicht den Weg des Prozesses, sondern ließ dem Thäter auflauern, um ihn aus der Welt zu schaffen. Reinharts Glück wollte, daß mehrere Mordversuche mislangen. Nur durch eine langdauernde Entfernung von Rom und durch ein namhaftes Sühnegeld konnte er diese für ihn sehr wenig ehrenvolle Geschichte beilegen.
Durch eine stillschweigende Uebereinkunft hatten die drei bedeutendsten Landschafter jener Zeit, Rhoden, Reinhart und Koch das Gebiet ihrer künstlerischen und Jagdexcursionen nach den Orten getheilt, aus denen sie ihre Frauen genommen. Rhoden beutete Albano und das Albaner Gebirge aus, Koch studirte in Olevano und Subiaco, Reinhart hauste in dem romantischen Tivoli. Die Umwohner von Tivoli hatten einen besonders wilden Karakter, und da Reinhart als gewaltiger Jäger immer mit der Flinte im Arm die Berge durchstreifte, so gerieth er durch sein rauhes Wesen in manche Kollisionen, wo es galt, einen verzweifelten Muth zu zeigen. Das Jagdrecht war damals auf die einzelnen Dorffluren beschränkt, und jede Uebertretung ward als Jagdfrevel angesehn. Reinhart zog einst mit zwei Gesellen aus, und schoß in einer strittigen Gegend ein Rebhuhn. Die Einwohner des nächsten Ortes kamen ihnen bewaffnet nach, und verlangten die Herausgabe der69 Beute. Reinhart verschanzte sich in einem einsam gelegenen Hause und begann zu unterhandeln. Als dies nichts fruchtete und die Gegner nur noch ärger tobten, ließ er die drei Gewehre laden, warf das Rebhuhn auf den Weg, und rief: nun ist es herausgegeben! Zugleich richteten sich die drei Gewehrläufe aus dem Fenster auf jene Stelle, um den ersten, der das Huhn anrühren würde, niederzuschießen. Die Gegner begnügten sich mit der buchstäblichen Erfüllung ihrer Forderung; das Rebhuhn blieb ruhig liegen.
Der wilde Reinhart hatte vor seiner Reise nach Italien mit meinem Vater in sehr freundschaftlichen Verhältnissen gestanden. In dem Nachlasse meines Vaters bewahre ich eine große Menge Briefe von Reinhart, aus denen die wärmste Zuneigung hervorleuchtet, und die hin und wieder mit flüchtigen, höchst geistreichen Zeichnungen illustrirt sind. Sie stammen aus den Jahren 1786 – 1788. Es muß aber wohl in diese Freundschaft ein Riß gekommen sein: denn als ich im Jahre 1821 nach Rom ging, gab mir mein Vater keine Grüße an Reinhart mit. Da ich von der früheren Verbindung nichts wußte, so besuchte ich Reinhart ganz unbefangen, um seine schönen Arbeiten zu sehn. Wohl ist mir erinnerlich, daß ich mich gewundert, wie lang und eindringlich er mich angesehn, aber meines Vaters erwähnte er mit keiner Sylbe.
Das Hauptstück von Reinhart in der Samlung meines Oheims Kohlrausch war eine kleine Ansicht von Acqua acetosa bei Rom. Sie hing in der besten Beleuchtung an einer Fensterwand, und gewann in meinen Augen immer mehr, je öfter ich sie betrachtete. Im Vordergrunde sitzt ein Jäger vom Rücken gesehn unter einem Baume, und schaut70 über die gelbe Tiber hinweg nach den fernen duftigen Bergen.
Zwei andere etwas größere Landschaften von Reinhart stellten bebuschte Felsgegenden dar mit badenden Figuren. Sie waren von der grösten Wirkung, bedeutend in den Massen und fein in der Ausführung, hatten für mich aber nicht den Reiz, wie das himmelklare und doch schwermüthige Acqua acetosa.
Von demselben Künstler sahen wir ferner ein sehr ähnliches Brustbild von Kohlrausch. Die Bildhauer und Maler hatten damals dem modernen Kostüme den Krieg erklärt, daher war Kohlrausch auf diesem Portrait mit einer braunen Mönchskutte dargestellt, die seinen nicht sehr edlen Zügen keineswegs vortheilhaft stand. Auf Tante Jettchens Wunsch wurde dieser „ braune Kapuziner “sehr hoch an einer dunkeln Stelle angebracht. Dies schöne, alla prima gemalte Bild ist in meinem Besitze. Ich wüßte nicht, daß Reinhart sich sonst im Portraitfache versucht hätte.
Auf einer kleinen geistreichen Sepiazeichnung hatte Reinhart seinen Freund Kohlrausch in ganzer Figur dargestellt, wie er einige alte Kleider zum Kauf oder Tausch anbietet, mit der Unterschrift: Robbj vecchj! Die Beziehung dieses Scherzes ist mir nicht gegenwärtig geblieben.
Ein anderes, höchst genial ausgeführtes Blatt von Reinhart zeigte eine schreiende menschliche Figur von Schlangen umwunden, mit der Unterschrift: Il Reuma. Es ist bekannt, daß die Italiäner, die sich so rücksichtslos dem Zugwinde aussetzen, und besonders die italiänischen Jäger viel von Rheumatismen zu leiden haben.
Nicht minder genial, aber weit größer in der Wirkung, wie in den Dimensionen erschien eine bunte Aquarell -71 zeichnung: der Erlkönig. Von allen Darstellungen dieses oft bebandelten Gegenstandes, die ich kenne, würde ich der Reinhartschen den Vorzug geben. Sie ist die wildeste und schauerlichste. Dem Vater hat der Künstler einen Helm aufgesetzt, dadurch wird er als Krieger bezeichnet, und trotzdem jagt er in furchtsamer Eil vor dem luftigen Ungethüm davon. Ist in meinem Besitz.
An der Hauptwand des Besuchzimmers hing eine große Landschaft von Wallis: das Theater in Taormina. Eine solche ätherische Weite der Aussicht über Land und Meer hielt ich beinahe für unmöglich, bis ich das Glück hatte, in Taormina mich zu überzeugen, daß die Schönheit der Natur alle Darstellungen weit überrage. Einen besonderen Werth erhielt dieses trefliche Bild durch den Umstand, daß mehrere Figuren im Vordergrunde von Thorwaldsen hineingemalt waren, der bei dem ihm befreundeten Wallis einmal versuchen wollte, ob er auch die Palette in die Hand nehmen könne.
Sehr gern betrachteten wir eine schnell ausgeführte bunte Gouachezeichnung von Schinkel auf blauem Papier. Sie gab eine weite Fensteraussicht über Rom. Ob sie aus Schinkels Wohnung aufgenommen war, oder aus der von Kohlrausch, ist mir entfallen.
Eine unbeschreibliche Anmuth entfaltete ein kleines Oelbild von Franz oder Johann Riepenhausen: Genovefa mit dem Kaplane lesend. Diese Darstellung findet sich auch in den gestochenen Umrissen zur Genovefa, und es bleibt dahingestellt, welches die frühere Arbeit sei. Jedenfalls verdient das Oelbild auch in Bezug auf die Komposition den Vorzug. Auf dem Kupferstiche guckt der Engel mit dem Lilienstengel neugierig zur Thür herein,72 was einen fast komischen Eindruck macht, als wollte er sagen: ich störe doch nicht? hier steht er im Vorgrunde an einen Stuhl gelehnt in so edler und graziöser Stellung, daß man als höchstes Lob nur sagen kann: er ist raphaelisch! Hängt jetzt über meinem Stehpult und erfreut mich täglich.
Von dem wenig bekannten dänischen Maler Lund besaß Kohlrausch ein schönes kleines Oelbild: Neoptolemus und Andromache mit Astyanax an einem Altare; hinten das zerstörte Troja. Kräftig in der Farbe und von akademischer Korrektheit; bei den kleineren Figuren sind, nach einer damaligen Unsitte der Maler, nur die Augenbrauen, nicht die Augen angedeutet, so daß sie alle wie blind erscheinen. Gehört meiner Tochter Veronika.
Gehn wir nun von den Büsten und Gemälden zu den Kupferstichen über, so muß ich vor allen des gewaltigen jüngsten Gerichtes von Michelangelo gedenken. Der Stich von Metz, in 16 oder 20 Folioblättem, ist im Jahre 1804 in Rom ausgeführt. Metz war früher Maler gewesen, hatte aber die für einen Maler besonders verdriesliche Eigenschaft, die Farben nicht unterscheiden zu können, daher wandte er sich zur Kupferstecherkunst, und fertigte mehrere geschätzte Arbeiten, unter denen das jüngste Gericht die ausgezeichnetste. Allein wegen der damaligen Kriegszeiten konnte er nicht den gehofften Vortheil aus seinen Bemühungen ziehn, die Platten scheinen im Laufe der Jahre verloren zu sein, und Abdrücke gehören zu den grösten Seltenheiten. Kohlrausch hatte die losen Blätter von dem Künstler in Rom gekauft, und sie in Berlin von einem geschickten Buchbinder auf einen Blendrahmen von 6 Fuß Breite und 6½ Fuß Höhe aufziehn lassen. Weil die Blätter73 nicht überall genau zusammenstießen, so hatte Schinkels kunstgeübte Hand einige Wolkenschraffirungen mit schwarzer Kreide angebracht, und so das Ganze vortrefflich in Harmonie gesetzt.
Hier wurde uns nun die grandioseste Schöpfung der neueren Malerei unmittelbar vor Augen geführt; wir konnten recht nach Herzenslust uns dem Eindrucke des unvergleichlichen Werkes hingeben, und wenn es uns vergönnt war, an Schinkels Seite vor dem Bilde zu stehn, so verloren wir keines der goldnen Worte, die aus seinem Munde kamen. Fast unglaublich mußte es uns vorkommen, daß schon die untersten Figuren über lebensgroß seien, daß sie nach der Höhe immer zunehmen, und daß der richtende Christus 12 Fuß mißt. Als besonders ergreifend schilderte Schinkel den Anblick des rechts zur Hölle hinabgezogenen Verdammten, der das eine Auge mit der Hand bedeckt, und