PRIMS Full-text transcription (HTML)
Von vor und nach der Reise
Plaudereien und kleine Geschichten
Zweite Auflage
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BerlinWF. Fontane & Co. 1894

Modernes Reisen. Eine Plauderei.

Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede. Kanzlistenfrauen besuchen einen klimatischen Kurort am Fuße des Kyffhäuser, behäbige Budiker werden in einem Lehnstuhl die Koppe hinaufgetragen, und Mitglieder einer kleinstädtischen Schützengilde lesen bewundernd im Schlosse zu Reinhardsbrunn, daß Herzog Ernst in fünfundzwanzig Jahren 50,157 Stück Wild getötet habe. Sie notieren sich die imposante Zahl ins Taschenbuch und freuen sich auf den Tag, wo sie in Muße werden ausrechnen können, wie viel Stück auf den Tag kommen.

Alle Welt reist. So gewiß in alten Tagen eine Wetter-Unterhaltung war, so gewiß ist jetzt eine Reise-Unterhaltung. Wo waren Sie in diesem Sommer, heißt es von Oktober bis Weihnachten; wohin werden Sie sich im nächsten Sommer4[ wenden]? heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber der Juli bringt es wieder ein . Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest. So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen.

Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. 5Der moderne Mensch, angestrengter wie er wird, bedarf auch größerer Erholung. Findet er sie? Findet er das erhoffte Glück?

Ja und nein, je nachdem wir das eine oder andere unter reisen verstehen. Heißt reisen einen Sommeraufenthalt nehmen, so ist das Glück nicht nur möglich, sondern bei leidlich normaler Charakterbeschaffenheit sogar wahrscheinlich; heißt reisen aber dauernde Fortbewegung , will sagen beständiger Wechsel von Eisenbahnen und Hotels, woran sich Bergerkletterungen und ähnliches blos anschließen, so muß man es gut treffen oder sehr bescheiden und sehr geduldig sein, um von seiner Reise das zu haben, was man wünscht: Freude, Glück.

In der That, es dreht sich alles um den Gegensatz von Sommerfrischler und Sommerreisenden.

Betrachten wir zunächst den Sommerfrischler, den Repräsentanten der guten Reiseseite.

Der kleine Beamte, der Oberlehrer, der Stadtrichter, der Archidiakonus, die sich in ein eben entdecktes Dünendorf begeben, wo ihnen gelegentlich die Aufgabe zufällt, den allerursprünglichsten Strandhafer abzuwohnen, diese alle können, wenn sie mit Sack und Pack und ausgerüstet wie eine Auswandererfamilie in ihrer Fischerhütte einziehn, unter Segeltuch und ausgespannten Netzen ein höchst glückliches Dasein6 führen. Sie werden, eh die Biederherzigkeit der alten Teerjacke, die erfahrungsmäßig höchstens drei Sommer aushält, in Gewinnsucht untergeht, für ein Billiges leben und die unvermeidlichen Ausgaben der eigentlichen Reise, der Locomotion als solcher, durch andauernden Blaubeeren - und Flundergenuß wieder balancieren können; die Kinder werden primitive Hafenanlagen im Sande machen, und die erwachsenen Töchter Muscheln und Bernstein suchen; unsagbar alte Garderobenstücke werden aufgetragen, Reminiscenzen an Cooper und Marryat neu belebt, vor allem auch Abmachungen auf Lieferung von Spickaal und Sprotten getroffen werden. Im ganzen wird man dankbar und wohlbefriedigt in die Heimat zurückkehren, gefestigt in allem Guten und gewachsen in der Kraft, die uns jede[ intimere] Berührung mit der Natur zu geben pflegt. Nur vereinzelt[ unangenehme] Eindrücke und Erfahrungen werden den Frieden einer solchen Sommerfrische gestört haben und der endliche Reiseüberschlag wird ergeben, daß man sich diese Erholung ohne nachträgliche Gewissensbisse wohl gönnen durfte. Die Extrafahrt nach Putbus war zwar teuer, aber bedenken wir auch, es ist eine Erinnerung fürs Leben.

So oder ähnlich wird es vieler Orten heißen und7 wenn ich Umschau halte, will es mir erscheinen, daß sich solche, in der Bescheidenheit ihrer Ansprüche Befriedigten immer noch zu Tausenden finden müssen, nicht blos an der Ostseeküste hin, auch in Schlesien, am Oberharz, und in den Thälern und Bergkesseln des Thüringer Waldes. Aber alle freilich, wie ich wiederholen muß, werden dieses ungetrübten Glückes nur teilhaftig geworden sein, wenn sie während ihrer Reisezeit sich damit begnügten, in gewissem Sinne zu den Halb-Nomaden zu zählen, mit anderen Worten, wenn sie vier Wochen lang auf ein und derselben Gebirgs - oder Strand-Oase aushielten.

So viel über den Sommer-Frischler, einen Glücklichen.

Aber sehr anders, wie schon angedeutet, liegt es bei dem Sommer-Reisenden, der, wenn nicht beständig, so doch vielfach unterwegs, immer in der Gefahr schwebt, seine Lagerstätte wechseln zu müssen. Es ist[ nicht] zu leugnen, das Glück des mehr oder weniger seßhaften Frischlers ist für den eigentlichen Reisenden, für den Tag um Tag seine Weideplätze wechselnden Voll-Nomaden nicht da. Keine wirkliche Wüstenfahrt, was sonst immer ihre Schrecken sein mögen, kann verdrießlicher und räuber-umschwärmter sein. Auch in Sachen der Fata Morgana hat der eigentliche Tourist zu leiden,8 wie nur je ein Wüstenfahrer. Immer neue Hotel-Schlösser tauchen verheißungsvoll am Horizonte vor ihm auf, aber der Moment der Erreichung ist auch jedesmal ein Moment der Enttäuschung für ihn. Er findet Kühle, nicht Kühlung.

Ist das alles ein Unvermeidliches?

Nein. Nichts davon, daß man es nicht anders gewollt, daß man ja das Recht gehabt habe ruhig zu Hause zu bleiben, und daß jeder, der sich leichtsinnig in Gefahr begäbe, nicht erstaunt sein dürfe, darin[ umzukommen]. Dies alles ist nicht nur falsch, es ist auch hart und grausam, denn die Reise-Benötigung, die bestritten werden soll, ist wirklich da. So gewiß für den Durstverschmachteten ein Zwang da ist zu trinken, so gewiß ist auch für den staub - und arbeitsvertrockneten Residenzler ein Zwang da nach einem Trunke frischer Luft, und wer ihm diesen Trunk verbittert und verteuert, der thut viel Schlimmeres als die Brauwirte, die dem Volke das Bier verteuern. Und doch geschieht es. Ja die traurige Erscheinung tritt ein, daß mit dem Wachsen des Bedürfnisses auch die Unmöglichkeit wächst, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Der vorhandene Notstand, statt die Frage anzuregen: wie heben wir ihn? regt nur die Frage an: wie beuten wir ihn aus! Der Reisedrang, je allgemeiner er9 geworden ist, hat nicht Willfährigkeit und Entgegenkommen, sondern das Gegenteil davon erzeugt. Vielfach reine Wegelagerei. Wirte, Mietskutscher und Führer überbieten sich in Gewinnsucht und Rücksichtslosigkeit, und wer im Gegensatz zu den vorgeschilderten, relativ seßhaften Reisenden sein Reiseglück auf diese drei Karten gestellt hat, der wird freilich wohl thun, mit niedrigsten Erwartungen in die Situation einzutreten.

War es immer so? Mit nichten. Wie ganz anders erwiesen sich die Wirte vergangener Tage! Nur noch Einzel-Exemplare kommen vor, an denen sich die Tugenden eines ausgestorbenen Geschlechts studieren lassen. Wer sie voll erkennen will, der lese die englischen Romane des vorigen Jahrhunderts. Auch noch in W. Scott finden sich solche Gestalten. Es gab nichts Liebenswürdigeres als solchen englischen Landlord, der in heiterer Würde seine Gäste auf dem Vorflur begrüßte und mit der Miene eines fürstlichen Menschenfreundes seine Weisungen gab. Er vertrat jeden Augenblick die Ehre seines Standes. Er war nicht dazu da, um in den drei Reisemonaten reich zu werden, still und allmählich sah er sein Vermögen wachsen und gab dem Sohne ein Eigentum, das er selbst einst vom Vater empfangen hatte. Er waltete seines Amts aus gutem Herzen10 und guter Gewohnheit. Er war wie ein Patriarch; sein Gasthaus eine Zufluchtsstätte, ein Hospiz.

Auch in Deutschland gab es solche Gestalten, wenn auch vereinzelter, und ich entsinne mich selbst noch, wenn ich Ende der zwanziger Jahre die damals viertägige Reise von der pommerschen Küste bis in meine Ruppinsche Heimat machte, an solchen Wirtstafeln, namentlich in den mecklenburgischen Städten, gesessen zu haben. Eine geräuschlose Feierlichkeit herrschte vor, der Wirt gab nur den Anstoß zur Unterhaltung, dann schwieg er und belauschte klugen Auges die Wünsche jedes Einzelnen. Kam dann die Abreise, so mußten seine verbindlichen Formen den Glauben erwecken, man habe seinem Hause eine besondere Ehre erwiesen. Damals war jede Mittagsrast ein Vergnügen, jedes Nachtlager ein wohlthuendes, von einer gewissen Poesie getragenes Ereignis. Ich denke noch mit Freuden an diese Ideal - und Idyllzeit des Reisens zurück.

Wie sind jetzt die Hotel-Erlebnisse des kleinen Reisenden! Ich antworte mit einer Schilderung, bei der ich (vielleicht leider) Persönliches in den Vordergrund treten lasse. Persönliches und mit ihm das bis hierher nach Möglichkeit zurückgehaltene Ich.

Der Zug hält. Es ist sieben Uhr abends. Jenseits des Schienenstranges steht die übliche Wagen -11 burg von Omnibussen, Kremsern und Fiakern; Hotelkommissionäre, Fremdenführer, Kutscher machen die bekannte Sturmattacke, allen vorauf ein zehnjähriger Junge, der sich mit unheimlicher Geschicklichkeit der kleinen Reisetasche zu bemächtigen trachtet. Alles wird siegreich von mir abgeschlagen, aber nicht zu meinem Heil. Es empfiehlt sich nicht, zu Fuß zu kommen und die bekannten Fragen zu stellen. Ein mitteleleganter Oberkellner ritt, als ich in das Hotel eintrat, bereits auf seinem Drehschemel. Kann ich ein Zimmer haben? Ich werde fragen. Er[ frug] aber nicht, schritt vielmehr gleich danach mit dem bekannten Silberblechleuchter die Treppe hinauf, mich der Mitteilung würdigend, daß No.  7 soeben frei geworden sei. Diese Mitteilung schien sich bestätigen zu sollen, denn beim Eintritt in die besagte Nummer fanden wir eine Magd bei dem herkömmlichen, in drei Akten: ausgießen, eingießen und überziehen sich vollziehenden Zimmer-Reinigungsprozeß vor. Ich war nicht begierig, Zeuge dieser Einzelheiten zu sein und zog mich deshalb lieber in den parterregelegenen Speisesaal zurück, um hier bei Beefsteak, Kulmbacher und den Fliegenden Blättern , nicht gerade Mitternacht, aber doch die zehnte Stunde heranzuwachen. Endlich war sie da; noch ein Sodawasser mit Cognac,12 und ich stieg wieder in meine nach dem Hof zu gelegene Stube hinauf, an deren niedriger Decke sich ein überklebter Balken hinzog. Oben angekommen, war mein Erstes eins der beiden Fenster zu öffnen, da mich die eigentümliche Stubenatmosphäre mehr und mehr zu bedrücken begann. Es schien auch zu helfen. Und nun schob ich mich, müde wie ich war, unter das Betttuch.

Ich mochte eine Viertelstunde geschlafen haben, als das Hinausfliegen mehrerer Stiefelpaare auf den Corridor und das Angespanntwerden eines Hotel-Omnibus (gleich nach 1 Uhr kam ein neuer Zug) mich aus tiefem Schlafe weckte. Zugleich empfand ich einen dumpfen Kopfschmerz, über dessen Ursache ich nicht lange in Zweifel bleiben sollte. Die frische Nachtluft , die ich, um der stickigen Stubenatmosphäre willen, einzulassen bemüht gewesen war, stieg leider nicht aus Himmelshöhen[ zu] mir nieder, sondern aus Hofestiefen zu mir herauf und war ein Brodem, wie ihn jeder aus Erfahrung kennt, der, um etliche Jahrzehnte zurück, noch im alten Münchener Hofbräu seinen Krug getrunken hat. Nur hatt ich hier die höhere Potenz.

Und an dieser Stelle mag ein kleiner Excurs gestattet sein! Daheim an den Ufern unserer guten Spree gehört es zum guten Ton, über unsere Ber -13 liner Luft zu skandalisieren, und es soll unbestritten bleiben, sie könnte besser sein. Aber was will die durchschnittliche Berliner Hausatmosphäre im Vergleich zu dem Dunstkreise sagen, der in den meisten Hotels und Nicht-Hotels Sachsen-Thüringens heimisch ist. Die Berliner Luft, auch wo sie am schlimmsten auftritt, ist ein Parvenu wie die Stadt selbst, jung, ohne Geschichte, ohne infernale Vertiefung. So schlecht sie sein mag, sie ist einfach, unkompliziert, so zu sagen frisch von der Quelle weg. Wie anders dagegen die Hausatmosphäre in den Früh-Kulturgegenden Mitteldeutschlands! Altehrwürdig tritt sie auf und man kann ohne Uebertreibung sagen: die Jahrhunderte haben an ihr gebraut. Sie ist geworden, vor allem sie ist undefinierbar, und wie man vom Kölnischen Wasser gesagt hat, das Geheimnis seiner Schöne läge in der Lagerung, so daß schließlich die Mannigfaltigkeit in einer höheren Einheit unterginge, so auch hier. Nur haben wir hier den Revers der Medaille.

Was aus Hofestiefen in mein Zimmer einströmte, gewann mehr und mehr an Gehalt, so daß ich als nächstes Rettungsmittel das Fenster schloß. Aber die Geister, die ich gerufen hatte, waren so schnell nicht wieder zu bannen. Sie waren mit mir, um mich und schienen wenig geneigt, sich so14 ohne weiteres austilgen zu lassen. Alle kleineren Mittel scheiterten; da kam mir der Gedanke, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. Ich steckte die Bougies an, ließ diese brennen, bis sich eine Schnuppe gebildet hatte und blies sie dann aus. Nachdem ich dies Verfahren dreimal wiederholt hatte, hatte ich eine Art grönländische Hüttenatmosphäre hergestellt, in deren Rauch und Qualm die Frische der Nachtluft endlich glücklich unterging.

Der nächste Morgen sah mich ziemlich spät an der Frühstückstafel. Der Wirt stand abwechselnd hinter und neben meinem Stuhl, was ich anfänglich geneigt war, als eine Auszeichnung anzusehen, bis ich gewahr wurde, daß die wirklichen Gegenstände seiner Aufmerksamkeit mir gegenüber saßen: eine kinder - und kofferreiche Familie, die, den Abend vorher und beinah gleichzeitig mit mir eingetroffen war. Der Koffer, zumal der im Plural auftretende, giebt den Ausschlag und der mitteldeutsche mittlere Hotelwirt (in den besseren Häusern ist es besser) bemißt nach ihm das Maß seiner Gnaden, ohne sich auf irgend ein anderes Kriterium einzulassen. Und wie der Herr, so die Diener. Nur im Moment der Zahlung rücken die Kleinen sofort in die Rechte der Großen ein und während bis dahin alles was ihnen geleistet wurde, auf der Höhe eines15 Maulwurfshügels stand, tritt jetzt die Rechnungsforderung wie ein Finsteraarhorn an sie heran. Und in diesem Vergleich ist der ganze, auf die Dauer unertragbare Zustand gekennzeichnet! Was in allem waltet, ist ein kolossales Mißverhältnis; weder der Ton, der herrscht, noch der Wert dessen, was geboten wird, entspricht dem Preise, der gezahlt werden soll. Ueber den einzelnen Fall wär es unschwer hinwegzukommen, aber die Fülle der Einzelfälle erzeugt schließlich einen Groll, der fast mehr noch in der Unbill, der man sich ausgesetzt fühlt, als in den direkten Einbußen seine Wurzel hat. Ein Gefühl von Ungehörigkeit, und zwar nicht bloß in Geldsachen, begleitet den Reisenden von Stunde zu Stunde und bringt ihn recht eigentlich um den Zweck seiner und jeder Reise, um die Glättung und Ruhigmachung seines Gemüts. Er will den Vibrierungen entfliehen und zittert häufiger als daheim. Aerger hängt sich an Aerger, und der nach nervenstillendem Ozon verlangende Körper findet jene vorbeschriebene frische Nachtluft , die ihn bis an den Rand des Typhus bringt. Die Prätensionen und die Preise richten sich wo möglich nach dem Clarendon-Hotel in London, während doch der alte Herbergs-Charakter immer noch umgeht und sich wie Banquo, die Gäste schreckend, mit zu Tische setzt.

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Auf die eine oder andere Weise muß hier Wandel geschafft, müssen die Leistungen höher oder die Preise niedriger werden. Das letztere wäre das bessere und ein wahrer Segen. Weg mit dem abgetretenen, lächerlichen Teppichfetzen, weg mit der tabaksverqualmten Goldtapete, weg mit dem schäbigen Plüschsofa und der türkisch geblümten Steppdecke, deren bunte Dunkelfarbe jede Möglichkeit zuläßt, vor allem weg mit dem großen Reise-Tyrannen, dem Table d’hote’s-Unsinn, weg mit den sieben Gängen, die bis zum letzten Bissen nichts repräsentieren als einen Wettlauf zwischen Hungrigbleiben und Langerweile. Denn wer wäre je an Leib gesättigt und an Seele erfrischt von diesem Zwei-Stunden-Martyrium aufgestanden! Statt dieses elenden Plunders eine gut ventilierte Stube, ein Stuhl und ein Tisch, eine Matratze und eine wollene Zudecke; vor allem die Freiheit, essen zu können was man will und wann man will. Die Herren Wirte sind des Publikums willen da, nicht das Publikum der Wirte willen. Aber überall verkehrt sich der natürliche Lauf der Dinge und gegen die Verkehrtheit ankämpfende Gemeinplätze werden wieder zu Weisheitsregeln.

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Nach der Sommerfrische.

1819

Wir sind nun also wieder da, Eveline, sagte der Hofrat Gottgetreu zu seiner Frau, denselben Abend noch, wo beide, nach einem sechswöchentlichen Aufenthalt in Ilmenau, wieder in die Residenz zurückgekehrt waren.

Wir sind nun also wieder da. Und es ist auch gut, daß wir wieder da sind, was ich hier aussprechen darf, ohne mich irgend einer Undankbarkeit gegen die schönen Wochen schuldig zu machen, die jetzt hinter uns liegen. Ja, schöne Wochen! Ich war ein andrer Mensch, und nicht ein einziges Mal hab ich von dem herrlichen Kickelhahn-Kamm in das Waldesmeer und die Waldesruhe niedergeblickt, ohne die Schönheit und Tiefe der dort oben eingerahmten Dichterzeilen an mir selber empfunden zu haben. Ueber allen Gipfeln ist Ruh‘. Ach, mehr als das; es war mir immer als ob ich es selber hätte schreiben können. Aber dies mag eine20 Täuschung sein, und wie mir krankhafter Ehrgeiz überhaupt fremd ist, so noch ganz im besonderen der dichterische. Der meinige, wie Du weißt, hält sich innerhalb vorgesteckter und erreichbarer Grenzen. Und ich hoffe, daß ich es erreiche. Freilich, all das liegt noch weit hinaus und ist im übrigen nicht das, worüber ich mich heute zu Dir aussprechen möchte. Was mich heute beherrscht und erfüllt, ist ausschließlich ein Gefühl des Dankes und der Freude. Denn, um es zu wiederholen, ich war ein andrer Mensch dort oben, eingehender auf Deine Wünsche, gerechter gegen Deine Vorzüge, vielleicht auch zärtlicher, wenn ich mich dessen rühmen darf.

Eveline sah vor sich hin.

Es waren schöne Wochen, und dies Anerkenntnis ist und bleibt unerschüttert. Aber je lebhafter ich dies alles empfinde, je lebhafter empfind ich auch, wie gut es ist, daß wir wieder da sind. Ich sehne mich nach Arbeit und nach Bethätigung einer erneuten Kraft, einer wiederhergestellten Gesundheit, und wenn es mir eine Freude war, die Feder aus der Hand zu legen, so find ich es eine noch größere fast, sie wieder aufnehmen und einer intensiven und bedeutenden Gedankenreihe, die mittlerweile höheren Orts für das Ganze gedacht wurde, Form und Ausdruck geben zu können. Und an welcher Stelle21 geschähe das hingebender, als an der, der ich anzugehören das Glück und den Vorzug habe. Ja, meine Teure, keinem anderen Zweige der Verwaltung möcht ich angehören; es ist der einzige, darin noch die Traditionen einer alten und besseren Zeit lebendig sind, ebenso der einzige, mein ich, an dessen Aufsaugung und Einverleibung von seiten des Fürsten noch nicht gedacht worden ist. Und vielleicht auch, daß er an unserem stillen Widerstande scheitern würde.

Eveline lächelte.

Wir sind nun also wieder da, und es ist gut, daß wir wieder da sind. Aber so gut es ist, und so sehr ich mich dieser Wieder-Einkehr in einen Zustand gewohnter Ordnung und erquicklicher gesellschaftlicher Gliederung freue, doch Eveline, dieser Aufenthalt in Gottes freier Natur, dies stündliche Stahlbad, dieser unausgesetzte Heilungsprozeß in Luft und Licht, all das, mein ich, darf nicht plötzlich wieder ein Ende haben. Ich will wieder ein bescheidenes Rad sein in der staatlichen Maschine, meinetwegen auch, wie die Malcontenten es ausdrücken, in der Alltags-Mühle des Hergebrachten und immer Wiederkehrenden, aber in meinem häuslichen und privaten Leben, wenn Du mir ein Ausharren in dem eben citierten Bilde gestatten willst, möcht ich nicht Rad22 in der Mühle, sondern ein in einer ewigen frischen Brise gehender Windmühl-Flügel sein. Es ist eben, wie Du längst bemerkt haben wirst, ein unbezähmbares Luft - und Bewegungs-Bedürfnis in diesen letzten Wochen über mich gekommen, und in dieser erfrischenden und mich beglückenden Rotation möcht ich bleiben, bis die Welle abgelaufen ist.

Du willst also, lieber Hermann, wenn ich Dich recht verstehe, den Dauerlauf in Permanenz erklären.

Ungefähr das … Und so gestatte mir denn die Specifizierung eines Programms, das ich Deiner Begutachtung und beziehungsweise Deiner Zustimmung unterbreiten möchte. Denn ohne diese geht es nicht. Eine staatliche Reform läßt sich erzwingen, eine Hausreform aber ermöglicht sich nur auf dem Wege friedlicher Kompromisse.

So laß mich hören.

Ich fange natürlich mit dem Anfang an. Es muß ein Ende haben mit dem ewigen Morgenschlaf und dem Einmummeln und der ganzen Bärenhäuterei. Nichts mehr von oder 9. Um 6 heraus. Und kein Unterschied ob Winter oder Sommer, und ein nasses Laken um, und scharf abgerieben. Und dann eine starke Bewegung, ein energischer Uebungsmarsch.

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Ohne Frühstück?

Ohne Frühstück; ausgenommen ein Glas von unsrem Sprudel. Und dann vorwärts. Und jeder Platz ist gut. Ich denke, wir nehmen Schöneberg, immer an dem Botanischen vorbei, bis Steglitz oder Wilmersdorf. Oder auch den Lehrter Bahnhof. Es muß nur eine freie Stelle sein, an die die Luft heran kann und ein erfrischender Morgenwind. Und wenn es regnet, ich meine wirklich regnet, so haben wir die Halle mit dem Doppel-Perron und sehen wie der Zug abgeht. Ich sehe nichts lieber als das, und ist mir immer, als reist ich mit jedem einzelnen mit. Und dann zurück, und dann unser Frühstück, das in solchem Momente wieder einen Ernst und eine Bedeutung gewinnt, und jenes Dankesgefühl anregt, das in sich selber einer Andacht nahe kommt. Und auch daran liegt mir. Denn ich hab es satt, Eveline, so beziehungslos zu dem, was doch schließlich immer das Höchste bleibt, in den Tag hineinzuleben. Ich will Stellung nehmen, und wenn es sein muß (aber selbstverständlich ohne mich vorzudrängen), ein Zeugnis ablegen.

Und dann?

Und dann ins Bureau, freudig und frisch. Und mit dem Kopfweh, denk ich, soll es vorbei sein. 24Ein für allemal. Ich bilde mir ein, mich auf Präzisierung eines Gedankens zu verstehn und unter Umständen ein Widerspruchsvolles ins Lichtvolle kleiden zu können; aber es ist doch ein Unterschied, ob man sich am Stabe der Kritik ängstlich zu diesem Lichtpunkte heranfühlt, oder ob es Flügel der Morgenröte sind, auf denen wir, wie vom Geiste getragen, unserm Ziele mühelos entgegeneilen. Ich verspreche mir von dem Leben in und mit der Natur ein leichteres und besseres Arbeiten, und erinnere mich dabei mit Vorliebe jener allbekannten Zusammenhänge zwischen der physischen und geistigen Welt. An der Frage gefrühstückt oder nicht‘ haben mehr als einmal Entscheidungsschlachten gehangen, und ich sehe nicht ein, warum nicht an einem geschehenen oder nicht-geschehenen Morgenspaziergang ein mehr oder weniger klares oder unklares Reskriptum hängen soll. Es giebt ein Gedicht, in dem es immer wiederkehrend heißt: ich fühle so frisch mich, so jung‘; in dieser Zeile hast Du meine Situation. Und so gewiß mir die Konservierung eines solchen Zustandes eine heilige Pflicht ist, so gewiß auch seien diese Thüringer Tage gesegnet, die mir den Weg und die Mittel dazu gezeigt haben. In jener ebenmäßigen Anspannung, die das Leben in der Natur mit sich25 führt, erfrischt sich unsere Kraft nicht nur, sie steigert sich auch, und Du mußt selbst die Wahrnehmung davon gemacht haben.

Eveline, die keine Freundin von Reflexionen, aber desto gespannter auf die weiteren Programm-Einzelheiten war, entgegnete lediglich: Und wie denkst Du Dir unsren Nachmittag?

Als eine Kette bescheidener Vergnügungen, wie sie sich für unser Lebensalter und unsere Verhältnisse schicken. Um 3 Uhr nach Haus; um Uhr haben wir abgegessen und nehmen unsren Morgenspaziergang in Gestalt einer kleinen Nachmittagsreise wieder auf.

Aber Du bist seit Jahren an eine Nachmittags-Ruhe gewöhnt und wirst müde sein.

Ich werde nicht müde sein, weil ich nicht müde sein will. Es ist zuletzt alles Sache des Willens; er allein regiert und in nichts zeigt er sich größer als in der Ertötung des natürlichen Triebes. Wohin ich auch den Schlaf rechne. Nebenher aber bekenn ich Dir gerne, bei meiner neuen Entschlußfassung auch eine gewisse Lebensbegehrlichkeit mit zu Rate gezogen zu haben. Es wird Dir bekannt sein, daß ein erheblicher Bruchteil aller Schlagflüsse mit dem Nachmittagsschlafe zusammenhängt. Und ist auch das Folgerichtige. Denn26 es rächt sich jeder Abfall von der Natur und ihrem Gesetz. Die Nacht ist Schlafenszeit und nicht der Tag. Ich entsinne mich einer Stelle bei Shakespeare, wo dieser in einer beträchtlichen Anzahl von Zeilen den Schlaf apostrophiert und den Schiffsjungen beneidet, der im Halbschlummer in den Raaen hängt. Er geht dabei durch alle möglichen und nicht möglichen Situationen und sagt, wie gewöhnlich, unendlich viel Schönes und Großes; aber vom Nachmittagsschlaf sagt er nichts. Und warum nicht? Weil der Nachmittagsschlaf ein superfluum ist und ein periculum. Also nichts mehr von ihm. An seine Stelle treten Excursionen und Partieen.

Aber wohin?

Unter Vermeidung des Tiergartens, in dem der Moder brütet, überall hin, wo Wasser oder Wind ihr Tummelfeld haben. Ich sage Tummelfeld, denn auf das Moment der Bewegung kommt es an. Ein stehendes Wasser ist Tod, ein bewegtes Wasser ist Leben. Also Stralau, Treptow, Eierhäuschen. Am liebsten aber auf die Höhen, ohne Rücksicht ob Tempelhof oder Tivoli. Da hast Du Natur und Freiheit und schaust entweder unter Dir auf das beherrschte Samos hin oder wendest Dich und siehst die Drachen steigen. Und dies ist das schönste. Denn je höher er steigt und je strammer und un -27 sichtbarer die Strippe wird, desto sicherer sind wir eines Lebens - und Atmungsprozesses in einer reineren und allerreinsten Luft. Und Du weißt, wie viel ich dieser Luft verdanke. Sage selbst.

Und wie lange bleiben wir auf Tivoli?

Bis es dunkelt.

Es wird dann zu spät sein, um noch etwas vorzunehmen.

Aber muß denn etwas vorgenommen werden? Ich bitte Dich Eveline. Hat es denn nicht Zeiten gegeben ohne Concert und ohne Theater? Ach, meine Teure, das ist ja gerade das schöne dieser zurückliegenden Tage, daß ich den Weg zur Natur und zur Einfachheit des Daseins zurückgefunden habe. Muß es denn immer wieder ein Czardas sein? Oder die neunte Symphonie? Oder das Mysterium, erster und zweiter Tag? Oder gar ein Buffet? Ich bitte Dich, Eveline, wenn es etwas giebt, das ich hasse, so ist es der große Lachs auf seinem Paradebett von Petersilie. Nein, nein. Und die vier aufgespießten Krebse wie Schildhalter!

Aber Du wirst doch, lieber Hermann, unsere Gesellschaften nicht abschaffen wollen? Und auch nicht ein anständiges Abendbrot.

Im Gegenteil. Nur glaube mir, es giebt nichts Schwierigeres als eine Feststellung auf diesem28 Gebiet und die Beantwortung der einfachen Frage: was ist ein anständiges Abendbrot?‘ Ich kenne nur eins: eine saure Milch und ein geriebenes Schwarzbrot, nicht zu frisch aber auch nicht zu alt. Und nun wolle mir nicht einwenden, es gäbe dergleichen nicht mehr. In einer Stadt mit dreißig Kasernen und einer immer vollzähliger werdenden Garde, muß sich doch schließlich ein Schwarzbrod auftreiben lassen. Und ich fordere dies geradezu von Deiner Liebe. Vor allem aber, und darauf leg ich den Haupt-Accent, brech ich von heut ab ein für allemal mit dem Thee, diesem undeutschesten aller Getränke, das in seiner harmloseren Gestalt ein absurdes Absud von Hollunder und Johannisbrod, und in seiner perniciösen Form ein türkisch-orientalischer Haschisch ist, an den ich nicht Lust habe meine wiederhergestellten Nerven zu setzen. Und so resümier ich denn in aller Kürze: regelmäßiger und an keine Bedingungen geknüpfter Morgenspaziergang, absolute Vermeidung alles Nachmittagsschlafes und Einführung einer sauren oder süßen Milch an Stelle des Thees. Und um neun Uhr zu Bett.

Und er erhob sich, um den letzten Punkt seines Programms sofort ins Werk zu setzen.

Und andern Tages auch den Rest.

In aller Frühe war er auf, und da seine Rück -29 kehr aus dem Thüringischen in die Manövertage gefallen war, wo schon um fünf Uhr ein endloses Trommeln und Pfeifen das ganze Stadtquartier aus dem Schlafe rüttelte, so war er nicht blos in der angenehmen Lage rasch und mühelos aufstehen, sondern auch den abziehenden Bataillonen eine Stunde lang folgen zu können.

Aber kaum daß die Manövertage vorüber und die fremdherrlichen Offiziere wieder abgereist waren, um daheim ihrer hier geäußerten Bewunderung einige kritische Bemerkungen anfügen zu können, als auch schon das Kaiser Wilhelms-Wetter umschlug und eine Regen-Saison einsetzte.

Die Rätin, so sehr sie sonst auf helle Tage hielt, hatte diesem Wechsel, als dem einfachsten und natürlichsten Mittel zur Wiederherstellung eines status quo ante sehnsüchtig entgegengesehen, aber freilich nur um nachträglich einer allerempfindlichsten Täuschung zu begegnen. Wie die meisten Frauen, hatte sie zwanzig Jahre lang an ihres Mannes Seite gelebt, ohne von seiner Eigenart auch nur annähernd eine richtige Vorstellung gewonnen zu haben. Er war eben ein Charakter. Und dessen sollte sie jetzt gewahr werden.

Es regnet heute, lieber Hermann. Ich will Dich nicht zurückhalten. Aber[ Du] solltest wenigstens

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Die Gummischuhe Nicht wahr? Ich bitte Dich, komme mir nicht mit solchen Weichlichkeiten. Außerdem ist der Gummischuh, was Du nicht zu wissen scheinst, ein sanitätlich überwundener Standpunkt. Es gilt vom Fuße genau dasselbe, was vom ganzen Menschen gilt: er braucht Freiheit und Luft. Einpferchung ist die Brutstätte jeder Krankheit.

Und so brach er denn auf und ging weit, erst den Asphalt und dann die Chaussee hinunter, bis er ins Freie kam, wo nichts mehr war, und nur noch der Sperling auf dem Telegraphendrahte saß und bei des einsamen Wanderers Anblick sagen zu wollen schien: Ist es möglich?

In dieser Weise verlief der erste Regentag, und dem ersten folgte der zweite. Wohl unterblieben die Nachmittags-Partieen, aber in allem andern, insonderheit in der Abendverpflegung, wurde keine Veränderung vorgenommen, und die Milch, die, bei der herrschenden Kälte, nicht Zeit gehabt hatte ganz zu gerinnen, erschien nach wie vor auf dem Tisch.

Ungeronnene Milch

Auch das ist ein überwundener Standpunkt entgegnete Gottgetreu, während er die Satte heranzog und es sich schmecken ließ. Oder sich wenigstens das Ansehen davon gab.

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Als aber der dritte Regentag zur Rüste ging und der Rat sich wieder an seine Mahlzeit setzte, war es ihm, als ob die Milch eben so blau sei, wie die Satte selbst. Und als er sich nichtsdestoweniger bezwungen und gegessen und den Löffel wieder niedergelegt hatte, sah Eveline, daß er in ein Schwanken kam und immer zuckte.

Gott, Hermann, Du zuckst ja. Lieber Mann, es ist ja, wie wenn Dir der Tod über den Rücken liefe.

Der so zärtlich und ängstlich zugleich Angesprochene, versuchte zu lächeln. Aber seine Kraft war augenscheinlich im Abzug, und er litt es, daß man ihn zu Bette brachte. Kein Wort wurde laut und während er im Schüttelfroste lag, schrieb Eveline folgende Zeilen an den alten Geheimrat Krukenberg: Lieber Geheimrat. Ich belästige Sie nicht gern, aber mein Mann ist, fürcht ich, ernstlich erkrankt. Er kam schwer erkältet hier an und nahm diesen Erkältungszustand für eine Form höherer Gesundheit. Und seitdem hat er sich immer weiter abgehärtet und die Niederlage vorbereitet, die nun da ist. Ach, daß doch die besten Menschen so widerborstig sind. Ich bin recht in Sorge. Darf ich hoffen, Sie morgen mit herankommen zu sehn? Ihre Eveline G.

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Und um die Mittagsstunde fuhr der alte Krukenberg vor, der schon im Hause von Evelinens Eltern als eine damals erst werdende Berühmtheit aus - und eingegangen war und in gnädiger Erinnerung an alte Zeiten eine Vorliebe für die ganze Familie (die Gottgetreus mit eingeschlossen) bewahrt hatte, trotzdem sie mehr oder weniger außerhalb seiner Sphäre lag. Und die Rätin nahm ihn bei Seit und berichtete kurz und hastig, wie’s mit ihrem Manne stände. Denn der alte Krukenberg, obwohl er sich in eigner Person die höchste Weitschweifigkeit gestattete, hielt doch bei seinen Patienten auf einen allerlapidarsten Lapidarstil. Und nun trat er zu dem Kranken selber heran, der in jenem bekannten drusligen Fieberzustande dalag, in dem man Sterne fallen oder durch einen schweren und graugelben Nebel hin allerhand Feuerpferde galoppieren sieht.

Nun, Gottgetreu. Wie geht es?

O gut genug Es muß etwas in der Milch gewesen sein

Allerdings. In der Milch ist immer etwas. Und wäre ja sonst kein Nahrungsmittel. Aber suchen wir die Schuld nicht an falscher Stelle; die Schuld liegt in der Regel an und in uns selber. Ich bitte Sie, Gottgetreu, Sie sind doch nun auch gegen funfzig

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Zwei und funfzig simperte der Angeklagte ziemlich kleinlaut vor sich hin.

Um so schlimmer. Und anfällig wie Sie sind, mit Ihrer natürlichen Beanlagung für Asthma und Rheumatismus, Sie wollen einen alten Turnvater spielen und ohne Halstuch, frisch, fromm und frei, bei Sturm und Regen, in einem wahren Sündflutwetter, auf dem Kurfürstendamm spazieren gehn? Oder gar bis Wilmersdorf. Und abends eine Satte saure Milch? Und alles blos, weil Sie draußen in Thüringen ein paar hustenlose Tage gehabt haben? Es ist zum Lachen. Und nun hören Sie, wenn wir gute Freunde bleiben sollen: es wird morgens wieder ausgeschlafen, je länger, je besser; und danken Sie Gott, daß Sie nicht vor zehn Uhr früh an die Mitregierung des preußischen Staates heranmüssen. Und wenn Sie zwischen drei und vier, wie meine sächsischen Landsleute sagen, wieder daheeme‘ sind und sich’s haben schmecken lassen denn Ihre Frau versteht es; das weiß ich noch aus alten Zeiten und aus der Rosenthaler Straße her dann legen Sie sich auf’s Ohr und gönnen sich den Schlaf und die Ruhe des Gerechten.

Es schien, daß Gottgetreu replicieren wollte.

Der alte Geheimrat ließ es aber nicht dazu kommen und fuhr in superiorem Tone fort: Ich34 weiß, was Sie sagen wollen. Immer der alte Unsinn von Schlaf und Schlagfluß. Aber die Sache liegt einfach so: die meisten kriegen ihn von zu wenig. Und wenn ich ihn denn schon kriegen soll, ich meine den Schlagfluß, so krieg ich ihn lieber mit einem Rückblick auf glücklich ausgeruhte, als mit einem Rückblick auf fieberhaft abgehaspelte Stunden. Und das mit der Milch ist die Thorheit in der höchsten Potenz und eigentlich schon ein halbes Verbrechen. Unser Magen ist keine Molkerei, nicht einmal eine Selbelanger, und der civilisierte Mensch trinkt abends eine Tasse Thee; das erwärmt ihn und regt ihn an. Und dazu Brot und Fleisch. Oder doch etwas Tödter’schen Aufschnitt. Ohne das geht es nicht, und ich sag Ihnen geradezu, ohne Tödter tödten Sie sich.

In diesem Wortspiele hatte der alte Geheimrat seine gute Laune wiedergefunden und setzte, während er des Kranken Hand nahm, um noch einmal seinen Puls zu fühlen, in freundlicherem Tone hinzu: So viel also für die Zukunft und ins Allgemeine. Für den Augenblick aber erbitt ich mir ein absolutes Stillliegen und immer bis hundert zählen und ein dickes Feder-Deckbett an Stelle dieser nichtssagenden Steppdecke. Denn Sie schleppen einen wahren Erkältungs-Riesen mit sich herum, einen siebenmal35 aufeinander getürmten Katarrh. Und der muß erst heraus. Ich kenne die Sommerfrischlinge.

Diese letzten Worte waren eigentlich schon im Vorzimmer gesprochen worden, und Eveline, die dem alten Freunde die Hand drückte, frug ihn ängstlich mit ihren Augen. Is nichts beruhigte dieser. Aber es war doch nötig ihm den Kopf zu waschen. Er wird sonst rückfällig.

Und den dritten Tag danach saß der leidlich wieder hergestellte Rat in einem Polsterstuhl am Fenster, ein schottisches Reiseplaid um die Füße gewickelt. Es war immer noch ein Wetter zum Erbarmen. Eveline las ihm die Zeitung vor und sagte, während sie hinaus wies: Ich denke, Hermann, wir lassen ein Feuer machen. Es ist doch nichts behaglicher, als ein warmer Ofen, und eine Lampe mit durchbrochenem Schirm und ein dampfender Theekessel und Reisepläne für den nächsten Sommer.

Er aber nickte nur und sagte: wie Du willst, und bezeugte durch eine bedingungslose Nachgiebigkeit in diesem und jedem andern Stück, daß das innere Düppel einer starken Mannesseele gebrochen war.

3637

Im Coupé.

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Hier meine Dame, sagte der Schaffner und riß dienstfertig die Thür des Coupés auf, um sofort wieder im Gedränge zu verschwinden.

Es war auf einer Kreuzstation drei Stunden vor Köln und im Osten, von wo der Zug kam, zog schon dämmernd der Tag herauf.

Die junge Dame folgte der ihr so bestimmt gegebenen Weisung und stand eben im Begriff in das Coupé einzusteigen, als ihr aus dem Fond desselben ein Herr entgegentrat.

Pardon , sagte sie: Ich vermutete ein Damen-Coupé.

Ein Coupé für Nicht-Raucher, meine Dame. Wenn Sie jedoch befehlen Und er machte Miene, das Coupé zu verlassen.

Bitte, bleiben Sie, mein Herr Nur keine Störungen Uebrigens auch schon zu spät.

Und sie nahm ohne weiteres Zögern den sich ihr40 zunächst bietenden Platz ein, während ihr Partner sich in die Ecke schräg gegenüber zurückzog. Fertig klang von draußen die Stimme des Zugführers und beide Insassen hörten nur noch, wie der vorübereilende Schaffner die blos eingeklinkte Coupéthür schloß. Im selben Augenblicke setzte sich der Zug in Bewegung und nahm unter rasch wachsendem Rasseln und Klappern alsbald seine volle Fahrgeschwindigkeit.

In der Haltung der Dame drückte sich, trotz des Vertrauens, das sie bei dieser Begegnung gezeigt hatte, eine nur zu begreifliche Spannung und Erregtheit aus, was ihrem Gegenüber nach einer kleinen Weile Veranlassung gab, sich verbindlich und mit einem Anfluge von Humor an sie zu wenden. Ich glaube , begann er, sprechen ist besser als schweigen, wenigstens in der Lage, in der wir uns befinden.

Sie verneigte sich, während er seinerseits fortfuhr: Sie haben den Mut eines raschen Entschlusses gehabt, und ich bitte den Schluß daraus ziehen zu dürfen, daß Sie viel gereist sind, in fremden Ländern; international, eine Dame von Welt.

Ich könnte dies zugeben , sagte sie, während sie zu lächeln versuchte, wenn es nicht etwas Beängstigendes hätte, sich im ersten Moment einer Bekanntschaft als Dame von Welt‘ angesprochen zu41 sehen. Ein eigentümlich zweischneidiges Wort, schmeichelhaft und auch wieder nicht. Uebrigens muß eine Dame von Welt mindestens dreißig sein. Und ich bin erst siebenundzwanzig.

Sonderbar. Als ich siebenundzwanzig war (beiläufig das glücklichste Jahr meines Lebens), war ich in einer ganz ähnlichen Situation wie Sie.

Nur mit dem Unterschiede, daß Sie keine Dame waren.

Nein. Und das macht freilich einen Unterschied. Aber doch nur in einem Stück. In der großen Hauptsache von Leben und Sterben, eine Sache beziehungsweise Frage, die mir damals ziemlich ernsthaft durch den Kopf ging, ist es gleich.

Und wo war das?

In England.

Ah.

Sie waren drüben?

Nein. Nicht bis jetzt. Ich stehe nur auf dem Punkt Aber ich unterbrach Sie.

Nun denn also, ich kam damals von Brighton, Nachtzug, um auf der wundervollen Küstenbahn, die zum Teil hart am Meere hinläuft, nach Dover zu fahren. Es ging in rasender Schnelligkeit und nur auf Station Hastings war eine Minute Verzug. Ich saß allein im Coupé. Mit einem Male wurde42 die Thür rasch aufgerissen und ein Herr sprang herein, ohne daß sich ein Schaffner oder Eisenbahnbeamter gezeigt hätte. Fast im selben Augenblick erlosch das in der Mitte des Wagens hängende Lämpchen, und ich sah nur noch die brennende Cigarre meines Mitreisenden und das Glühen seiner Augen. So wenigstens schien es mir.

Und?

Daß ich’s Ihnen gestehe, ich ängstigte mich nicht wenig. Es war dasselbe Jahr, wo der in London lebende deutsche Schneidergeselle Franz Müller, unter Ausnutzung einer sehr verwandten Coupé-Situation, einen stattlichen rotblonden Engländer seiner Uhr und Kette, ja sogar seiner goldenen Brille beraubt und nach einem verzweifelten Kampfe und unter Oeffnung der Wagenthür schließlich auf die Schienen gestürzt hatte. Keine vier Wochen, daß ich in dem Studium des Prozesses ganz aufgegangen war. Und nun war ich vielleicht selber der rotblonde Engländer mit der Uhr und der Goldbrille. Daß ich umgekehrt der andere nicht war, wußt ich nur zu gut.

Erzählen Sie mir dies alles, bemerkte die Dame, um sich angenehm bei mir einzuführen? Oder wohl gar zu meiner Beruhigung?

In gewissem Sinne, ja. Wenn ich etwas Franz Müllersches an mir hätte, würd ich ein so43 naives avis au lecteur aller Wahrscheinlichkeit nach unterlassen und Sie lieber durch eine Geschichte höherer Tugend und Menschenfreundlichkeit einzulullen suchen.

Ah, ich verstehe. Nichtsdestoweniger wär es mir lieb, Sie ließen das Thema fallen. Es geht mir im Kopf herum und quält mich, nicht um des Augenblicks, wohl aber um meiner nächsten Zukunft willen. Ich will nämlich, wie Sie vielleicht überhört haben, eben jetzt nach England, einem Lande, von dem ich ohnehin die Vorstellung unterhalte, daß es ein Tauris oder Colchis sei, wo die Fremden irgend einem Götzen oder sonstigem Etwas zu Ehren geopfert werden.

Etwas davon trifft auch zu. Nur statt des goldenen Vließes von Colchis haben sie drüben das goldene Kalb. Und ihm fallen Opfer genug. Trotzdem ist dies England, über dessen shortcomings‘, ein unübersetzbares Wort, ich vollkommen aufgeklärt bin, vergleichungsweise das Land der Nicht-Verbrechen.

Sie setzen mich in Erstaunen.

Woraus ich nur ersehe, daß Sie die wichtigste Zeitungsrubrik, die der statistischen Notizen, von Ihrer Beobachtung ausgeschlossen haben. Sonst würden Sie weniger verwundert sein.

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Eine Vermutung, mein Herr, die doch nicht zutrifft. Im Gegenteil, ich lese wöchentlich die große europäische Sterbetabelle: Breslau 40, Berlin 30, London 20.

Da haben Sie’s.

Was? In dieser Zahlenskala hab ich doch nichts als die Prozentsätze, nach denen man in den großen Städten lebt und stirbt.

Aber darin liegt alles andere. Denn dem vielzitierten napoleonischen Satze daß das Land mit den besten Nähnadeln auch das der besten Brauer und Bäcker, der geschicktesten Architekten und Kunstreiter sei und überhaupt alles am besten habe‘, diesem Satze möchte ich doch zustimmen dürfen. Es steht eben alles in einem inneren Zusammenhang. Der Drang nach Vollkommenheit, wenn er überhaupt erst Wurzel geschlagen, entwickelt sich von dem Augenblick an in jeder Branche des öffentlichen Lebens, und wo man, sagen wir, Epidemieen am besten in Check zu halten weiß, weiß man ebenso das Kriminale bestmöglichst in Check zu halten. Mit anderen Worten, wo die Gesundheitspflege dem Tod auf die Finger sieht, da sieht auch die Sicherheitspflege dem Dieb auf die Finger, dem Dieb, dem Einbrecher, dem Garotteur. Und so immer hinauf auf der Stufe des Verbrechens.

45

Ei, da seh ich ja bei dem Schritt über den Kanal, den ich vorhabe, meine Lebenschancen erheblich wachsen. Und mit der Lebenschance vielleicht auch meine Chancen auf Glück.

Gewiß, wenn Leben der Güter Höchstes ist. Aber ist Leben der Güter Höchstes? Schiller verneint es und ich meinerseits möchte von einem ja‘ und einem nein‘ sprechen dürfen. Nichts hängt an der Existenz an und für sich, nichts an dem Weg, den wir Leben nennen, als solchem, wohl aber alles an dem Zukünftigen, das diesen Weg begleitet. Und so gut bewahrt und äußerlich gesichert das Leben als solches in England ist, so wenig beneidenswert ist es in seinen Begegnungs-Einzelheiten für den, der sich nicht des Vorzugs erfreut, den oberen Zehntausend zuzugehören. Und welcher Fremde gehörte dazu? Kaum einer.

Und am wenigsten eine fremde Governeß, als welche Sie mir gestatten wollen mich Ihnen hiermit vorzustellen.

Da sind wir Kollegen. Ich war mehrere Jahre tutor in Rugby, Grafschaft Warwick. Aber wozu diese nähere Bezeichnung, als handle sich’s um eine Briefadresse? Wer Governeß ist, bedarf keiner Geographienachhilfestunde. Rugby. Keine vier Wochen, daß ich mich von ihm trennte! Nun liegt46 es zurück, auf immer, und nach einem kurzen Besuch in meiner Vaterstadt (ich sollte sagen auf dem Kirchhofe meiner Vaterstadt) will ich jetzt über das große Wasser. Hab ich doch praktisch sein in England gelernt und gehe jetzt über New-York nach Chicago, um daselbst eine Schule zu gründen. Ich bin guten Muts und fürchte mich nur ein wenig vor Heimweh und Einsamkeit, denn ein deutsches Herz, und nun gar ein Thüringisches, ich bin aus dem Schwarza-Thal, hört nicht auf, für seinen Duodezstaat und seine Kirchturmspitze zu schlagen. Aber was sprech ich davon? Heimweh und Einsamkeit, die meiner vielleicht harren, bedeuten nicht viel, sind jedenfalls nicht das Schlimmste; Hohlheit und Hochmut ertragen müssen, das ist schwerer und das wird Ihr Loos sein, wenn Sie nicht ein besonderes Glückskind sind. Ich hoffe, Sie wissen, welchen Schritt Sie thun und welchen Widerwärtigkeiten, ja vielleicht welchen Demütigungen Sie mit einer Art von Wahrscheinlichkeit entgegengehen.

Ich weiß es und weiß es auch nicht. Unter allen Umständen aber vertraue ich meinem guten Stern und möchte mich, wenn an nichts anderem, so doch an dem Ausspruche aufrichten dürfen, den ich eben erst Ihrer Güte verdanke: wo die Nähnadeln am feinsten sind, sind auch andere Sachen47 am feinsten. Und unter diesem anderen auch die Behandlungs - und Umgangsformen.

Gewiß. Aber nicht dem Untergebenen und Abhängigen gegenüber. Nein, meine Gnädigste, dem kann ich nicht zustimmen. Der napoleonische Satz, den ich so leichtsinnig war zu zitieren und auf den Sie sich jetzt berufen, sollte nur ausdrücken: wo eine Geschicklichkeit gedeiht, gedeiht zuletzt jede. Das sind alles Dinge, die mit dem Schulungs - und Lernevermögen der Menschen, mit Abrichtung und Drill zusammenhängen. Aber die Gesetze der physischen und moralischen Welt sind nicht dieselben, gehen vielmehr umgekehrt und mit einer gewissen Vorliebe sehr verschiedene Wege. Beste Bildhauer und beste Soldaten, das mag sich decken und Sie mögen hinzusetzen: beste Schauspieler und beste Kanzelredner auch. All das läßt sich lernen. Aber das Herz läßt sich nicht lernen. Das hat der eine und der andere hat es nicht. Und wie mit den Individuen, so mit den Völkern. Am meisten aber in England. In einem und demselben Hause kann die feinste gesellschaftliche Form und die schlechteste Menschenbehandlung nebeneinander hergehen. Auch in dieser schlechtesten Menschenbehandlung wird sich immer noch eine gewisse mildernde Form aussprechen und das eigentlich Brutale wird vermieden werden,48 aber Sie werden den Eishauch der Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit fühlen und vor allem das Von-Oben-Herab, das so tief empört.

Ein jeder schafft sich seine Stellung.

Um Gotteswillen, meine Gnädigste, nur nicht das. Unter allen redensartlichen Sätzen ist das der redensartlichste. Stellung schaffen im Hause eines Lords, dessen Omnipotenz nur noch von der Hochfahrenheit seiner Lady, von den beleidigend in die Front gerückten Zähnen seiner Zwillingstöchter und vor allem von den Insolenzen seines dreizehnjährigen Masters übertroffen wird. Stellung schaffen! Es bedarf schon eines erheblichen Maßes von Entschlossenheit, aus solcher Umgebung auch nur zu fliehen und den Mut eines Rückzugs zu haben. Ich will Ihnen mit dem herkömmlichen Vergleiche vom Vogel und der Schlange nicht ernsthaft beschwerlich fallen, aber das ist wahr, ein nur halbwegs zaghaftes Herz kennt in solcher Lage keinen andern Ausweg als Unterwerfung.

Ich glaube doch, daß Sie die Kraft, die Gott auch den Schwachen gegeben, um ein Erhebliches unterschätzen. Ich habe manches erfahren und allerlei Schmerzliches, ja Schlimmeres als Schmerzliches ist mir nicht erspart geblieben. Aber ich darf doch sagen, ich bin immer siegreich aus solcher Bedrängnis49 hervorgegangen. Allerdings hat alles, was ich sage, eine ganz bestimmte Voraussetzung: ein Appell an Ehre, Pflicht und adlige Gesinnung muß möglich und eines Verständnisses und in diesem Verständnis auch einer Würdigung sicher sein. Mit einem Worte, das Haus, in das ich eintrete, muß noch ein Gewissen haben, wenn auch vielleicht ein tiefverschüttetes. Ist dies Gewissen aber da, so gewinn ich die Partie, so gestaltet sich alles zu einer Frage festen Auftretens und selbstverständlich des guten Rechts.

Und Sie haben das an sich selbst erfahren?

Ja. Und noch dazu im Herzen von Rußland. Ich bin in Ihrer Gewalt, Fürst, sagte ich, und Gott und der Zar sind weit und Sie haben die Macht und die Mittel, mir Ihren Willen aufzuzwingen. Wollen Sie’s? Gut. Erniedrigen Sie mich. Aber verlangen Sie nicht, daß ich die Hand dazu biete …‘

Und?

Von Stund an hatt ich gute Tage. Er war so liebenswürdig, wie nur russische Große sein können, und die Fürstin, eine große Dame, deren erstes Auftreten bei Hofe noch in die Kaiser Nikolaus-Tage fiel, verwöhnte mich wie ihren Papagei. Ich glaube, sie wußte, was vorauf gegangen. Vielleicht aus ihres Gatten eigenem Munde. Denn es war50 eine sonderbare Ehe Doch, Pardon, ich sehe Sie lächeln.

Ja. Doch ist es ein Lächeln, das einer ganz unpersönlichen Betrachtung gilt.

Und welcher, wenn ich fragen darf?

Der Betrachtung eines beständig fortschreitenden Amerikanismus, eines eigentümlich freiheitlichen Entwicklungsganges, den zu verfolgen seit Jahr und Tag meine Passion ist. Ein solcher Appell an Gesinnung und Ehre, nicht blos vom Standpunkte landläufiger Moral, sondern von einem Standpunkte der Ebenbürtigkeit aus, das stammt alles von drüben, das ist modern, ist amerikanisch. Und jede neue Wahrnehmung davon erquickt mich.

Ich mag Ihnen nicht widersprechen, war aber bisher umgekehrt des Glaubens, die neue Welt lebe von Errungenschaften der alten.

In Nebensachen, ja. Ganze Pilgerzüge von drüben überschwemmen die paar Inseln und Halbinseln, die sich Europa nennen, und überall begegnet man ihnen, in Dresden vor der Sixtinischen, in Rom vor dem Papst und in Oberammergau vor dem gekreuzigten Christus. Ja, da stehen sie zu Hunderten und Tausenden und starren und gaffen und kritzeln ihre Notizen in ihre Guides‘ und Handbooks‘ und am Abend alles nochmal in ihre51 Tagebücher. Aber was bedeutet es? Unser altes Europa hat den Charakter einer Reisesehenswürdigkeit angenommen, wie Troja, wie Mykenä, wie die Pyramiden, und man bewundert, von Station zu Station, alte Schlösser und alte Kirchen, alte Waffen und alte Bilder und schließlich auch alte Menschen. Denn ein Provinzial - oder Kreistags-Deputierter, auch wenn er erst dreißig Jahre zählt, was ist er anders als ein alter Mensch?

Es schien, daß seine Reisegefährtin antworten wollte. Er aber übersah es oder wollte es übersehen und fuhr seinerseits fort: Ich sage das alles von einem gewissen amerikanischen Standpunkte aus, den ich, noch eh ich die neue Welt betreten, schon ganz aufrichtig zu dem meinigen gemacht habe. Deutschland, Italien, das alles ist den Leuten drüben ein bloßer Ausstellungspark geworden, eine Kunstkammer, ein archäologisches Museum, und ich würde, wenn sich’s für Amerika um eine symbolische Darstellung unseres alten Europa handelte, Schliemann und Frau, mit dem Ausgrabungsspaten in der Hand, in Vorschlag bringen. Dabei trifft es sich glücklich, daß Schliemann ein Mecklenburger ist. Alles alt, alt. Auch das noch Unverschüttete wirkt schon wie ausgegraben. Zum Studium interessant, aber was frommt es dem lebendigen Leben? Und nun vergleichen Sie damit52 den Einfluß Amerikas auf uns. Unsere Daseinslust hat es auf der einen Seite gesteigert und das Elend, das aller Menschen Erbteil ist, hat es auf der anderen Seite, wenn nicht zum Schweigen gebracht, so doch eingelullt. Es bedeutet etwas und ist mindestens ein sinnreicher Zufall, daß wir der neuen Welt alle Mittel verdanken (oder doch die besten und wirkungsvollsten unter ihnen), unseren physischen Schmerz zu stillen. Und in der Geisteswelt ist es kaum anders. Amerika, wie viel es uns schulden mag, hat ein Recht, uns zuzurufen: Unser Schuldbuch ist zerrissen‘.

Und fürchten Sie nicht, sich durch Erlebnisse vielleicht widerlegt und umgestimmt zu sehn?

Nein. Das ist ausgeschlossen. Meine persönlichen Erwartungen können scheitern, aber ich kann in der großen Frage selbst ganz unmöglich anderen Sinnes werden. Es ist damit wie mit den zehn Geboten oder der Erscheinung Christi. Die zehn Gebote, zu denen ich mich freudig bekenne, mögen mir unbequem werden und die Heilslehre kann mir, sei’s durch meine Schuld oder mein Schicksal, ihren Dienst und ihren Segen versagen, aber ich kann nicht erschüttert werden in meinem Glauben an ihr Recht und ihre Größe.

Sie so sprechen zu hören, beglückt mich, und53 wie jede Begeisterung mit fortreißt, so fühl ich plötzlich eine Neigung in mir erwachen, England nur als eine Etappe zu nehmen und über kurz oder lang auch meinerseits den Schritt in die neue Welt hinüber zu wagen.

Sie sollten ihn wagen und zwar gleich, heute noch, und ich würde mich freudigen Herzens erbieten, auf lange hin, oder sagen wir lieber auf immer Ihr Führer, Ihr Anwalt und Beschützer zu sein. Darf ich erwarten, den Dienst, in den ich mich stelle, von Ihnen nicht zurückgewiesen zu sehen?

Am Horizont stieg der Ball herauf und im hellen Wiederschein desselben erglänzte, während nach unten zu noch alles im Nebel lag, das phantastische Zackenwerk des Kölner Doms. Die junge Dame ließ das Fenster herab und die frische Morgenluft drang ein.

Ueberlegen wir’s , sagte sie ruhig, aber in heiterem Tone. Jeder, der eine neue Rolle spielt, übertreibt leicht, auch wenn es die des Führers und Beschützers wäre. Quickness‘ soll ein amerikanisches Lebensprinzip sein. Aber man kann auch darin zu weit gehen.

Gewiß. Und nur in einem Punkte möcht ich widersprechen. Es ist kein amerikanisches Lebensprinzip, um das es sich hier handeln dürfte, sondern54 ein Allerweltprinzip, und es lautet: Man soll den Augenblick ergreifen. Ist es der rechte, so bedeutet es das Glück.

Er nahm ihre Hand und sie zog sie nicht zurück. Dann sagte sie: Und meine Lady drüben in London?

Wahrhaftig ich vergaß ihrer. Und wie hieß sie?

Lady Pimberton, Euston-Square.

Gut. Wir schreiben ihr morgen von Brüssel aus, sehr artig und wenn es sein muß sogar devot. Und Miß Arabella (so wird sie doch wohl heißen) wird ihren ungarischen Tanz auch unter anderer Anleitung spielen lernen. Ich kenne britischen Musik-Enthusiasmus und alle Pimbertons, darauf leb ich und sterb ich, spielen nur einen Tanz. Mehr wäre Virtuosentum. Und Virtuosentum ist low‘ und shocking‘. Aber da ist Köln. Ich denke, wir richten unsre nächsten Schritte nach dem Dom und reichen uns noch einmal die Hand vor seinem Altarbild und seiner die Welt und das Heil in Händen haltenden Himmelskönigin.

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Der Karrenschieber von Grisselsbrunn.

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Der Sommer hatte mich nach Norderney geführt, nicht um zu baden, sondern lediglich um mal wieder die See zu sehen und bei der Gelegenheit ein Rendezvous mit ein paar alten Freunden zu haben, die regelmäßig ihre Ferien auf der, ohne schön zu sein, doch so reizvollen Nordsee-Insel zubrachten. Diese Regelmäßigkeit des Besuchs hatte auch zur Herrichtung eines Stammtisches geführt, in einem ziemlich abgelegenen Lokal, unmittelbar am Strande. Wir hätten, von seiner Höhe her, unseren Becher mit Leichtigkeit ins Meer werfen können, ganz wie der König von Thule. Statt dessen zogen wir es aber vor, über altes und neues zu plaudern, ja, verstiegen uns eines Abends bis zu dem Vorschlag, jeder solle, der Reihe nach, eine Geschichte zum besten geben, aber es müsse Selbsterlebtes sein. Das war Bedingung. Der letzte, der das Wort nahm, war Baurat Oldermann.

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Ich möchte hob dieser an eine Geschichte von einem Karrenschieber erzählen und zwar, damit das Kind vom Anfang an einen Namen hat, die Geschichte vom Karrenschieber von Grisselsbrunn.

Nun Grisselsbrunn, vordem eine nicht unberühmte Heilquelle, war seit Anfang dieses Jahrhunderts nebenher auch noch ein großer Kaffeegarten geworden, unmittelbar vor der Stadt L., und als diese, wie Sie wissen, im Laufe der 70er Jahre sich auszudehnen und alle Vorörter und Nachbardörfer in sich aufzunehmen begann, kam auch Grisselsbrunn an die Reihe. Kaum daß man die immer noch in Ehren gehaltene Quelle respektierte. Die ringsherum stehenden Pavillons und Buden aber fielen sofort und die Platanen und Ahornbäume schließlich auch, alles um einem großen Hotelbau, samt einem Bazar im Erdgeschoß, Platz zu machen. Ich wurde, nach Gutheißung meiner Pläne, mit der Oberleitung des Ganzen betraut und überzeugte mich, gleich beim ersten Spatenstich, daß bei der meist sumpfigen Terrainbeschaffenheit, vor allem ein fester Untergrund geschaffen werden müsse. Damit ging ich denn auch vor und gab einem Bauführer und einem alten Polier, der uns als Ortsangehöriger gute Dienste leistete, die nötigen59 Weisungen. Lange Bretterreihen wurden gelegt und ein paar Dutzend Karrenschieber in Dienst gestellt, um den nötigen Kies und Sand, ganze Berge, heranzuschaffen und von oben her in die Baugrube hinabzuschütten. Zweimal des Tages sprach ich vor, um nach dem Rechten zu sehen, denn mir sowohl wie den Unternehmern lag daran, den Bau noch vor dem Herbst unter Dach zu bringen. Alles war ruhig, fleißig, geschickt, am geschicktesten aber ein rotblonder, schlanker, beinahe schöner Mann von Mitte dreißig, der sich, ohne daß er sich abgesondert oder den Aparten und Schweigsamen gespielt hätte, doch ganz ersichtlich von dem Rest der Mannschaft unterschied. Er war größer und stärker, Vollbart, die Augenlider gerötet, aber nur wenig. Statt der Jacke trug er ein enges Röckchen, dazu eine Militärmütze und dicksohlige Schnürschuhe, die mal einem Alpenreisenden gehört und gedient haben mochten. Alles war in desolatester Verfassung und überall von eigener Hand geflickt und zusammengenäht, aber der Schnitt dieser ramponierten Kleidung und vor allem die Haltung dessen, der darin steckte, machten es unmöglich, über ihn hinzusehen. In jeder seiner Bewegungen sprach sich, um das Modewort zu gebrauchen, ein besonderer Schick‘ aus, am meisten60 aber in der Art, wie er mit der Karre hantirte. Die Schiebebäume fest in der Hand haltend, hielt er mit dem Karrenrade genau die Mitte der Bretterlage, nicht viel anders, als ob es sich um ein Balancierkunststück im Zirkus gehandelt hätte, der eigentlichste Triumph seiner Geschicklichkeit aber war immer der Umkippungsmoment, wo er mit einem raschen und kräftigen Ruck den Inhalt der Karre von oben her in die Baugrube stürzte.

Das ging so Tage lang, und als anderthalb Wochen um waren, nahm ich Veranlassung mit dem Polier zu sprechen und mich nach dem Manne, der in allem so sehr von seiner Umgebung abwich, zu erkundigen. Aber der Polier war außer stande, meine Neugier zu befriedigen und wußte nichts, als daß sich der Betreffende vor etwa zehn oder zwölf Tagen zur Arbeit gemeldet habe. Und da nahm ich ihn. Denn karren kann jeder. Freilich, daß er nicht von uns ist, ist leicht zu sehen. Sehen Sie bloß seine Hände. Verbrannt, aber doch keine Arbeitshände. Dies war alles, was ich erfuhr. Wenig genug und half mir nicht weiter. Da nahm ich denn eines Tages Veranlassung, an den Gegenstand meiner Neugier, oder richtiger meiner Teilnahme, selber heranzutreten und ihm zu sagen, ich bäte ihn, mich nächsten Sonntag in meiner Wohnung61 zu[ besuchen]; von neun bis elf werd er mich sicherlich treffen.

Und er kam auch. Sein Anzug, was auf einen Zustand höchster Not deutete, war derselbe wie Alltags: dasselbe Röckchen, dieselben Schnürschuhe, nur alles sehr geputzt und gebürstet, so daß ich den Eindruck einer herabgekommenen Existenz, eines Mannes von ursprünglich guter Erziehung und besten Manieren im verstärkten Maße hatte. Er blieb in der Thür stehen, verbeugte sich und sagte: ich hätte befohlen‘. Dann bat ich ihn Platz zu nehmen. Er rührte sich aber nicht und sah mich nur an und wartete, bis ich ihn anreden würde. Das that ich denn auch. Sie werden erraten haben, weshalb ich Sie gebeten habe, zu mir zu kommen. Sie gehören einer anderen Gesellschaftsschicht an und die Karre zu schieben‘ ist Ihnen nicht an der Wiege gesungen worden. Sie sind aus einem guten Hause, haben Schulen besucht und sind dann früher oder später gescheitert, mit Schuld oder ohne Schuld, sagen wir mit, das ist das Wahrscheinlichere. Spiel, Weiber, Wechsel, vielleicht falsche. Und dann war es vorbei und die Geduld erschöpft und Sie hatten keine Familie mehr. Und so kam es, wie’s kam …‘

Jeden meiner Sätze hatte er mit einem leisen62 Kopfnicken begleitet und als ich abschließend und fragend hinzusetzte: Ist es so?‘ sagte er: Ja. Es ist so. Wir waren unserer neun; davon sechs auf Schulen und in der Armee. Der Vater konnte nicht mehr …‘

Gut; ich versteh. Ich weiß genug und will nicht in Geheimnisse eindringen. Und nun hören Sie. Ich bin nicht reich, aber ich habe Verbindungen und denke, daß ich Ihnen helfen kann, wenn Sie Hilfe wollen.

Er schwieg.

Ich werde, fuhr ich fort, mit dem Polier oder besser mit dem Bauführer sprechen; er wird Ihnen eine andere Stellung auf dem Bau geben, und ich werde für Ihre Kleidung sorgen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Sie sind groß und stark (ich hoffe auch innerlich) und Sie werden sich herausretten. Hier ist meine Hand. Alles wird davon abhängen, ob Sie die Kraft haben, diese Hand zu fassen und zu halten.

Er kam auf mich zu und ich sah, daß sich sein Auge mehr und mehr gerötet hatte. Dann sprach er mir kurz und knapp seinen Dank aus und ich fühlte, daß eine Thräne auf meine Hand fiel. Dabei war ich bewegt, wie er selbst und unter wiederholtem Zuspruche meinerseits schieden wir.[]

63

Noch denselben Tag sprach ich mit dem Bauführer, der, wie gewöhnlich, so auch an diesem Sonntage mein Tischgast war. Er ging auf alles ein und versprach, das Seine zu thun, aber freilich, bis vor Ende der Woche werde sich schwerlich was thun oder auch nur Rat schaffen lassen. Ich war einverstanden und trat an demselben Abend noch eine kleine Reise nach Dresden an, die mich drei Tage von meinem Bau fern hielt. Als ich zurückkam, war das Erste, daß ich nach meinem Karrenschieber aussah. Er war aber nicht da.

Sagen Sie, Polier, wo ist der Nun Sie wissen schon, wen ich meine.

Weiß. Er ist nicht wieder gekommen.

Ich war erschüttert und ließ Nachforschungen anstellen, wobei mich die Behörden aufs Bereitwilligste unterstützten. Aber umsonst. Es war keine Spur von ihm zu finden. Wohin war er? In die neue Welt oder weiter? 

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Eine Frau in meinen Jahren.

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Erlauben Sie mir, meine gnädigste Frau, Ihnen Ihren Becher zu präsentiren

Die Dame verneigte sich.

Und Ihnen auf Ihrer Brunnenpromenade Gesellschaft zu leisten. Immer vorausgesetzt, daß ich keine Verlegenheiten schaffe.

Wie wäre das möglich, Herr Rat! Eine Frau in meinen Jahren

Es giebt keine Jahre, die gegen die gute Meinung unserer Freunde sicher stellen. Am wenigsten hier in Kissingen.

Vielleicht bei den Männern.

Auch bei den Frauen. Und wie mir scheinen will, mit Recht. Ich erinnere mich eines kleinen anekdotischen Hergangs aus dem Leben der berühmten Schroeder

Der Mutter der Schroeder-Devrient?

Derselben.

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Und was war es damit?

Eines Winters in Wien sprach sie von ihrem zurückliegenden Liebesleben und von dem unendlichen Glücksgefühl, all diese Thorheit nun endlich überwunden und vor den Anfällen ihrer Leidenschaft Ruhe zu haben. Und einigermaßen indiskret gefragt, wann sie den letzten dieser Anfälle gehabt habe, seufzte sie: vor zwei Monaten.

Und wie alt war sie damals?

Dreiundsechszig.

Also mehr als nötig, um meine Mutter zu sein. Und doch bleib ich bei meinem Ausspruch: eine Frau in meinen Jahren‘ Aber wer war nur die stattliche Dame, der Sie sich gestern anschlossen, um sie als Cavaliere servente bis an den Finsterberg zu begleiten?

Eine Freundin, Baronin Aßmannshausen, und seit vorgestern Großmutter, wie sie mir selbst mit Stolz erzählte.

Mit Stolz? Aber doch noch hübsch und lebhaft. Und dazu der feurige Name. Sehen Sie sich vor und gedenken Sie der Schroeder.

Ach, meine Gnädigste, Sie belieben zu scherzen. Ich, für mein Teil, ich darf sagen, ich habe abgeschlossen.

Wer’s Ihnen glaubt! Männer schließen nie69 ab und brauchen es nicht und wollen es auch nicht. Soll ich Ihnen, blos aus meiner näheren Bekanntschaft, die Namen derer herzählen, die noch mit Siebzig in den glücklichsten Ehestand eintraten? Natürlich Kriegshelden, die den Zug eröffnen und schließen Aber hier ist schon der Brückensteg und die Lindelsmühle. Wollen wir umkehren und denselben Weg, den wir kamen, zurückmachen oder gehen wir lieber um die Stadt herum und besuchen den Kirchhof? Er ist so malerisch und weckt der Erinnerungen so viele. Sonderbarerweise auch für mich. Oder besuchen Sie nicht gerne Kirchhöfe?

Grabsteine lesen nimmt das Gedächtnis.

Dem ließe sich auf einfachste Weise vorbeugen: man liest sie nicht Aber freilich, es giebt ihrer unter dem starken Geschlecht so viele, die sich überhaupt nicht gerne daran erinnern lassen, daß alles einmal ein Ende nimmt, mit anderen Worten, daß man stirbt.

Ich für meine Person zähle nicht zu diesen, mein Leben liegt hinter mir und ich darf Ihnen ruhig wiederholen: ich habe abgeschlossen.

Die Dame lächelte still vor sich hin und sagte: Nun denn also, zunächst um die Stadt und dann nach dem Kirchhof.

Und dabei passierten sie den Lindelsmühl-Steg70 und schlugen einen Wiesen - und Feldweg ein. Ueber ihnen zog Gewölk im Blauen und beide freuten sich des frischen Luftzuges, der von den Nüdlinger Bergen her herüberwehte. Hart am Weg hin blühte roter Mohn, und die Dame bückte sich danach und begann die langen Stiele zusammenzuflechten. Als sie schon eine Guirlande davon in Händen hielt, sagte sie: Der rote Mohn, er ist so recht die Blume, die mir zukommt; bis Sechszehn blühen einem die Veilchen, bis Zwanzig Rosen und um Dreißig herum die Verbenen, an deren deutschem Namen ich klüglich vorübergehe. Dann ist es vorbei, man pflückt nur noch Mohn, heute roten und morgen vielleicht schon weißen Mohn und flicht sich Kränze daraus. Und so soll es auch sein. Denn Mohn bedeutet Ruhe.

So schritten sie weiter, bis der von ihnen eingeschlagene Feldweg wieder auf eine breite, dicht neben einem Parkgarten hinlaufende Fahrstraße führte. Platanen und Ahorn streckten ihr Gezweige weit über das Gitter hin, aus dem Parke selbst aber, der einem großen Hotel zugehörte, rollten in eben diesem Augenblicke junge Sportsmen auf die fast tennenartige Chaussee hinaus, Radfahrer, Bicycle -71 Virtuosen, die hoch oben auf ihrem Reitstuhl saßen und unter Gruß und Lachen vorübersausten. Ihre kleinen Köpfe, dazu die hageren, im engsten Tricot steckenden Figuren, ließen keinen Zweifel darüber, daß es Fremde waren.

Engländer?

Nein Amerikaner, sagte die Dame, meine täglichen vis-à-vis an der Table d’hôte. Und sonderbar, mir lacht immer das Herz, wenn ich sie sehe. Das frischere Leben ist doch da drüben und in nichts war ich mit meinem verstorbenen Manne, der ein paar Jahre lang in New-York und an den großen Seen gelebt hatte, so einig, wie in diesem Punkt und wir schwärmten oft um die Wette. Die Wahrheit zu gestehen, ich begreife nicht, daß nicht alles auswandert.

Und ich meinerseits teile diesen Enthusiasmus und habe mich, eh ich ins Amt trat, ernsthaft mit dem Plan einer Uebersiedelung beschäftigt. Aber das liegt nun zwanzig Jahre zurück und ist ein für allemal begraben. Amerika, weil es selber jung ist, ist für die Jugend. Und ich

habe abgeschlossen, ergänzte sie lachend. Freilich, je mehr Sie mir’s versichern, je weniger glaub ich’s. Sehen Sie, dort ist der Finsterberg, nach dem Sie gestern Ihren langen Spaziergang72 richteten und der Sie jetzt zu fragen scheint: Wo haben Sie die Frau Baronin?‘ Wie hieß sie doch?

Ich denke, wir lassen den Namen und was den Finsterberg angeht, er sieht mich zu gut aufgehoben, um solche Fragen zu thun.

Unter solchem Geplauder waren sie bis an ihr vorläufiges Ziel gekommen und stiegen an dem Bildstöckl vorbei, die Steintreppe zu dem Kirchhofe hinauf. In dem gleich links gelegenen Meßnerhause standen alle Thüren auf und auf Dach und Fensterbrett quirilierten die Spatzen.

Ich übernehme nun die Führung, sagte die Dame. Grabsteine lesen, so bemerkten Sie, nimmt das Gedächtnis. Gut, es soll wahr sein. Aber ganz kann ich es Ihnen nicht erlassen. Sehen Sie hier Kindergräber; eines neben dem andern. Und nun lesen Sie.

Der Begleiter der Dame säumte nicht zu gehorchen und las mit halblauter Stimme: Hier ruht das unschuldige Kind Aber kaum, daß er bis zu diesem Wort gelesen hatte, so trat er aus freien Stücken näher an den Grabhügel heran, um73 neugierig den vom Regen halb verwaschenen Namen bequemer entziffern zu können.

O nicht doch unterbrach sie lebhaft. Hier ruht das unschuldige Kind‘, das reicht aus, das ist genug, und immer, wenn ich es lese, giebt es mir einen Stich ins Herz, daß gerade dies die Stelle war, wo die Preußen einbrachen, hier, durch eben dieses Kirchhofsthor, und das Erste, was sie niedertraten und umwarfen, das waren diese Kreuze mit ihrer schlichten, so herzbeweglichen Inschrift Aber kommen Sie, Kindergräber erzählen nicht viel und sind nur rührsam. Ich will Sie lieber zu Ruth Brown führen.

Zu Ruth Brown? das klingt so englisch.

Und ist auch so: Generalin Ruth Brown. Uebrigens ist die Geschichte, die sich an ihr Grab knüpft, und zwar ganz äußerlich an ihr Grab als solches, eigentlich die Hauptsache. Denken Sie, die Generalin hat hier eine Art Mietsgrab bezogen oder wenigstens ein Grab aus zweiter Hand.

A second-hand grave?

Ja, so könnte man’s beinah nennen. Dies Grab hier hatte nämlich ursprünglich einen anderen Insassen und war die leicht ausgemauerte Behausung eines bei Kissingen gefallenen Offiziers. Als dieser Offizier aber in seine, wenn ich nicht irre,74 westpreußische Heimat geschafft und die Gruft wieder leer war, wurde sie neugewölbt und neu gewandet und nun erst zog die Generalin ein. Es ist überhaupt ein Kirchhof mit beständig gestörter Ruhe, was niemand eindringlicher erfahren hat, als der hier

Und dabei war die Dame von dem Grabe der Generalin an ein Nachbargrab herangetreten, aus dessen Inschrift ihr Begleiter unschwer entzifferte, daß der Sattlermeister Karl Teschner aus Groß-Glogau seine letzte Wohnung darin gefunden habe.

Haben Sie gelesen?

Ja. Was ist damit?

Nichts Besonderes Und doch ein Grabstein, den ich nie zu besuchen unterlasse. Sehen Sie schärfer hin und Sie werden erkennen, daß es ein zusammengeflickter Stein ist. Und das kam so. Den 7. Juli 65 starb hier (denn leider auch Kurgäste sterben) der Groß-Sattlermeister, dessen Namen Sie soeben gelesen haben und wurde den 10. desselben Monats an dieser Stelle begraben. Und genau ein Jahr später, ja fast auf die Stunde, schlug hier, vom Altenberg her, eine preußische Granate mitten auf den Grabstein und schleuderte die Stücke nach allen Seiten hin auseinander. Etwas unheimlich. Aber das Ganze hat doch, Gott sei75 Dank, ein versöhnliches Nachspiel gehabt, denn kaum daß die Glogauer Bürgerschaft von dem Grabsteinunglück ihres Groß-Sattlermeisters gehört hatte, so zeigte sie sich beflissen für Remedur zu sorgen und hat die Grabsteinstücke wieder zusammenkitten und alles in gute Wege bringen lassen. Eine Mosaik, die mehr sagt, als manche Museums-Mosaik. Aber nun bin ich matt und müde geworden und Sie müssen mich, ehe ich Sie freigebe, noch bis an meine Lieblingsstelle begleiten.

Es war dies eine von einer Traueresche dicht überwachsene, ziemlich in der Mitte des Kirchhofes gelegene Bank, in deren unmittelbarer Nachbarschaft ein prächtiger und durch besondere Schönheit ausgezeichneter Granitwürfel mit Helm und Schwert hoch aufragte.

Wem gilt es?

Einem Freunde. Ja, das war er mir. Und daß ich es gestehe, mehr noch als das. Und dann kam das Leben, um uns zu trennen. Aber diese frühesten Eindrücke bleiben, wenigstens einem Frauenherzen. Fast ein Menschenalter ist darüber hingegangen (ich war noch ein halbes Kind damals) und wär ich gestorben, wie’s mein Wunsch und meine Hoffnung war, so hätt es auch auf meinem Grabsteine heißen dürfen: Hier ruht das unschuldige76 Kind. Aber ich starb nicht und that was alle thun und vergaß oder schien doch zu vergessen. Ob es gut und ob ich glücklich war? Ich habe kein Recht zu Konfidenzen. Aber es wurde mir doch eigen zu Sinn, als ich vor drei Wochen zum ersten Male diesen Kirchhof betrat und nach so viel zwischenliegender Zeit und ohne jede Spur von Ahnung, welches Wiederfinden meiner hier harren würde, diesem Denkmal und diesem mir so teuren Namen begegnete.

Was trennte Sie? Können Sie’s erzählen?

Eine Frau in meinen Jahren kann alles erzählen, ihre Fehler gewiß und ihre Fehltritte beinah. Aber erschrecken Sie nicht, ich bin allezeit entsetzlich conventionell und immer auf der graden Straße gewesen, fast mehr als mir lieb ist. Es heißt zwar, die Straße sei zu bevorzugen und es mache glücklich, auf einen glatten Lebensweg zurückblicken zu können. Und ich will es nicht gradezu bestreiten. Aber interessanter ist der Rückblick auf ein coupiertes Terrain.

So sprachen sie weiter und während ihr Gespräch noch andauerte, hatte sich ihnen der alte Meßner genähert, zwei Stocklaternen in der Rechten77 und einen großen Kirchenschlüssel an einem Lederriemen über den Arm gehängt.

Was giebt es?

Ein Begräbnis, gnädige Frau. In a Viertelstund müssens da sein. A Kind wie a Engel. Aber G’vatter Tod isch a Kenner un wenn er kann, nimmt er nichts schlechts. I werd a paar Stühl zurecht stelle für die gnädge Frau und den Herrn Gemoahl.

Nicht doch, Meßner, der Herr da ist nicht mein Gemahl. Er ist schon ein Witwer und hat abgeschlossen. Und dabei malte sie mit dem Sonnenschirm in den Sand.

Hätt i doch g’dacht, Sie wär’n a Paar, un a stattlich’s un glücklich’s dazu, so gut passe Sie zusammen. Und so charmant; besunners die gnädge Frau.

Aber Meßner, Sie werden mich noch eitel machen Eine Frau in meinen Jahren

Ach, die Jahre sind nichts, das Herz ist alles. Und so lang es hier noch schlägt, hat keiner abgeschlossen. Abschluß giebt erscht der Tod. Aber da kummen’s schon. Und’s is Zeit, daß i geh un die Lichter ansteck.

Indem auch hörte man schon Gesang von der Straße her und nicht lange mehr, so sahen sie den78 Zug die Steinstufen heraufkommen, erst die Chorknaben, mit Kerzen und Weihrauchbecken, und dann der Geistliche in seinem Ornat. Dahinter aber der Sarg, der von sechs Trägern, zu deren Seite sechs andere gingen, getragen wurde. Und hinter dem Sarg her kamen die Leidtragenden und zwischen den Gräbern hin bewegte sich alles auf die Kirchhofskapelle zu.

Sollen wir uns anschließen?

Nein, antwortete sie. Ich denke, wir bleiben, wo wir sind; es ist mir, als müßt es mich dadrinnen erdrücken. Aber mit unserem Ohre wollen wir folgen, die Thür steht auf und die Luft ist so still. Und ich glaube, wenn wir aufhorchen, so hören wir alles.

Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien.

Er nahm ihre Hand und sagte: Die Tote drinnen vorm Altar predigt uns die Vergänglichkeit aller Dinge, gleichviel ob wir in der Jugend stehen oder nicht. Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. Nicht das Maß der Zeit entscheidet, wohl aber das Maß des Glücks. Und nun frag ich Sie, sind wir zu alt um glücklich zu sein?

79

Um abgeschlossen zu haben?

Es ist ein sonderbarer Zeitpunkt, den ich wähle, fuhr er fort, ohne der halb scherzhaften Unterbrechung, in der doch ein gefühlvoller Ton mitklang, weiter zu achten. Ein sonderbarer Zeitpunkt: ein Friedhof und dies Grab. Aber der Tod begleitet uns auf Schritt und Tritt und läßt uns in den Augenblicken, wo das Leben uns lacht, die Süße des Lebens nur um so tiefer empfinden. Ja, je gewisser das Ende, desto reizvoller die Minute und desto dringender die Mahnung: nutze den Tag.

Als die Ceremonie drinnen vorüber war, folgten beide dem Zuge durch die Stadt und eine Woche später wechselten sie die Ringe. Verwandte, Freunde waren erschienen. Bei dem kleinen Festmahl aber, das die Verlobung begleitete, trat eine heitere Schwägerin an Braut und Bräutigam heran und sagte: Man spricht von einem Motto, das Eure Verlobungsringe haben sollen. Oder doch der Deine, Marie.

Kannst Du schweigen?

Ich denke.

Nun denn, so lies.

Und sie las: Eine Frau in meinen Jahren‘.

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Onkel Dodo.

8283

Es war im Hochsommer, als ich in Beantwortung eines an einen gutsbesitzenden Freund gerichteten Briefes folgende Zeilen empfing:

Lieber Freund! Es freut sich alles hier, Dich wieder zu sehen, am meisten meine Frau, die nun mal von den großstädtischen Neigungen und Gewohnheiten nicht lassen kann. Du wirst auf der Veranda die herkömmlichen Dreistunden-Gespräche mit ihr führen und neben Litteratur und Theater vielleicht auch die kirchliche Controverse mit bekannter Unparteilichkeit beleuchten. Aber sei nicht zu gerecht. Frauen sind für Parteinahme, versteht sich, wenn es ihrer Partei zu gute kommt. Um diese Plaudereien, so denk ich mir, wirst Du nicht herum kommen, auch kaum herum kommen wollen, wenn Du nicht inzwischen ein anderer geworden bist. Im übrigen, und dies ist die Haupt -84 sache, werden wir sorglich im Auge behalten, was Dich zu uns führt: Du sollst von niemandem gestört werden, und ganz Deiner Erholung leben können. Sollte sich ein anderer Besuch einfinden, was nicht wahrscheinlich, aber bei der Nähe des Harzes und seiner sommerlichen Anziehungskraft immerhin möglich ist, so kennst Du ja unser Haus, und weißt, daß es Raum genug hat, sich darin zurückziehen zu können. Karoline vereinigt ihre Grüße mit den meinigen. Auch die Kinder freuen sich, und sind im voraus angewiesen, ihr Gepolter auf Flur und Treppen zu mäßigen. Komme denn also, je früher, je besser, und je länger, je besser. Ich denke, Du sollst alles finden, was Du suchest, am meisten aber Ruhe.

Dein Otto.

Zwei Tage später traf ich in Insleben ein, und freute mich, die lieben Gesichter wieder zu sehen. Alle Kinder traten an: Albert, der Aelteste, war gewachsen, Alfred hatte sich embellirt, Arthur desgleichen, und nur Leopold, der Jüngste, hatte nach wie vor sein gutmütig, breites Gesicht und seine Sommersprossen. Am meisten aber erfreuten mich Alice und Maud, die zu kleinen Damen herangewachsen waren. Es fehlte nicht an den üblichen Scherzen und Vergleichen, denn mein Freund, wie85 der Leser bereits bemerkt haben wird, hatte bei der Namensgebung an seine Kinder die britische Königsfamilie als Muster genommen. Ja, es war ein glückliches Wiedersehen, der Hausherr zeigte sich unverändert in seiner Freundschaft, und die noch schöne Mutter erschien unter ihren Kindern immer nur als die älteste Schwester. Auch die Plauderlust war geblieben, und wir saßen gleich am ersten Abend noch auf der Veranda, als das Dorf schon schlief und in dem ausgedehnten Parke vor uns nichts weiter hörbar war, als das Wasser, das über ein Wehr fiel. Alles war so still und die Lampe vor uns flackerte kaum.

Es war sehr spät, als ich treppauf in meine Stube ging. Sie hatte nur ein breites Fenster, ein sogenanntes Fall - oder Schiebefenster, an das ich mich nun setzte. Der Blick war derselbe wie von der Veranda aus, aber schöner und freier, und ich sah in die Sterne hinauf, und atmete höher und tiefer. Und bei jedem Atemzuge war mir, als ob ich Genesung tränke. Dann ging ich zu Bett, und die lieblichen Bilder der eben erst durchlebten Stunden setzten sich in meinem Traume fort. Ich sah grüne Wiesen, und Maud und Alice beim Reifen -86 spiel, und die Reifen flogen bis an den Himmel und fielen nicht wieder nieder. Und auf einer Graswalze saß die schöne Frau und sah dem Spiele zu, das die Mädchen mit einem leisen Gesange zu begleiten begannen. Aber die Mutter verbot es: Er schläft, und wir wollen ihn nicht wecken, auch nicht mit Gesang.

Ich war früh auf, ging durch den Park, und hatte den ganzen Tag über ein Gefühl, als ob sich mein Leben nach dem Traume der letzten Nacht gestalten solle: Kein lauter Ton traf mein Ohr, und Alt und Jung übte die Rücksicht, mich frei schalten und walten zu lassen. Ich wußte wohl, wem ich dies alles, und damit zugleich ein rascheres Fortschreiten meiner Reconvalescenz zu danken hatte. Luft und Licht heilen und Ruhe heilt, aber den besten Balsam spendet doch ein gütiges Herz.

Es war noch keine Woche vergangen und ich fühlte mich schon ein durchaus anderer. Du bist ja wie ausgetauscht, sagte Freund Otto beim Morgenkaffee. Ich denke, Karoline, wir dürfen ihm jetzt ein zweites Frühstücks-Ei verordnen. Und noch eine Woche, dann kriegt er einen gerösteten Speck. Und haben wir Dich erst bei dem Mause -87 braten, so haben wir Dich auch in der Falle und Du kommst so bald nicht wieder fort.

Ich stimmte zu, nahm an der Heiterkeit von ganzem Herzen Teil und machte, nachdem ich mich auf eine halbe Stunde verabschiedet hatte, meinen gewöhnlichen Morgenspaziergang. Als ich zurückkam, war der Frühstückstisch noch nicht abgeräumt, vielmehr fand ich das Ehepaar über Briefen, die mittlerweile vom Postboten abgegeben waren. Einige dieser Briefe reichte Otto zu seiner Frau hinüber. Ich konnte deutlich wahrnehmen, daß sich ein Lächeln um ihren Mund zog, als sie die eine Handschrift erkannte. Bald aber sah ich auch, daß sie mich von der Seite her anblickte, wie wenn sie mir etwas nicht ganz Angenehmes mitzuteilen habe. Sie besann sich aber wieder und sagte halblaut zu ihrem Manne: Es wird schon gehen, Otto, was dieser durch ein Kopfnicken bestätigte. Trotzdem konnt ich den ganzen Tag über eine gewisse Zerstreutheit an ihr bemerken, zugleich eine größere Heiterkeit, als ihr sonst wohl natürlich war und die, weil nicht ganz natürlich, mit Anflügen leiser Verlegenheit wechselte. Dies alles entging mir nicht, aber ich legte kein Gewicht darauf und erst am anderen Morgen war es mir zweifellos geworden, daß man ein Geheimnis vor mir habe.

88

Der Tag war heiß, dazu hatte mein Zimmer die Vormittagssonne; links neben dem Fenster aber lag alles in Schatten und an diese Schattenstelle schob ich jetzt Tisch und Stuhl und las. Freilich nur kurze Zeit. Eine Müdigkeit überfiel mich, die mir freilich unendlich wohl that und um so wohler, als ich darin ein neues Zeichen wiederkehrender Genesung sah. So that ich denn das Buch aus der Hand und lehnte mich in den Stuhl zurück. In dieser Lage mocht ich zehn Minuten oder auch mehr in einem erquicklichen Halbschlummer zugebracht haben, als ich durch ein lautes Getöse geweckt wurde, laut, wie wenn die wilde Jagd die Treppe herauf käme. Und eh ich mich noch zurechtfinden konnte, ward auch schon die Thür aufgerissen und der jüngste Sommersprossige stürzte mit dem Ruf auf mich zu: Er ist da, er ist da!

Wer denn?

Onkel Dodo.

Ich wußte nicht, wer Onkel Dodo war, war aber verständig genug, mich ohne weiteres zu freuen. Ei, das ist schön, sagte ich.

Freilich, rief der Junge. Freilich ist das schön.

Und damit war er wieder hinaus.

Eine Viertelstunde später kam der Diener, um89 mich zum zweiten Frühstück zu rufen. Es sei heut etwas früher, weil der alte Herr eben angekommen sei.

Onkel Dodo?

Zu Befehl.

Aber sagen Sie, Friedrich, wer ist das?

Das ist der Mutter-Bruder der gnädigen Frau. Regierungs - und Baurat. Aber schon lang a. D.

Verheiratet?

Nein. Alter Junggesell.

Nun gut. Ich komme gleich.

Und da man auf dem Lande nicht warten lassen darf, am wenigsten, wenn ein Besuch angekommen ist, so war ich in fünf Minuten unten und wurde vorgestellt.

Onkel Dodo schüttelte mir die Hand und lachte herzlich. Sie werden mir vorgestellt, aber ich nicht Ihnen. Meine liebe Karoline behandelt mich immer wie eine historische Person, die man kennen muß. Sagen wir wie Bismarck. Und ich habe doch nur dies hier mit ihm gemein. Und dabei wies er auf die Stirn. Aber ich meine nicht den Kopf. In dem, mein lieber Doktor, ist er mir über.

Ich bin ohne Titel, Herr Regierungsrat, absolut ohne Titel.

Desto besser! Uebrigens was ich sagen wollte,90 Kopf hin, Kopf her, es braucht nicht jeder ein Gehirn zu haben wie Kant oder wie Schopenhauer. Oder gar wie Helmholtz. Sie kennen Helmholtz? Der soll die größte Stirnweite haben, noch mehr als Kant, der im Uebrigen mein Liebling ist, von wegen dem kategorischen Imperativ. Aber das lassen wir bis später, das sind so Gespräche für eine Nachmittagspartie nach dem Waldkater oder der Roßtrappe. Denn es ist dummes Zeug, daß man unterwegs oder beim Steigen nicht sprechen solle. Gerade da. Das dehnt aus und der Sauerstoff strömt nur so in die Lunge. Natürlich muß man eine Lunge haben. Nu, Gott sei Dank, ich hab eine. Und Du auch, Leopold, nicht wahr, Junge? Wer Sommersprossen hat, wird doch wohl eine Lunge haben? Hast?

Freilich, Onkel. Aber hast Du uns auch was mitgebracht?

Prächtiger Kerl, Praktikus. Vor dem ist mir nicht bange. Natürlich hab ich was mitgebracht, natürlich. Und hier ist der Schlüssel, dieser dritte, und nun lauf auf mein Zimmer und schließe den Reisesack auf und pack aus. Ich komme gleich nach und werd alles verteilen, an Gerechte und Ungerechte. Oder seid Ihr alle Gerechte? Oder alle Ungerechte?

91

Ungerechte, Onkel.

Das ist brav, Ungerechte! Die Gerechtigkeit ist blos für die Komik. Da hab ich vorigen Winter was gelesen, ich glaube, die drei gerechten Amtmänner‘

Kammmacher, verbesserte Karoline.

Richtig, Kammmacher. Versteht sich, versteht sich, Kammmacher. Amtmänner ist Unsinn, Amtmänner sind nie gerecht Aber da kommt ja der Lammbraten. Das ist brav, Karoline. Du kennst meine schwache Seite; Lammbraten, er hat so viel Alttestamentarisches, so was Ur - und Erzväterliches. Und dabei nahm er Platz und band sich die Serviette vor. Aber nicht aus der Keule, lieber Otto, fuhr er fort. Wenn ich bitten darf, eine Rippe, das heißt ein paar; ich bin fürs Knaupeln und was am Knochen sitzt, ist immer das Beste.

So sprach er weiter, und weil ihn das Sprechen und Knaupeln ganz in Anspruch nahm, konnt ich ihn, ohne daß er’s merkte, gut beobachten. Er mochte Mitte fünfzig sein, eher drüber als drunter, und konnte füglich als das Bild eines alten behäbigen Garçons gelten. Er war ganz und gar in blanke graue Leinwand gekleidet, die fast einen Seidenschimmer hatte; die Weste war derartig weit ausgeschnitten, daß man hätte zweifeln können, ob er überhaupt92 eine trüge, wenn nicht vorne, ganz nach unten zu, zwei kleine Knöpfe mit einem dazugehörigen Stück Zeug sichtbar geworden wären. Auch der Rock wirkte zeugknapp und fipperich, eine seiner Seitentaschen aber, aus der ein großes Taschentuch heraushing, stand weit ab und das wenige blonde Haar, dessen er selbst schon scherzhaft erwähnt hatte, war in zwei graugelben Strähnen links und rechts hinter das Ohr gestrichen. Demohnerachtet wie schon die seidenglänzende Leinwand verriet gebrach es ihm nicht an einer gewissen Eleganz. Um den Hemdkragen, der halb hochstand, halb niedergeklappt war, war ein seidenes Tuch geschlungen, vorn durch einen Ring zusammengehalten, während auf seiner fleischigen und etwas großporigen Nase eine goldene Brille saß. Letztere war in gewissem Sinne das wichtigste Stück seiner Ausrüstung. Er nahm sie beständig ab, sah sich, zugekniffenen Auges, die Gläser an, zog aus der abstehenden Tasche sein Taschentuch und begann zu reiben, zu hauchen und wieder zu reiben. Dann fuhr er mit dem Tuche nach der Stirn, tupfte sich die Schweißtropfen fort und setzte die Brille wieder auf, um nach fünf Minuten denselben Prozeß aufs neue zu beginnen. Alles übrigens, ohne seinen Redestrom auch nur einen Augenblick zu unterbrechen.

93

An mir schien er allmälig ein Interesse zu nehmen und befragte mich nun mit seinen Augen. Aber es war kein eigentlich schmeichelhaftes Interesse, sondern nur ein solches, das ein Arzt an seinem Kranken nimmt. Er hatte schon gehört, daß ich Angegriffenheits halber aufs Land gekommen sei, was, neben einiger Mißbilligung, viel Heiterkeit in ihm wachgerufen hatte. Das kenn ich, das kenn ich; das sind diese modernen Einbildungen. Ich habe mir von diesen nervösen Herrchen erzählen lassen. Denke Dir, Karoline, von einem hab ich gehört, er könne nur in blau leben und in rot schlafen. Ei, da bin ich doch besser dran, ich sage Dir, ich schlafe den ganzen Tuschkasten durch. Uebrigens mit diesem hier ist es nicht so schlimm. Er hat sich verweichlicht und ist blos deshalb nicht recht im Zug. Aber sein Material ist gut und ich will von heut ab von Thee und englischen Biscuits leben, wenn ich ihn nicht in acht Tagen wieder auf die Beine bringe. Laß mich nur machen. Er muß nur erst wieder Vertrauen zu sich selbst fassen, und einsehen lernen, daß er, wenn nötig, einen Baum ausreißen kann. Es sind das Patienten, die durch wohlthätigen Zwang, oder, wenn Du willst, durch den kategorischen Imperativ, durch eine höhere Willenskraft wieder hergestellt werden müssen.

94

Ich war gleich nach dem gemeinsam eingenommenen Frühstück auf mein Zimmer zurückgekehrt und ohne jedes Wissen und Ahnen, welches Gespräch inzwischen über mich geführt wurde, hatte ich doch ein sehr bestimmtes Gefühl, daß nach Eintreffen dieses Besuches meine glücklichen Tage gezählt seien. Ich empfand, daß ein Wirbelwind in der Luft sei, der mich jeden Augenblick fassen könne, und so warf ich mich in einen Lehnstuhl und seufzte: Meine Ruh ist hin.

Es schien aber fast, als ob ich mich geirrt haben sollte, die nächsten Stunden vergingen stiller und ungestörter, als gewöhnlich, und eine flüchtige Hoffnung überkam mich, meine Situation doch für schlimmer und verzweifelter als nötig angesehen zu haben. Ich las also wieder, schrieb einen langen Brief und fütterte die Vögel, die sich auf mein Fensterbrett gesetzt hatten dann vernahm ich von fern her das Rufen des Kukuks und frug ihn: wie viel Tage bleib ich noch? Kukuk und dann schwieg er wieder. Nur einen Tag. Das schien mir doch zu wenig und ich mußte lachen!

Eine halbe Stunde später klangen die bekannten drei Schläge zu mir herauf, die regelmäßig zu Tisch riefen, denn im Hause meines Freundes wurde nicht geläutet, sondern mit einem Paukenstocke gegen ein95 chinesisches oder mexikanisches Schild geschlagen. Es war immer, als begänne der Opferdienst in Ferdinand Cortez.

Ich beeilte mich wie gewöhnlich, war aber doch der letzte (Maud ausgenommen, die dafür einen strafenden Blick erhielt) und gleich danach wahrnehmend, daß Onkel Dodo den Arm der Hausfrau nahm, nahm ich Maud am zweiten Finger ihrer linken Hand und sagte: Daß Du mich gut unterhältst, Maud.

Geht nicht. Und ist auch nicht nötig.

Aber warum nicht?

Ich fühlte, wie sie, während ich so fragte, mit dem Finger schelmisch in meiner Handfläche kribbelte. Zugleich hob sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir zu: Onkel Dodo.

Natürlich war es so, wir verstanden uns und kaum, daß sie das aufschlußgebende Wort gesprochen hatte, so nahmen wir auch schon unsere Plätze, die nicht mehr dieselben waren, wie die Tage vorher. Ich saß heute zwischen Maud und Alice, der Hausfrau gegenüber, die wiederum ihrerseits zwischen ihrem Gatten und Onkel Dodo placirt war, oder auch sich selber placirt hatte. Das Tischgebet, das sonst, trotz tiefwurzelnden Rationalismus im Inslebener Herrenhause Haussitte war, fiel aus Rück -96 sicht für Onkel Dodo fort, der, um ihn selber redend einzuführen, solche Kinkerlitzchen nicht liebte.

Wir hatten unsere Servietten eben erst auseinandergeschlagen, und uns über die große schöne Melone, die der Gärtner uns auf den Tisch gesetzt hatte, noch nicht ganz ausbewundert, als ich auch schon wußte, weshalb wir im Hause, zwischen Frühstück und Mittag, drei stille Stunden verlebt hatten: Onkel Dodo war mit den vier Jungen im Park gewesen, um in einem breiten stillen Wasser, das hier floß, ein paar neue, für Alfred und Arthur mitgebrachte Angelruten zu probieren. Sie hatten auch ’was gefangen, einen fetten Aland, der jetzt als zweites, etwas fragwürdiges Gericht in Aussicht stand.

Alles ließ sich gut und heiter an und Onkel Dodo vor allem, nachdem er die Serviette bandelierartig umgeknotet und seine Brille, zu vorläufiger Rast, unter den Rand der Melonenschüssel geschoben hatte, konnte füglich als ein Bild des Frohsinns und Behagens gelten. Und ihm war auch so, wie er aussah. Als er aber den dritten Löffel Suppe genommen hatte, zog er sein Sacktuch aus der Tasche, wischte sich die Schweißtropfen von Stirn und Nasensattel und sagte, während er sich osten -97 tativ fächelte: Kinder, es ist reizend bei Euch, aber eine kannibalische Hitze: wenn ich nicht Maud und Alice vis-à-vis hätte, würd ich glauben, in einem russischen Bade zu sitzen. Oder doch in einem römischen, was um einen Grad anständiger und civilisierter ist. Ich bitte das Fenster aufmachen zu dürfen.

Und er wollte sich erheben. Aber Karoline sagte: Du mußt verzeihen, lieber Onkel, unser Freund ist Reconvalescent und sehr empfindlich gegen Zug.

Onkel Dodo lachte. Zug, Zug. Es ist noch kein halbes Jahr, daß ich mit einem Australier, einem älteren Herrn aus Melbourne oder Sydney, von Meiningen nach Kissingen fuhr. Charmanter Kerl, noch frisch trotz seiner fünfzig. Er sagte mir, daß er alle zwei Jahre herüber käme, Geschäfte halber, und das erste Wort, das er jedesmal höre, wäre es zieht. Und gleich darauf würd alles herunter gelassen und hermetisch verschlossen. Ja, liebe Karoline, so sprechen Australier über Deutschland, Antipoden, Papuas und halbe Känguruhvettern. Und was das schlimmste ist, sie haben recht. Es giebt viele Lächerlichkeiten, aber das lächerlichste ist die Furcht vor dem Zug. Und damit müssen wir brechen. Denn was ist Zug? Zug ist eine Art98 Doppel-Luft. Und nun frag ich Dich, ist eine Doppelkrone schlechter als eine einfache? Besser ist sie. Was gut ist, wird in der Steigerung besser.

Ein paar Fensterflügel waren inzwischen aufgemacht worden, und Onkel Dodo, nachdem er ein paar Luftzüge gethan und tief aufgeatmet hatte, fuhr fort: Ich halte Luft für das nötigste Bedürfnis, anregend und nervenstärkend und bei Tisch ersetzt es mir den Tischwein. Und nun noch eins, lieber Doktor, worüber wir uns notwendig verständigen müssen. Ich hasse nichts mehr, als Zudringlichkeit mit Ratschlägen, lasse grundsätzlich alles gehen und kümmere mich um nichts, aber dies Unbekümmertsein hat schließlich seine durch Moral und Christenpflicht gezogenen Grenzen und wenn ein Kind über einen Schießplatz laufen will, so halt ich es zurück, und wenn einer auf dem Punkt ist, zu sticken, so bring ich ihn aus der Stickluft ins Freie. Doktor, Doktor, ich bitte Sie! Drinnen in der Stadt laß ich es mir gefallen, laß ich mir alles gefallen; gut, gut, ich bin kein Tyrann. Aber Sie sind jetzt grad eine Woche hier, hier am Fuße des Harzes, und fürchten sich vor Luft? Unerhört, unbegreiflich. Um was sind Sie denn hier? Um Bilder und Bücher willen? Oder um die Wache99 heraustreten zu sehen, wenn eine Prinzessin vorbeifährt? Um was geht man denn aufs Land? Um frischer Luft willen. Und nun haben Sie sie, können sie jeden Augenblick in vollen Zügen trinken und wollen den Erfrischungsbecher, um dessentwillen Sie hier sind, freventlich zurückschieben. Ich sehe wohl, ich bin zu rechter Zeit gekommen. Und wäre ich gleich hier gewesen, so säh es bereits anders mit Ihnen aus. Luft, Wasser, Bewegung, alles andere ist Gift. Ich wecke Sie morgen früh und dann beginnen wir unsere Kur. Um sechs Uhr ein Bad, natürlich kalt, daß uns die Zähne klappern, und dann abgerieben, bis wir rot wie die Krebse sind, und dann angezogen und eine Stunde durch den Park. Und danach das Frühstück. Und wenn wir dann morgen Mittag einen Zug hier haben, daß die Servietten flattern, als hingen sie noch draußen auf der Leine glauben Sie mir, es thut Ihnen nichts. Immer nur Courage haben und Vertrauen zu sich selbst. In jedem von uns steckt ein Held und ein Weichling, und es ist ganz in unseren Willen gegeben, ob wir’s mit der Kraft oder mit der Unkraft halten wollen. Ich habe meine Wahl getroffen und hab auch schon manchen bekehrt. Und nun sind Sie dran, das heißt am Bekehrtwerden zu Kraft und Genesung und in vierzehn Tagen ist100 es Ihnen gleich, ob wir einen Nordost oder eine Windstille haben.

Ich blickte verlegen vor mich hin und sagte dann, er habe gewiß recht und ich wolle auch keinen Versuch machen, ihn mit eigener Weisheit zu widerlegen. Ich berief mich nur auf den Sprüchwörter-Schatz deutscher Nation und erlaubte mir, ihm zwei davon in Erinnerung zu bringen: alte Bäume dürften nicht verpflanzt werden , das sei das eine, und das andere: aus einem Hasen sei kein Löwe zu machen.

Er lachte herzlich, und fuhr dann seinerseits fort: Hören Sie, Doktor, das gefällt mir. Sie sagen, aus einem Hasen sei kein Löwe zu machen. Sehen Sie, wer sich so preisgiebt, mit dem hat es noch gute Wege. Ja, Doktor. Und dann, was heißt Hase? Seien Sie nur ein richtiger, ein richtiger Hase könnt Ihnen Muster und Vorbild sein. Immer wachsam, immer im Kohl und wenn’s Not thut, anderthalb Meilen in zehn Minuten. Eine solche Force-Tour und Sie sind für immer aus der Misère heraus.

Ich glaub es.

Und Sie sind für immer aus der Misère heraus, wiederholte Onkel Dodo mit Nachdruck, ohne meiner leisen Verspottung zu achten.

Ich hatte so gesessen, daß ich bei Schluß der101 Mahlzeit ein Reißen in der ganzen rechten Seite fühlte, schwieg aber und führte Maud auf die Veranda, wo jetzt der Kaffee genommen wurde.

Dies war ein reizender, von wildem Wein überwachsener Platz, nach vorn hin offen, mit einem freien Blick auf einen quadratischen und von einer Böschung eingefaßten Teich. Auf dem Wasser schwammen Schwäne, und eine Strick-Fähre führte nach der von Baumgruppen umstellten Parkwiese hinüber, die sich jenseits des Teiches dehnte. Weit zurück aber, und über einen abschließenden Waldstrich hinweg, ragte der Brocken auf, mit seinem in der klaren Luft deutlich erkennbaren Brockenhause. Nähe und Ferne gleich schön. Um den Tisch her standen Garten - und Schaukelstühle, und Alice, die die Häusliche war, goß den Kaffee in die kleinen Meißner Tassen. Ein Diener reichte herum, während ein zweiter, ein Tablett in der Hand, je nach Wahl einen Cognac oder Allasch oder ein Basler Kirschwasser in die kleinen Krystallgläschen schenkte. Ah, das ist gut, sagte Onkel Dodo. Ich hasse, was sich Likör‘ nennt, und wenn er auf sette‘ endigt, so hass ich ihn doppelt. Es hat etwas Französisches, etwas Süßliches, ein Anisette, ein Noisette, ein Rosette. Aber wo die gebrannten Wasser anfangen, fang ich auch an. Wasser ist102 immer gut, gebrannt oder nicht. Ah, ein delikates Kirschwasser

In diesem Augenblick sah er, daß ich dankte. Präsentieren Sie dem Doktor nur noch ’mal; er wird schon nehmen. Ein solcher Rachenputzer ist auch ein kategorischer Imperativ. Er hat ’was Männliches und sonderbar, ich bin abhängig von solchen Dingen. Ich kann Freundschaft halten mit Leuten, die sich einen Rettig oder einen Limburger aufs Brod legen, und zwei, drei Nordhäuser herunter kippen, aber ich könnte nicht Freundschaft halten mit einem Manne, der von Baiser-Torte lebt und Crême de Cacao nippt.

Ich verneigte mich gegen ihn und sagte, daß ich ihm darin vollkommen beipflichtete. Nichts destoweniger könnt ich ihm nicht zu Diensten sein, ich hätte sehr empfindliche Membranen und mein Zäpfchen entzündete sich leicht.

Er lachte wieder. Ein Zäpfchen. Und nun gar ein entzündetes Zäpfchen. Aber woher das alles? Alles von dem unglücklichen Flanell und den Binden und Bandagen, die schon auf dem Fechtboden ein Unsinn sind und nun mit doppelter Watte mit ins Philisterium hinüber genommen werden. Immer Tücher und Kravatten, heute seidene, morgen wollene, ja, einen kannt ich, der be -103 ständig ein rotes Florett-Band trug, wahrhaftig, wie, wegen geheimnisvollen Mordes, vom Scharfrichter appliciert. Und es war noch ein Glück, daß ihm’s die Leute nicht zutrauten und auch nicht zutrauen konnten, denn er war die größte Milchsuppe, die mir in meinem Leben vorgekommen ist. Ich bitte Sie, was soll Ihnen die hohe Kravatte, die Sie da tragen und die vielleicht noch gefüttert ist. Ein Kopf muß so frei sitzen, wie wenn er sagen wollte: hier bin ich. Das kleidet. Und dazu braucht man einen uneingeschnürten Hals, einen Hals au naturel. Ein entzündetes Zäpfchen. Hab ich je so was gehört! Aber lassen wir’s. Und nun sage mir, Otto, fahren wir in den Wald oder bleiben wir?

Ich denke, wir bleiben, bat Alice.

Ja, Kind, das ist leicht gesagt, wir bleiben. Aber was nehmen wir vor? Wir können hier doch nicht vier Stunden auf der Veranda sitzen und darauf warten, ob die Brockenhaus-Fenster in der untergehenden Sonne glühen werden oder nicht.

O wir spielen.

Spielen. Gut; meinetwegen. Aber was mein kleiner Schatz, was? Ist eine Kegelbahn da?

Der Hausherr zuckte die Achseln.

Dacht ich’s doch. Ich glaube, Otto, Du hältst104 das Kegeln für nicht fein und vornehm genug, ist Dir zu spießbürgerlich und ärgerst Dich, wenn die Kugel so hindonnert und der Junge, der im besten Fall immer nur ein Hemd und eine Hose anhat, alle Neune schreit. Aber Du hast unrecht, Otto. Nichts ist fein oder unfein an sich, es kommt lediglich darauf an, wozu wir die Dinge machen oder wie wir uns dazu stellen. Das Allergewöhnlichste kann auch wieder das Aparteste sein. Ich sage Dir, eine gute Kegelpartie geht über alles: Rock und Weste weg und den Gurt angezogen und nun die Kugel in der flachen Hand gewogen, als ob es die Weltkugel wär oder die Schicksalskugel und es hinge Leben und Sterben dran. Und nun richtig aufgesetzt und siehe da, alle Hälse recken sich und am weitesten der, der an dem schwarzen Schreibebrett sitzt, und baff‘, da liegen sie wie gemäht. Und nun werden die alten Kegelwitze laut und der alte Conrektor sagt: wie Grummet sah man unsere Leute die Türkenglieder mähn‘. O, ich sage Dir, Otto, das ist wohl hübsch. Aber Du willst nicht und so haben wir denn blos die Wahl zwischen Boccia und Cricket.

Boccia, sagte Maud.

Ich bin für Cricket, unterbrach Onkel Dodo, trotzdem es englisch ist und alles Englische mir105 wider den Strich geht. Aber Cricket ist was gutes, (mehr als Boccia) und da heißt es denn aufpassen und die Beine in die Hand nehmen. Ich schlage den Ball und der Doktor muß laufen und ich freue mich schon kindisch darauf, ihn laufen zu sehn. Er muß laufen bis er fällt und wenn er, drüben auf der Wiese, die paar hundert Schritt zwischen dem Teich und der Sonnenuhr erst ein Dutzend Mal auf und abgelaufen ist und sich den rechten Arm beim Ballwerfen dreimal verrenkt hat, so hat er gar kein Zäpfchen mehr und trinkt morgen ein Basler Kirschwasser mit mir um die Wette und übermorgen ein Danziger Goldwasser.

Und während er noch so sprach, war schon alles die Böschung hinab ins Boot und die Kinder zogen am Strick, bis die Fähre drüben landete. Dann kam das Spiel, an dem ich anfangs widerwillig, dann aber vergnüglich teilnahm, bis der Abend da war. Alles hatte mich erfreut und erquickt, und ich stand einen Augenblick schon auf dem Punkt, mich mit meinem Schicksal, das doch nicht so schlimm sei, zu versöhnen. Als ich aber um die neunte Stunde, wie gewöhnlich, in mein Zimmer hinauf wollte, legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter, eine Hand, die mich gleich fühlen ließ, wessen sie war, und Onkel Dodo sagte mit jener106 Miene von Wohlwollen und Bestimmtheit, der nicht zu widerstehen war: O nicht doch, Doktor, Sie dürfen noch nicht zur Ruhe. Ich habe schon mit Otto gesprochen und die Kinder folgen und tragen die Fackeln.

Aber, mein Gott, was giebt es? Soll wer begraben werden?

Im gewissen Sinne, ja. Wir wollen nämlich Hechte stechen, ich habe Harpunen mitgebracht.

Als ich um Mitternacht den Tag überdachte, war es mir, als hätt ich bis zu dem Erscheinen Onkel Dodos in Insleben nicht länger als anderthalb Stunden, nach seinem Erscheinen aber wenigstens anderthalb Wochen zugebracht. Es schwirrte mir der Kopf und ich wußte nur nicht, ob ich mehr betäubt war von dem, was mir die letzten vierundzwanzig Stunden gebracht hatten, oder mehr in Angst und Sorge vor dem, was mir mutmaßlich bevorstand. So viel war gewiß, aus dem stillen Schäferspiel war im Handumdrehen eins jener unruhigen Verwechslungs - und Verwandlungsstücke geworden, in denen an der Hinterkulisse der Bühne wenigstens drei Thüren und drei Fenster sind, in die beständig aus - und eingegangen oder hinaus -107 und hineingeklettert wird und unter jeder Tischdecke hockt einer und in jedem Kleiderschranke hat sich einer versteckt.

Im übrigen schlief ich leidlich und war gleich nach sechs auf. Am Frühstückstische traf ich Onkel Dodo, der sich allerpersönlichst unter eine Flut von Vorwürfen stellte, und zwar darüber, daß er die schönste Tageszeit verschlafen habe. Als ich ihm erwiderte es sei ja kaum sieben überkam ihn wieder einer seiner großen Heiterkeitsanfälle, die jedesmal etwas Elementares hatten. Erst sieben prustete er heraus. Auf dem Lande, drei Stunden nach Sonnenaufgang, und erst sieben. Endlich zur Ruhe gekommen, schlug er das zu seinem Frühstück gehörige rohe Ei mit der Spitze auf und sagte, während er es ziemlich geräuschvoll in einem Zuge austrank: Freu mich über Sie. Sie haben seit gestern Mittag ordentlich Farbe gekriegt und ich sag Ihnen, noch drei Tage und Sie wundern sich über sich selbst und kommen sich, Pardon, selber höchst komisch vor, ’mal von Zug und Zäpfchen gesprochen zu haben. Ein entzündetes Zäpfchen. Kapital; wundervoll! Aber wenn geholfen werden soll, so muß System in die Sache kommen. Ich kann Sie nicht mit einem bißchen Cricket kurieren und auch nicht mit Hechtstechen. All das laß ich108 mir als hors d’oeuvre gefallen, aber ohne Regelmäßigkeit in der Anwendung der Mittel giebt es keine Kur. Es trifft sich gut, daß unsere liebenswürdigen Wirte für den Augenblick nicht zugegen sind, und so schlage ich denn vor, wir machen ein Programm, oder, wenn Sie wollen einen Stundenplan. Denn in der That, eine jede Stunde muß herangezogen werden. Und da denk ich mir denn aber bitte, schieben Sie mir das kalte Huhn heran, ich will es noch mal damit versuchen. Karoline sprach von jungen Hühnern; nun gut, sie mag es so nennen, aber alt und jung ist ein dehnbarer Begriff und ich darf sagen, ich habe jüngere gegessen. Otto, der beste Mensch von der Welt, hat hundert Vorzüge, nur Gourmand ist er nicht. Ich auch nicht, aber ich kann wenigstens ein altes Huhn von einem jungen unterscheiden.

Ich lachte, was ihm wohlthat, denn er hatte das Bedürfnis, seine Jovialität auch anerkannt zu sehen. Ah, Sie lachen. Sehen Sie, das gefällt mir. Sie wissen, im Mittelalter, in den alten Zeiten, als der Aberglaube und der schwarze Tod Arm in Arm über die Welt gingen, wenn da wer nieste, so galt es als ein gutes Omen und unser einfaches Zur Gesundheit‘ soll sich aus jenen Zeiten herschreiben. Aber was ist das Niesen gegen das109 Lachen! Und so viel ist gewiß, wenn ich einen herzlich lachen höre, so möcht ich ihm immer zur Gesundheit‘ zurufen. Ja, Doktor, gratulor. Sie sind jetzt wirklich Rekonvalescent und ich biete jede Wette, daß ich in acht Tagen Staat mit Ihnen mache. Denn Sie haben auch die Tugend, gehorsam zu sein.

Ich wollte mich dagegen verwahren, er schnitt mir aber die Gelegenheit dazu nicht nur durch eine Handbewegung, sondern auch durch ein lauteres Sprechen seinerseits ab und fuhr fort: Also das Programm. Unser Sechs-Uhr-Bad haben wir versäumt und ein Bad unmittelbar nach dem Frühstück geht nicht. So geb ich Sie denn bis neun Uhr frei. Sie sehn, ich bin nicht so schlimm, wie Sie vielleicht meinen. Auch weiß ich recht gut, ein Mann wie Sie, will sich mal sammeln oder einen Brief schreiben. Nicht wahr? Ich seh’s Ihnen an, daß Sie viel Briefe schreiben, eine schreckliche Angewohnheit und wer sie mal hat, wird sie nicht wieder los. Also bis neun. Und um neun gehen wir eine Stunde spazieren, halten uns an dem Inslebener See hin und nehmen das versäumte Frühbad nach Sie schwimmen doch?

Ich schüttelte den Kopf.

Ei, ei. Aber es thut nichts, und wenn etwas110 passiert, ich kann tauchen und hole Sie wieder herauf. Unser zweites Frühstück nehmen wir dann unmittelbar nach dem Bade. Für den Platz lassen Sie mich sorgen. Keine tausend Schritt hinter dem See liegt der Burgberg, hundertachtzig Stufen, etwas steil; da klettern wir hinauf, setzen uns auf eine Steinbank und haben das schattige Buchengezweig über und die sonnige Landschaft vor uns: erst den See mit dem breiten Rohrgürtel und den wilden Enten, die beständig auffliegen und niederfallen, mal schwimmen und mal tauchen und bei dieser Gelegenheit ihres Daseins besseren Teil in den blauen Himmel strecken. Und dann kommt ein Wind über den See und fächelt uns an und schüttelt die Bucheckern vom Baum, wenn es schon welche giebt, ich bin meiner Sache nicht sicher, und dabei sitzen wir und verzehren ein Sool-Ei und überfliegen den blauen Strich der Berge bis zu dem alten Brocken hinauf, der mit seinem Backofen-Profil die ganze Vorgrundsherrlichkeit überragt.

Ich sah ihn verwundert an, ihn mit so viel poetischer Emphase sprechen zu hören, aber er wiederholte nur der die ganze Vorgrundsherrlichkeit überragt und was am meisten in Betracht kommt, uns mit aller Dringlichkeit einlädt, ihn zu besuchen. Und er soll nicht lange mehr auf uns111 warten. Heut ist es zu spät; wir haben (mir immer wieder ein Vorwurf) die besten Stunden verschlafen, aber morgen, morgen. Wir machen’s in einem Tag und bei Sonnenuntergang sind wir wieder zurück.

Aber der Sonnenuntergang ist ja gerade das Beste.

Thorheit. Erstens ist der Mittag ebenso gut wie der Abend, und wenn es blendet, was vorkommt, so setzen wir eine blaue Brille auf. Und dann zweitens, und das ist die Hauptsache: das Ziel ist nichts und der Weg ist alles‘, ohne welche Wahrheit und Reiseweisheit die ganze Brockenreputation sich keinen Sommer lang halten könnte. Denn haben Sie schon je wen gesprochen, der vom Brocken aus ’was gesehen hätte? Ich nicht. Und ist auch nicht nötig. Worauf es ankommt, das sind die Stationen: in Hohenstein einen Wachholder, auf der steinernen Rinne was Belegtes, in Schierke zwei Seidel und auf dem Brocken zu Mittag. Aber im Freien. Und wenn es dann so fegt und bläst und man erst seinen Reisestock und dann einen Stein aufs Tischtuch legt, damit es nicht weggeblasen wird, sehen Sie, Doktor, das ist die Freude, darin steckt die Genesung. Ob Sie die Türme von Magdeburg sehn, ist gleichgültig und hat noch keinen[ gesund] gemacht. 112Aber der Wind. Im Wind steckt alles; kennen Sie die Geschichte von Christus und Petrus? Ohne Wind wär alles Pest und Tod. Es wär eine mephitische Welt, wenn der Wind nicht wäre. Hab ich recht? Der Wind ist die Gesundheit und das Leben, und es wundert mich, daß die Griechen keinen großen Windgott gehabt haben. Einen kleinen hatten sie.

Ich bestätigte.

Nun sehn Sie. Ja, der Wind, auf den kommt es an und haben Sie den erst lieb gewonnen, so wollen Sie jeden dritten Tag hinauf. Und so weit bring ich Sie noch. Und wenn mal ein Wetter kommt und einen in die Hütte treibt, zu Köhlervolk oder andern blutarmen Leuten, und wenn man dann das Wasser aus dem Schuh gießt und sich einen Friesrock anzieht, bis alles wieder an einer langen Ofenstrippe getrocknet ist, sehen Sie, Doktor, das heißt leben und Leben genießen. Und so was müssen wir als Ziel im Auge behalten. Aber das alles ist Zukunftsprogramm, und vorläufig und für heute (Sie werden doch nicht ausspannen) sind wir noch auf dem Burgberg und begnügen uns mit ihm und marschieren, statt auf den Brocken, in weitem Bogen auf die Pfarre zu, wo wir Hochwürden, ich wette zehn gegen eins,113 bei seiner Zeitung treffen werden. Ein charmanter Mann, nur ein bißchen zu seßhaft und nicht los zu kriegen von seinem knarrigen Reitstuhl Ich glaube, er bildet sich wirklich ein, er säße zu Pferde Nun, da haben wir denn unser Gespräch. Er hält zu Falk und will nicht nach Canossa. Sie doch auch nicht? Aber ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen. A propos, haben Sie denn schon die Inslebener Kirche gesehen und die Gruft?

Nein.

Nun, dann muß der Küster aufschließen und Sie müssen wohl oder übel vom Pastor aus der uns, wenn er nicht zu bequem ist, dabei begleiten kann in die Gruft hinabsteigen und die Mumien sehn. Das ist eine Besonderheit dieser Gegenden und eigentlich unaufgeklärt. Und sie liegen da (denn es sind ihrer mehrere) wie noch lebendig und die Haut giebt nach und macht eine Kute, wenn Sie mit dem Finger drauf drücken Und dann zurück und zu Tisch

Könnten wir nicht vielleicht, unterbrach ich, erst in die Gruft steigen und dann in die Pfarre

Meinetwegen. Versteh, versteh. Ist Ihnen fatal, von der Mumie direkt hier wieder einzutreffen114 und gleich danach zu Tische zu gehn. Aber ich bitte Sie, Doktor, wie kann man so feinfühlig sein? Da hört zuletzt alles auf und Sie können kein belegtes Butterbrod essen, wenn zufällig einer begraben wird.

Kann ich auch wirklich nicht.

Prachtvoll. Was im Zeitalter der angegriffenen Nerven alles vorkommt Aber wie Sie wollen Erst in die Gruft also und dann zum Pastor. Und dann nach Haus und zu Tisch.

Und dann?

Ich denke, wir überlassen das der historischen Entwicklung.

Offen gestanden, mich persönlich würd es beruhigen, genau zu wissen, was vorliegt, und was in Sicht steht.

Gut. Meinetwegen auch das. Und so schlag ich denn vor, wir bestimmen Otto, gleich nach Tisch den Pürschwagen anspannen zu lassen. Er stößt etwas, aber das gehört mit dazu. Dann besuchen wir den alten Oberförster. Er ist froh, wenn er mal ein anderes Gesicht sieht. Und dann in den Wald hinein oder noch besser draußen am Wald entlang. Es ist jetzt freilich nicht viel los und die Hirsch und Rehe schreiten einher wie im Paradiese115 (beiläufig, ich habe solche Bilder gesehen, ich glaube in Florenz) aber in drei Stunden wird doch wohl ’was zum Schuß kommen. Vesper fällt aus und für einen Nordhäuser sorgt der Oberförster. Das ist wichtig, denn bei Sonnenuntergang wird’s kühl. Und dann nach Haus, wo uns die Jungens erwarten. Und ich glaube mit Sehnsucht. Denn wir wollen am Abend noch ein Feuerwerk abbrennen, auf der Liebesinsel, immer vorausgesetzt, daß der gute Otto, wegen seiner Eremitage, nichts dagegen hat. Und nun Gott befohlen. Ich sehe, daß Friedrich uns schon auf die Finger kuckt und abräumen will. Und hat auch recht. Alle Wetter, schon acht Au revoir, Doktor. In einer Stunde draußen auf dem Vorplatz. Aber präcise, präcise.

Der Tag verlief programmmäßig und die Dämmerung war längst angebrochen, als wir nach mehrstündiger Fahrt im Walde, durch die hier und da schon ein paar Lichter zeigende Dorfstraße heimkehrten und vor dem etwas zurückgelegenen Herrenhause hielten. Ich war zu Schuß gekommen, selbstverständlich ohne zu treffen, Otto dagegen hatte116 zwei Birkhühner in seiner Jagdtasche. Schon auf der Vortreppe sahen wir uns von den Kindern umringt, die, voll Eifer und unter beständigem Ausschauen nach ihm, auf die Rückkehr des Onkels gewartet hatten. Dieser kannte nichts Schöneres, als solche Neugier und Ungeduld und war gleich wieder unten, um den Kasten mit Feuerwerk auf eine kleine Gondel zu verladen, auf der man, unter Benutzung eines, vom Teich aus, durch alle Partieen des Parkes sich hinschlängelnden Grabens, bis an die ziemlich weitab gelegene Liebesinsel fahren wollte. Was nicht Platz hatte, ging zu Fuß und benutzte die kleine Bogenbrücke. Die Aufregung, in der sich alles befand, gestattete mir, unbemerkt im Hintergrunde zu bleiben und mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Ich war todmüde von dem Bad und dem Pastor und dem Pürschwagen und warf mich aufs Sofa und schlief ein.

Eine Stunde mochte ich so geschlafen haben, als ich von einem seltsamen Summen und Dröhnen erwachte. Mein erster Gedanke war, daß es Kopfweh sei, vielleicht von Erkältung, und so ging ich denn auf das noch offenstehende Fenster zu, um es zu schließen. Aber wie war ich überrascht und er -117 schrocken, als ich im selben Augenblick einen Feuerschein über den Parkbäumen wahrnahm und nun auch in aller Deutlichkeit hörte, daß es die Feuerglocke war, die mir das Summen und Dröhnen im Kopfe verursacht hatte. Da hinaus lag die Liebesinsel und keine fünfzig Schritte weiter rechts standen die Dorfscheunen am Rande des Parkes hin. Ich lief treppab, um zu fragen; aber niemand war da, den alten Hühnerhund abgerechnet, der mir, von seiner Binsenmatte her, wedelnd entgegenkam und mich ansah, als ob er fragen wolle, was denn eigentlich los sei?‘ Ja, Caro, wer es wüßte! Ich weiß es auch nicht.

So trat ich denn, um doch etwas zu thun, auf die Veranda hinaus, zählte die dumpfen, langsamen Schläge, die sich fortpflanzten und mitunter war es mir, als ob auch von Bins - und Minsleben her die Sturmglocke dazwischen klänge.

So horchend und zählend, sah ich endlich, daß Maud und Alice den schräg über die Parkwiese laufenden Kiesweg herunterkamen. Gott sei Dank. Und nun sprangen sie, während sie schon von drüben her grüßten, in die Strickfähre und zogen sich bis zu mir herüber.

Ich bitt Euch Kinder, was giebt es?

Alles schon vorbei.

118

Und nun erzählten sie, daß eine der Onkel Dodoschen Raketen auf das alte Dach der Eremitage gefallen und in Folge davon der ganze Rohr - und Rindenbau rasch niedergebrannt sei. Wir kriegen nun eine bessere, sagte Alice. Papa war auch in Sorge der Scheunen halber und Alfred lief, um die Spritze zu holen. Und deshalb haben sie gestürmt. Es war aber eigentlich nicht nötig.

Und die Mama?

Nun die kriegte natürlich ihren Weinkrampf. Als aber Onkel eine Nessel ausriß und sie damit schlagen wollte, weil er sagte, das hülfe, da schlug es um und sie kriegte nun ihren Lachkrampf und gleich darauf erholte sie sich wieder.

Und kommen sie bald?

Ich wundre mich, daß sie noch nicht da sind.

Ich meinerseits hatte nicht Lust, der Entwickelung dieser Tragikomödie beizuwohnen und bat deshalb die Kinder, mich bei den Eltern entschuldigen zu wollen. Ich hätte Kopfweh. Und unter diesen Worten zog ich mich auch wirklich zurück und schlief bald ein. Aber es war kein rechter Schlaf. Immer sah ich eine Rakete steigen und dann gab es einen Puff und dann fielen drei Leuchtkugeln nieder und dazwischen stürmte die Feuerglocke. Menschen sah ich nicht, mit Ausnahme Frau Karolinens, die,119 weißgekleidet und weinend, auf einer Rasenböschung saß und vor ihr Onkel Dodo mit einer Nessel. Ich konnte den Traum nicht abschütteln und war froh als ich um fünf Uhr aufwachte. Früh, sehr früh. Aber es paßte mir gerade, daß es so früh war, und rasch aufspringend, zog ich mich an und ging auf die Veranda hinunter, wo die beiden Ehegatten um Punkt sechs Uhr ihr erstes Frühstück zu nehmen pflegten.

Ich wollte mit ihnen allein sein und ihnen mein Herz ausschütten.

Es war gut geplant und auch wieder nicht. Denn eigentlich hätt ich den Mißerfolg, der meiner harrte, voraussehen müssen. Ich fand nämlich Onkel Dodo bereits vor und wurde von ihm mit scherzhaften Vorwürfen darüber überschüttet, erst beim Feuerwerk, dann beim Feuer und zuletzt bei der Condolenz gefehlt zu haben. Ich entschuldigte mich, so gut es ging, und da Freund Otto mir von der Stirn herunterlesen mochte, daß ich allerlei zu sagen hätte, was Onkel Dodo nicht hören solle, so nahm er diesen beim Arm und sagte: Komm, ich muß Dir noch unsre neue Torfmaschine zeigen. Für den Doktor, wie Du ihn nennst, ist es nichts.

Und so gingen sie.

Karoline wies auf einen Schaukelstuhl und120 klingelte, daß man mir den Kaffe bringe. Dann sah sie mich freundlich an und sagte: Nun, was giebt es, lieber Freund? Ich sehe, Sie haben ’was auf dem Herzen und ich will es Ihnen leicht machen. Ich fürchte, Sie wollen fort.

Ja, meine teuerste Freundin.

Und keine Möglichkeit?

Keine Denken Sie doch, er will mich in die Berge schleppen. Auf den Brocken und in einem Tage hin und zurück. Und überall ein Goldwasser oder ein Kirschwasser. Und ich mache mir aus beiden nichts. Und was soll ich auf dem Brocken? Er sagt ja selber, daß man nichts sehen könne. Und im Freien will er mit mir zu Mittag essen und wir sollen einen Stein auf das Tischtuch legen, damit es nicht fortfliegt. Ich bitte Sie

Sie lachte herzlich und sagte dann: Sie müssen fester sein und eigensinniger und nicht gehorchen.

Ach, meine teuerste Freundin, nahm ich wieder das Wort Sie wissen ja selbst, daß das nicht geht. Einem unleidlichen Menschen gegenüber hat man ein leichtes Spiel, man kann ihm aus dem Wege gehn oder ihm in seiner Sprache antworten und er wird sich weder groß darüber wundern, noch es einem sonderlich übel nehmen. Aber gegen die Bonhommie giebt es kein Mittel. Es ist damit 121 Pardon, Ihr eignes Haus ist liberal und ich bin es auch es ist damit, wie mit dem Liberalismus: er ist immer gut, schon um seiner selbst willen, ob er nun passen mag oder nicht. Und wer da widerspricht oder auch nur leise zweifelt, ist ein schlechter Mensch. Es giebt nichts Schrecklicheres als die Menschheitsbeglücker par force, die gewaltsam heilen, helfen oder gar selig machen wollen. Ich habe nichts gegen das Seligwerden, aber, um den ewig alten Satz zu citieren, wenn’s sein kann auf meine Façon. Und so möcht ich auch geheilt werden auf meine Façon. Deshalb kam ich hierher, deshalb zu Ihnen, teure Freundin, die Sie gelernt haben, die Freiheit des Individuums zu respektieren. Oder auch nicht gelernt haben, denn dergleichen lernt man nicht; das Beste hat man immer von Natur. Und deshalb war ich so glücklich hier. Es ist mir hier immer, als fiele ein leiser sommerlicher Sprühregen vom Himmel und nehme mich unter seinen weichen und wohligen Mantel. Ja, teure Freundin, so war es auch diesmal wieder. Da, mit einem Male bricht Onkel Dodo herein und alles ist hin. Er hat nicht den weichen und wohligen Mantel, der Ruh und Frieden oder doch äußere Stille bedeutet, er hat nur Dr. Fausts Sturmmantel, der überall hinfegt und segelt, und je schneller es geht und je122 mehr Zug und Wind es giebt, desto schöner dünkt es ihm. Ich habe nichts dagegen; es mag für ihn passen, aber nicht für mich. Und so will ich denn fort, heute noch. Um zwölf geht der Zug von Halberstadt. Ich denke, wenn ich um elf Uhr fahre, komm ich gerade zu rechter Zeit. Oder sagen wir lieber um halb elf.

Frau Karoline nahm meine Hand. Ich sehe schon. Es sind ja nur vierzig Minuten von hier bis an den Bahnhof, aber Sie zittern schon bei der bloßen Möglichkeit einer Zug-Versäumnis. Und so will ich Sie nicht weiter bitten. Im September ist Kaltwasser-Congreß in Wiesbaden, wohin der Onkel unweigerlich geht. Und so glaub ich mich denn, (immer vorausgesetzt, daß Sie wollen,) dafür verbürgen zu können, daß Sie den Faden, den Sie heute selbst durchschneiden, um jene Zeit ungestört wieder anknüpfen können. Der Herbst ist unsre beste Zeit und Sie sind wie Sie wissen, immer le bienvenu. Und nun geben Sie mir den Arm, daß wir noch einen Spaziergang machen. Ich habe noch allerhand Fragen auf dem Herzen: die Kinder müssen aus dem Haus, Albert gewiß und auch Alfred und Arthur. Aber ich schwanke noch, wohin und bin außerdem, aus Prinzip, gegen denselben Ort und dieselbe Schule für alle drei. Da hängen123 sie dann zusammen und leben sich in sich hinein, anstatt sich aus sich heraus zu leben.

Und damit fuhren wir auf die Parkwiese hinüber und gingen in Geplauder den schräglaufenden Kiesweg hinauf, auf dem am Abend vorher, Alice und Maud in fliegender Hast herabgekommen waren.

Es war eine mich erquickende halbe Stunde, denn ich kenne nichts Schöneres, als den Einblick in eine ruhige, von keiner Leidenschaft getrübte Frauenseele. Als wir von unsrem Spaziergange heimkehrten, empfingen uns die Kinder und alles war Glück und Friede. Die Freundin übernahm es, mit Otto zu sprechen. Und um elf Uhr der Wagen schloß sie. Nicht früher.

Und nun schlug es elf und mit dem Glockenschlag erschien Friedrich auf meinem Zimmer, um meinen Koffer in den Wagen zu tragen. Ich folgte rasch, nahm Abschied von den Kindern, groß und klein, die mich auf dem Hausflur unten umstanden, und trat, einigermaßen erregt und bewegt, auf die Freitreppe hinaus, auf der ich Karolinen und Otto bereits erkannt hatte. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als ich neben ihnen Onkel Dodo stehen sah, der eben ein paar dänisch lederne Handschuh124 anzog und dadurch andeutete, daß er mich begleiten wolle. Mein nicht geringer Schrecken wurde nur durch das Komische seiner Erscheinung einigermaßen wieder ausgeglichen. Er hatte nämlich, Tags vorher, seinen breitkrämpigen Strohhut verloren und sich in Folge davon unter Ottos Vorrat eine höchst merkwürdige Kopfbedeckung ausgesucht, die, gerade Mode, zwischen Bienenkorb und Feuerwehrhelm die Mitte hielt und mit der alten Krämpentradition ein für allemal gebrochen zu haben schien. Ich wollt ihn darauf hin ansprechen, er aber, mit jener Hast und Quickheit, der meine Langsamkeit nicht annähernd gewachsen war, überholte mich und teilte mir in abwechselnd kurzen und dann wieder weit ausgeführten Sätzen mit, daß er vor dreizehn Minuten ein Telegramm erhalten habe, wonach, gegen Erwarten, morgen schon der Delegiertentag der Turner und Hygienisten von Ober - und Nieder-Barnim abgehalten werden solle. Natürlich in Eberswalde. Da dürfe er nicht fehlen, und zwar um so weniger, als, unter Anlehnung an den Doktor Tanner’schen Fall, die Frage nach der Nahrungsfähigkeit des Wassers in einer Comité-Sitzung zur Erörterung kommen solle. Für ihn persönlich stehe die Sache fest und bedürfe nur noch gewisser Einschränkungen. Ueber sogenanntes Himmelswasser, 125eine von ihm herrührende Bezeichnung, unter der er, namentlich in Gebirgsgegenden, Regen und Thau verstehe, möge sich, hinsichtlich seiner Nährkraft, streiten lassen, aber was Fluß - und Quell - oder gar Teich - und Seewasser angehe, so sei dasselbe seiner Natur nach ein Infusum, ein Aufguß, sozusagen Erd-Thee, drin sich, verdünnt oder auch concentriert, der Nahrstoff aus hunderttausend Wurzeln befinde. Gott sei Dank werde man Ende September, in Wiesbaden, in der Lage sein, der Frage näher zu rücken und endgültige Beschlüsse zu fassen.

Die letzten Worte, von lebhaften Gestikulationen begleitet, wurden schon auf dem Wagentritt gesprochen und kaum daß wir saßen und unsere Hüte noch einmal zum Abschied gelüftet hatten, als auch die Pferde bereits anzogen und uns vom Hof hinunter in das Dorf und gleich danach in die fruchtbare, mit Fabriken und Rübenfeldern überdeckte Landschaft hinaustrugen.

Eine prächtige Brise, sagte Onkel Dodo während ich gerade den Rockkragen in die Höhe klappte.

Beinah gleichzeitig mit uns, fuhr, von der andern Seite her, der Zug in den Bahnhof ein und in dem Menschenknäuel und einer ächten Bahnhofs -126 verwirrung auseinander gekommen, erfüllte mich eine Minute lang die Hoffnung, in ein Nichtraucher-Coupee retirieren und so vielleicht entwischen zu können Aber Onkel Dodo war auch Nichtraucher und da saßen wir denn, unserer Versicherung nach, wieder glücklich beisammen und freuten uns, nicht getrennt worden zu sein. Bis Berlin hin, begann er, läßt sich schon ’was reden. Wir haben übrigens durchgehende Wagen. Es ist Ihnen doch Recht, meine Damen, wenn ich Luft mache?

Diese letzten Worte waren an vier Damen gerichtet, die klugerweise, bereits die Rücksitze des Wagens eingenommen hatten. Und so kam ich denn an das offne Fenster[ und] hatte die frische Luft eines Schnellzuges aus erster Hand. Ich hätte protestieren und auf Schließung wenigstens eines Fensters dringen können, aber ich kannte meinen Partner zu gut, um mich auf Erfolglosigkeiten einzulassen.

Um sechs trafen wir auf dem Friedrichsstraßen-Bahnhof ein. Eine geplante gemeinschaftliche Droschke, die übrigens, bei dem mir längst angeflogenen Kopf - und Zahnreißen, ziemlich irrelevant gewesen wäre ging an mir vorüber und Gott sei Dank einsamen Betrachtungen über les défauts des vertus der besten Menschen hingegeben,127 fuhr ich, zwischen den Pferdebahngeleisen der Dorotheenstraße, dem Tiergarten und meiner Wohnung zu.

Wie sich denken läßt, harrte meiner eine fiebrige Nacht.

Am andern Morgen aber, als ich mich matt und angegriffen, an meinen Frühstückstisch setzte, fand ich bereits, unter Kreuzband, eine kleine Sendung vor. In der linken Unterecke stand Onkel Dodos Namen, mit der Zubemerkung: In Eil. Es waren zwei von ihm selbst verfaßte Brochüren, eine kleinere: In balneis salus und eine größere, die den Titel führte: Beiträge zur Wiederherstellung des Menschengeschlechts. Aber auch hier war ein Stück Latinität nicht vergessen, und sowohl das Motto wie die Schlußzeile der Brochüre lautete: mens sana in corpore sano.

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Wohin?

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Ja, liebe Leontine,[ Du] mußt Dich nun entscheiden, entscheiden wohin? Ich habe nicht Lust immer das Nachsehen zu haben und bei der Teilung der Erde‘, wenigstens so weit Bäder und Kurorte mitsprechen, immer wieder in den Himmel einer Dachstube zu kommen. So oft Du kommst, er soll Dir offen sein. Das ist für Dichter, aber nicht für unserein. Erinnere Dich an Kissingen und unsere Debütnacht über dem Hühnerstall. Und all das immer für teuerstes Geld und immer noch um Gottes Willen. Ich habe das satt. Also wohin, Leontine?

Lieber James, ich bitte Dich, quäle mich nicht mit diesem ewigen wohin‘? Ich werde nachgerade nervös, wenn ich das Wort höre. Wir sind erst Ende Mai, haben also noch mindestens sechs Wochen. Uebrigens was heißt Hühnerstall und Himmel und Dachstube? Das sind[ Redensarten][. ]132Was Du so nennst, war ein Unterschlupf auf 24 Stunden, und den nächsten Tag hatten wir einen Salon. Es eilt wirklich nicht. Niemand bleibt schließlich ohne standesgemäße Wohnung, am wenigsten aber ein hoher Steuerzahler, wie Du.

Mache mir nicht Komplimente, Leontine, mache Vorschläge.

Nun denn: Misdroy.

Kennst Du Misdroy?

Nein. Wenn ich es kennte

Würdest Du vorsichtiger sein, am wenigsten aber mit ihm anfangen. Davon sei überzeugt. Denn wie steht es mit Misdroy? Misdroy hat erstens mehr Berliner als Berlin und zweitens, was doch bei Deinem Teint eine Rolle spielt, mehr Mücken als Berlin. Ostsee-Muskitoküste, nordisches Kamerun. Und was doch auch in Betracht kommt, wenn ich im Bade bin, will ich im Bade sein und nicht an der Börse. Ja mehr, Leontine, wenn ich Dir die Wahrheit sagen soll, ich geh überhaupt nur ins Bad, um die lieben alten Gesichter nicht zu sehen.

Worin ich Dir ausnahmsweise zustimme , lachte Leontine. Und so lassen wir denn Misdroy fallen und nehmen Norderney.

Gut. Das läßt sich hören. Aber andererseits bedenke, Norderney liegt nicht viel besser als Helgo -133 land. In Emden zu Schiff und dann 4 Stunden auf See. Und 4 Stunden heißt allemal 6 Stunden. Und dann stößt das Schiff und die See rollt. Und Du wirst seekrank werden.

Ich werde nicht seekrank werden oder doch immer noch präsentabel. Glaube mir, James, der Wille thut viel dabei, wenn nicht alles. Auch das sind Erziehungssachen. Und schließlich, wenn ich es würde, so würde mich das nicht abschrecken, ein solches Opfer zu bringen, denn Norderney, um Dir’s offen zu gestehen, gehört zu meinen angenehmen Erinnerungen. Und ich bin lange genug verheiratet, um mehr oder minder angenehme, jedenfalls aber poetische Erinnerungen gerne wieder aufzufrischen

Ich bitte Dich, Leontine.

Ja, James, poetische Erinnerungen, trotzdem oder vielleicht auch weil ich damals noch ein halbes Kind war, nicht viel älter als unsre Lulu. Denke Dir, jeden Nachmittag, gleich nach Tisch, hatten wir eine Kegelpartie

Dergleichen haben wir in Wilmersdorf auch. Selbst in Halensee

Mit nichten, mon ami. Denn erstens war es ein Kegelspiel in den Dünen, mitten unter Strandhafer und blauen Disteln

Nicht übel.

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Und zweitens war das, was wir da hatten, keine landläufige Berliner Kegelbahn mit einem Brett und einer Rinne, daran man sich, wenn man nicht aufpaßt, immer einen Splitter einreißt, und einer von den Breslauer Ephraims (ich glaube der Lotterie-Inspektor) ist daran gestorben, sondern die Kugel hing an einem merkwürdigen altfriesischen Schiffstau, ganz so wie wir früher in unsrem Garten einen Ring an einer grünen Korde hatten, einen Messingring, der, wenn man’s verstand, immer in einen an einem Birnbaum angebrachten Haken fiel. Und genau so fiel da die Kugel in die Kegel. Aber man mußte richtig zielen, und ich entsinne mich, daß Alfred Meyer, damals ein reizender Junge von kaum 17 und doch schon mit einem kleinen Schnurrbart, dreimal hintereinander alle Neune warf.

Wohl möglich, Leontine. Ja, sogar wahrscheinlich. Später freilich hat er Konkurs gemacht und ist nach Amerika gegangen. Und wenn er wirklich solch Kegelvirtuose war, wie Du ihn mir schilderst, so wird er wohl eine Tabagie drüben haben. Vielleicht am Niagara, dicht am großen Fall.

Du weißt, James, ich liebe solche Späße nicht, am wenigsten auf Kosten von Personen, die mir in meiner Jugend lieb und wert waren. Ich habe nicht die Prätension, meinen Willen durchzusetzen,135 man kann auch das verlernen, aber Du hast mich aufgefordert Vorschläge zu machen und Reiseziele zu nennen. Und dem bin ich nachgekommen. Und nun sage mir, was hast Du gegen Norderney?

Nicht das geringste. Wenn Du also willst, so nehmen wir Norderney. Warum nicht? Es ist schließlich keine Karaiben-Insel von anthropophagem Charakter und die wilden Triebe sowohl der einheimischen wie der eingewanderten Bevölkerung, die Hoteliers an der Spitze, sollen mehr auf Gut als auf Blut gerichtet sein. Also, ich wiederhole, warum nicht Leontine? Aber so hübsch Du mir eben das Kegelspiel beschrieben hast, so find ich es dennoch für fünf Wochen etwas zu wenig. Um so mehr, als ich fest überzeugt bin, daß ich niemals dreimal hintereinander alle Neun werfen werde.

Nein, sagte sie mit jenem Ausdruck von Spott, darin Frauen, ihren Ehemännern gegenüber, allemal Meister sind. Nein, James, das wirst Du nicht. Und in ihrer plötzlich erwachten guten Laune schien sie grad einen neuen Pfeil aus dem Köcher nehmen und ihren Triumph durch einen zweiten wohlgezielten Schuß vervollständigen zu wollen, als ein eintretender Diener den Justizrat Markauer meldete.

James ging dem Angemeldeten entgegen, der seinerseits, unter nur leichtem Gruße gegen den136 Freund, auf die schöne Frau zuschritt und ihr die Hand küßte.

Geschäfte? fragte James.

Nein.

Tant mieux. Dann frühstücken wir zusammen. Meine Frau schwärmt eben für Norderney, gegen das ich nichts habe, wenn auch freilich nicht viel dafür. Aber daß sie Jugenderinnerungen‘ ins Feld führt, was immer eine schwache Position bedeutet, macht mir die Sache verdächtig. Sie, Markauer, kennen alle Bäder Westeuropas und noch einige mehr. Entscheiden Sie zwischen uns und geben Sie, wenn es sein muß, meinem aus bloßem Friedensbedürfnis geborenen Ja‘ die höhere Weihe. Noch schwebt alles. Wie steht es? Raten Sie mir zu diesem jugenderinnerungsreichen Eiland?

Und während James noch so sprach, schob er seinem Gaste die beiden auf dem Frühstückstische stehenden Karaffen zu. Port oder Sherry, Markauer? Oder vielleicht lieber Liebfrauenmilch oder Bocksbeutel oder sonst was Urgermanisches? Wir brauchen uns blos im Spiegel zu sehen, um unsere Spezialberechtigung wenigstens vor uns selber nachgewiesen zu haben.

Beide lachten, und nur Leontine die nach dieser Seite hin sehr empfindlich und im letzten Winkel137 ihres Herzens eigentlich Anti-Semitin war, trat an den offenen Flügel und strich mit dem kleinen Finger über die Tasten.

Also Norderney wiederholte jetzt James, während er Markauer einschenkte. Doch jedenfalls dagewesen?

Dreimal. Erst 64 als es noch hannoversch war. Und dann 80 und 81.

Nun sagte Leontine, vom Flügel her an den Frühstückstisch zurücktretend. Lassen Sie hören, Freund. Aber vergessen Sie nicht, daß ich Sie kontrolieren und mit Hilfe davon in jedem Augenblick feststellen kann, ob Sie falsch Zeugnis reden. Also wenn ich bitten darf, ohne Parteinahme.

Gewiß, liebe Freundin. Aber werde ich pardonniert werden, wenn ich die Wahrheit sage?

Sie sollen sie sogar sagen. Ich liebe Wahrheit bis zur Leidenschaft. Es ist die Leidenschaft meiner reiferen Jahre

Von denen Sie nicht sprechen dürfen, am wenigsten im Zusammenhange mit dem voraufgegangenen und Gott sei Dank trostreicheren Worte

James lachte, Markauer aber fuhr fort: Nun also Norderney. Beginnen wir mit der Bodenbeschaffenheit. Da haben wir Dünensand, neuerdings intermittierend mit einem in allen drei Aggre -138 gatzuständen auftretenden Dünger. Oder wenn Sie wollen, Guano. Norderney soll nämlich à tout prix in einen Fruchtgarten umgewandelt werden, was mir vom Standpunkte der Agrikultur aus als ein höchst schätzenswertes, vom Standpunkte der Luftverbesserung aus aber als ein höchst fragwürdiges Unternehmen erscheint. Reine Luft ist selbstverständlich das dritte Wort, das man zu hören bekommt, aber nach meinen persönlichen Erfahrungen entstammt die diesen Namen führende, konstant über die Insel hingehende Brise keineswegs dem relativen Neuadel der Familie von Ozon, sondern der viel viel älteren und eigentlich über jede Geschichte hinausgehenden Uradelsfamilie derer von Schwefelwasserstoff. Ich glaube diese Bemerkung ohne Gefahr vor Widerspruch machen zu dürfen, denn die Hölle, wenn mich nicht alles täuscht, ist älter, war vor dem Himmel

Lassen wir das. Das sind zu schwierige Fragen, selbst für Sie, Markauer.

Und vielleicht , fuhr der Justizrat fort, ist es in einem gewissen, wenn auch unaufgeklärten Zusammenhange mit dieser hygienischen über Norderney hinstreichenden Luftwelle, daß sich unmittelbar am Strand ein Barackenhotel aufgethan hat, unter dem herausfordernden Namen Giftbude‘,139 wohinter sich selbstverständlich, in feiner Selbstironie, das reinste Gewissen verbergen soll. Aber man kann in der Selbstironie zu weit gehn und ihr ungewollt den Stempel der Selbsterkenntnis aufdrücken.

Sehr gut , unterbrach James.

Nehmen wir zu dem allem noch eine Musikkapelle mit Lohengrin und Tannhäuser in Permanenz, des weiteren zwei Resedarondelle mit eingestreuten Levkojen und jeden dritten Tag einen Seehund, tot oder lebendig, so haben wir im wesentlichen Norderney. Dann und wann fahren auch Dampfschiffe nach Borkum oder Juist oder Spikeroog, welche Fahrten sich als Vergnügungsfahrten ankündigen und in der That etwas zu versprechen scheinen. Aber nach dem bekannten Satze von den zwei Uebeln, unter denen man das kleinere zu wählen habe, kann ich Ihnen oder Jedem, der es mit seinem Vergnügen ehrlich meint, nur dringlich anraten, auf der Norderneyer Strandpromenade verbleiben zu wollen. Und dann, meine Gnädigste, muß es denn überhaupt etwas langweilig Meerumgürtetes sein? Wozu der ewige Strand? Ich persönlich bin für Berge, für Alpen, und wenn nicht Rigi, so wenigstens Brocken, und wenn nicht der Brocken, so wenigstens der Oybin.

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Ja, der Oybin, unterbrach hier Leontine. Bei Zittau?

Sehr richtig. Brillant orientiert. Kennen Sie den Oybin?

Nein. Nicht ich, aber Lulu. Lulu war vorigen Herbst bei Tante Sarah in Zittau, leider nur knappe zehn Tage, weil die Michaelisferien zu kurz sind. Aber als sie wiederkam, hörten wir nichts als Oybin und wieder Oybin. Und Sie kennen ihn auch?

Eigentlich nicht, meine Gnädigste, wiewohl ich weiß, daß man eine gewisse moderne Pflicht hat, alles zu kennen, wonach man gefragt wird. Aber der Wahrheit die Ehre. Ich nahm ihn nur so beispielsweise.

Nun denn, entschied James, da müssen wir notwendig Lulu rufen. Ich entsinne mich, daß wir ihr damals nicht zuhören wollten, denn wer läßt sich gern Aussichten oder Landpartieen beschreiben? Aber nun kommt sie doch noch zu Ehren.

Und bei diesen Worten ging er an das Telephon und rief in die Kinderstube hinauf: Lulu. Lulu soll kommen.

Und nicht lange, so hörte man ein Singen und Trillern auf der kleinen eisernen Treppe, die, sich141 schlängelnd, vom oberen Stock her in das Wohnzimmer hinabstieg und einen Augenblick danach trat Lulu durch eine Tapetenthür ein, ein 13jähriger Backfisch mit einem dicken rotblonden Zopf, und ging, während sie dem Justizrate die Hand gab, auf den Vater zu, den sie heute noch nicht gesehen hatte. Guten Tag, Papa. Fräulein Oberlin ist noch oben. Aber es war wieder so furchtbar langweilig, daß ich froh war, als ich Dich rufen hörte. Und dabei stellte sie sich neben die Lehne des Fauteuils und ziepte den Vater an seinem Backenbart.

Nein Lulu, nicht so. Gefährde mir nicht das Einzige, was noch festen Grund und Boden unter den Füßen hat. Jedes Haar ist mir heilig. Das verstehst Du nicht, mit Deinem dicken Zopf. Ich habe Dich nicht gerufen, um zu zerstören, sondern um aufzubauen. Wir sitzen hier nämlich im Hohen Rat und Du sollst entscheiden

Ich weiß schon.

Was?

Was Ihr vorhabt und wozu ich ja oder nein sagen soll.

Nun?

Die Singhalesen.

Alle Drei lachten, was Lulu ruhig geschehen142 ließ, weil sie, die ganze Zeit über, eine zwischen allerhand Jam - und Marmeladenbüchsen stehende Schachtel beobachtet hatte, deren hellrote Frühkirschen ihr entgegenleuchteten. Sie wandte sich dann auch ohne weiteres von des Vaters Stuhl weg, den Kirschen zu, die Steine mit vieler Ungeniertheit in die Hand pustend, während der Justizrat, seine kleinen Schweinsaugen immer kleiner machend, mit einer Art Feierlichkeit sagte: Singhalesen! Oder was dasselbe sagen will: Zoologischer Garten. Hm. Sollte sich in diesem Kindeswort etwas von höherer Weisheit bergen? Ich glaube beinah. Was kein Verstand der Verständigen sieht Ja, Lulu, Du hast es getroffen. Oybin. Bah, Oybin ist noch viel zu weit und ich behaupte mit jedem erdenklichen Nachdrucke, dies von unserer Lulu groß und ahnungslos in die Welt geschleuderte Wort Singhalesen‘ enthält nicht nur (wenn auch noch verkapselt) das einzig Richtige, sondern deckt sich auch vollkommen mit den Weisheitsanschauungen meines verstorbenen Freundes Meddelhammer.

Der Justizrat, als er glücklich bis an diese Stelle gekommen war, war natürlich auf dem Punkt, die vorläufig nur ganz allgemein angekündigte Meddelhammer’sche Weisheit in Gestalt einer kleinen Geschichte zum besten zu geben, James aber, der143 ein kleines Universalgenie war und von Turf und Tattersall an bis zum Aquarell und lyrischen Gedicht hinunter, auf jedem denkbaren Gebiet dilettierte, hatte selbstverständlich auch eine Passion für vergleichende Sprachwissenschaft, Spezialität: Nomina propria, weshalb er alle Reisepläne, ja selbst Oybin und Lulu momentan vergessend, den Justizrat mit einer gewissen Forscherfeierlichkeit interpellierte: Meddelhammer. Eigentümliche Namensbildung. Ich vermute holländisch.

Wohl möglich, warf der Justizrat leicht hin, der, wie begreiflich, lieber zu seiner Geschichte kommen, als über etwas so Gleichgiltiges, wie Meddelhammers Namensabstammung, Rede und Antwort stehen wollte. James aber ließ nicht los und wiederholte nur: Eigentümlich. Meddelhammer Hammer ist bedeutungslos, weil Allerweltswort. Hammer ist Hammer. Aber Meddel-Hammer. Was ist Meddel? Meddel kann das englische Middle sein, aber auch Korrumpierung von unsrem deutschen Mädel. Ich muß mit einem Germanisten darüber sprechen. Middle-Hammer ist wahrscheinlicher, aber Mädel-Hammer ist amüsanter. Was meinen Sie, Justizrat, zu Mädelhammer?

Ich bitte Dich, James, in Untersuchungen der Art nicht zu weit gehen und lieber auf Deine nächste144 Nähe Rücksicht nehmen zu wollen. Es ist doch fraglich, inwieweit sich Lulu in die Kirschen vertieft hat.

O, sie hat sich gar nicht vertieft sagte diese. Sie hat alles gehört. Aber wenn Papa weiter nichts sagt! Da hab ich doch schon andres von ihm gehört.

Ich sehe schon fuhr James, seinem Pet einen dankbaren Blick zuwerfend, fort daß mit Eurer Unwissenschaftlichkeit wieder mal nicht auszukommen ist. Ich lasse deshalb alles Sprachuntersuchliche fallen. Und nun sagen Sie mir, Markauer, was war das eigentlich mit Meddelhammer und seiner Reiseweisheit? Erzählbar?

O gewiß, wie Sie schon einfach aus seiner Lebensstellung ersehen können. Meddelhammer war nämlich Schulrat und wiewohl ich im allgemeinen gegen Schulräte bin, weil sie sich in Extremen bewegen und entweder greuliche Pedanten oder frivole Cyniker sind (einen kannt ich, bei dem es vorkam, daß ich errötete, nicht recht zu glauben, aber trotzdem wahr) also wiewohl ich im allgemeinen nicht für Schulräte bin, so war ich doch für Meddelhammer. Wenigstens dann und wann. Und warum? Weil er ganz unschulrätliche, lichte Momente hatte.

Merkwürdig.

Allerdings. Und nun denken Sie sich, eines145 Tages begeb ich mich ins Museum, um mir die pergamenischen Altertümer, (mir, offen gestanden, etwas zu viel Leiberverrenkungen) anzusehen und als ich damit fertig bin und im Hinausgehen eben meinen Regenschirm wiedernehmen und mein Zwanzigpfennigstück, ich gebe nie mehr, aber auch nie weniger, in die Büchse thun will, da steht wer vor mir? Natürlich Meddelhammer. An und für sich nichts Staunenswertes. Aber wie stand er da? Wie stand er mir gegenüber? In einem so zu sagen kecken, graumelierten Reiseanzug, mit einem Tyrolerhut auf dem Kopf und einem Krimstecher an der Seite. Dazu Baedecker in der Hand und last not least die Frau Schulrätin mit einem merkwürdig modernen Rembrandthut neben ihm. Alle Wetter, Meddelhammer, sag ich, wie kommen Sie hierher? Aber bitte, wollen Sie mich nicht zunächst Ihrer Frau Gemahlin vorstellen? Sehr erfreut‘ Und in Berlin und in dieser Julihitze. Wir müssen heute 30 Grad haben. Ich dachte, Sie wären in Ostende

Scheint mir kostenpunktlich etwas zu hoch gegriffen, unterbrach hier James.

Kann sein. Aber Meddelhammer schien an dieser Finanz - oder Standeserhöhung keinen Anstoß zu nehmen, nahm mich vielmehr ohne weiteres unterm146 Arm, was er seit vielen Jahren nicht mehr gethan hatte, weil ich in unserem Entwickelungsgange naturgemäß darauf verzichten mußte, kirchlich oder auch nur politisch ein Gegenstand seines Vertrauens zu sein und sagte, während seine Rätin immer en ligne mit uns vorrückte: Lieber Freund, eh ich Ihnen auf Ihr Erstauntsein antworte, kommen Sie hier mit uns über die Friedrichsbrücke. Da drüben ist ein kapitales Frühstückslokal, in dem ich schon seit 3 Tagen mit meiner Frau das Frühstück nehme. Denn so lange wanken wir hier schon herum. Etwas anstrengend, wie trotz allem Entzücken, das wir die ganze Zeit über empfunden haben, nicht bestritten werden soll. Aber dafür sind wir mit dem alten Museum auch fertig; morgen kommt das neue an die Reihe und dann die National-Galerie. Darauf freuen wir uns am meisten. Und dann wollen wir hier herum mit dem Kupferstich-Kabinet den Schluß machen. Die Zeichnungen zu Dante von dem Boticelli sollen ja ganz ersten Ranges sein. Wobei mir einfällt, entsinnen Sie sich noch, Markauer, als wir zusammen Dante lasen? Auf dem Joachimsthal, in Ober-Sekunda. Sie wollten damals Dichter werden?‘ Ja, meine gnädigste Frau Leontine, das hielt mir dieser Schulrat in Hörweite zweier Galeriediener vor und ich konnt147 ihm nicht einmal widersprechen, denn es war die Wahrheit.

Lulu lachte ganz unbändig. Onkel Markauer und Dichter werden Onkel Markauer ein Dichter! Das ist aber doch zu komisch.

Da hören Sie’s gnädige Frau. Zum zweiten Male die höhere Kinderweisheit

Naseweisheit, korrigierte die Mutter und wollte weiter erziehn. James aber fiel ihr in die Zügel und sagte: Jetzt nicht, Leontine. Keine Unterbrechungen. Markauer muß erst auserzählen. Dann können wir ja das Pädagogische wieder aufnehmen. Also

Also wir kamen glücklich in dem Restaurant drüben an und etablierten uns in einer Ecke, die Meddelhammer, zu meinem abermaligen größten Erstaunen, berlinisch-menschlich genug war, eine schmustrige Ecke‘ zu nennen. Er habe sie schon ausprobiert. Und ich muß sagen, es war eine schmustrige Ecke: großes Fenster in einer tief eingebauten Nische und die Spiegelscheibe durch einen grünen Seidenvorhang derart geschlossen, daß man persönlich ganz unbemerkt saß, während man, durch einen Spalt hindurch, das ganze Straßentreiben deutlich beobachten konnte.

148

Hören Sie, Markauer, Ihr Meddelhammer imponiert mir. Und ein Schulrat sagten Sie?

Nicht anders. Richtiger Schulrat. Aber hören Sie weiter, die letzten Trümpfe kommen noch. Ich war hungrig geworden, wie meistens, wenn ich mich eine Stunde lang ernsthaft mit Kunst beschäftige und so rief ich denn den Oberkellner heran und fragte, was ich wohl haben könne? Wir einigten uns rasch über Bouillon mit Ei, Roastbeef und eine halbe Larose, wonach ich meinen Schulrat artig auffordernd ansah, etwa, wie wenn ich sagen wollte: Mein lieber Meddelhammer, die Reihe des Bestellens ist nun an Ihnen. Meddelhammer verstand mich auch vollkommen und beorderte nunmehr seinerseits zwei Gläser Portwein samt zwei Brötchen mit Chesterkäse, was mich doppelt überraschte

Warum?

Und worüber ich mir eine kleine Bemerkung erlauben möchte, immer vorausgesetzt, daß unser lediglich wegen des Oybin heranzitierter Liebling einen solchen Exkurs gestattet.

Ich gestatte alles, sagte Lulu, während sie die mittlerweile stark angesammelten Kirschkerne beiseite that und sich die Hand an der Serviette putzte.

Nun denn was mir in dieser Meddelhammer -149 schen Bestellung einen so großen Eindruck machte, war einerseits das spezifisch Englische das sich darin aussprach, das Internationale, das gewiegt Reisekundige, während mir, auf der andern Seite, das blos Imbißartige, das quantitativ Geringfügige der Bestellung beinah noch mehr imponierte. Denn ich bekenne gern, wenn ich etwas nennen sollte, was im stande wäre, mir auf dem gesamten Gebiete des Frühstücklichen, den Begriff von wenig‘ auszudrücken, so würd ich immer ein Brödchen mit Chesterkäse nennen. Namentlich jetzt, wo die Semmeln infolge der niedrigen Weizenpreise jeden Tag kleiner werden.

Sehr wahr. Die armen Bäcker. Nichts als Not und Sorge.

Nun , fuhr Markauer fort, ich sah auf der Stelle, daß Meddelhammer in meiner Seele wie in einem aufgeschlagenen Buche las (die Schulräte bilden alle so ’was von tieferer Menschenergründung aus) weshalb er, als zunächst meine halbe Larose und gleich danach auch die beiden Gläschen mit Portwein gekommen waren, mit mir anstieß und unbefangen sagte: Meine Frau und ich, lieber Markauer, müssen nämlich überaus vorsichtig operieren und unserem sehr angeregten Appetite Zaum und Zügel anlegen. Fast möcht ich sagen, leider, denn150 drei Stunden Museum, mit immer neuem Sehen und Nachschlagen, sind wirklich kein Spaß und ich beneide Sie da mit Ihrem Roastbeef und Ihrer Tasse Bouillon. Aber man muß sich in die Schule nehmen, auch wenn man ein Schulrat ist, oder vielleicht dann erst recht. Wir essen um fünf und wenn man um ein reichliches Gabelfrühstück nimmt, so sitzt man um fünf als ein Unwürdiger bei Tisch.

Aber fünf ist etwas spät warf James hier ein, der augenscheinlich die Tendenz verfolgte, den Schulräten neben den Banquiers eine bescheidene Stellung anzuweisen.

Ganz meine Meinung entgegnete Markauer und ich nahm auch nicht Anstand, dieser meiner Meinung unverhohlen Ausdruck zu geben.

Und wie wurde das aufgenommen? Alle modernen Menschen sind ziemlich empfindlich in diesem Punkte.

Meddelhammer war es nicht, fuhr Markauer fort. Dazu war er doch zu klug. Er lachte nur und sagte: Fünf Uhr ist spät, natürlich, und wenn wir zu Hause sind, so essen wir gut bürgerlich um zwei. Nur keine Neuerungen, wo sie nicht nötig sind. Ich meinerseits wollte selbstverständlich einlenken und alles wieder begleichen, er ließ es151 aber nicht dazu kommen und wiederholte nur: wenn wir zu Hause sind. Wir sind aber nicht zu Hause, lieber Markauer, wir sind Reisende, ja, wenn Sie wollen, Berliner Stadtreisende. Als die Ferien anfingen, haben wir uns überlegt wohin? und sind nach dreitägiger Beratung, in der wir mehr als 50 Plätze durch genommen haben, zu dem Entschluß gekommen, hier bleiben und uns als Fremde mit Berlin beschäftigen zu wollen. Wirklich als Fremde. Denn eigentlich leben wir gebornen Berliner doch nur in Berlin, um unsre Hauptstadt nie kennen zu lernen. Und nun sehn Sie, lieber Markauer, um diesem unpatriotischen Nonsens endlich ein Ende zu machen und vielleicht auch um ein Beispiel zu geben, wie’s einem Schulrate zukommt, haben wir an demselben Tage noch unsere Koffer gepackt und sind um zehn Uhr abends, wo der große Pariser Zug ankommt, vor dem Hotel de Rome vorgefahren, haben uns als vornehme Leute, sagen wir als Russen oder Engländer, den Thee aufs Zimmer bringen lassen und noch anderthalb Stunden lang aus dem Fenster gesehen. Es war entzückend. Über die Linden weg, die bekanntlich keine sind, schimmerten die hohen, erleuchteten Fenster von der Passage her und alles wirkte wie spanische Nacht und Alhambra. Heut ist unser dritter Tag. 152Unter vierzehn Tagen thun wir’s nicht und wenn es uns gefällt, legen wir noch eine Woche zu!‘ So berichtete mir Meddelhammer, während wir im munteren Geplauder in der Fensternische saßen, bis er plötzlich die Uhr zog und zum Aufbruch mahnte. Wir sind nämlich jetzt regelmäßig von drei bis vier bei Kranzler, nahm er wieder das Wort, um etwas Eis oder eine Flasche Sodawasser zu nehmen und in jener Pedanterie, die mir, so zu sagen, von Standes wegen zukommt (und er lächelte hierbei), möcht ich auch heute keine Ausnahme machen. Und siehe da, eine halbe Stunde später saßen wir, ich mit, wirklich bei Kranzler, jeder bei seinem Panaché. Glücklicher Weise kam auch ein Blumenmädchen und ich war in der angenehmen Lage, der Frau Schulrätin, einer übrigens allerliebsten Frau, die mehr an eine Rittergutsbesitzerin als an eine Schulregentin erinnerte, ein Bouquet überreichen zu können. Sie nahm es auch freundlich an und sagte, daß sie’s bei Tische tragen würde. Dabei wies sie nach dem Hotel de Rome hinüber und gleich danach trennten wir uns. Und nun, meine gnädigste Frau Leontine, was sagen Sie zu solchem Schulrat und zu so vorbildlicher Reiseweisheit?

Leontine schwieg, James jubelte: Ich votiere, daß diesem Schulrat ein Denkmal errichtet werde,153 sagen wir ein Obelisk mit Inschrift und Sockelfiguren.

Welche?

Natürlich Meddelhammer in Front. Und daneben Kranzler und Mühling.

Versteht sich.

Vor allem aber Nacheiferung und Heeresfolge. Lulu, schenke dem Onkel Justizrat ein. So. Anstoßen. Es lebe Meddelhammer

Meddelhammer und ein Sommer in Berlin!

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Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal.

156157

Ich flaniere gern in den Berliner Straßen, meist ohne Ziel und Zweck, wie’s das richtige Flanieren verlangt. Aber zu Zeiten erfaßt mich doch auch ein Studienhang und läßt mich nach allem möglichen Alten und Neuen, was über die Stadt hin verstreut liegt, auf Inspektion und unter Umständen selbst auf Suche gehn. Ich mustere dann Panoramen und Tiergärten, Parks und Statuen, Vorgärten und Springbrunnen, ja ganz vor kurzem, an einem bedeckten, aber schon halb sommerlichen Apriltage, wandelte mich sogar die Lust an, es mit einer Revue der fremden Gesandtschaften zu versuchen. An ein Eindringen in ihr Inneres, war bei meiner Unfähigkeit für den Interviewer-Beruf nicht zu denken. Indessen das bedeutete nicht viel. Ich erinnerte mich vielmehr (und sog mir Trost daraus) einer nun wohl schon um 30 Jahre zurückliegenden Ausstellung, wo der von seiner Weltreise158 heimkehrende Maler Eduard Hildebrandt eine große Zahl seiner in Wasserfarben ausgeführten und seitdem berühmt gewordenen Skizzen ausgestellt hatte; beispielsweise der Siam-Elephant, mit der blutrot neben ihm untergehenden Sonne, stand mir ganz deutlich wieder vor der Seele. Was mir aber zur Zeit jener Ausstellung am meisten gefallen hatte, waren einige farbenblasse, halb hingehauchte Bildchen, langgestreckte Inselprofile, die mit ihrem phantastischen Felsengezack in umschleierter Morgenbeleuchtung, vom Bord des Schiffes her, also in ziemlich beträchtlichem Abstand aufgenommen worden waren. Nur vorübergefahren war der Künstler an diesen Inseln, ohne den Boden derselben auch nur einen Augenblick zu berühren, und doch hatten wir in seinen Skizzen das Wesentliche von der Sache, die Gesamtphysiognomie. Das sollte mir jetzt Beispiel, Vorbild sein und in ganz ähnlicher Weise, wie Hildebrandt an den Sechellen und Comoren, wollt ich an den Gesandtschaften vorüberfahren und ihr Wesentliches aus ehrfurchtsvoller und bequemer Entfernung studieren.

Aber mit welcher sollt ich beginnen? Ich überflog die Gesamtheit der Ambassaden und da mir als gutem Deutschen der Zug innewohnt, alles was weither ist, zu bevorzugen, entschied ich mich natürlich für China, Heydtstraße 17. China lag159 mir ohnehin an meiner täglichen Spaziergangslinie, die, mit der Potsdamerstraße beginnend, am jenseitigen Kanalufer rechts entlangläuft und dann unter Ueberschreitung einer der vielen kleinen Brücken von größerem oder geringerem (meist geringerem) Rialtocharakter am Tiergarten hin ihren Rücklauf nimmt, bis der Zirkel an der Ausgangsstelle sich wieder schließt.

Eine Regenwolke stand am Himmel; aber nichts schöner als kurze Aprilschauer, von denen es heißt, daß sie das Wachstum fördern; und so schritt ich denn am leichten Stabe, nur leider um einiges älter als Ibykus, auf die Potsdamerbrücke zu, deren merkwürdige Curvengeleise, darauf sich die Pferdebahnwagen in fast ununterbrochener Reihe heranschlängeln, immer aufs neue mein Interesse zu wecken wissen. Da stand ich denn auch heute wieder an das linksseitige Geländer gelehnt, einen rotgestrichenen Flachkahn unter mir, über dessen Bestimmung eine dicht neben mir angebrachte Brückentafel erwünschte Auskunft gab: Dieser Rettungskahn ist dem Schutze des Publikums anempfohlen. Ein zu schützender Schützer und Retter; mehr bescheiden als vertrauenerweckend.

Von meinem erhöhten Brückenstand aus war ich indes nicht blos in der Lage, den Rettungskahn160 unter mir, sondern auch das schon jenseits der Eisenschienen gelegene Dreieck überblicken zu können, das, zunächst nur als Umspann - und Rasteplatz für Omnibusse bestimmt, außerdem auch noch durch zwei jener eigenartigen und modernster Zeit entstammenden Holzarchitekturen ausgezeichnet ist, denen man in den belebtesten Stadtteilen Berlins, trotz einer gewissen Gegensätzlichkeit ihrer Aufgaben, so oft nebeneinander begegnet. Der ausgebildete Kunst - und Geschmackssinn des Spree-Atheners, vielleicht auch seine Stellung zu Litteratur und Presse, nimmt an dieser provocierenden Gegensätzlichkeit so wenig Anstoß, daß er sich derselben eher freut, als schämt und während ihm ein letztes dienstliches Verhältnis der kleineren Bude zur größeren außer allem Zweifel ist, erkennt er in dieser größeren, mit ihren schräg aufstehenden Schmal - und Oberfenstern zugleich eine kurzgefaßte Kritik all der mehr dem Idealen zugewandten Aufgaben der Schwesterbude.

Dieser letzteren näherte ich mich jetzt, um an ihrem Schalter das Abendblatt einer unsrer Zeitungen zu kaufen. Es war aber noch nicht da, was mich zu dem in ähnlicher Situation immer wieder von mir gewählten Auskunftsmittel greifen ließ: Ankauf der Fliegenden Blätter . Man zieht dabei selten das große Loos, aber doch auch eben so selten eine Niete.

161

Das Blatt erst überfliegend und dann vorsichtig unter den Rock knöpfend, war ich alsbald bis an den Anfang jener Straßenlinie vorgedrungen, die sich unter verschiedenen Namen bis zu dem Zoologischen Garten hinaufwindet, die ganze Linie eine Art Deutz, mit Köln am anderen Ufer, dessen Dom denn auch, in Gestalt der Matthäikirche, herrlich herübersah, die Situation beherrschend. Und nun kam Blumeshof mit seinem Freiblick auf den Magdeburger Platz und eine kleine Weile danach, so war auch schon der Brückensteg da, der mich nach China hinüberführen sollte. So schmal ist die Grenze, die zwei Welten von einander scheidet. Eine halbe Minute noch, und ich war drüben.

Kieswege liefen um einen eingefriedeten lawn, den, an dem einen Eck, ein paar mächtige Baumkronen überwölbten. Da nahm ich meinen Stand und sah nun auf China hin, das chinesisch genug da lag. Was da vorüberflutete, gelb und schwer und einen exotischen Torfkahn auf seinem Rücken, ja, wenn das nicht der Yang-tse-kiang war, so war es wenigstens einer seiner Zuflüsse. Ganz besonders echt aber erschien mir das gelbe Gewässer da, wo die Weiden sich überbeugten und ihr Gezweig eintauchten in die heilige Flut. Merkwürdig, es war eine fremdländische Luft um das Ganze her,162 selbst die Sonne, die durch das Regengewölk durchwollte, blinzelte sonderbar und war keine richtige märkische Sonne mehr. Alles versprach ethnographisch einen überreichen Ertrag, ein Glaube, der sich auch im Näherkommen nicht minderte; denn an einer freigelegten Stelle, will sagen da, wo die Maschen eines zierlichen Drahtgitters die solide Backsteinmauer durchbrachen, sah ich auf einen Vorgarten, darin ein Tulpenbaum in tausend Blüten stand und ein breites Platanendach darüber. Alles so echt wie nur möglich, und so war es denn natürlich, daß ich jeden Augenblick erwartete, den unvermeidlichen chinesischen Pfau von einer Stange her kreischen zu hören.

Aber er kreischte nicht, trat überhaupt nicht in die Erscheinung, und als mein Hoffen und Harren eine kleine Viertelstunde lang ergebnislos verlaufen war, entschloß ich mich ein langsames Umkreisen des gesandtschaftlichen Gesamt-Areals eintreten zu lassen. Ich rückte denn auch von Fenster zu Fenster vor, aber wiewohl ich, laut Wohnungsanzeiger, sehr wohl wußte, daß, höherer Würdenträger zu geschweigen, sieben Attachés ihre Heimstätte hier hatten, so wollte doch nichts sichtbar werden, eine Thatsache, die mir übrigens nur das Gefühl einer Enttäuschung, nicht aber das einer Mißbilligung wachrief. Im163 Gegenteil. Ein Innenvolk sagte ich mir feine, selbstbewußte Leute, die jede Schaustellung verschmähn. All die kleinen Künste, daran wir kranken, sind ihnen fremd geworden und in mehr als einer Hinsicht ein Ideal repräsentierend, veranschaulichen sie höchste Kultur mit höchster Natürlichkeit . Und in einem mir angebornen Generalisierungshange das Thema weiter ausspinnend, gestaltete sich mir der an Fenster und Balkon ausbleibende Chinese zu einem Hymnus auf sein Himmlisches Reich.

Schließlich indeß, nachdem ich noch wie von ungefähr einen in einer Hofnische stehenden antiken Flötenspieler entdeckt hatte, war ich um die ganze Halbinsel herum und stand wieder vor dem Gitterstück mit dem Tulpenbaum dahinter. Aber die Scene daselbst hatte sich mittlerweile sehr geändert und während in Front der massiven Umfassungsmauern etliche Berliner Jungen Murmel spielten, sprangen, in geringem Abstande davon, einige kleine Mädchen über die Korde. Die älteste mochte elf Jahre sein. Jede Spur von Mandel - oder auch nur Schlitzäugigkeit war ausgeschlossen und das mutmaßlich seit frühester Jugend immer nur mit Spreewasser behandelte starre Haar fiel, in allen Farben schillernd, über eine fusslige Pelerine, während die Gesichtsfarbe griesig war und die Augen überäugig vorstanden. So164 hüpfte sie, gelangweilt, weil schon von Vorahnungen kommender Lebensherrlichkeit erfüllt, über die Korde, der Typus eines Berliner Kellerbackfisches.

Ich sah dem zu. Nach einigen Minuten aber ließen die Jungen von ihrem Murmelspiel und die Mädchen von ihrem über die Korde-springen ab und gaben mir, auseinanderstiebend, erwünschte und bequeme Gelegenheit, die Zeichnungen und Kreideinschriften zu mustern, die gerade da, wo sie gespielt hatten, die chinesische Mauer reichlich überdeckten. Gleich das erste, was ich sah erschien mir frappant. Es war das Wort Schautau. Wenn das nicht chinesisch war, so war es doch mindestens chinesiert, vielleicht ein bekannter Berolinismus in eine höhere fremdländische Form gehoben. Aber alle meine Hoffnungen, an dieser Stelle Sprachwissenschaftliches von den Steinen herunterlesen zu können, zerrannen rasch, als ich die fast unmittelbar danebenstehenden Inschriften überflog. Emmy ist sehr nett stand da zunächst über drei Längssteine hingeschrieben, und es war mir klar, daß eine schwärmerische Freundin Emmys (welche letztere wohl keine andere als die mit der Pelerine sein konnte) diese Liebeserklärung gemacht haben müsse. Parteiungen aber hatten auch hier das Idyllische bereits entweiht, denn auf einem Nachbarsteine las ich: Emmy ist165 ein Schaf , eine kränkende Bezeichnung, die sogar zweimal unterstrichen war. Auf welcher Seite die tiefere Menschenkenntnis lag, wer will es sagen? Haß irrt, aber Liebe auch.

Sinnend und enttäuscht zugleich, hing ich dem allem nach, mehr und mehr von der Erfolglosigkeit meines Studienspazierganges und damit zugleich auch von der Notwendigkeit eines Rückzuges durchdrungen.

Ich trat ihn an und kaum eine Viertelstunde später, so lag auch schon die heuer im April bereits zur Maienlaube gewordene Bellevuestraße hinter mir und scharf rechts biegend, trat ich bei Josty ein, um mich, nach all den Anstrengungen meiner Entdeckungsreise, durch eine Tasse Kaffee zu kräftigen. Es war ziemlich voll unter dem Glaspavillon oben und siehe da, neben mir in hellblauer Seide, saßen jetzt zwei Chinesen, ihre Zöpfe beinah kokett über die Stuhllehne niederhängend. Der jüngere, vielleicht erratend von welchen chinesischen Attentaten ich herkam, sah mich schelmisch freundlich an, so schelmisch, wie nur Chinesen einen ansehen können, der ältere aber war in seine Lektüre vertieft, nicht in Kon-fut-se, wohl aber in die Kölnische Zeitung. Und als nun die Tasse kam und ich das anderthalb Stunden lang vergeblich gesuchte Himmlische Reich so bequem und166 so gemütlich neben mir hatte, dacht ich meiner Platenschen Lieblingsstrophe:

Wohl kommt Erhörung oft geschritten
Mit ihrer himmlischen Gewalt,
Doch dann erst hört sie unser Bitten,
Wenn unser Bitten lang verhallt.
167

Eine Nacht auf der Koppe.

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Koppenwirt Pohl war krank.

Es paßte schlecht, denn es war Hochsommer, und jede Stunde brachte neue Besucher, die bis Mitternacht tanzen und singen und, nach dreistündigem Schlaf in einem engen Bett und stickiger Stube den Sonnenaufgang sehen wollten. Im Vorflur, auf Schemeln und Treppenstufen, saßen Dutzende von Krummhübler Sesselträgern, die, von früh an, teils ermüdete, teils steigensunlustige Herren und Damen den Kegel hinauf getragen hatten, und selbst drüben in dem kleinen, schon auf böhmischer Seite gelegenen Nachbar-Koppenhause, begann es an Unterkunft zu fehlen. Ueberfüllung aller Orten, und ehe noch die sechste Stunde heran war, mußte schon die Fahne herausgesteckt werden, die etwaigem neuem Zuzuge zu verkündigen hatte: kein Platz mehr; Alles besetzt!

Im Saale drinnen war Lärm und Lachen, und170 an einem langen, ganz in Nähe dreier Harfenistinnen aufgestellten Tische saßen Schüler aus Breslau mit allerhand Verbindungszeichen angethan und in ihrem ganzen Thun sichtlich beflissen, sich auf den Studenten hin auszuspielen; ihre Deckel klappten in einem fort, immer neue Seidel wurden herangetragen, und während einer, eine Art Senior , ziemlich weltmüde dreinschaute, schob sich ein Ganzjugendlicher immer näher an eine der Harfenistinnen, die seine Mutter sein konnte, heran und hatte dabei den Mut, ihr seine Huldigungen zuzuflüstern. Sie verstand ihn auch, was sich darin zeigte, daß sie die gewagtesten Stellen immer mit einem Fortissimo begleitete, worin dann, ungehört von den Andern, die jugendlichen Kühnheiten verklangen. Einige der diesem Schülertreiben zusehenden Gäste tuschelten darüber, was die Herren Studiosi , die sich dadurch geniert fühlen mochten, schließlich veranlaßte, den Tisch, an dem sie saßen, ins Freie zu schaffen. Es war eine von ihnen gutgewählte Stelle, denn nicht nur, daß die vom Dach herabhängende Fahne lustig über ihnen flatterte, neben ihnen stand auch ein großes, für das wissensdurstigere Reisepublikum aufgestelltes Fernrohr, dessen Besitzer, zu besserer Orientierung der unablässig Neuherantretenden, ebenso unablässig den landschaftlichen Erklärer machte. Die helle Linie, die Sie da sehen, das ist171 Erdmannsdorf, und das Schweizerhaus daneben, das ist Sieckes Hotel, wo man die guten Forellen und das gute Pilsener kriegt, und die weiße Steinmauer dicht dahinter (aber es sind noch fast zwei Stunden), das ist der Hirschberger Kirchhof. All das richtete sich selbstverständlich an das große Publikum, aber auch die daneben sitzenden jungen Herren vernahmen, sie mochten wollen oder nicht, jeden Namen und jede Ortsbezeichnung, und als der Ganzjugendliche, der eben noch der Harfenistin den Hof gemacht hatte, das Wort Kirchhof hörte, zog er, sentimental werdend, sein Gesicht in feierliche Falten und begann dabei vor sich hinzusummen: es ist bestimmt in Gottes Rat . Es waren im ersten Augenblick nur halblaute Versuchsklänge, bis seine Commilitonen, denen solcher Stimmungswechsel ebenfalls passen mochte, mit ihren angehenden Bierstimmen einfielen.

Elegisch klang es über den Vorplatz hin und auch zu Pohl hinauf. Der lag sterbenskrank auf seinem Bett, und einer von der Familie, der wohl sah, wie schwer er litt, sagte, während er sich niederbeugte: Sollen wir ’runterschicken und bitten lassen, daß sie nicht weiter singen? Aber Pohl schüttelte den Kopf und sprach etwas, was freilich nur der Nächststehende hören konnte. Was sagt Vater? fragten die172 Anderen. Er sagt, es ginge nicht, das könnten wir der Koppe nicht anthun; die Leute, die auf die Koppe kämen, die wollten lustig sein, aber nicht traurig. Und so ließ man’s denn, weil Jeder fühlte, daß der Sterbende recht habe.

So war es oben, wo der Kranke lag. Unten im Saal aber lärmte die Musik weiter. An jedem Tische (denn es war kühl geworden) dampfte der Grog, und der Küchengeruch zog durch Flur und Haus. Um acht stieg die Dämmerung herauf, und um zehn war Pohl tot.

Er war still gestorben. Aber damit war es nicht gethan. So still der Kranke gestorben, so still auch mußte der Tote zu Thal; er durfte, nach seinem eigenen Wort und Willen, die Lust seiner Gäste nicht stören, das verlangte die Koppe so. Man sprach also mit den Trägern, die nach wie vor draußen auf Flur und Treppenstufen umhersaßen, und fand sie, so weit sie noch freie Hand und Verfügung über ihre Zeit hatten, auch sofort willig und bereit, ihren Koppenwirt, dem die Meisten von ihnen zu Dank verpflichtet waren, in aller Stille zu Thal zu schaffen. Eine Bahre war schnell zur Hand; darauf legten sie den Toten und überdeckten ihn mit so viel grünem Gezweig, wie da oben in der Steinöde zu beschaffen war. Und nun setzten173 sie sich lautlos in Marsch, vier, die die Bahre trugen, und vier Fackelträger daneben. Aber ihre Fackeln brannten noch nicht und sollten erst angezündet werden, wenn sie den kahlen Koppenkegel hinunter und in den dichten Wald am Fuße desselben eingetreten wären.

Unbemerkt ging der Zug an den Fenstern des Koppenhauses vorüber.

Inzwischen aber war Mitternacht herangekommen, und ein älterer Herr, der, während der letzten zehn Minuten, nicht müde geworden war, seine Taschenuhr mit der Wanduhr im Saal zu vergleichen, stieg im Augenblicke, wo diese zwölf geschlagen, auf einen hochlehnigen Stuhl und sagte: Meine Herren und Damen. Eine Rede will ich nich halten

Nein, nein.

Eine Rede will ich nich halten. Aber wenn es den verehrten Herrschaften recht ist, so machen wir eine Wanderpolonaise.

Ja, ja.

Die Harfenistinnen, wie verabredet, schlugen bei diesen Worten sofort mächtiger in die Saiten, und der wohlbeleibte Herr, von seinem Stuhle vorsichtig herabsteigend, eröffnete den Zug voll gravitätischen Humors, nachdem er zuvor seiner neben ihm stehenden Frau den Arm gereicht hatte. Diese174 trug einen etwas verschobenen schwarzen Scheitel, war auch älter als ihr Gatte, glich diese Mancos aber durch Temperament und eine bemerkenswerte Fidelität wieder aus, die sich unter anderem auch darin zeigte, daß sie eine über ihre Brust ausgespannte schwere Goldkette nach dem Takte der Musik beständig hin und her zog. Ihre seit wenigen Wochen erst mit einem Angestellten des Hauses verlobte Tochter, folgte, mit diesem ihrem Zukünftigen, als zweites Paar.

Mutter ist heute wieder so merkwürdig, sagte der Bräutigam.

Ach, laß ihr doch, antwortete das Fräulein.

Und während das Gespräch in gleichem Tone sich fortsetzte, ging die zunächst im Hause selbst jeden Winkel und jede Ecke mitnehmende Polonaise nach der böhmischen Koppenbaude hinüber, wo der Führer des Zuges ein dreimaliges Hoch auf Kaiser Wilhelm ausbrachte. Das ist, was ich Einverleibung nenne, flüsterte er seiner Frau zu.

Rede nicht so, verwies ihn diese.

Schließlich aber war man wieder diesseitig in Haus und Saal zurückgekehrt, wo sich jetzt, an alter Stelle, jeder Einzelne vor seiner Dame verneigte. Der Bräutigam aber sagte: Nun komm, Hulda, wir wollen uns draußen die Sterne ansehen.

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Ach was, die Sterne

Trotzdem gab sie nach, und als sie seinen Arm genommen und draußen ein beliebiges Sternbild für den großen Bären erklärt hatte, traten beide an ein einen Vorsprung einfassendes Schutzgeländer heran, von dem aus man bei Tagesschein einen wundervollen Fernblick hatte. Jetzt freilich lag Alles nur in nächtlichem Schleier, und erst als beider Augen, nach langem Suchen unten im Thale, wieder an den Fuß des Koppenkegels zurücklenkten, sahen sie, genau da, wo die dunklen Waldmassen ihren Anfang nahmen, ein plötzliches Aufleuchten. Und dann schwand es wieder und dann war es wieder da.

Was ist das? sagte die Braut.

Das sind Glühwürmer.

Ach, bist Du dumm. Glühwürmer sind wie Streichhölzchen, und was wir da vor uns haben, ist wie ein Fackelzug. Ich habe den bei Moltke geseh’n Und nun komm wieder hinein; mich friert hier, und ich bin fürs Mollige. Und drin will ich dann die Schließerin fragen, was es eigentlich gewesen.

Und sie fragte drin auch wirklich. Wir haben da Lichter gesehen. Sind es Fackeln?

Ja, sagte die Schließerin. Es sind Fackeln; sie tragen einen alten Herrn nach Hirschberg hinunter. 176Er muß früh weg und will den Zug nicht versäumen.

Ja, Manche sind so ängstlich, sagte die Braut. Und damit traten sie wieder in den Saal, in dem es inzwischen erheblich leerer geworden war, weil sich Verschiedentliche, wenn auch nur zu kurzem Schlaf, in ihre Stuben und Kammern zurückgezogen hatten.

Ich denke, wir gehen nun auch, sagte die Mutter, die mit der wachsenden Müdigkeit ihre Mutterwürde zurückgewonnen hatte.

Nein, Mutter, sagte Hulda. Ich mache durch. Orntlich oder gar nich.

Gott, Du red’st immer, als wenn Du zu Hause wärst Und was soll blos Hugo davon denken!

Ach, der.

Die Nacht verging, und just um die Stunde, wo die Koppengäste, teils verschlafen, teils überwacht, ins Freie traten, um den Sonnenaufgang (der denn auch ziemlich kritisch aufgenommen wurde) Revue passieren zu lassen, trafen die Träger unten in Hirschberg ein, in der ebenso geräumigen wie177 gefälligen Stadtwohnung des Koppenwirts. Da stand Pohl bis den dritten Tag, und dann gab man ihm ein feierlich Begräbnis. Aber nichts davon drang bis auf die Koppe hinauf, nicht einmal der tiefe Klang der Glocken.

In dem Leben oben aber ging alles seinen gewohnten Gang und blieb auch so bis diesen Tag. Wie vordem, wenn alles besetzt ist, wird die Fahne herausgesteckt, um etwaigem neuem Zustrom ein Halt zuzurufen, und wie vordem treten gruppenweise die Wißbegierigen ans Fernrohr heran und horchen auf die Worte dessen, der nach wie vor den landschaftlichen Erklärer macht. Und wenn dann das Glas (und nur darin hat sich ein Wechsel vollzogen) auf seinem Zirkelweg an die Stelle kommt, wo der Hirschberger Kirchhof aufragt, so heißt es, in ganz geringer Abänderung des alten Textes: und das weiße Kreuz da, was die andern überragt, das ist Pohls Kreuz.

Wer ist Pohl? fragt dann der eine oder andere.

Pohl war Koppenwirt hier oben, und nun liegt er da unten.

So so, sagt dann der, der die Frage gestellt. Und wenn er längere Zeit bleibt und sich oben an -178 freundet, so hört er vielleicht auch von der Nacht, in der Pohl, der Koppenwirt verstarb. Warum auch nicht! Es stört niemanden mehr. Nichts mehr von Wand an Wand, alles weit ab.

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Der letzte Laborant.

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In dem schönen Hirschberger Thale liegt Agathendorf, eines der vielen großen Dörfer, die sich hier, in mehr als meilenlanger Reihe, beinah unmittelbar aneinanderschließen. Alle sind von malerischem Reiz, und auch in Agathendorf schießt das Bergwasser über ein Wehr und liegen die Häuser in wildem Wein, wenn sie nicht vorziehn einen Vorgarten zu haben, mit einer großen Glaskugel, drin sich die Landschaft spiegelt. Vor Agathendorf aber, und zwar auf Erdmannsdorf und Zillerthal zu, läuft auch noch die Gebirgsbahn an Spinnereien und Bleichen vorüber, während sich an der entgegengesetzten Dorfseite der leis ansteigende Kirchhof mit seinen Lilien und Sonnenblumen erhebt, ein weiter Totenacker, drauf außer den Agathendorfern, auch die hier eingepfarrten Nachbargemeinden, in viele Schläge geteilt, ihre Toten begraben. Und zwar in so viel Schläge geteilt, wie Dörfer vorhanden sind,182 und nur an der nordöstlichen Kirchhofsmauer entlang, will sagen da, wo die Reichen und Wohlhabenden ihre Erbbegräbnisse haben, tritt der Besitz (an Stelle des Todes) als eine Art Gleichmacher auf und gestattet es den Brückenbergern und Querseiffnern, den Wolfshauern und Langhüblern immer vorausgesetzt, daß sie reich sind ebenbürtig und durch keine Schlag-Einteilung länger getrennt, zwischen den Agathendorfern selbst zu ruhen. Eigentliche Gräber finden sich an dieser Erbbegräbnisstelle nicht. Alle die hier schlafen, schlafen hier wie unter einem Blumenbeet, an dessen oberem Ende sich regelmäßig ein in die Kirchhofsmauer eingelassener hoher Stein befindet, oft mit Namen und Datum, oft auch mit Verzierungen und Sprüchen. Einer dieser Steine trug, als ich diese Stelle besuchte, folgende mit Goldbuchstaben geschriebene Worte: Hier ruht Joseph Hieronymus Hampel, der letzte Laborant, geb. 3. Mai 1799, gest. 3. Juni 1879 auf dem Grabe selbst aber, einem Beete von besondrer Breite, wuchs ein gut Teil jener Blumen - und Kräuterwelt, drauf sich, allem Anschein nach, der hier in Gott Ruhende sehr zu seinem Vorteil verstanden haben mußte. Denn der Stein in der Mauer, seiner sonstigen Ornamentik zu geschweigen, war ein wertvoller schwarzer Marmor. Der freundlich183 meinen Führer machende Agathendorfer Küster bestätigte mir denn auch meine nach dieser Seite hin gehenden Vermutungen, und als wir bald danach im Weißen Roß unter einem prächtigen alten Birnbaum, der seiner Fülle halber gestützt werden mußte, plaudernd beisammen saßen und einem Gullasch und Grätzer Bier zusprachen, kam mein Begleiter meiner Bitte nach und erzählte mir von Joseph Hieronymus Hampel und daß er, ganz wie die Grabschrift besage, wirklich, der letzte Laborant gewesen sei.

Ja , hob er an, der alte Hampel da drüben und früher hieß hier alles Hampel und die Hampelbaude bezeugt es bis diesen Tag der alte Hampel da drüben war noch aus der Zeit her, wo das hier vor uns liegende ganze Gebirge voll Laboranten saß, und zwar je höher hinauf desto mehr, weil jeder nach Möglichkeit an der Quelle sitzen wollte, d. h. da, wo der Enzian anfängt. Und da saßen sie denn auch wirklich um die Kirche Wang herum (die’s aber damals noch gar nicht gab) und links bis an die Forstbauden und rechts bis an die Anna-Kapelle, Hieronymus Hampel aber saß in Langhübel, wo schon sein Großvater gesessen und sich einen guten, um nicht zu sagen berühmten Namen gemacht hatte. Denn an184 Arzt oder Wundarzt war damals, und noch bis in die neuere Zeit hinein, nicht zu denken, und weil es weit war bis nach Warmbrunn oder bis in die Schmiedeberger Apotheke, so waren die Baudenleute herzlich froh, daß sie die Laboranten so mitten unter sich hatten, die Laboranten, die so gut waren wie die Doktors und eigentlich noch besser. Am frohsten aber waren die Langhübler, weil sie den Hieronymus Hampel hatten, unsern Hampel drüben, von dem ein berühmter Breslauer Arzt gesagt haben sollte: wenn ich nicht mehr aus noch ein weiß, dann schreib ich an Hampel und der schickt dann ’was. Und der Fall ist noch nicht dagewesen, daß das Hampelsche nicht geholfen hätte. Das alles wußten die Langhübler, und die paar Neunmalweisen, die darüber lachten und der Meinung waren: der berühmte Breslauer Doktor existiere gar nicht und alles sei blos eine von Hampel selbst und von Geschäftswegen erfundene Geschichte, diese paar Neunmalweisen konnten nicht aufkommen, was sich am besten auf den Messen und Jahrmärkten zeigte, die Hampel nicht blos bis Hirschberg und Schmiedeberg, sondern sogar bis Lauban und Görlitz hin beschickte. Nach all diesen Orten hin gingen die kleinen länglichen, immer sechseckigen Flaschen, die, weil unten zugespitzt, regelmäßig umfielen (was durchaus mit185 dazu gehörte) Flaschen, die meist mit Schlagwasser‘ gefüllt waren, und wenn nicht mit Schlagwasser, so mit Melissengeist, und wenn nicht mit Melissengeist, so mit Fingerhut-Tropfen. Dazu kam ein in kleine blaue Pakete verpackter Thee, ganz nach Art der alten Tabakspakete, darauf in wechselnder Schrift zu lesen war, daß man nur sehr wenig davon nehmen dürfe, weil er sonst zu stark sei. Wenn man aber recht recht wenig nähme, nur freilich frisch müsse er sein und vom letzten Jahr (was denn selbstverständlich auf jedem Jahrmarkt zu neuen Ankäufen führte), so fiele das Wasser und die Rose ginge weg und die Sommersprossen auch. Und jeder glaubte daran, natürlich mit Ausnahme jenes zweifelsüchtigen, aber bedeutungslosen Conviviums, das über Hampel und seine Kuren lachte. Im übrigen war der Glaube, der das ganze Hirschberger Thal erfüllte, so stark, daß kleine schlesische Leute, die nach Polen und Galizien hin verzogen, sich sowohl den Thee wie die Tropfen nachschicken ließen, weil sie wußten, daß es hülfe. Bis in die Tausende ging der jährliche Versand, und Hampel war ein reicher Mann, bevor er noch das vierzigste Jahr erreicht hatte. Ja reich war er. Aber daß sein Geschäft so blühte, das war nicht blos ein Segen für ihn, das war auch ein186 Segen für andre, besonders für die Barfußkinder, die Beeren suchten, und mehr noch für die Reisig sammelnden alten Weiber, die, von Jugend auf im Walde zu Hause, natürlich auch mit den Gebirgskräutern trefflich Bescheid wußten und ihrem Brodherrn, außer dem ewigen Enzian, allerlei Feines und besonders Heilkräftiges brachten: Allermannsharnisch und Liebstöckel, Hirschbrunst und Teufelsabbiß, Venuswagen und Unsrer Lieben Frauen Bettstroh, woraus dann die merkwürdigsten Geheimtinkturen für kränkliche Männer und schwache Frauen gebraut wurden. Im ganzen darf man sagen, Hampel verfuhr in gutem Glauben, vielleicht sogar bezüglich eines hoch angesehenen Haarmittels, das er, viele Jahre lang, aus Marienhaar mit ganz besondrer Sorgfalt destillierte, bis ihm eines Tages einer seiner sonst gläubigsten Anhänger mit aller Gemütsruhe sagte: Höre, Hampel, Dein Schlagwasser ist gut und Dein Melissengeist auch; aber mit dem Marienhaar kann es nicht viel sein, und dabei lachend auf Hampels Perrücke zeigte. Das ärgerte diesen ganz ungemein und machte solchen Eindruck auf ihn, daß er, von Stund an die Marienhaar-Tinktur von seinem Preiskurante strich, trotzdem gerade sie zu seinen einträglichsten Tinkturen zählte.

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Solcher als Fehlschläge vom Preiskurant abgesetzten Nummern, immer Nummern neueren Datums, gab es noch ein paar im Laufe der Jahre, der alte Bestand aber blieb und wurde von Hampel nach einer Methode hergestellt, die schon zu Großvaters Zeiten, und vielleicht noch früher, gegolten hatte. Selbstverständlich erfolgte die Zubereitung all dieser Arkanas und Panaceen im eigenen Hause, welches letztere denn auch nicht blos ein Schmuckkästchen, sondern gleichzeitig eine Sehenswürdigkeit für Fremde war, die gerne bei Hampel vorsprachen und sich sein ganzes Laboranten-Gewese zeigen ließen. Unten im Vorderhause befand sich die hübsch eingerichtete Privatwohnung mit Klavier (später Harmonium), weil Hampel es liebte, Winters Choräle zu spielen und fromme Lieder zu singen. War er doch überhaupt ein Mann, in dem sich ein echt schlesischer Aberglaube, darin Rübezahl die Hauptrolle spielte, mit einem religiösen und sittenstrengen Zuge mischte. Stieg man dann von dem mit Fliesen ausgelegten Flur aus ins erste Stock hinauf, so sah man in die große halb offenstehende Tinkturenkammer mit ihren dicht besetzten Regalen, und abermals eine Treppe höher den Kräuterboden, auf dem Enzian und Arnika weit ausgebreitet lagen und Isländisch Moos in ganzen Säcken stand, die188 so groß waren wie Wollsäcke. Das alles war im Vorderhause. Daran schlossen sich dann, wenn man vom Flur her in den Hof trat, zwei rechtwinklig angebaute Flügel, von denen der eine nicht viel was anderes als eine schicht - oder etagenweis aufgebaute Luftdarre für Blaubeeren, der andere dagegen, der größere, das in eine Schatten - und eine Sonnenseite geteilte Laboratorium war. Auf der Sonnenseite den Strahlen der Sonne nach Möglichkeit ausgesetzt standen die großen Glaskolben, in denen die mit Weingeist, oder wie Hampel sich ausdrückte, mit Aquavit angesetzten Wurzeln und Kräuter in praller Hitze kochen mußten, während sich an der gegenüber gelegenen Schattenseite die großen Apparate befanden, Kupferblase und Kupferhelm, aus denen die verschiedenen Geister abdestilliert wurden, Dillgeist, Fichtengeist, Krausemünzengeist, Melissengeist. Welche Seite des Laboratoriums in Hampels Augen eigentlich die wichtigere war, war schwer zu sagen, weil das oft durch Monate hin fortgesetzte Extrahieren in der Sonne genau denselben Zweck verfolgte, wie das Destillieren aus der Blase, nämlich den, den Geist frei zu machen. Sehr wahrscheinlich indeß, daß er dem, was die ziemlich kostspielige Kupferblase leistete, schon deshalb, weil sie189 kostspielig war, den Vorzug gegeben haben würde, wenn nicht eine der im Glaskolben extrahierten Tinkturen ein Gegenstand seiner besonderen Vorliebe gewesen wäre, fast als ob er geahnt hätte, welche Bedeutung gerade diese Tropfen für ihn gewinnen sollten. Unter dem nämlich, was, um ausgezogen zu werden, Tag um Tag in der Prallsonne stand, war auch ein Mineral, ein goldblinkendes Schwefeleisen aus der Seidorfer Gegend, das, genau so wie die Wurzeln und Kräuter, mit rektifiziertem Weingeist, ja man sprach sogar von hundert Grad Tralles, aufgesetzt wurde, was dann, nach dreizehnmonatlichem Ziehen, eine ganz merkwürdige Krafttinktur ergab, die wegen ihres Eisengehalts gegen Bleichsucht und Schwäche von geradezu phänomenaler Wirkung war. Wenigstens stand so auf dem Zettel, der jedem Fläschchen beigegeben wurde. Chemische Untersuchungen hatten nun freilich weder Schwefel noch Eisen in diesen Wundertropfen entdecken können, Hampel aber, als man ihm mit dieser Nachricht kam, hatte nicht nachgegeben wie damals mit der Marienhaartinktur, sondern sich umgekehrt aufs hohe Pferd gesetzt und mit superiorer Miene versichert: der Geist sei drin, und zwar erst der Schwefel - und dann der Eisengeist. Und dieser Geist sei viel zu fein, um sich mit Reagentien fassen zu lassen. 190Das war ein großes Wort, das, wie jedes derartige Wort, Zweifler und Gläubige fand und schließlich auch nach Erdmannsdorf kam, um hier dem auf Sommerbesuch anwesenden König Friedrich Wilhelm III. bei Tafel erzählt zu werden. Bischof Eylert und Hofprediger Strauß waren mit zugegen. Ebenso der Kronprinz. Was sagen Sie dazu? fragte der König in heiterer Laune, worauf die beiden geistlichen Herren natürlich lächelten. Der Kronprinz aber sagte: Hampel hat recht.

Und siehe da, Hampel hat recht sagten schließlich alle, besonders aber die Hofdamen, unter denen sich in demselben Sommer noch ein wahrer Hampel-Kultus einbürgerte, was freilich mehr noch als in dem eben hier Erzählten in einer von unserm Hampel an einem armen aber liebenswürdigen Hoffräulein ausgeführten Wunderkur seinen Grund hatte. Dies Hoffräulein stand nämlich in einem ernsten Liebesverhältnis zu dem in Erdmannsdorf mit anwesenden Adjutanten oder Hofmarschall des Prinzen Wilhelm, unseres jetzigen alten Kaisers, und nur ein Feuermal unterm Kinn, das das sonst sehr hübsche Fräulein entstellte, ließ den von allerhand Aeußerlichkeiten abhängigen Liebhaber aus einem ängstlichen Schwankezustand gar nicht herauskommen. Alles nahm Teil an dem Schicksal der191 jungen Dame. Da trat Hampel persönlich auf, mit einer zweimal überdestillierten und mit weißen Zinkblüten aus der Josephinenhütte sorglich untermischten Schneeball-Essenz, und siehe da, in drei Wochen war das Mal fort und in fünf Wochen war Hochzeit. Das blieb Hampeln unvergessen und entschied viel viel mehr noch, als das voraufgegangene kronprinzliche Hampel hat recht‘ über sein weiteres Leben, das namentlich ohne diesen letzteren Zwischenfall nicht so glücklich verlaufen wäre, wie’s thatsächlich durch noch vierzig Jahre hin der Fall war. Und hier muß ich den Gang meiner Erzählung auf einen Augenblick unterbrechen.

Es war nämlich kurz vor König Friedrich Wilhelms III. Hinscheiden gewesen, daß diese Scene mit dem Hoffräulein gespielt hatte. Nun stand zwar der neue König genau so wie der alte zu Hampel und dachte gar nicht daran, ihm die Geschichte vom Schwefel - und Eisengeist‘ je zu vergessen, aber unglücklicherweise traten um eben diese Zeit die Gesetze gegen Medizinalpfuscherei wieder frisch in Kraft, und auch Hampel sah sich davon bedroht und schien, trotz besten Leumunds, der Strenge dieser Gesetzgebung erliegen zu sollen. Ein Strafmandat folgte dem andern, und unser Langhübler Freund wäre verloren gewesen, wenn er sich nicht192 noch rechtzeitig des Hoffräuleins mit dem Feuermal erinnert hätte. Die stand jetzt hoch in Ehren, und als ihr die Bitte Hampels um ihre Protektion eines Tages zu Händen kam, säumte sie nicht, ihrem alten Freund und Glücksbegründer zu Willen zu sein, und wußte dabei die Dinge so geschickt zu wenden und zu leiten, daß das ewige Strafandrohen der Liegnitzer Regierung aufhörte. Hampel wurde zum Ausnahmefall‘ erhoben und erhielt schließlich sogar ein großgesiegeltes Reskript, darin ihm mitgeteilt wurde daß Seine Majestät der König befohlen habe, den etc. Hampel in seinem Laborantenberufe, von dessen segensreicher Wirksamkeit er persönlich Zeuge gewesen sei, bis an sein Lebensende zu belassen.

Und danach wurde denn auch verfahren, und als Hampel, viele Jahre später, auf 80 zuschritt, stand sein Ansehn so hoch, daß im ganzen Hirschberger Thale beschlossen wurde: dem letzten Laboranten‘ (denn das war Hampel mittlerweile geworden) ein Fest zu geben, und zwar im Warmbrunner Gasthofe zum König von Preußen. Ein in der Stadt lebender Geheimer Sanitätsrat, Original, der selbstverständlich die Praxis längst quittiert hatte, weil er alles Doktorentum für eitel Medizinpfuscherei und nur das Laborantentum, diesen gesegneten Zu -193 stand der Wilden und Indianer, für einen medizinisch normalen hielt, dieser geheime Sanitätsrat trat an die Spitze des Festkomitees, und am 3. Mai 1879, will sagen an Hampels 80. Geburtstage, hatte die Feier statt. Zwischen Graf Schaffgotsch und Graf Matuschka saß der Jubilar, ihm gegenüber der Geheime Sanitätsrat und als dieser seinen Toast ausgebracht und die Trompeter-Badekapelle dreimal Tusch geblasen hatte, trat ein Telegraphenbote dies war alles aufs genaueste verabredet worden in die Thür und überreichte Hampel ein Telegramm, darin ihm seitens seiner alten, inzwischen längst zur Excellenz‘ avancierten Freundin mitgeteilt wurde: daß S. M. der Kaiser Wilhelm, der sich als Letzter aus jener Erdmannsdorfer Zeit, noch sehr wohl des alten Laboranten Hampel erinnere, besagtem Laboranten Hampel zu Langhübel den Kronenorden 4. Klasse verliehen habe.

Das war Hampels Tag der Ehren, freilich auch einer seiner letzten Tage überhaupt. Denn von Stund an ging es bergab, nach Meinung einiger, weil er sich zu sehr erhitzt und danach unvorsichtig erkältet, nach Meinung anderer, weil er zu viel Ungar getrunken und sich am andern Tage mit seinem eigenen Schlagwasser kuriert habe. Gleichviel, am 3. Juni starb er gerade einen Monat194 nach jenem denkwürdigen 3. Mai nachdem er noch eine Stunde vor seinem Ende bestimmt hatte, daß er am 7. Juni, dem Todestage weiland König Friedrich Wilhelms III., seines gnädigsten König und Herrn, der in seinem edlen Herzen ein solches Wort wie Medizinalpfuscherei wahrscheinlich nicht ’mal gekannt habe, begraben sein wolle‘.

Und nun kam das Begräbnis.

Es war ein großer Tag, und in dem ganzen Hirschberger Thale gingen die Glocken, als der Zug von Langhübel nach Agathendorf hinunterstieg. Laboranten, die folgen konnten, gab es nicht mehr, aber Hampel hatte trotzdem seinen Kondukt: erst die Langhübler und Brückenberger Kinder, zu zwei und zwei mit Erdbeerblüten im Haar, dann Feuerwehrmusik mit Posaune und Tuba, danach die Schaffgotsch’schen und Matuschka’schen Förster und Haideläufer, und zuletzt die Kräuterweiber aus dem ganzen Gebirge, wohl zwanzig oder dreißig, die sich fein gemacht und auf Harken und Stangen all das trugen, was sie zeitlebens für den Hampel’schen Kräuterboden gesammelt hatten: Enzian und Arnika, Fingerhut und Besingkraut und vor allem isländisch Moos, das in langen, wirren Flechten von den Harken herniederhing.

Vierzehn Tage später hieß es: Alles im195 Hampel’schen Hause sei von der Regierung inspiziert und inventarisiert worden, und nur die zur Zeit noch auf Lager befindlichen Flaschen dürften auch fernerhin ausgeboten und ausverkauft werden. Darüber sind jetzt acht Jahre vergangen, wie man wohl sagen darf, eine lange Zeit. Aber die Kammern und Regale sind immer noch voll, und einige sagen, sie würden auch nie leer werden.

Und es wünscht es auch keiner.

Denn wenn auch die kleinen sechseckigen Flaschen nie recht stehen wollten, der Glaube an sie steht unerschüttert fest.

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Gerettet!

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An einem November-Vormittage, der Nebel fiel in Tropfen nieder, hielt eine Gruppe von vier Männern, Holzschläger aus dem gräflichen Forst, vor dem Theobaldstift in Agnetendorf. Sie setzten eine aus Baumstämmen zusammengebundene Trage vor dem kleinen Eingangsportal des Stiftes nieder und trugen einen auf die Schultern von zweien von ihnen sich stützenden Verwundeten so gut es ging zum heiligen Theobald hinein, wo die das Regiment im Stift führende Schwester Elisabeth die Männer freundlich, aber auch ernst und bestimmt empfing. Neben ihr stand Schwester Beate.

Nun, was ist? sagte die Oberschwester Elisabeth. Das ist ja der Stephan, oben aus der Martinsbaude. Ist er verunglückt?

Ja, Schwester, sagte der jüngere der zwei Miteingetretenen, ein Bruder des Verunglückten und Aloys mit Namen, er ist verunglückt. Als wir200 den Baum umrissen, ist er nicht bei Seite gesprungen. Es sieht grausam aus, und er hat auch eine Ohnmacht gehabt Ich hab ihm noch zugerufen; aber er hat’s nicht gehört oder hat schlecht aufgepaßt.

Schlecht aufgepaßt, sagte Schwester Elisabeth. Die heilige Jungfrau erbarme sich. Ich weiß, wie das bei Euch hergeht Es wird wohl der Ingwer schuld sein oder der Wacholder.

Als sie noch so sprach, kam auch der alte Doctor Melchers, den Schwester Beate mittlerweile herbeigerufen hatte. Der untersuchte das Bein und sagte: Schwere Quetschung; aber der Knochen ist heil. Es wird sich machen, ohne daß wir eingreifen. So hoff ich wenigstens. Freilich Zwischenfälle sind nicht ausgeschlossen.

Und nun brachte man den Verwundeten, der kein Wort sprach und nur wie betäubt vor sich hin sah, in eine für ihn hergerichtete Zelle, drin Schwester Beate seine Pflege übernehmen sollte; die vier Männer aber auch die zwei draußen Wartenden waren mittlerweile hinzugetreten dankten der Schwester Elisabeth, vor allem Aloys, der ihr das Kleid küssen wollte. Denn das Stift genoß eines großen Ansehens in Dorf und Gegend. Und nun verabschiedeten sie sich und gingen wieder auf die201 Waldstelle zu, wo das Unglück geschehen war. Hier machten sie sich, ohne langes Säumen, aufs neue an ihre Arbeit und blieben dabei bis Spätnachmittag. Erst als es mehr und mehr zu dunkeln begann, nahmen sie ihre Aexte über die Schulter und stiegen höher ins Gebirge hinauf, wo sie zwischen Brückenberg und Kirche Wang ihre kleinen Häuser hatten. An dieser Stelle, einer Waldlichtung, lag auch das Haus, drin Aloys und sein Bruder Stephan wohnten und mit ihnen ihre Mutter, ein altes hexenhaftes Weib von scharfem Gesichtsschnitt, aber doch so, daß man noch deutlich sah, sie müsse mal sehr ansehnlich gewesen sein, aus welchem Umstande sich auch die Sicherheit herschrieb, mit der sie das Haus und die beiden Söhne beherrschte.

Aloys wollte von dem Vorgefallenen erzählen, kam aber nicht weit damit. Die Alte wußte schon alles und schien mit dem Hinunterschaffen und dem Unterbringen im Stift wenig einverstanden. Anfangs indessen zeigte sich ihre Mißbilligung mehr in Mienen und Bewegung als in Worten, und erst als Aloys auf den Doctor zu sprechen kam, wurde sie heftig und fuhr dazwischen: Ja, der Doctor. Was sagt der? Oder hat er schon geschnitten?

Aloys antwortete vorsichtig und unbestimmt.

Hat er schon geschnitten? frag ich. Oder ist202 er schon mit seiner Säge drüber gewesen? Er sägt immer und sagt dabei ganz ruhig: sie merken nichts‘. Und sie merken auch nichts, und nur wenn er fertig ist, dann suchen sie nach ihrem Bein. Aber da können sie lange suchen. Und was soll einer, wenn er nicht Arm und Bein hat. Arm und Bein heißt arbeiten. Und wenn wir nicht arbeiten, dann hungern wir.

Ach, Mutter, Du machst wieder Deine Augen und redst wieder so wild. Er hat ja das Bein noch. Und der Doctor sagt auch, er wird es wohl behalten.

Er wird es wohl behalten Du Dummbart, Du Kindskopp. Siehst Du denn nich? hörst Du denn nich? Er wird es wohl behalten, das heißt, er wird es nicht behalten, das heißt, daß es schon weg ist. Und was weg ist, ist weg und wächst nich wieder, und wir müssen hungern. Warum habt Ihr ihn nicht nach Brückenberg herauf gebracht? zu Legler oben auf der Josephsbaude. Legler, der versteht es, der hilft, weil er weiß, was arme Menschen sind Und die Josephsbaude war auch näher als das Stift, und Legler ist klüger als Melchers. Legler hat die Kräuter und hat auch den Spruch, und wenn er die Kräuter auflegt, dann geht das Fieber, und den siebenten Tag fängt es203 an zu heilen und die dritte Woche, da kann er wieder verdienen Ich kann nicht mehr verdienen, ich kann nicht mehr in den Wald und Beeren suchen. Und wenn auch Timm in Seydorf zahlt blos einen Pfennig, und einen Schein muß ich auch noch haben. Warum habt Ihr ihn in das Stift gebracht? Legler ist besser, der hat den Spruch O, Du heilge Jungfrau, vergieb mir meine Sünden Und Du heilger Theobald ich will auch kommen und in Deine Kapelle beichten gehen. Und sie knixte und bekreuzigte sich vor einem an eine Ofenkachel geklebten Muttergottesbilde.

Aloys hatte wiederholentlich versucht, die Alte zu beruhigen, aber sie war nur immer heftiger geworden und hatte mit aller Bestimmtheit erklärt, sie müsse den Stephan wieder haben. Und weil sie damit fortfuhr, und Aloys, wenn er sich recht befragte, wohl auch ein gut Teil mehr an Legler als an Melchers glaubte, so war er zuletzt nachgiebig geworden und hatte versprochen, so’s irgend ginge, der Mutter zu Willen zu sein. Wir wollen sehen, Mutter, wir wollen sehen.

Und dabei war’s geblieben.

204

Um sechs war Vesper. Es hatte zu regnen begonnen und war kalt geworden. Die Dorfgasse lag in Dunkel, nur hier und da blitzte was auf, und solch schwacher Lichtschein kam auch aus einem kleinen Wirtshause, das dem Theobaldstift gegenüber lag. Um den Tisch herum saßen dieselben vier Leute, die vormittags den Verwundeten aus dem Walde heruntergeschleppt hatten. Drei davon tranken ihren Ingwer und sahen, die Beine weit vorgestreckt, stumpf und gleichgültig vor sich hin; der Jüngste aber, Aloys, war in Unruhe. Von Minute zu Minute stand er auf und starrte, während er das von Wasserdunst beschlagene Fenster putzte, nach dem Stift hinüber. Es war immer noch nicht Zeit. Endlich indessen nahm er wahr, daß die kleine Seitenpforte drüben aufging und Schwester Elisabeth heraustrat, hinter ihr ein paar andere Schwestern, zuletzt auch Schwester Beate. Sie wollten, wie jeden Abend, so auch heute zur Abendandacht und schritten auf einen überdeckten, aber an beiden Seiten offenen Gang zu, der die Verbindung mit einem daneben gelegenen Kapellchen herstellte. Nun ist es Zeit, sagte Aloys, und sofort erhoben sich alle und gingen über die Dorfstraße nach dem Stift hinüber, wo sich die drei älteren im Schatten der Eingangsthür aufstellten, während Aloys bei dem205 Bruder eintrat und ihm kurz mitteilte, weshalb sie kämen. Gott sei Dank, sagte der, daß Ihr da seid. Schwester Beate ist gut, und der Doctor ist auch gut. Aber Legler ist ihm doch über. Legler hat die Kräuter und den Spruch, und der Doctor hat blos das Messer. Und dabei hatte sich Stephan hoch aufgerichtet, und aus seinen Augen leuchtete es wie wiedergewonnene Hoffnung. Aloys seinerseits, als ihm feststand, daß der Bruder keine Schwierigkeiten machen würde, war aus der Zelle rasch in den spärlich erleuchteten Flur getreten und sah sich hier um, wie wenn er nach etwas suche. Richtig, da war es auch. Unter der Treppe, gerade da, wo gegenüber ein Lämpchen an der Wand hing, stand ein Krankenkorb, der Deckel daneben. Und nun rief Aloys die drei Kumpane heran, daß sie kommen und den Verwundeten in den Korb legen sollten; er selber aber holte noch ein paar Kissen und Decken heran, ums dem Bruder nach Möglichkeit bequem zu machen. Es half auch. Stephan lag jetzt gut gebettet, und als gleich danach auch die Tragebalken durch die hanfenen Ösen geschoben waren, setzte sich der Zug, durch Dunkel und Regen hin, in Marsch.

Gerad als es unten im Dorf acht schlug, waren sie wieder oben und traten in die mit Knieholz ge -206 heizte Stube. Die Alte hatte ihrer schon voll Ungeduld gewartet, und kaum daß sie den Deckel abgehoben, so warf sie sich neben den Verwundeten nieder und streichelte dem sie freundlich Ansehenden Stirn und Hände. Denn Stephan war ihr Liebling. Er kommt noch heut abend, sagte sie vertraulich und wie mit verklärtem Gesichtsausdruck; morgen wär es zu spät gewesen. Wollt er schneiden?

Nein Mutter, er wollte nich. Aber so sagen sie immer.

So sagen sie immer, wiederholte die Alte und nickte dazu.

Legler kam auch wirklich denselben Abend noch und nahm den Doctorverband ab, um statt seiner seine Kräuter aufzulegen, Wohlverleih und Bilsenkraut. Auf dem niedrigen Herde ging mittlerweile das Feuer nicht aus, weil der Vertrauensmann von der Josephsbaude gesagt hatte: Wärme nimmt das Fieber , und Stephan sah in die Flamme hinein und freute sich an dem Anblick und dem Knistern. Aloys aber, als er oben alles in die richtigen Wege geleitet sah, machte sich mit dem leeren Korbe wieder still nach Agnetendorf hinunter und paßte da den Zeitpunkt ab, ihn unbemerkt in den verdeckten Gang zu stellen, der vom Stift nach dem Kapellchen hin -207 überführte. Da fanden ihn am anderen Morgen die Schwestern, als sie zur Frühmette gingen.

Im ganzen Dorf aber, so sehr man die Schwestern wegen ihrer Gutthat und ihrer Frömmigkeit liebte und verehrte, freute sich alles, daß Aloys und seine drei Freunde den Stephan wieder herausgeholt und gerettet hätten. Schwester Elisabeth freilich, weil ihr alles wie Heidentum vorkam, sah ernst und mißgestimmt drein, und nur Doctor Melchers sagte vergnüglich: So sind sie. Der letzte Laborant ist tot, aber mit dem letzten Kurpfuscher hat es noch gute Wege.

208209

Der alte Wilhelm.

210211

Erst an dem Kretscham und gleich dahinter an dem katholischen Kapellchen vorbei, zieht sich, allmählich ansteigend, die Dorfstraße, von der aus kleine Seitenwege zu reizenden, inmitten von Wiesen und Feldern gelegenen und von den Fremden ganz besonders bevorzugten Sommerhäusern hinüberführen. In einem dieser Häuser, eigentlich einem ganzen Wirtschaftsgewese, das, weil es unter Birken lag, den hübschen Zunamen das Birkicht führte, war auch ich untergebracht worden und verlebte daselbst eine Reihe sehr angenehmer Tage. Was schließlich nicht Wunder nehmen durfte, weil überaus liebenswürdige Damen, alte und junge, die Mitbewohnerschaft ausmachten. Das Hauptcontingent stellte die Generalswitwe v.   W. mit ihren sieben hübschen Töchtern, deren Gatte, bez. Vater im siebentägigen Kriege gegen Österreich tapfer und ruhmreich gefallen war, leider ohne Dotation . 212Jeden Nachmittag unternahmen die von W. ’schen Damen, denen sich einige Geheimrätinnen natürlich auch Witwen und auch mit Töchtern anschlossen, ausgedehnte Partieen ins Gebirge, von denen ich mich grundsätzlich ausschloß, dafür aber das Hüteramt des Hauses übernahm, was mir hoch angerechnet wurde. Daß ich es damit sonderlich streng genommen hätte, kann ich nicht sagen. Ich setzte mich in der Regel unter eine dicht vor dem Hauseingange stehende Hängebirke, von der aus ich einem von einer Berglehne herabkommenden und unter einer kleinen Steinbrücke hinwegschäumenden Bache zusah. Ich verfiel dabei regelmäßig in Träumereien, aus denen ich immer nur auffuhr, wenn drinnen auf dem Flur die Wanduhr schlug oder einer der lang herabhängenden Birkenzweige mir in leisem Luftzuge die Stirn streifte. Kamen dann die Damen, entzückt von ihrem Ausfluge, wieder zurück, so trat ich jedesmal dienstlich an die Generalin heran und meldete: Nichts Neues vor Paris.

Eines Sonnabends saß ich auch wieder so da, das schäumende Wasser vor mir, als ich, in Entfernung von nicht viel mehr als hundert Schritt, eines alten Mannes ansichtig wurde, der, eine Karre vor sich, auf einem vom Kretscham her zwischen213 Kleefeldern sich hinschlängelnden Fußpfade herankam. Ich ging ihm ein Stückchen Weges entgegen und trat dann, als ich nah an ihn heran war, bei Seit, um ihn bequemer an mir vorbei zu lassen. Dabei begrüßten wir uns. Was auf der Karre lag, war nicht viel: ein Bettsack und darüber ein zweites kleineres Bündel, drin anscheinend einige Kleidungsstücke zusammengeschnürt waren. Eine Meerschaumpfeife mit Silberbeschlag und eine ziemlich abgebrauchte Bürste waren zuletzt noch dicht unter dem Knoten mit eingeschoben worden. Als Abschluß und Krönung des ganzen aber balancierte noch ein etwas zugespitzter Cylinderhut auf dem oberen Bündel. Der Alte selber war sauber, wenn auch ärmlich gekleidet, und was am meisten auffiel ohne Kopfbedeckung. Er fuhr, wie jemand, der Bescheid weiß und außerdem ein Recht hat, ruhig auf das Birkicht zu, passierte den Brückenbogen und lenkte gleich dahinter auf eine rechtwinklig zu dem Wohnhause stehende Scheune hinüber, in deren offen stehendes Thor er mit einer geschickten Wendung einbog. Sein Gebahren, weil in allem den Stempel des Zuständigen tragend, erfüllte mich mit so viel Vertrauen, daß ich es mit meinem Hüteramt für durchaus vereinbar hielt, auf jede weitere Kontrolle zu verzichten und meine Schritte nach dem Kretscham214 hinauf zu lenken, wo ich hoffen durfte, gute Gesellschaft zu finden. Das war denn auch der Fall. Ich blieb da bei Skat und Bier, bis elf Uhr heran war, und als ich, unter glitzerndem Sternenhimmel, in meine Behausung zurückkehrte, schlief schon alles.

Wie der Letzte zu Bett, so war ich natürlich auch der Letzte wieder auf und durfte mich, als ich endlich auf dem von Birken überschatteten Vorplatz erschien, nicht sonderlich wundern, von seiten der Wirtin zu hören, es sei schon alles ausgeflogen, nach Agnetendorf hinunter, in die Kirche die gnäd’gen Fräuleins schon gleich nach sieben. Ich nickte nur wie bestätigend dazu, weil ich von andern Sonntagen her wußte, wie die Fräuleins zu dieser Frage standen. In die Kirche gehen, war korrekt und standesgemäß und schickte sich für Adlige; Nicht-Adlige mochten faul sein und schlafen. Und die Fräuleins hatten darin ganz recht.

Es war ein wunderschöner Morgen, warm und frisch zugleich, denn es wehte leise vom Gebirge her. Der Kaffee wurde mir gebracht; dann ging auch die Wirtin, und ich machte mich schon auf eine mehrstündige Vormittagseinsamkeit gefaßt, als ich plötzlich aus dem blos angelehnten Scheunenthore denselben Alten heraustreten sah, der gestern, mit den zwei Bündeln auf seiner Karre, seinen Einzug215 an eben dieser Stelle gehalten hatte. Freilich kam mir auch wieder ein Zweifel, ob er’s sei, so sehr verändert war alles in seiner Erscheinung. Er trug ein schneeweißes Hemd, den Hemdkragen vatermörderartig aufgeklappt, trotzdem ihm jede Steife fehlte, dazu weiße Strümpfe mit Schuh, hechtgraue Kniehosen und einen blauen Frack mit Sammetkragen und blanken Knöpfen. Als er beim Heraustreten mich gewahrte, zog er sehr artig, aber doch mit erkennbarer Rücksicht auf die Krempe, seinen Hut und setzte sich dann auf eine mehr als primitive Bank, ein auf zwei Holzpfähle genageltes Stück Brett, dicht neben der Scheune. Hier sog er die Wärme mit vielem Behagen ein, zugleich unter sichtlichem Interesse den Hühnern zusehend, von denen einige sich Erdlöcher gemacht hatten, während andere drüben auf der Kleewiese spazieren gingen.

Guten Tag, sagte ich und rückte mit meinem Gartenstuhl etwas näher an ihn heran.

Guten Tag, Herr.

Warm heute.

Ja, warm. Aber immer noch nicht genug. Der Roggen braucht noch Sonne und unsereins auch.

Ich bin mehr für Schatten.

216

Ja, das machen die Jahre. Wenn man erst alt ist

Bin ich auch.

Aber nicht so wie ich

Na, wie alt denn Alterchen?

Achtzig.

Ja, da sind Sie mir ein Stück vor. Wollen wohl auch noch in die Kirche?

Nein, ich sitze blos hier und höre die Glocken gehen. Jetzt läuten sie das dritte Mal. Das ist so meine Andacht. In meinem Alter

Ja, da will’s nicht mehr recht, wenn man auch dicht an der Kanzel sitzt. Man hört nicht mehr alles Und die Predigt ist auch meistens zu jung.

Ja, wenn man alt ist, ist alles zu jung.

Ich lächelte, was ihm, so gut es ging, mein Einverständnis ausdrücken sollte, und ging dann auf eine nach der andern Seite hin gelegene Jelängerjelieber-Laube zu, die mir als Specialbesitz gehörte. Da wollt ich einen Brief schreiben und die Zeitungen lesen.

Als ich damit geendet hatte, belebte sich’s wieder um mich her. Die Kirche war aus, und die Wirtin[,]217die als Erste zurück war, trat auf den Vorplatz hinaus, um das Kaffeegeschirr wegzuräumen, das noch auf verschiedenen Tischen umherstand.

Da haben Sie ja, liebe Frau Meergans, einen neuen Gast im Hause. Ich hab ihn gestern schon mit der Schubkarre kommen sehen. Wer ist denn der Alte?

Das ist der alte Wilhelm.

Ein freundlicher alter Mann. Und er sagt, er sei achtzig.

Das ist er auch. Vielleicht noch ein paar Jahre mehr.

Ich kann mich nicht recht in ihm zurecht finden. Schon gestern, in seiner Jacke, fiel er mir auf. Und nun gar heute. Wie kommt er nur zu dem blauen Frack und zu all dem andern?

Ich weiß nicht. Als wir vor funfzehn Jahren aus dem Böhmischen herüberkamen und das Haus hier kauften, da war er schon im Dorf. Und er trug auch schon Sonntags den Frack und den spitzen Hut, und sah auch ebenso alt aus wie jetzt. Aber das mag täuschen; wenn man selber jung ist, erscheinen einem die Leute so alt, als könnten sie nicht älter werden.

Und der alte Wilhelm heißt er?

Ja.

218

Und wie sonst noch?

Das weiß keiner. Vielleicht, daß es Schlächter Klose weiß, der der älteste hier ist und wohl schon Gerichtsschulze war, als der alte Wilhelm hierher kam. Wir fragen nicht gern, was einer war und woher er kommt. Und die meisten hier herum sind selber Neue und wissen noch weniger als wir.

Er macht den Eindruck, als ob er bessre Tage gesehen hätte.

Ja, so sieht er aus. Auch Alltags, wenn er seine Flickenjacke trägt. Aber ich glaub es nicht. Daß er, was ich zugebe, so nach ’was aussieht, und sich so hält, als wär es was mit ihm, das, glaub ich, macht blos der Frack und der Hut, und die sollen ein Erbstück sein, das ihm einer, den er treulich zu Tode gepflegt, aus Dankbarkeit hinterlassen hat. Er hat auch mal, so viel hab ich gehört, eine kleine Baude gehabt, hier oben, nicht weit von der Anna-Kapelle; aber es ging nicht damit, und er kam herunter. Und nun ist er ein Ortsarmer.

Da muß er aber doch in ein Armen - oder Siechenhaus.

Ja, das mag in der Stadt so sein. Aber nicht hier. Wir sind eine arme Gemeinde; wo soll da ein Gemeindehaus herkommen, wenn’s der Graf219 nicht baut oder der Kreis. Und am Ende wozu auch! Er ist ja der einzige Arme, den wir hier haben, und den füttern wir so mit durch. Bei jedem im Dorf, der ein Haus oder eine Kathe hat, ist er eine Woche, von einem Samstag bis zum andern. Immer mit der Betglocke zieht er mit seiner Karre ab und kommt er an. Und jeder freut sich, wenn er kommt. Denn er hat ein frommes Gemüt und spielt mit den Kindern und wiegt sie ein. Er ist überhaupt selber wie ein Kind und mit jedem Platz zufrieden und wenn’s die platte Erde wäre. Da legt er sich seinen Strohsack zurecht und sein Deckbett darüber, und am Morgen schnürt er’s wieder zusammen oder schiebt es bei Seit. Und was er genießt, ist nicht der Rede wert; Jeder giebt es ihm gern, ein bißchen Kaffee mit Brot und Milch. Und eine Kartoffel mit Speck ist schon was Großes.

Ich glaube doch, daß noch was dahinter steckt. Er sieht eigentlich aus, als wäre er von Adel und wäre ’mal was ganz Feines gewesen. Gerade, wer es besser gehabt hat, der verlangt am wenigsten und ist mit allem zufrieden.

Ja, das soll schon sein. Aber ich glaub es nicht recht. Und es kann auch eigentlich nicht sein. Denn er hat bei seiner Arbeit ganz die Hantierung220 wie wir, die wir uns von Jugend an mit Axt und Spaten haben quälen müssen. Er kann Holz spalten und Schindeln machen, und wenn eine Kiste kaput geht, so nagelt er sie wieder zusammen, ganz so wie wir, und wo Kühe sind, da geht er in den Stall und kann auch melken. Er hat keine rechte Kraft mehr, aber es geht doch.

Das alles kann auch einer lernen, der nicht immer dabei war.

Ja, aber man sieht doch den Unterschied, wenn einer so blos dazu gekommen. Er ist nun die nächsten acht Tage hier, da können Sie ja sehen, wie er’s macht. Und Sie werden bald finden, daß er kein gewesener Prinz ist. Er ist einfältig

Das ist das Alter.

Nein, das ist seine Natur. Als wir herüberkamen, war er schon ebenso.

Zu meinen Untugenden gehört auch ein Stück Eigensinn, und so wollt ich nicht recht glauben, was mir die Wirtin gesagt hatte. Da steckt doch noch was dahinter, bei diesem Satze blieb ich und legte mich, weil seine ganz ausgesprochene Schlichtheit meinen Glauben eher stärker als schwächer werden ließ, auf ein Beobachten seines Thuns, das ein beständig wechselndes und ziemlich mannigfaches war. 221Aber auch damit kam ich nicht weit. Er harkte das Heu auseinander, wenn es trocknen sollte, und harkte es wieder zusammen, wenn es trocken war; er machte Botengänge nach Agnetendorf hinunter oder nach Kirche Wang hinauf, und saß, wenn man ihn nicht abrief, an einer auf der Scheunendiele stehenden Hobelbank, um da alles wieder in stand zu setzen, was zerbrochen oder irgendwie reparaturbedürftig war. Ein Topf Milchkaffee stand meist neben ihm, von dem er übrigens mehr nippte als trank. Die sieben Fräuleins waren viel um ihn her und suchten ihn in kirchliche Fragen zu verwickeln, denen er immer klug auswich. Das gab es noch nicht, als ich jung war, oder das ist nichts mehr für meinen alten Kopf, das waren so seine Lieblingsantworten, und weil er sie meist mit einem artigen und feinen Lächeln begleitete, fiel ich immer wieder in die Vorstellung seiner Vornehmheit oder einer mal von ihm gespielten Gesellschaftsrolle zurück. Schließlich indes konnt ich mich gegen die Wahrnehmung nicht wehren, daß ein paar bloße Zufälligkeiten mich irre geführt hätten, und als der nächste Samstag zur Rüste ging und der alte Wilhelm mit seinem Bettsack und Kleiderbündel unter freundlichem Gruß wieder an mir vorüberfuhr, genau denselben Schlängelpfad hinauf, den er die Woche vorher222 herabgekommen war, da wußt ich mit jeder erdenklichen Sicherheit, daß er wirklich nichts andres war als ein Ortsarmer, der mal, genau so wie mir’s die Wirtin gesagt, einen blauen Frack und einen zugespitzten Hut geerbt hatte. Die Sonne ging über dem Kretscham in aller Pracht unter, und während er da hinauffuhr, dem Anscheine nach immer mehr in die glührote Scheibe hinein, da kam mir die Frage: was ist Größe? was ist das Ringen danach? Ist das Leben dieses Einfältigen nicht eigentlich beneidenswert? Arbeitsfroh bis zuletzt, eine Freude der Alten, eine Freude der Jungen. Und im Herzen ein Stück eigenartigen kleinen Glücks: der Frack und der Hut und die Kanne Milchkaffee zwischen den Hobelspänen.

223

Professor Lezius oder Wieder daheim.

224225

Der alte Professor Lezius, in seinen jüngeren Jahren Oberlehrer an einem Realgymnasium, hatte sich, trotzdem seine Mittel nur unbedeutend waren, schon seit langer Zeit aus seinem Lehramte zurückgezogen, wobei, neben einem gewissen Freiheitshange, wohl auch der Wunsch mitgewirkt hatte, seinen zwei Lieblingsstudien ausschließlicher leben zu können, der Botanik und der Anthropologie. Letztere betrieb er, nach seinem eigenen Zeugnis, nur als Dilettant; in der Botanik aber war er Fachmann und arbeitete, seit er frei war, an einem großen Werk über die nordeuropäischen Gentianaceen. Er war dabei nicht ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz, dem ein nun schon weit zurückliegendes, in die vierziger Jahre fallendes Ereignis, eine ganz bestimmte Richtung und zwar ins Entdeckerische gegeben hatte. Damals nämlich, als er sich eines Morgens bei seinem Freunde, dem Sternwart-Assistenten Johann Gottfried Galle, be -226 funden hatte, war bei eben diesem von Paris her ein Brief eingetroffen, in dem der berühmte Leverrier an seinen Kollegen Galle folgende Worte richtete: Lieber Galle! Suchen Sie doch in der Uranusgegend weiter nach. Ich habe herausgerechnet, daß dort ein Planet fehlt, und er muß sich finden. Und siehe da, keine drei Monate drauf schrieb Galle von Berlin aus an Leverrier zurück: Cher Leverrier. Ich hab ihn. Und wirklich, die Welt hatte von dem Tag an einen Planeten mehr. Dies Erlebnis, wie schon angedeutet, war für Lezius Entwicklungsgang als Wissenschaftler entscheidend gewesen. Er suchte seitdem nach einer Brücke von Gentiana pannonica nach Gentiana asclepiadea hinüber, zwischen welchen beiden eine noch unentdeckte Species liegen mußte. Daß er diese finden und sich dadurch ebenbürtig neben seinen Freund Galle stellen würde, stand ihm so gut wie fest. Seine Frau und Tochter freilich, die beiläufig die etwas ungewöhnlichen Namen Judith und Mirjam führten, teilten diese Zuversicht nicht und gaben ihrem Zweifel auch Ausdruck, wodurch sich Lezius übrigens keinen Augenblick abhalten ließ, einerseits im Niederschreiben seines Manuscripts, andrerseits in seinen wissenschaftlichen Wanderungen fortzufahren. Auf diesen abwechselnd in die Karpathen und die Sudeten gehenden227 Studienreisen war er monatelang einsam und hatte während dieser Einsamkeitstage keinen anderen geistigen Zuspruch als den, den ihm Bastians Werke gewährten, von denen er immer den einen oder andern Band mit sich führte. Sein Stil, so viel gab er zu, ist nicht immer leicht verständlich, aber leichtverständlich‘ das kann schließlich jeder; Leichtverständlichkeit ist Kellnersache. Wer was Tiefes zu sagen hat, wird selber tief, und wer tief wird, wird dunkel. Unter Excursionen, wie die vorerwähnten, waren ihm viele Jahre vergangen, bis ihn häusliche Störungen (darunter auch persönliche Krankheit) fast ein Jahrzehnt lang an Fortsetzung der ihm ebenso zum Bedürfnis wie zur Gewohnheit gewordenen Ausflüge gehindert hatten. Erst ganz neuerdings, diesen letzten Sommer, war er nach wieder hergestellter Gesundheit zu seinem alten Programme zurückgekehrt und hatte seine Studienreisen in alter Lust und Liebe wieder aufgenommen, selbstverständlich ohne Gepäck, wenn man nicht ein zusammengerolltes, nur mit einem Minimum andrer Zuthat beschwertes Plaid als solches gelten lassen wollte. Mit Gepäck aber traf er heute, nach siebenwöchentlicher Abwesenheit, wieder in Berlin ein und zwar mit einer unterwegs erstandenen Weinkiste, darin er, von ein paar Nebensächlichkeiten abgesehen,228 den wissenschaftlichen Ertrag seiner diesmaligen Wanderung in Gestalt eines umfangreichen Herbariums untergebracht hatte.

Sechs Uhr sechs Minuten hielt der Zug in Bahnhof Friedrichstraße. Lezius liebte nicht empfangen zu werden, und so war denn auch niemand da, was ihn sichtlich erfreute. Eine graue Filzmütze auf dem stark angegrauten Kopf, einen Spatenstock in der Hand und die Botanisirtrommel en bandoulière, so stieg er die Bahnhofstreppe hinunter und empfing unten von dem Schutzmann, an den er herantrat, die Blechmarke 1727. Diese, samt Gepäckschein gab er ab, und eine Minute später rief auch schon der von ihm ins Vertrauen gezogene Kofferträger in die Droschkenwagenburg hinein 17 27 Hier! antwortete eine Hintergrundsstimme, deren Hintergrundscharakter sich durch natürliche Berliner Heiserkeit gesteigert sah. Und nun flog die Kiste auf die Droschke hinauf, Lezius kletterte nach, und fort ging es, erst in die Friedrich - und gleich danach mit scharfer Biegung in die Dorotheenstraße hinein.

Der alte Professor sah hier, so gut es ging, durch das erst nach langem Bemühen in seine Versenkung niedergleitende Fenster auf die Straße hinaus. Hm, das also war Berlin. Versteht sich,229 es mußt es sein. Was da neben ihm hin und her fuhr, das waren ja die Pferdebahnwagen, und an dem einen las er sogar: Nach dem Kupfergraben. Er nickte, wie wenn ihm nun erst alle Zweifel genommen wären, und eine kleine Weile, so sah er auch schon in eine Allee herbstlich gelber Bäume hinein, an deren Ende die Victoria, deren Profil ihn immer an Fanny Lewald erinnerte, golden aufragte. Die vergoldeten Kanonen darunter schossen noch immer in den Himmel. Es war also alles richtig. Und nun kam auch das Thor und der Tattersall, und gleich dahinter der Bismark’sche Garten ( wo er wohl jetzt ist? brummelte Lezius vor sich hin) und zuletzt erschien auch der Potsdamer Platz mit dem reitenden Schutzmann und dem Café Bellevue, wo zu dieser Stunde mehr Kellner als Gäste waren. Ein Bekannter grüßte freundlich von einem der kleinen Tische. Dann bog die Droschke noch einmal rechts ab und hielt eine Minute später vor Lezius Haus, das noch einen Vorgarten, ein sogenanntes Erbbegräbnis , hatte.

Können Sie das Gepäck nach oben schaffen?

Ja, wenn Sie bei dem Schimmel bleiben wollen.

Versteht sich; ich werde bleiben.

Und nun schob sich der Kutscher die Kiste, die seitens ihres Besitzers ziemlich euphemistisch als230 Gepäck bezeichnet worden war, auf die Schulter und schritt mit ihr auf das Haus zu, während Lezius, wie versprochen, neben den Schimmel trat, um sich durch Klopfen und Halsstreicheln der Gunst desselben zu versichern.

Er hat nicht gemuckst.

Nein, er weiß Bescheid. Man blos das Bimmeln kann er nich leiden.

Damit brach das bei Rückkehr des Kutschers angeknüpfte Gespräch wieder ab. Lezius aber sah noch einmal in die Droschke hinein, ob er nicht etwas vergessen habe (was übrigens kaum möglich war) und stieg dann unter einer gewissen Verdrießlichkeit, weil ihm das Steigen schwer wurde, seine drei Treppen hinauf. Eine Guirlande fehlte glücklicherweise, dafür aber stand die Thür weit auf, und in der Thür begrüßten ihn Frau und Tochter. Ida, das Mädchen, stand daneben.

Lezius küßte Frau und Tochter und gab Ida die Hand. Das vorderste Zimmer war neu tapeziert worden und roch nach Leim. Aber der Professor ignorierte das und sagte nur: Ja, da bin ich nun mal wieder. Sehr hübsch; wirklich Habt Ihr schon Kaffee getrunken?

O, schon lange. Es ist ja schon halb sieben.

Richtig. Eigentlich eine unglückliche Zeit, zu231 spät oder zu früh. Nun, dann möcht ich wohl um etwas Sodawasser bitten. Ist doch da?

Versteht sich, Papa. Du trinkst ja immer gleich Sodawasser.

Ja, man hat so seine Gewohnheiten; jeder hat welche Na, wie geht es Euch denn eigentlich? Nichts vorgefallen? Keine Alarmierung? Und Ida, Sie waren ja wohl in Drossen. Auch überschwemmt gewesen?

Nein, Herr Professor; wir haben eigentlich blos Sumpf.

Desto besser. Ja, was ich sagen wollte, mitgebracht hab ich nichts. Was soll man am Ende auch mitbringen? Aber da fällt mir ein, eine Kiste mit Preißelbeeren, die hab ich doch mitgebracht, die wird noch nachkommen. Vielleicht morgen schon; die Leute sind übrigens ganz zuverlässig. Und das Liter blos dreißig Pfennig.

Hier kosten sie funfzehn.

Ja, das sind die gewöhnlichen. Aber meine, das heißt die, die ich mitbringe, die sind dicht um Kirche Wang ’rum gepflückt. Und ich habe den beiden kleinen Mädchen auch noch ein Trinkgeld gegeben.

Da werden sie wohl glücklich gewesen sein.

Schien mir nicht so. Sie hatten wohl mehr erwartet. Aber da fällt mir ein, daß ich doch232 was für Euch habe, nicht viel, aber doch was: ein Stehaufglas aus der Josephinenhütte und dann noch zwei Theegläser, für Dich und mich. Mirjam wird es nicht übel nehmen, daß es bloß zwei sind. Die Theegläser sind übrigens in der Botanisirtrommel.

Ida, Sie können sie herausnehmen; aber nehmen Sie sich in acht. Wir wollen heute gleich daraus trinken und können dann auch anstoßen.

Nach einer Stunde saß man beim Thee. Kinder, sagte Lezius, Euer Thee ist wirklich sehr gut, jedenfalls besser als im Gebirge. Thee ist so zu sagen Kultursache, man erkennt die Klasse daran. Ueberhaupt, ich finde es eigentlich ganz nett bei Euch. Es hat doch auch seine Vorzüge, wieder zu Hause zu sein, und wenn ich recht höre, rufen sie grad ein Extrablatt aus. Giebt es denn noch immer welche?

Gewiß Lezius. Aber es steht nie was drin; Du wirst sehr enttäuscht sein.

Ganz unmöglich. Ich kann nicht enttäuscht sein. Ich will blos mal wieder sehn, wie ein Extrablatt aussieht Aber mißversteh mich nicht, wenn Ida keine Zeit hat

Ich bitte Dich, Lezius natürlich hat sie Zeit. Ida, gehen Sie nur und holen Sie das233 Blatt Uebrigens ist der Schulrat Rönnekamp gestern gestorben, gestern abend.

Ist er? Schade. Thut mir leid. Und sehr alt kann er noch nicht gewesen sein. Er lief immer wie’n Wiesel, jeden Tag seine drei Stunden; ich bin ihm noch, eh ich reiste, beim Neuen See begegnet. Aber das Rennen, so viel ich davon halte, es hilft auch nichts; wenn der Sand durch ist, ist er durch Und gestern abend erst, sagst Du Na, Kinder, heute werd ich auch nicht alt; ich weiß nicht recht, woran es liegt, aber es ist so im Gebirge war ich immer frisch, ordentlich ein bischen aufgeregt, natürlich nicht sehr, aber doch bemerkbar, und hier in Berlin bin ich gleich wieder matt und schlaff. Freilich, wo soll es auch herkommen! Ist denn noch Kunstausstellung?

Ach, Papa die Kunstausstellung ist ja lange vorbei.

Na, das ist recht gut. Ohne Brille geht es nicht und mit Brille strengt es an. Und eigentlich versteht man doch nichts davon. Das heißt, ein bißchen versteht man schon. Weißt Du noch, wenn ich immer in Italien sagte: Judith, das hier, das ist ’was. Und dann war es auch immer was.

234

[ Lezius], wenn er von der Reise kam, so viel wußte seine Frau von alten Zeiten her, holte den im Gebirge versäumten Nachtschlaf tapfer nach; er schlief denn auch diesmal wieder bis in den hellen Tag hinein.

Soll ich ihn wecken, Mama? fragte Mirjam.

Nein Kind, er muß ausschlafen; da kommt er am ehesten wieder zu sich.

Also, Mama, Du findest doch auch

Freilich find ich. Aber es hat nichts auf sich. Dein Vater war immer abhängig von dem, was ihn umgab. Ist er hier, so geht es ganz gut, oder doch beinah ganz gut, aber in einem wilden Lande verwildert er. Er ist ein bißchen verwildert.

Es ängstigt mich doch, Mama.

Nicht nötig. Du weißt das nicht so, weil er jetzt ein paar Jahre nicht fort war. Aber ich weiß Bescheid, ich kenn ihn, und wenn er erst wieder bei Huth war und seine Herren‘ getroffen und bis Zwölf seinen Brauneberger getrunken hat, dann ist er bald wieder in Ordnung.

Lezius kam sehr spät zum Kaffee.

Sollen wir Dir frischen machen? fragte seine Frau.

235

Nein, Judith, es ist nicht nötig. Er kann doch am Ende blos kalt sein, und kalt schadet nichts; wenn er nur Kern hat. Auf den Kern kommt es an. Im Gebirge war er immer ohne Kern. Das ist das Gute, daß man sich draußen nicht verwöhnt Ist denn Virchow schon wieder zurück?

Ich glaube nicht.

Na dann hab ich nichts versäumt. Ohne sein Präsidium ist keine Sitzung oder doch nicht leicht. Und nun will ich in den Tiergarten und sehen, ob noch alles beim alten ist Die Stühle stehen doch noch?

Gewiß, gewiß.

Und damit erhob sich Lezius, um seinen Vormittagsspaziergang anzutreten.

Als er nach geraumer Zeit wieder nach Hause kam, sah er, daß frische Blumen in der Blumenschale lagen; seine Frau saß auf dem Sofa, die Tochter neben ihr auf einer Fußbank. Sie hatten eben wieder über ihn gesprochen.

Nun, Lezius, wie war es?

O ganz gut. Ich habe da, gerade wo der Weg zu Kroll führt, wohl eine Stunde lang gesessen. Alles für fünf Pfennig. Es ist doch wirklich sehr billig, fast noch billiger als in Schlesien.

Nun ja, billig ist es.

236

Und dann bin ich, auf Bellevue zu, die Zeltenstraße hinunter gegangen, wobei sich’s glücklich traf, daß mir eine Semmelfrau begegnete. Denn ich hatte meine Semmel vergessen

Aber Lezius, Du wirst doch keine Semmelfrausemmel essen!

Nein, nein, ich nicht. Es war ja nur, weil ich schon an meine Lieblinge dachte, oder wie man auch wohl sagt meine Protegés. Und da bin ich denn auch gleich die Querallee hinauf bis an die Rousseau-Insel gegangen, wo sie immer auf - und abschwimmen. Und als ich mich da gesetzt hatte, mußt ich, ich weiß eigentlich nicht warum, gleich an die Große Teichbaude denken und auch an den Großen Teich.

Ja daneben können wir freilich nicht bestehen, und am wenigsten die Rousseau-Insel.

Eigentlich nicht. Aber dafür haben wir hier die Enten; die fehlen da. Und da hab ich denn auch gleich meine Semmel verfuttert und muß Euch sagen, es war eigentlich das Hübscheste, was ich bis jetzt hier gesehen. Das Allerhübscheste aber war, neben mir stand ein kleines Mädchen, die konnte nicht weit genug werfen, und so kam es, daß ihre Semmelstücke nicht ins Wasser fielen, sondern immer auf den Uferrasen. Und da hättet Ihr nun die237 Sperlinge sehen sollen, die gerade zu Häupten in einer alten Pappel saßen. Wie ein Wetter waren die darüber her und jagten sich die Krümel ab. Es ist doch merkwürdig, wie die Sperlinge hier alles beherrschen! der Sperling ist wie der richtige Berliner, immer pickt er sich ’was weg und bleibt Sieger. An der Großen Teichbaude gab es, glaub ich, gar keine Sperlinge. Dafür standen da freilich die Gentianen wie ein Wald, alles blau und weiß Aber zuletzt, es geht hier auch Virchow, so viel hab ich im Boten aus dem Riesengebirge‘ gelesen, soll ja diesen Sommer wieder allerhand Schädel ausgemessen haben, noch dazu Zwergenschädel aus Afrika Ja, das muß wahr sein, daß ich die Anthropologische habe, das ist doch ’was. Das hilft einem ein gut Stück weiter.

Aber Lezius, veranschlagst Du uns denn gar nicht?

O, versteht sich; versteht sich, veranschlag ich Euch.

Mutter und Tochter sahen einander an.

Ihr glaubt es wohl nicht recht? Wahrhaftig, ich veranschlage Euch Ich muß mich nur erst wieder zurecht finden.

238

Inhaltsverzeichnis.

Seite
Modernes Reisen1
Nach der Sommerfrische17
Im Coupé37
Der Karrenschieber von Grisselsbrunn55
Eine Frau in meinen Jahren65
Onkel Dodo81
Wohin129
Auf der Suche155
Eine Nacht auf der Koppe167
Der letzte Laborant179
Gerettet197
Der alte Wilhelm209
Professor[ Lezius] oder: Wieder daheim223
239
〈…〉〈…〉

About this transcription

TextVon vor und nach der Reise
Author Theodor Fontane
Extent241 images; 36260 tokens; 8157 types; 238414 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Georg-August-Universität Göttingen, Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe (GBA)Note: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin).Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2014-01-22T15:28:28Z Frederike NeuberChristian ThomasNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2014-01-22T15:28:28Z Wikimedia CommonsNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2014-01-22T15:28:28Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationVon vor und nach der Reise Plaudereien und kleine Geschichten Theodor Fontane. Walter Hettche, Gabriele Radecke (eds.) 2. Auflage. F. Fontane & Co.Berlin1894.

Identification

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. Berlin 2007 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd. 19]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin).Anmerkungen zur Transkription:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet;Druckfehler: stillschweigend korrigiert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert;Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet;Kustoden: nicht gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Silbentrennung: aufgelöst;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Zeilenumbrüche markiert: nein.Auslassungszeichen im Text werden einheitlich als U+2026 <…> (HORIZONTAL ELLIPSIS) wiedergegeben.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T13:32:58Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported (German) License.

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Shelfmark
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