PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit
Rudolph Gottschall.
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Breslau,Verlag von Eduard Trewendt. 1858.
RIIRIII

Vorwort.

Wollte man vielseitigen Versicherungen glauben, so wäre eine Aera des Materialismus hereingebrochen, in welcher die Poesie sich mit einer vollkommen untergeordneten Rolle begnügen müßte. Nichts würde in diesem Falle überflüssiger sein, als eine Poetik zu schreiben, da selbst diejenigen, denen die dichterische Muse noch einige Theilnahme abzuschmeicheln vermöchte, ihr Jnteresse nicht auf die Kenntniß jener Gesetze ausdehnen würden, welche das dichterische Schaffen regeln. Doch nach unserer Ueberzeugung ist die Lebenskraft der Poesie zu groß, als daß die vorübergehende Ungunst der Zeit sie ersticken könnte. Jm Gegentheil, hat eine neue Kulturepoche begonnen, so beginnt sie auch für die Poesie, und es ist nöthiger als je, auch auf ästhetischem Gebiete das Bleibende vom Vergänglichen zu sondern, damit die Dichtkunst nicht im Joche veralteter Regeln seufze, sondern neue Bahnen einschlage, auf denen sie die Lorbern der Zukunft erreichen kann. Sie hat dies zum Theil gethan, aber ohne von einer wissenschaftlichen Aesthetik gewürdigt zu werden, welche diesen neuen Aufschwung nur mit verdrossener Miene betrachtete. Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine specielle technische Poetik erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen, die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte und, nach den ewigen Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neuern Erscheinungen nachzuweisen versuchte, die von einer vorurtheilsfreien Aesthetik verdammt werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen vertauschten.

Zu einem solchen Unternehmen dürften meine schwachen Kräfte gewißRIV nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen, mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente Poetik, welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst, der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.

Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse, und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der Fall, in welcher alle Feinheiten der dichterischen Technik zur SpracheRV kommen müssen. Ganz abgesehn von Horaz, Vida und Pope hat unsere Aesthetik nicht durch unsere klassischen Dichter, durch Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, die wesentlichste Fortbildung erhalten? War es nicht der innige Zusammenhang mit der Produktion, der sie selbst erst in neue Bahnen führte? Und haben unsere neuen ästhetischen Systematiker viel mehr gethan, als jene genialen Aperçus der Dichter in eine wissenschaftliche Form zu bringen und durch logischen und metaphysischen Kitt niet - und nagelfest zu machen? Niemand wird leugnen wollen, daß die Kritik ein wesentliches Moment des dichterischen Schaffens ist! Welche Kritik muß der Dichter schon bei Erfindung eines Plans ausüben, wieviel verwerfen, sichten, neuschaffen, welchen Scharfsinn erfordert die konsequente Durchführung der Charaktere, die logische Entwickelung der Handlung! Jedes fertige Werk steht gleichsam auf einem Schutt von Planen, Motiven, Fragmenten, der in der Werkstatt des Dichters zurückgeblieben. Der Dichter hat sich selbst hundertmal kritisirt, ehe ihn sein Kunstrichter einmal beurtheilt. Und sollte, bei aller Begeisterung, die ihn treibt, dem Poeten bei dem Einschlagen neuer Richtungen, dem Schaffen neuer Formen das volle Bewußtsein über seinen Weg und sein Ziel fehlen? Ein Dichter ist daher gewiß mehr als der bloße Theoretiker befähigt, einen lebensvollen und nutzenbringenden Kanon der Dichtkunst zu entwerfen.

Obgleich ich mich schon lange mit diesem Plan trug und auch den Entwurf des Werkes schon ausgearbeitet hatte, so wartete ich doch das Erscheinen des letzten Heftes der umfangreichen Vischer'schen Aesthetik ab, welches die Dichkunst behandelt, um mich zu überzeugen, ob diese Arbeit nicht die meinige überflüssig mache. Doch der Aesthetiker, der die einzelnen Künste nur in den Bau seines ganzen Systems hineinarbeitet, hat immer mehr ihre allgemeine Seite im Auge und kann sich nicht mit dem erforderlichen Behagen in die Einzelnheiten der Technik versenken, nicht die Physiognomie einzelner Werke und Dichter mit jener LebendigkeitRVI ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt! Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall die Lehre von der Dichtkunst ist reich an jenen philosophischen Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik Vischer's allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist, auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten Rosenkranz: die Poesie und ihre Geschichte und dem des geistvollen Carrière: das Wesen und die Formen der Poesie, indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche, sondern auch nur die konsequente Betonung des modernen Princips für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der Tech -RVII nik, besonders der Lehre von den Bildern und Figuren und einzelnen Versarten, und durch die eingehende Berücksichtigung der Poesie der Gegenwart andere und neue Elemente in mein Werk aufgenommen. Die Ansicht, die ich bereits als Literarhistoriker in meinem Werke über die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts ausgesprochen, daß es die Aufgabe der neuern Poesie sei, den modernen Geist aus der jungdeutschen Gährung, Zersplitterung und Formlosigkeit heraus in Kunstwerke von fester schöner Form und echtem Adel zu retten, suche ich hier für die einzelnen Formen der Dichtkunst zu beweisen, indem ich dabei manche mit Unrecht vernachlässigte und nicht an und für sich, sondern nur durch ihren früheren Jnhalt antiquirte Form, z. B. Ode, Epistel, Satire u. a., wieder in Aufnahme zu bringen suche.

Es konnte mir nicht darauf ankommen, die allgemeinen Grundbestimmungen der Aesthetik ausführlicher zu entwickeln. Gerade auf diesem Gebiete haben Schelling, Solger, Hegel, Weisse, Vischer, Rosenkranz, Kuno Fischer u. A. in neuer Zeit Vortreffliches geleistet. Jch konnte in faßlicher Darstellung davon nur soviel aufnehmen, als erforderlich ist, um die Stellung der Poesie im Reiche des Schönen und im Reiche der Künste verständlich zu machen. Jch wollte die Ziele meiner Poetik nicht verrücken; ich wollte mein Werk nur in die Lücke einschieben, welche jene Aesthetiker offen gelassen, indem ich eine einzelne Kunst in der Fülle ihres Details erschöpfend behandle. Freilich müssen gerade hierbei die allgemeinen Principien der Aesthetik zur vollsten Geltung kommen und ihre maaßgebende Kraft bewähren.

Wenn ich meine Poetik eine moderne nenne, so gebrauch 'ich dies Wort nur in jener Bedeutung, die ich bereits in meiner Nationalliteratur erklärt. Jch verlange von der Poesie, daß sie aus dem Geiste ihrer Zeit und ihres Volkes herausdichte, wie es die Poeten des Alterthums und Mittelalters gethan; denn nur eine aus dem Leben der Gegenwart herausgeborne Poesie darf auf eine Zukunft rechnen. SoRVIII selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit, ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden, wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China, Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte ich, daß meine Poetik reformatorisch auftreten, daß sich Alle, welche die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere Veranlassung zu einem Zusammenhalt für Gleichstrebende gegeben zu haben! Schon die Poetiken eines Gottsched und Breitinger wirkten in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!

RIX

Weit entfernt, die Poesie des Alterthums zu verdammen oder zu ignoriren, gehör 'ich zu ihren wärmsten Verehrern, und diese Poetik mag Zeugniß dafür ablegen, ob ich in ihren Geist eingedrungen. Nicht nur daß die Wiedergeburt unserer Nationalliteratur unter den Auspicien der großen Genien des Alterthums vollzogen worden ist sie vollzieht sich noch immer, noch jeden Augenblick mit dem Hinblick auf diese großen Muster; ja sie wird ihren höchsten Aufschwung erst durch ihr vollkommenes Verständniß nehmen. Antike und moderne Poesie sind sich so wenig entgegengesetzt, daß die moderne Poesie jene nur in ihrem Wesen, statt in ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen braucht, um ihr gänzlich ebenbürtig zu werden. Das Wesen der antiken Poesie aber war ihr vollständiges Durchdrungensein vom Geiste des Alterthums, ihr vollständiges Aufgehn in der Kultur der damaligen Gegenwart möge die moderne Poesie sich ebenso vom Geiste ihrer Zeit durchdringen lassen, und sie ist besser bei den Alten in die Schule gegangen, als wenn sie den lyrischen Gedanken in Spondäen und Molossen erquetscht oder das Opfermesser der antiken Tragödinnen mit feierlicher Würde schwingt und das Blut, welches die Klytemnestren und Medeen vergossen, in ihrer dramatischen Wanne auffängt. Jch habe daher die antike und moderne Poesie in diesem Werke gleichmäßig berücksichtigt, Beispiele aus beiden nebeneinandergestellt; ich habe der modernen Poesie gleichzeitig das ehrenvolle Piedestal der antiken geben und die antike dem Verständniß der Gegenwart näherbringen wollen, indem ich nicht die himmelweite Kluft statuirte, welche die Gelehrsamkeit zwischen den alten Klassikern und den Dichtern der Gegenwart aufreißt.

Zwei Punkte mußten bei Abfassung des Werks mein Bedenken erregen: zunächst, wieweit eine Poetik das Literarhistorische berücksichtigen, und dann, wieweit sie die Mittheilung von Musterdichtungen, die Beispielsammlung, ausdehnen dürfe? Was das Erste betrifft, so kann eine Poetik unmöglich eine Geschichte der Poesie geben, ohne ihre abgesteckten GrenzenRX bei weitem zu überschreiten; aber ebensowenig ist eine durchgreifende Darstellung der einzelnen Dichtgattungen möglich ohne eine Charakteristik der hervorragenden Dichter, die sich in ihnen ausgezeichnet! Erst das lebensvoll erläuterte Dichtwerk selbst macht den Begriff der Gattung klar; den historischen Entwickelungsgang nachzuweisen, ist oft wesentlicher, als in der Luft schwebende Begriffsbestimmungen festzuhalten. Auch würde die Kenntniß der Poesie und ihrer Gattungen eine mangelhafte bleiben, wenn die Namen ihrer Hauptvertreter auf jedem Gebiete nicht genannt würden. So kam es vorzüglich auf ein richtiges Maaßhalten an und darauf, alles literarhistorische Detail abzuweisen und nur den Grundcharakter der Dichter und Dichtungen zu entwickeln. Daß ich dabei vorzugsweise die Neuzeit berücksichtigt, liegt im Plan meines Werkes; und in der That, was könnte eine Poetik nützen, welche die Dichter, die der Nation am nächsten stehn und sich in Aller Händen befinden, nicht erläutert, sondern ignorirt, sodaß die bekanntesten Werke nicht einmal in die alten Rubriken passen wollen? Jn Bezug auf den zweiten Punkt war ich fest entschlossen, meine Poetik nicht nach Gottsched's Beispiel in eine Anthologie zu verwandeln. An Blumenlesen fehlt es in neuer Zeit nicht und über das Lyrische kann überhaupt keine Beispielsammlung hinausgehn. Proben aus epischen und dramatischen Dichtungen können nie das Wesen des Epos und Drama erläutern. Auch war es nicht meine Absicht, in dieser bequemen Weise um die Gunst des Publikums zu buhlen. Solche mit sparsamem kritischem Text durchschossene Anthologieen können auf den Namen einer Poetik keinen Anspruch machen. Und wie beschränkt ist bei diesen ausgedehnten Mittheilungen doch der Dichterkreis, den sie vertreten! Wie wenig wird durch solche äußerliche Zusammenstellung, wo oben die dürftige Regel und drunter ohne weitere Vermittelung die in aller Ausführlichkeit abgedruckten Beispiele stehn, das kritische Verständniß der Dichter gefordert! Das Beispiel, das die Regel erläutern soll, muß nicht in behaglicher Breite neben sieRXI hingestellt, es muß in sie hineinverwebt werden, um sie zu beleben; es muß die schlagende Pointe der Regel in's Licht setzen helfen. Deshalb kann es nur kurz sein, nur die einzelne Stelle kann mitgetheilt werden, wo es sich um die Erläuterung eines Versmaaßes, eines Bildes u. dgl. handelt. Gilt es dagegen, die Gesetze der Komposition im Ganzen anschaulich zu machen, so ist für die Poetik die Gabe geschmackvoller Reproduktion erforderlich, welche sich nicht nur auf die gedrängte Mittheilung der wesentlichen Züge beschränkt, sondern auch durch die Art und Weise der Mittheilung zugleich die feinste Jnterpretation der Regel und des Beispiels zu geben vermag. Nur durch solche dichterische Proben und überdies durch den Hinweis auf Dichter und Dichtwerke, die dem Autor immer gegenwärtig sein müssen, und die das Publikum zur Ergänzung mangelhafter Kenntniß zur Hand nehmen und nachschlagen kann, wird eine Poetik wahrhaft lebendig gemacht, während sie zugleich ihre wissenschaftliche Würde behauptet.

Jedem Autor sollte bei Abfassung seiner Werke ein bestimmtes Publikum vorschweben, für das er schreibt! Jch bin der Ansicht, daß das Publikum, welches sich überhaupt für Poesie interessirt, einer Poetik seine Theilnahme schenken wird, welche, selbst vom dichterischen Hauch durchdrungen, das Gesetz des Schönen und seine lebendige Wirklichkeit in den Werken der Dichtung mit dem empfänglichen Sinne der Leser zu vermitteln sucht. Auch glaube ich, daß sich dies Werk durch übersichtliche Form als Handbuch für Schulen und höhere Bildungsanstalten empfiehlt. Die producirenden Kräfte der Gegenwart könnten gewiß manche Anregung, wenn nicht aus meiner Behandlung, so doch aus der Fülle des mitgetheilten Stoffes schöpfen, die Tageskritik aber feste Grundsätze, die ihr zum großen Theil fehlen und durch sonderbare, oft mit unfehlbarer Sicherheit hingestellte Behauptungen ersetzt werden. Ja wie sehr bedaure ich, daß meine Kräfte zu schwach sind, um der deutschen Kritik jenen einheitlichen Halt zu geben, dessen sie bedarf, damit unsere NationalliteraturRXII sich wieder aus einem Mittelpunkte heraus mit voller Kraft entwickele, und die Nation mit Energie in die Kreise ihrer großen Talente gebannt werde! Jetzt herrscht eine grenzenlose Verwirrung der kritischen Principien, ganz abgesehn vom Lob der Kameraderie und den verschiedenen Aeußerungen der Parteiwuth; große Talente werden durch kleinlich mäkelnde Beurtheilung auf das Niveau der Mittelmäßigkeit herabgedrückt, der Glauben an die dichterische Kraft der Gegenwart durch die grundlosesten Behauptungen erschüttert. Kein kritisches Organ hat einen unbedingt konangebenden Einfluß; keins nimmt auf das andere Rücksicht; keine Association der Kräfte ersetzt an Macht, was dem Einzelnen fehlt! Und doch kann auch kein Einzelner eine Poetik schaffen, welche als gesetzgebender codex auch nur für eine Majorität anerkannte Gültigkeit hätte! Wie weit bin ich von solcher Anmaßung entfernt! Nur ein solches Werk anzubahnen, ist mein Bestreben, indem ich die dichterische Arbeit des Zeitgeistes selbst zu seiner Grundlage mache und als ihr Jnterpret auftrete, statt eine willkürliche Diktatur nach selbsterfundenen Regeln auszuüben. Und nur wenn die Poesie der Gegenwart anerkennt, daß ich für ihre Bestrebungen und Leistungen die richtige Formel gefunden: dann ist meinem Werk ein gewisser Halt verliehn und eine weiter zeugende Lebenskraft; dann wird es sein Scherflein dazu beitragen, daß die blinde Willkür kritischer Diktatoren nicht mehr begründeten Ruhm verdunkeln und das Publikum irreführen kann, daß die Phrase als Phrase gebrandmarkt wird, die Dichtkunst auf sicheren Bahnen nach festen Zielen ringt und die Nation erkennen lernt, was sie an ihren Dichtern hat!

So möge dies Werk denn hingehn, und wenn es nur die Theilnahme der Leser für die Poesie, besonders für die moderne erweckt und wachhält, so ist es nicht umsonst geschrieben worden, mögen auch alle höheren Ziele, die mir lockend vor der Seele schwebten, an der Unzulänglichkeit meiner Kraft gescheitert sein!

Rudolph Gottschall.

RXIII

Jnhalt.

  • Seite
  • Einleitung. Geschichte der Poetik1
  • Erste Abtheilung. Begriff und Wesen der Dichtkunst.
    • Erstes Hauptstück. Die Poesie im System der Künste.
      • Erster Abschnitt. Das Schöne und die Kunst21
      • Zweiter Abschnitt. Die Dichtkunst29
      • Dritter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Malerei36
      • Vierter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Musik48
      • Fünfter Abschnitt. Die Poesie und die Prosa57
    • Zweites Hauptstück. Der Geist der Dichtkunst.
      • Erster Abschnitt. Die dichterische Stoffwelt68
      • Zweiter Abschnitt. Die productive Phantasie85
      • Dritter Abschnitt. Jdealismus und Realismus98
      • Vierter Abschnitt. Der Dichter und der Zeitgeist103
      • Fünfter Abschnitt. Das dichterische Kunstwerk109
    • RXIV
    • Seite
    • Drittes Hauptstück. Die Technik der Dichtkunst.
      • Erster Abschnitt. Das dichterische Wort128
      • Zweiter Abschnitt. Bilder und Figuren148
        • A. Bilder. 150
          • 1. Die Vergleichung150
          • 2. Die Metapher155
          • 3. Die Personifikation162
          • 4. Die Hyperbel168
          • 5. Die Metonymie172
        • B. Figuren174
      • Dritter Abschnitt. Ueber den Gebrauch des bildlichen Ausdruckes184
      • Vierter Abschnitt. Vers und Reim198
      • Fünfter Abschnitt. Die vorzüglichsten Versmaaße209
        • 1. Das trochäische Versmaaß209
          • a. Die trochäische Dipodie210
          • b. Dreifüßige Trochäen210
          • c. Vierfüßige Trochäen211
          • d. Fünffüßige Trochäen213
          • e. Sechs - und siebenfüßige Trochäen214
          • f. Der trochäische Tetrameter214
        • 2. Das jambische Versmaaß214
          • a. Die jambische Dipodie216
          • b. Der drei - und vierfüßige Jambus216
          • c. Der fünffüßige Jambus218
            • α. Das Sonett220
            • β. Die Stanzen, die ottave rime222
            • γ. Die Terzine224
          • d. Der sechsfüßige Jambus225
            • α. Der Trimeter225
            • β. Der Alexandriner226
          • e. Der achtfüßige Jambus. (Tetrameter.) 227
        • 3. Das daktylische Versmaaß228
          • α. Zwei - und mehrfüßige Daktylen228
          • β. Der Hexameter229
          • γ. Der Pentameter231
        • 4. Das anapästische Versmaaß232
          • a. Die anapästische Dipodie232
          • RXV
          • Seite
          • b. Der vierfüßige Anapästus232
          • c. Der achtfüßige Anapästus (Tetrameter). 233
      • Sechster Abschnitt. Altdeutsche, antike, orientalische Strophen234
        • 1. Die Nibelungenstrophe234
        • 2. Antike Strophen236
          • a. Die alcäische Strophe238
          • b. Die sapphische Strophe239
          • c. Die asklepiadäischen Verse240
          • d. Die großen Odenstrophen241
        • 3. Orientalische Versarten243
          • a. Die Gaselen243
          • b. Die Makâmen244
  • Zweite Abtheilung. Die Formen der Dichtkunst.
    • Eintheilung247
    • Erstes Hauptstück. Die Lyrik.
      • Erster Abschnitt. Wesen der Lyrik248
      • Eintheilung der Lyrik271
      • Zweiter Abschnitt. Die Lyrik der Empfindung: Das Lied272
        • 1. Das Volkslied und Kunstlied281
        • 2. Die Ballade285
        • 3. Das erhabene und komische Lied288
      • Dritter Abschnitt. Die Lyrik der Begeisterung: Die Ode289
        • 1. Die Hymne295
        • 2. Die eigentliche Ode298
        • 3. Die Dithyrambe300
      • Vierter Abschnitt. Die Lyrik der Reflexion: Die Elegie302
        • 1. Die klassische Elegie315
        • 2. Romanische und orientalische Formen319
        • 3. Die moderne Reflexionspoesie322
    • Zweites Hauptstück. Die epische Dichtung.
      • Erster Abschnitt. Wesen des Epos327
      • Zweiter Abschnitt. Die Volksepopöe344
      • RXVI
      • Seite
      • Dritter Abschnitt. Das Kunstepos356
        • 1. Das historische Epos359
        • 2. Das romantische Epos364
        • 3. Das religiöse Epos367
        • 4. Das komische Epos369
      • Vierter Abschnitt. Die dichterische Erzählung371
        • 1. Die strengepische Erzählung372
        • 2. Die didaktisch-epische Erzählung374
          • a. Die Fabel374
          • b. Die Parabel375
        • 3. Die lyrisch-epische Erzählung376
      • Fünfter Abschnitt. Der Roman und die Novelle378
        • 1. Der historische Roman387
        • 2. Der Zeitroman390
        • 3. Das Märchen und die Novelle394
      • Sechster Abschnitt. Das didaktische Gedicht397
        • 1. Das Epigramm398
        • 2. Das Lehrgedicht400
        • 3. Die Satire402
        • 4. Die Epistel403
    • Drittes Hauptstück. Die dramatische Dichtung.
      • Erster Abschnitt. Wesen und Begriff des Drama405
      • Zweiter Abschnitt. Die Technik des Drama420
      • Dritter Abschnitt. Die Tragödie434
      • Vierter Abschnitt. Das Lustspiel, das Schauspiel und die Posse455
        • 1. Das idealistische Lustspiel459
        • 2. Das realistische Lustspiel464
          • a. Das Jntriguenlustspiel466
          • b. Das Charakterlustspiel468
        • 3. Das historische Lustspiel471
E1

Einleitung. Geschichte der Poetik.

Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische Regel überkamen.

Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild des Sohns der Morgenröthe unter den egyptischen Mimosen bei den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den Berührungen des Göttlichen ertönte, welche es in ihren Schöpfungen kaum zu organischer Gliederung brachte, dazu geeignet, ein klares Bewußtsein in Bezug auf die Gesetze des Schönen wach zu rufen. Erst als in Hellas die Kunst ihre klassische Blüthe erreicht, ja schon wieder hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.

Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker zur Poesie. Der dichterische Plato wollte die Dichter aus seiner vollkommenen Republik verbannen, weil sie lügen und verkehrte Vorstellungen verbreiten; der nüchterne, streng logische Aristoteles erwies der Poesie die Ehre, sie in einem Werke von drei Büchern, von denen uns leider! nur eins im Auszuge erhalten ist, einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus, daß die ganze Platonische Weltanschauung und besonders seine Politik mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine besondere Stätte übrig blieb. Gleichwohl hat Plato über das Wesen des Schönen die tiefsten Ahnungen gehabt, sowie Aristoteles die Grundsätze2 der einzelnen Dichtgattungen mit einer noch für den heutigen Tag kanonischen Richtigkeit auseinandersetzte. Mit Plato's genialen Anschauungen beginnt die Aesthetik, mit den scharfen Begriffsbestimmungen des Aristoteles die Poetik. Unter der Platane, die über den herrlichen Sprechern des Phädros rauschte, ist die Bedeutung des Schönen zuerst in ganzer Tiefe ausgesprochen worden. Die ewigen Jdeeen, die Urbilder der Dinge, hat der Geist schon gesehn, eh 'er in dies sterbliche Leben gebannt wurde in der gegenwärtigen Welt schaut er Gegenstände, die ihn an jene vollkommenen Urbilder erinnern, und diese nennt er schön. Das Schöne ist also nach Plato die Erscheinung einer ewigen Jdee. Jm größeren Hippias hat Plato diese geniale Anschauung in der gewohnten Weise seiner Dialektik näher zu begründen versucht. Er führt die Schönheit der einzelnen Dinge auf die Jdee der Schönheit zurück; er sondert unser Verhältniß zum Schönen von den Verhältnissen zum Nützlichen und Angenehmen; er schafft gleichsam dem Schönen einen reinen Aether für seine Bewegung und unsern Genuß. Jn der Republik, wie im Gastmahl spricht er von der Begeisterung der Dichter, welche ja in ihrer Form seiner eigenen verwandt war. Das Hineinschauen des Ewigen in die Erscheinung ist der Punkt, wo sich Dichter und Denker begegnen. Der Enthusiasmus Plato's ist die zeugende Kraft des Poeten und gleichzeitig der elektrische Funke, der durch die Kette der empfangenden Gemüther hindurchsprüht. Die Poetik des Stagiriten dagegen, soweit sie uns überliefert ist, geht wenig auf Untersuchungen über das Wesen des Schönen und den Quellpunkt der dichterischen Begeisterung ein, sondern läßt nur hin und wieder, bei der Prüfung der tragischen und epischen Dichtkunst, einige allgemeine Winke von großer Tragweite fallen. Mit Recht wird Aristoteles von Lessing der Euklides der Poetik genannt, und sein Werk ein ebenso unfehlbares, wie die Elemente des Mathematikers. Es war seine seltene Fähigkeit, auf allen Gebieten die Begriffe zu bestimmen, die Gattungen zu sondern. Alles stand scharf umrissen, klar abgegrenzt vor seinem Geiste; jede Wissenschaft erhielt unter seinen Händen eine systematische Gliederung. Jn seiner Poetik hat er die Unterschiede zwischen der epischen und dramatischen Poesie in mustergültiger Weise dargethan und in Bezug auf die letztere in den Lehren von den drei Einheiten, von der Reini -3 gung der Leidenschaften durch die Tragödie, von ihrer Verwickelung und Auflösung ein für allemal die Bahn gebrochen. Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt; die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie Lessing, legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der Nachahmung (μίμησις) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser Nachahmung ein bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel bessere Menschen, als seine Zeitgenossen, nachahmen solle*)Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι, und am Ende: δε (τραγῳδία) βελτίους μιμείσθαι βούλεται τῶννῦν. eine Stelle, aus der sich schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes nachahmen hinlänglich ergiebt noch den physikalischen Poeten (φυσιόλογοι), welche blos Natur schildern, allen dichterischen Werth absprechen.

Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker, wie Plotin und Proklus, führten nur die platonischen Jdeeen weiter aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie Longin in seiner bekannten Schrift über das Erhabene und Quinctilian, hatten nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Aperçu's, bald in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber bleibt immer der weltmännische Quintus Flaccus Horatius in seiner ars poetica, in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter Systematiker und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen4 Zusammenhang suchen, selbst davon abgesehn, daß diese Poetik in eine dichterische Form gekleidet war und der Satyren - und Epistelndichter in ihr keineswegs den Ruhm seines leichtspielenden Witzes und seiner gewandten und unterhaltenden Darstellungsgabe einbüßen wollte. Er faßt daher seine Poetik im Style einer Gastronomie ab, indem er die leckerste Zubereitung der Gerichte lehrt und dabei selbst nicht die schärfsten Gewürze seines kaustischen Witzes schont. Ueber das Wesen des Schönen und der Dichtkunst, über die Unterschiede der Gattungen, über die Begeisterung des Dichters erhalten wir keine Aufklärung, wohl aber einzelne treffliche Winke über die dichterische Technik, die sich durch ihren eleganten Lapidarstyl dem Gedächtniß einprägen. Seine Poetik erinnert selbst an jene poetische Vignette, die er in ihren ersten Versen warnend ausmalt der satyrische Fischschwanz will zum schönen jungfräulichen Antlitz der Dichtkunst, die er darstellt, nicht recht passen. Er springt von Bild zu Bild in einer meist zufälligen Jdeeenassociation und schwingt mit besonderem Behagen die Geißel des Sittenrichters über die literarischen Zustände Roms. Doch ein feiner Kopf, der so reich war an glücklichen Einfällen, wie Horaz, that auf jedem Gebiete kühne Griffe, und so finden sich auch in seiner Poetik Regeln und Bemerkungen, die nie veralten, sondern im Gegentheil durch die Zeit an innerer Kraft und äußerer Tragweite gewonnen haben. Die Poetik des Horaz fand zahlreiche Nachahmer unter geistesverwandten Poeten oder solchen, die es zu sein glaubten. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein suchten einzelne Dichter in Versen die Gesetze der Dichtkunst populair zu machen. Wir erwähnen den Cremoneser Hieronymus Vida (geb. 1507), den Poeten des Schachspiels, welcher in drei Büchern eine dichterische Gesetzgebung in Hexametern veröffentlichte. Wir finden in dieser Poetik manche treffende Bemerkung; aber das Muster des didaktischen Dichters war nicht geeignet, Vertrauen zu seinen Lehren zu erwecken. Er ist ungebührlich weitschweifig und überladen, dabei unglücklich in seinen Bildern, denen alle schlagende Kraft fehlt. Hierzu kommt seine abgöttische Verehrung für Virgil, der ihm hoch über den griechischen Dichtern steht, und aus dessen Werken allein er die Velege für seine Regeln schöpft. Dadurch verfällt er auch in die bedenkliche Einseitigkeit, alle seine Vorschriften fast nur auf die epische Dichtung zu beziehn. Was er im ersten Buche über Erziehung des Poeten5 mittheilt, gehört einer sehr trivialen Pädagogik an; im zweiten Gesang behandelt er die dichterische Erfindung und Composition nach dem Vorbilde der Aeneide; im dritten den dichterischen Ausdruck, wobei er über die charakteristische Poesie des Verses, gleichsam über den Geist des Metrums einige glückliche Bemerkungen macht*)Vidae poeticorum lib. III. v. 365 u. flgde.. Dem Beispiele eines Horaz und Vida folgten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderte zwei verwandte Geister, der Franzose Boileau-Despréaux (geb. 1636) und der Engländer Alexander Pope (geb. 1686). Beide, fein, scharf und witzig, schrieben gleichsam eine Poetik in Epigrammen. Die Werke Beider galten lange Zeit als bewunderter Kanon ästhetischer Regeln. Boileau, in der Blüthezeit der klassischen französischen Literatur, deren Hauptvertreter, wie Corneille, selbst über das Wesen der Dichtkunst nachzudenken liebten, brachte ihren kritischen Niederschlag in Verse, deren präcise, scharfgeschlossene Form eine kanonische Sicherheit athmete. Er ging mehr als seine Vorgänger auf die einzelnen Arten der Dichtkunst ein, die er fast durchweg in einer schlagenden Weise charakterisirte. Wie musterhaft ist z. B. seine Darstellung des Sonetts**)Art poetique II., 82. On dit à ce propos, qu' un jour ce Dieu bisare (Apolle) Voulant pousser à bout tous les rimeurs Français Inventa du Sonnet les rigoureuses loix; Voulut qu' en deux quatrains de mesure pareille La rime avec deux sons frappât huit fois l'oreille, Et qu' ensuite, six vers, artistement rangés, Fussent en deux tercets par le sens partagés. Surtout de ce poëme il bannit la licence: Lui-même en mesura le nombre et la cadence: Defendit qu' un vers faible y put jamais entrer, Ni qu' un mot déjà mis osât s'y rémontrer. Du reste il l'enrichit d'une beauté suprême. Un sonnet sans defauts vaut seul un long poëme. . Pope, ein mit Horazischem Geiste gesättigter Poet, hat zwar in seinem Gedicht: essay on criticism eigentlich die Kritiker kritisirt, aber dabei über das Wesen der Poesie viel Treffendes gesagt, indem er ihre höhere Berechtigung gegenüber einer einseitigen Kritik vertheidigt. Jn der That verdiente dies ebenso elegante wie witzige Gedicht neu übersetzt zu werden,6 um unsern modernen deutschen Zuständen einen Spiegel vorzuhalten. Wenn er im zweiten Theile seines Gedichtes die Fehler auseinandersetzt, welche ein richtiges Urtheil verhindern, wenn er im dritten das Bild eines anmaßenden Kritikers entwirft, der alle Bücher liest und alle Bücher, die er liest, angreift:

All books he reads and all he reads assails

und ihm das Bild des echten Kritikers gegenüberstellt, der ohne Vorurtheil und blinde Rechthaberei auftritt:

Not dully prepossessed nor blindly right,

dessen Seele frei von Hochmuth ist, der gerne lobt, wenn die Vernunft auf seiner Seite steht*)Essay on criticism 641: a soul exempt from pride,And love to praise with reason on his side. ; wenn er die Kritiker tadelt, deren anmaßendem Geiste alle freieren Schönheiten nur als Fehler erscheinen**)Essay on criticism 170., und von einem vollkommenen Kritiker verlangt, daß er jedes Werk in demselben Geiste lese, in welchem es der Autor geschrieben hat, daß er nicht da nach unbedeutenden Fehlern suche, wo Begeisterung das Gemüth hinreißt***)Ibid. 233 u. flgde. wer erkennt nicht die Tragweite dieser mit ebensovielem Witz wie liebenswürdiger Anmuth des Ausdruckes aufgestellten Behauptungen für unsere Gegenwart, welche gerade an kritischer Ueberhebung erkrankt und zahlreiche Portraits zu jenen Popeschen Unterschriften zu geben vermag?

Wenn die Dichter in ihrer Weise, das heißt fragmentarisch in anmuthigen und pointenreichen Versen, in einem sich dem Gedächtniß einprägenden Lapidarstyle die Regeln der Dichtkunst festzusetzen suchten: so konnten die Gelehrten in einem Zeitalter der wiedererwachenden Wissenschaft nicht hinter jenen Bestrebungen zurückbleiben, nicht ohne Beeinträchtigung der akademischen Würde ein für die Kenntniß des Alterthums so wichtiges Gebiet, wie das der Poetik, dem Belieben der Schöngeister überlassen. Wenn diese die Poetik etwas leicht, flüchtig, unsystematisch behandelten: so verfielen die Männer der Wissenschaft in das entgegengesetzte Extrem, indem sie pedantisch die widerstrebende Poesie in einen starren Formalismus bannten! Welch 'ein Herbarium poetischer Blüthen ist die Poetik7 Scaliger's*)Die Poetik des Julius Caesar Scaliger (zuerst aufgelegt 1561) zerfällt in sieben Bücher: historicus, hyle, idea, parasceve, criticus, hypercriticus, epinomis. Das erste Buch giebt eine Notizensammlung über das Theater, die Spiele, die musikalischen Jnstrumente der Alten; das zweite behandelt vorzugsweise die Metrik; das dritte den Jnhalt der Poesie und die Lehre von den Figuren; das vierte den Styl, die Schreibweise; das fünfte giebt eine praktische Kritik, Erläuterungen, die aus den Parallelstellen klassischer Dichter geschöpft sind; das sechste eine literarische Kritik, die mit den neulateinischen Poeten beginnt und bis auf Horaz und Ovid zurückgeht; das siebente einen fragmentarischen Anhang., das beste Werk dieser Richtung! Wie ertödtend wirkt die Sucht, jede dichterische Wendung zu klassificiren, jeden Ausdruck in das Schema einer rhetorischen oder poetischen Figur zu bringen! Jn der erstickenden Fülle des gebotenen Stoffes bringt indeß Scaliger manches kritisch Anregende, seine Beurtheilung römischer Dichter hält sich von der Einseitigkeit eines Vida frei; er würdigt Horaz und Ovid nach Verdienst. Was Fabricius, von Eib u. A. auf diesem Gebiete humanistischer Kritik leisteten, ja selbst die Werke des berühmten Gerhard Voß**)Gerardi Joannis Vossii de artis poeticae natura ac constitutione (1647), institutionum poeticarum libri tres (1647). (geb. 1577), die sich von jener ertödtenden Systematik Scaliger's freihalten, überschritten nicht das Gebiet einer interpretirenden Kritik, waren nur den humanistischen Studien dienstbar und konnten die poetische Entwickelung nicht fördern.

Gleichzeitig mit diesen gelehrten Regelsammlungen über die Dichtkunst entwickelte die Volkspoesie der Meistersänger die erste, noch schüchterne deutsche Poetik in den Tabulaturen. An Formalismus konnten diese Regeln der Handwerkspoesie kühn mit den überfeinen Distinctionen der Gelehrten wetteifern; nur standen sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der dichterischen Praxis und waren überdies wegen ihrer Dürftigkeit leicht zu übersehn. Ebenso dürftig blieb die erste in deutscher Sprache geschriebene Poetik des Altmeisters der schlesischen Dichter, Martin Opitz, welche schon in ihrem halbdeutschen halblateinischen Titel das Bestreben jener Schule charakterisirte, die humanistischen Studien mit der deutschen Nationalpoesie zu vermitteln***)Martini Opitzii von Boberfelt Prosodia germanica, Oder gantz new Corrigirtes und verbessertes Buch von der Teutschen Poeterei: Frankf. 1634.. Das Vertrauen8 des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache und darauf, daß unser Land unter keiner so rauhen und ungeschlachten Luft liege, daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige ingenia könne tragen, bildet die eigentliche Glanzseite des Büchleins, das die Lehren von dichterischer Erfindung und Disposition, von der Zubereitung und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet*)Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: die Tragoedie ist an der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder - und Vätermörden, Brande, Blutschanden, Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt. . Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen und ein Jahrhundert später gab der kritische Leipziger Dictator Johann Christoph Gottsched seinen Versuch einer kritischen Dichtkunst (1750) heraus, welcher, wie man auch über seine Bedeutung denken mag, doch einen bedeutenden Fortschritt gegen die schüchterne Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem kalten und klaren ostpreußischen Verstande unleugbare Verdienste um die deutsche Poesie erworben, wenn ihm auch das Organ für die freieren dichterischen Schönheiten fehlte und er zu sehr der oft farblosen Correctheit der französischen Muster nachstrebte. Sein Kampf gegen den Schwulst und die Uebertreibungen der zweiten Schlesischen Dichterschule, selbst seine Verbannung des Hanswurst's von der deutschen Bühne, welcher seine stereotypen Unfläthereien weder zur Zierde noch zum Heile gereichen konnten, sind noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, weil die nachstrebende jüngere Generation in ihrem siegreichen Kampfe gegen die Steifheit der Gottsched'schen Poetik die Sympathieen der Gegenwart für sich hat. Gerade diese Poetik ist wohl das beste Werk des Leipziger Kritikers. Uebersichtlich und faßlich geordnet, ansprechend stylisirt, klar, wenn auch oberflächlich in den Begriffsbestimmungen, überall Zeugniß ablegend für die Belesenheit des Autors in der klassischen, französischen und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik Gottsched's eine Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der9 Zeit entsprechend, nicht wieder ausgefüllt worden ist. Was der Kritiker über den Charakter und guten Geschmack eines Poeten, über poetische Nachahmungen, über poetische Worte, Perioden, Figuren, über die poetische Schreibart sagt, hat meistens seinen guten Grund, und nur dem besondern Theil fehlt, bei einzelnen treffenden Bemerkungen, die tiefere Einsicht in das Wesen der Dichtgattungen.

Gegenüber diesem, vorzugsweise auf die Reinheit des Geschmackes hinarbeitenden Werke verfocht nur Breitinger's Kritische Dichtkunst (2 Bde. 1740) eine phantasievollere Richtung, stellte die englischen Muster den französischen gegenüber und gab den Anstoß zum Streit der Schweizer und der Anhänger Gottsched's und damit zur fruchtbringenden Fortentwickelung deutscher Poesie. Der ganzen bisherigen Poetik fehlte es indeß an einem höheren Princip. Eine gründliche Reform auf diesem Gebiete konnte daher erst stattfinden, als die Aesthetik selbst durch die Fortschritte der Philosophie einen tiefern Jnhalt gewonnen, während gleichzeitig die geniale Praxis großer Dichter neue Muster schuf. Die seltene Vereinigung bedeutender Denker und Dichter, welche die Blüthe unserer Nationalliteratur bezeichnet, mußte die Fundamente einer neuen Aesthetik legen, deren Entwickelung wir, da wir keine Geschichte der Aesthetik schreiben, nur in allgemeinen Umrissen andeuten können.

Nach einem Princip des Schönen hatten französische und englische Philosophen und Kunstrichter gesucht. Batteux, verführt durch die μιμησις des Aristoteles, glaubte es in der Nachahmung der schönen Natur gefunden zu haben, eine flache und äußerliche Auffassung, welche durch Ramler und Andere auch in Deutschland verbreitet wurde*)Ramler übersetzte Batteux Cours de belles-lettres (4 Bde. 1753)..

Die englischen Sensualisten Shaftesbury, Hutcheson, Adam Smith, Hogarth, und vor Allen der geistreichste Edmund Burke, faßten ebenfalls das Schöne zu äußerlich und sonderten das ästhetische Gebiet nicht vom moralischen und politischen. Erst der Deutsche Alexander Gottlieb Baumgarten (geb. 1714), ein Schüler Wolf's, legte die Fundamente der Aesthetik als einer selbstständigen Wissenschaft**)De nonnullis ad poëma pertinentibus (1735); Aesthetica (2 Bde. 1750 bis 1758). Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (3 Bde. 1748 50), nach seinem Ableben von Meier herausgegeben.. 10Das Schöne besteht nach ihm darin, daß die Vollkommenheit einer Sache in ihrer Erscheinung wahrgenommen wird. Doch gehört nach der Wolf'schen Lehre die Wahrnehmung den niedern Seelenkräften an, so daß das Schöne, das Genie in der Baumgarten'schen Auffassung in eine allzuniedrige Sphäre herabgedrückt wird. Die Nachfolger Baumgarten's, besonders Sulzer, suchten den Begriff des Vollkommenen näher zu erörtern, doch kamen sie über die Platonische Vermischung des Guten und Schönen nicht hinaus. Auch Johann August Eberhard (geb. 1739), welcher die Wirkung des Schönen im leichten und gefälligen Spiele der Seelenkräfte suchte, vermochte nicht der Aesthetik eine tiefere Grundlage zu geben; wohl aber hat er sie zuerst in einer leichten, klaren, faßlichen Weise durchgearbeitet, alle Zweige der Kunst im Einzelnen nicht ohne Sachkenntniß und in gefälliger Darstellung behandelt und auch der Poetik im vierten Bande seines Handbuches der Aesthetik (1803 5) eine eingehende Besprechung gewidmet. Dies nicht ohne französische Grazie geschriebene Werk enthält treffende Einzelnheiten, welche auch für die Gegenwart nicht veraltet zu nennen sind. Freilich darf man nicht vergessen, daß der Hallenser Aesthetiker bereits unsere klassischen Meisterwerke als Musterbilder in's Auge fassen konnte.

Die Gedankenwelten, welche Kant und Fichte geschaffen, mußten auch für das Schöne eine Stätte bereiten. Kant nahm die Lehre vom Schönen in seine Kritik der Urtheilskraft auf: doch konnte er, seinem ganzen Standpunkte nach, die schönen Gegenstände der Natur und Kunst nur von Seiten des sie beurtheilenden Geistes auffassen und so das selbstständige Wesen des Schönen nicht ergründen. Doch hat er das ästhetische Urtheil selbst so scharf bestimmt, daß er durch diese Bestimmung einen Fortschritt der Aesthetik möglich machte. Er leitete dies Urtheil aus dem freien Spiele des Verstandes und der Einbildungskraft her. Es ist interesselos, ohne Beziehung auf die Zwecke unseres Willens, erkennt nur die innere Zweckmäßigkeit des Gegenstandes an; es ist von allgemeiner Gültigkeit und innerer Nothwendigkeit. Der große sittliche Revolutionair Fichte, dem die Welt nur eine Schranke für den rastlos strebenden Geist war, der sie ewig zu überwinden und aus sich zu erzeugen suchte, hatte dennoch einen für eine geniale ästhetische Auffassung fruchtbaren11 Gesichtspunkt, den Solger auf der einen, die Romantiker auf der andern Seite weiter entwickelten.

Jnzwischen war, in Beispiel und Lehre, unsere klassische Poetik an's Licht getreten, wie wir wohl die Summe jener ästhetischen Einsichten nennen dürfen, die in den Werken eines Lessing, Schiller, Goethe, Herder, Jean Paul enthalten sind und den großartigen Aufschwung unserer Literatur sowohl bewirkten als begleiteten. Es war eine in allen Zeiten seltene Erscheinung, daß unsere großen Dichter auch große Denker waren, eine Erscheinung, die für die klassische Blüthenepoche unserer Literatur bezeichnend ist. Kunst und Wissenschaft gingen Hand in Hand; die Production war von einer nimmer schlummernden Kritik begleitet, und die Siege, die der Genius auf dem Gebiete der Poesie erfocht, suchte er selbst wissenschaftlich zu verwerthen und für die Aesthetik fruchtbringend zu machen. Zu allen Zeiten zwar sind große Dichter auch wahrhaft große Geister gewesen, und es würde auf unsere Epoche ein trauriges Licht werfen, wenn die Poeten der Miniaturlyrik, die auch geistig das Format ihrer Werke nicht überschreiten, ihre Tonangeber werden könnten; aber niemals hat sich diese geistige Bedeutung so einstimmig auf das ästhetische Gebiet geworfen und die Gesetze der Kunst und des Schönen zu entdecken gesucht. Durch diese innige und untrennbare Verbindung der schaffenden Kraft und sinnenden Einsicht wird aber andererseits der revolutionaire Charakter unserer klassischen Epoche angezeigt, welche auf jedem Wege, praktisch und theoretisch, die neue Bahn brechen wollte, ein Charakter, der deutlich genug verräth, daß sie mehr der Beginn, als der Abschluß einer neuen literarischen Aera ist. Diese klassische Poetik nun ist formlos; sie ist in Abhandlungen, Briefen, Fragmenten, Maximen, Skizzen enthalten; aber dennoch ergänzt sie sich und greift ineinander; denn der Genius hat sie geschrieben und zwar der Genius, der sich nicht isolirte auf irgend einem schöngeistigen Patmos, um ganz besondern Offenbarungen zu lauschen, sondern der im bewußten und gewollten Zusammenhang blieb mit seiner Zeit und den gleichstrebenden Geistern. Den kritischen Theil dieser Poetik hat der scharfsinnige Lessing geschrieben. Es lag in der eigenthümlichen Natur dieses seltenen Mannes, daß er, um zu wirken, eines gegebenen Stoffes bedurfte, wie der Chemiker, welcher nur die gegebenen Stoffe componiren und decomponiren kann, aber gerade in der12 Analyse die schönsten Entdeckungen macht. Wie der chemische Proceß seine eigene Wärme erzeugt: so der kritische Proceß bei Lessing. Wenn er auch die Theile in der Hand behielt, fehlte ihm doch nie das geistige Band. Ebenso bedurfte seine rüstige Natur der Polemik Schlag auf Schlag da sprühten erst die Funken heraus! Sein Laokoon, in welchem er die Grenzen der Dichtkunst, der Plastik und Malerei aus einem einzigen Beispiele zu entwickeln suchte; seine Hamburger Dramaturgie, welche oft an unbedeutenden Theaterstücken das Wesen der dramatischen Dichtkunst darlegte, das richtige Verständniß des Aristoteles durch die scharfsinnigsten Untersuchungen förderte und die deutsche Dichtung von den Fesseln des französischen Geschmacks befreite, sind solche Thaten einer schöpferischen Kritik, die gerade bei dem Aufräumen eines Augiasstalles ihre herkulische Kraft am meisten bewährt. Wie Lessing der schroffe Mann des Princips, der scharfen Sonderung und Begrenzung: so ist Herder das nachempfindende Gemüth, mit ästhetischer Feinfühligkeit begabt, um allen Zeiten und Nationen die Schätze des Schönen abzugewinnen. Lessing geht negativ zu Werke; er erringt das ästhetische Resultat, indem er das einzelne Kunstwerk opfert; Herder verfährt positiv; er opfert sich selbst dem Kunstwerk, er fühlt und lebt sich in dasselbe hinein, und über dieser nachdichtenden Hingebung schwebt der eigenthümliche Duft der Schönheit. Wo Lessing Kritiker ist, bleibt Herder Jnterpret, gleichsam ein Dichter aus zweiter Hand! Sein Hauptwerk in diesem Sinne ist: der Geist der hebräischen Poesie, in welchem er mit dichterischer Weihe und Schwung die Psalmensänger und Propheten des alten Testamentes reproducirte und dadurch mehr zu ihrem wahren Verständniß beitrug, als eine Menge höchst gelehrter Theologen, welche gerade die wichtigste Auslegungsweise jener Offenbarungen, die ästhetische, verschmähten. Jn den Stimmen der Völker zeigte Herder denselben ästhetischen Sinn, jenen feingeistigen Siderismus, der die verborgenen Metalladern des Schönen aufzuspüren weiß. Er bereicherte die klassische Poetik mit einer herrlich interpretirten Mustersammlung wir brauchen blos noch an seinen Cid zu erinnern, um die Vollständigkeit seiner Anthologie, die er aus allen Zeiten und Zonen zusammentrug, anschaulich zu machen.

Schiller und Goethe lassen sich hier nicht getrennt nennen! 13Haben sie doch in ihrem Briefwechsel die folgenreichsten Betrachtungen über epische und dramatische Poesie zusammen niedergelegt und zusammen in ihren Xenien den kritischen Jmperatorenthron errichtet, von dem sie den Föderalismus der deutschen Literatur in den Staub schmetterten. Daß Schiller von der Jdee des Schönen und Goethe von seiner Erscheinung ausging, war gerade der Grund, daß sie in der Mitte des Weges sich begegnen mußten! Schiller schrieb den allgemeineren Theil der klassischen Poetik; er war ihr Metaphysiker. Jn der That sind seine ästhetischen Verdienste groß genug, um ihm in dieser Wissenschaft einen selbstständigen Platz zu sichern. Er hob die Einseitigkeit des subjectiven Kant'schen Standpunktes auf und machte zuerst die Jdee der Schönheit in ihrer freien Selbstständigkeit geltend. Jn seinen Aufsätzen: über die tragische Kunst, über das Erhabene, Anmuth und Würde entwickelt er dieselben Jdeeen, die er mit dichterischer Prägnanz in seiner Lyrik ausspricht. Hier strebt er mit einer platonischen Begeisterung nach der Vermählung der Wahrheit und Schönheit, nach der Versöhnung von Wissenschaft und Kunst; dort nennt er die Schönheit die Bürgerin zweier Welten, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört, indem sie ihre Existenz in der sinnlichen Natur empfängt und in der Vernunftwelt das Bürgerrecht erhält. Der beurtheilende Geschmack aber soll diese Vermittelung zwischen Sinnlichkeit und Geist übernehmen, Anschauungen zu Jdeeen adeln und die Sinnenwelt in ein Reich der Freiheit verwandeln. Und wenn Schiller in seiner ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts der Schönheit wieder einen pädagogischen Zweck unterzuschieben scheint; so verschwindet dieser Schein alsbald, indem gerade diese Abhandlung das Jdeal der Schönheit als die Einheit der Realität mit der Form, als das Jdeal der Menschheit selbst entwickelt. Von einzelnen Theilen der Poetik kamen Schiller's Bestrebungen am meisten der Tragödie zugute, indem er sich mit Vorliebe der Darstellung des Pathetischen und Erhabenen hingab. Seine Unterscheidung zwischen naiver und sentimentaler Dichtungsweise hat mehr einen literarhistorischen, als philosophischen Werth. Goethe dagegen, der Naturalist, der von dem einzelnen Phänomen ausging, beschäftigte sich mehr mit Kunstbetrachtung und zeigte hierbei14 dasselbe intuitive Genie, das seiner Naturanschauung einen so bedeutenden Werth gab. Jn seinen Propyläen, in seinen Schriften über Kunst und Alterthum hat er sich vorzugsweise über bildende Kunst und Malerei, und zwar auch mehr über die äußerlichen Seiten derselben ausgesprochen. Dagegen enthalten seine Briefe, seine Maximen, seine später veröffentlichten Gespräche eine Fülle jener sinnigen Reflexionen über die Poesie, wie sie aus einem mit ihren höchsten Aufgaben und ihrer Technik gleich vertrauten Sinne ungezwungen hervorgehen, ohne die charakteristische Vorliebe des Dichters für das Plastische und Epische zu verleugnen. Goethe fügte dem Schatze der klassischen Poetik die Maximen der Kunstbetrachtung und Offenbarungen ihrer technischen Geheimnisse hinzu.

Noch fehlte der klassischen Poetik ein wesentlicher Abschnitt; der Humor war von jenen großen Genien nicht in den Kreis ihrer Betrachtung gezogen worden. Der reichbegabte Geist Jean Paul's war vor Allen berufen, diesen Abschnitt zu ergänzen. Jn seiner Vorschule der Aesthetik, in welcher über das Wesen der Dichtkunst, besonders über den dichterischen Styl die geistreichsten und schlagendsten Reflexionen enthalten sind, kamen auch zuerst der Humor, die Jronie, der Witz zu ihrem vollen ästhetischen Recht. Vom Geiste der brittischen Humoristen genährt, in Deutschland selbst Meister und Muster dieses Styles, verschmolz Jean Paul Regel und Beispiel in seltenster Weise; er sprach humoristisch über den Humor, witzig über den Witz; aber mit diesen Blitzen seines Genius erhellte er das Wesen des Komischen in einer so schlagenden Weise, daß die späteren Aesthetiker sich nur an seine Erklärungen anschließen konnten. Zugleich sehen wir bei Jean Paul am deutlichsten das Hervorgehen der klassischen Poetik aus einer praktischen Nöthigung, ihren innigen Zusammenhang mit der Production der Dichter. Auch Jean Paul fühlte das Bedürfniß, seine Schöpfungen, seine Dichtweise zu rechtfertigen, weil für den Humor in Deutschland keine ästhetische Richtschnur bestand. So trat er auf als Gesetzgeber für ein Gebiet, das er thatsächlich in Besitz genommen, und dessen Besitz er in ein gutes Recht verwandeln wollte. Jn der That macht unsere klassische Epoche den Eindruck literarischer Anfänge, so sehr man auch vom Gegentheil durchdrungen zu sein scheint; die Autoren gleichen jenen15 Ansiedlern, die mit gezogenem Schwert hinter dem Pfluge hergehen, um das urbar gemachte Land gegen alle Angriffe zu vertheidigen.

Die romantische Poetik setzte das Werk der klassischen weiter fort, nur daß das dichterische Talent ihrer Vertreter bei weitem geringer war und die kritische Richtung mehr in eine literarhistorische überging. Das Princip dieser Poetik war bekanntlich die Jronie, welche sie aus dem Fichte'schen System herleitete, und die ein großer Kunstphilosoph, Solger, in seiner Aesthetik (1829) und in seinem Erwin (2 Bde. 1815) als den Mittelpunkt der künstlerischen Thätigkeit entwickelt. Jn der Fichte'schen Welt, in welcher der Geist in unaufhörlichem Ringen mit der Natur begriffen ist, kann das Schöne keine bleibende Stätte finden; es ist dort nur ein flüchtiges Aufleuchten der Jdee, ein Jdeal, das in seinem Erscheinen verschwindet. Die Erscheinungswelt selbst ist nichtig, und die Stimmung des Künstlers, wodurch er die wirkliche Welt als das Nichtige setzt, ist die künstlerische Jronie*)Solger, Vorlesungen über Aesthetik p. 125.. Diese Begriffsbestimmung Solger's, der in seinen Werken eine tiefe Einsicht in das Wesen des Schönen und der Kunst bekundet, unterscheidet sich durchaus von der Auslegung, welche die Romantiker diesem Begriff unterschoben. Bei Solger ist die Welt nichtig, gegenüber der göttlichen Jdee; bei den Romantikern ist sie nichtig gegenüber der Willkür des Künstlers, der muthwillig mit jedem Gehalte spielt, für welchen es kein bindendes Gesetz giebt, weil das Genie, ein selbstsüchtiger Despot, nur seinen eigenen Launen folgt. Das war die Jronie, aus der die Lucinde hervorging und zugleich die christliche Kunst, der Phantasus und die Shakespearomanie, die fromme Pfalzgräfin und das politische Wochenblatt, die Begeisterung für jede Reaction und die Reaction gegen jede Begeisterung; es war die Jronie, die aus dem Athenäum und der Europa der beiden Schlegel orakelte und zuletzt die Welt - und Literaturgeschichte zu einer Apotheose des Katholicismus verfälschte. Doch auch hier war die Vereinigung zwischen Theorie und Praxis unverkennbar; auch diese ästhetische Gesetzgebung sollte eine thatsächliche Umwälzung der Literatur zu rechtlicher Geltung bringen. Jhre Verdienste bestehen theils darin, daß sie der deutschen Lyrik den Kreis der16 romanischen Dichtformen eroberte und auf die orientalischen hinwies, daß sie Shakespeare und Calderon lebensfähig auf die deutsche Bühne verpflanzte und daraus fruchtbare Gesichtspunkte für die Entwickelung des deutschen Drama's gewann, die sie freilich in der eigenen Praxis mißverstand oder verleugnete, theils in der Geltendmachung eines volksthümlichen Princips, gegenüber der antiken Richtung der Klassiker, wenngleich diese Volksthümlichkeit eine verkehrte war, indem sie auf mittelalterlichen Voraussetzungen beruhte. Tieck's dramaturgische Blätter und August Wilhelm Schlegel's Vorlesungen über dramatische Kunst sind die Epochemachenden Werke der romantischen Poetik.

Die ästhetische Wissenschaft selbst wurde von den Koryphäen der Philosophie, Schelling und Hegel, weiter entwickelt. Der Standpunkt Schelling's, die intellectuelle Anschauung, mußte für die Philosophie der Kunst sehr fruchtbar werden; in der That fand er in ihr das allgemeine Organon der Philosophie und den Schlußstein des ganzen Gewölbes*)Schelling, System des transscendentalen Jdealismus S. 19.. Die Natur ist zweckmäßig, ohne zweckmäßig hervorgebracht zu sein; in der Kunst ist nicht nur das Product, sondern auch die Production zweckmäßig, ohne das Bewußtlose, den inneren bewältigenden Drang, die Macht des Genius auszuschließen. Er nennt S. 460 die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es giebt; das Dichtungsvermögen aber, die Einbildungskraft und die idealische Welt der Kunst die höchste Potenz der productiven Anschauung. (S. 473.) Ueber das Verhältniß der Kunst zur Natur spricht er sich in seiner vortrefflichen Rede**)Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur. Schelling's gesammelte Schriften I. S. 342 396. dahin aus, daß nicht die todte Reproduction der Natur das Wesen der Kunst sein könne, sondern das Produciren der Jdee, welche in der Natur sich darstelle. Die höchste Stellung, welche Schelling der Kunst einräumte, wurde ihr zwar von Hegel nicht zuerkannt; aber dieser gründliche, systematische Denker, der nicht blos alle Wissenschaften in ein großes System vereinigte, sondern auch jede einzelne wieder mit seltenem Talent architektonisch ausbaute, gab auch das erste Lehrgebäude der Aesthetik, mit vorzüglicher Berücksichtigung der17 historischen Entwickelung der Kunst und mit scharfer Begriffsbestimmung der einzelnen Künste. Die Poetik Hegel's, der letzte Theil seiner Aesthetik, ist reich an den gediegensten Entwickelungen und trefflichen, lange nicht genug beachteten Winken. Er hat die Stellung der Poesie zum Zeitgeiste meisterhaft entwickelt und damit einer modernen Dichtung die Bahn freigelassen; er hat die Bedeutung der von vielen Kunstrichtern gering geachteten Richtung Schiller's und seines dramatischen Pathos schlagend gewürdigt, er hat sich gegen den Dilettantismus und eine eben so schaale wie forcirte Volkspoesie erklärt. Gerade nach dieser praktischen Seite hin ist er von Vischer nicht erreicht worden, der von einer ästhetischen Feinschmeckerei auf dem Gebiete der Poesie nicht freizusprechen ist und der modernen Dichtung in seiner Poetik keine erhebenden Ziele zu stecken verstand. Dies hindert indeß keinesweges, seine umfangreiche Aesthetik für das überaus verdienstliche Hauptwerk der Neuzeit zu erklären, das ebenso ausgezeichnet ist durch großartige Architektonik und spekulative Phantasie, wie durch geistvolle und lebendige Kritik. Seine Lehre vom Schönen im Widerstreit seiner Momente, vom Erhabenen und Komischen, ebenso seine Lehre von der einseitigen Existenz des Schönen, dem Naturschönen und der Phantasie, deren höhere Einheit die Kunst ist, sind bahnbrechende Thaten der neueren ästhetischen Forschung. Der Raum verstattet uns nicht, auf Weiße's Aesthetik, auf Ruge's Verdienste um die Entwickelung des Komischen, auf des geistvollen Rosenkranz Aesthetik des Häßlichen und Geschichte der Poesie, auf Kuno Fischer's schwunghafte, platonisirende Diotima, die Jdee des Schönen, die er als Weltbegriff im Zusammenhang mit den Jdeeen der Religion und Sittlichkeit auffaßte, auf Rötscher's Untersuchungen über die dramatische Poesie, auf Moritz Carrière's geistvolle Winke über Dichtkunst, auf Schopenhauer's geniale Auffassung der Kunst, besonders der Musik, auf Frauenstädt's ästhetische Fragen näher einzugehen; ebensowenig können wir die kritische Entwickelung der neueren Literatur, welche die Production nach Art der klassischen und romantischen begleitete, von Heine und Börne ab durch die jungdeutsche Reformpoetik Gutzkow's, Laube's, Mundt's, Kühne's, Jung's, durch die protestantische Gesinnungskritik der Halleschen Jahrbücher, welche die politische Lyrik ebenso formulirten, wie einst das18 Athenäum die christliche Kunst, bis zu den tonangebenden Organen der Gegenwart verfolgen. Aber diese Poetik selbst wird Zeugniß dafür ablegen, daß diese reiche Entwickelung für sie keine verlorene ist; sie wird ihre Resultate zusammenfassen und die Summe derselben durch die Einsichten zu vermehren suchen, die dem Verfasser aus dem eingehenden Studium der modernen Poesie und den Anregungen der eigenen Production zuströmten.

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Erste Abtheilung. Begriff und Wesen der Dichtkunst.

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Erstes Hauptstück. Die Poesie im System der Künste.

Erster Abschnitt. Das Schöne und die Kunst.

Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:

Jn der Begierde such 'ich nach Genuß
Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.

Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee22 wiederschaut, die in ihm selbst lebt. Dennoch ist zwischen der Anschauung Beider noch ein wesentlicher Unterschied. Dem interesselosen Denker verschwindet alsbald die einzelne Erscheinung in der Jdee; er erkennt und sucht nur das Wesen in der zufälligen Form; dem Künstler aber ist die einzelne Erscheinung selbst Jdee; er braucht nicht über sie hinauszugehn; die Jdee ist individuell lebendig, die Erscheinung unmittelbare Gegenwart der Jdee. Dies ist die Offenbarung des Schönen. Das Schöne ist also Jdee und nicht der Welt des Endlichen und Zufälligen angehörig. Erst wenn wir uns über das eitle Reich der Zwecke und des verstandesmäßigen Zusammenhanges erhoben haben in eine Welt, wo uns unmittelbar der Strahl des Göttlichen berührt, erreichen wir das Reich der Jdeeen und der Schönheit. Die Schönheit ist daher auch dem zufälligen Belieben entnommen; jeder gemeine, materielle Reiz ist ihr fremd; die Nachahmung des Wirklichen gehört nicht in ihr Gebiet; sie ist allgemein gültig, wesentlich in ihren Bestimmungen und gefällt mit Nothwendigkeit und ohne besonderes Jnteresse.

Doch die Jdee des Schönen ist und bleibt anschaulich; und gerade dadurch unterscheidet sich das Schöne vom Wahren und Guten. Das Reich der Wahrheit ist das Reich des Denkens; wahr ist der Gedanke, der sich als wirklich und vernünftig legitimiren kann. Diese Beweisführung bedarf aber eines methodischen Ganges, der die Anschaulichkeit ausschließt. Dennoch sehn wir, daß große Denker, wie Schelling, die Kunst für das höchste Organon der Philosophie erklären und gleichsam ihr Gedankengebäude mit der Kuppel des Schönen überwölben, daß große Dichter, wie Schiller, es als Problem der Zukunft hinstellen, die der Schönheit zugereifte Wissenschaft zum Kunstwerk zu adeln, und begeistert ausrufen:

Was wir als Schönheit hier empfunden,
Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.

Unleugbar groß ist die Verwandtschaft des Wahren und Schönen, mag man nun das Schöne als ein Moment im Entwickelungsgange der Erkenntniß ansehn oder auf ihrem Gipfel die Anschauung des Schönen zum Vorbilde machen für die Anschauung des Wahren. Dennoch ist das Jnteresse der Wahrheit ein anderes, als das der Schönheit, das Jnteresse der Wissenschaft ein anderes, als das der Kunst. Dem23 Denker gilt das einzelne anschauliche Object Nichts; er strebt darnach, das innere Gesetz der Dinge zu erfassen. Jhm gilt nur der Gedanke, der Begriff des Gegenstandes; er verwandelt das Sinnliche in ein Gedachtes. Dem Künstler aber gilt das einzelne Object in seiner unmittelbaren Sinnlichkeit Alles, indem die Jdee des Schönen nur in ihm lebendig ist. Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß die sinnliche Anschauung des Schönen auch eine im Geiste wiedergeborne sein kann, wie es z. B. in der Poesie der Fall ist, oder daß die Gedankenwelt der künstlerischen Behandlung den reichsten Stoff giebt; doch dann muß der Gedanke die sinnliche Hülle borgen und die Wahrheit in der Schönheit aufgehn.

Aehnlich verhält sich die Jdee des Guten zur Jdee des Schönen, die der platonischen, ja der hellenischen Weltanschauung überhaupt in Eins zerflossen (καλὸν κἀγαθόν). Doch das Gute erstrebt erst jene Harmonie, die im Wesen des Schönen liegt. Der Standpunkt des Guten ist die Forderung, der Standpunkt des Schönen die Vollendung. Das Gute soll die Welt überwinden, das Schöne hat sie überwunden. Nun wird sich zwar auch das Gute in seiner rastlosen Arbeit verwirklichen, die Harmonie erreichen, die es erstrebt, und dann scheint es mit dem Schönen zusammen zu fallen; aber das Gute ruht nicht aus in der errungenen Versöhnung; es liegt in seinem Wesen, darüber hinauszugehn, in neuer Arbeit nach neuen Zielen zu ringen. Jm Guten erklärt sich das Soll für permanent, das im Schönen ein für alle Mal aufgehoben ist. Jm Guten ringt der Wille ewig mit dem Stoff; im Schönen scheint die Jdee aus dem verklärten Stoff heraus. Das Gute kann Jnhalt des Schönen sein; dann gilt es aber nicht, weil es gut, sondern weil es schön ist. Nimmt es an und für sich eine selbstständige Geltung in Anspruch: so wird das Schöne durch den praktischen Zweck, das moralische Sollen, die Absichtlichkeit zerstört. Jm Reiche der schönen Sittlichkeit, das in Hellas verwirklicht schien, das vielen Denkern und Dichtern als Jdeal vorschwebt, ist daher nicht das Schöne im Guten, sondern das Gute, dem stets ein unerquicklicher Rest bleibt, im Schönen aufgehoben.

Das Schöne ist Jdee, aber erscheinende Jdee, welche ohne Rest in der einzelnen Erscheinung aufgeht. Dieser vollkommene Zusammenschluß der Jdee und ihres Bildes macht das Wesen der Schönheit aus. 24Hier kommt das Einzelne zum ersten Male zu seinem vollen Rechte. Die Jdee des Guten und Wahren triumphirt nur, wenn das Einzelne vernichtet wird. Der Gedanke verlangt, daß das Einzelne sich auflöse in's Allgemeine, in den Begriff; die Sittlichkeit, daß das Einzelne sich dem Allgemeinen opfere. Das Schöne erst giebt dem Einzelnen die volle Kraft und Weihe der Eigenthümlichkeit; es macht das Einzelne zum Träger der Jdee. Wie wir später sehen werden, ist auch der Geist des Künstlers, der es producirt, der Genius, die Spitze der geistigen Einzelnheit, das Einzelne als Einziges. Darum auch konnte Plato von der Liebe sprechen, mit der wir das Schöne erfassen; denn wir lieben immer nur das Einzelne, in welchem wir das Urbild der Seele schauen.

Doch die einzelne Erscheinung in ihrer Stoffschwere kann das Schöne nicht spiegeln; hier würde wieder die Welt der Zufälligkeit das Jdeal vernichten. Der sinnliche Stoff muß im Feuer der Jdee verzehrt sein; Nichts übrig bleiben, als ein über ihm schwebender sinnlicher Schein, als die reine Form. Schiller sagt: das Kunstgeheimniß des Meisters besteht darin, daß er den Stoff durch die Form vertilgt. Die Jdee wird Gestalt, die Gestalt Jdee das ist das Wesen des Schönen.

Doch die Jdee des Schönen ist nicht starr und bewegungslos; sie ist kein todter Begriff! Lebendig und schöpferisch erträgt sie in sich den Widerspruch, den Kampf, läßt die Dissonanzen frei gewähren und rettet doch ihre ewige Harmonie. Die Jdee ist Thätigkeit und Bewegung das Schöne in seiner Bewegung ist Anmuth. Man darf die Anmuth nicht mit Lessing und Schiller auf die menschliche Schönheit beschränken, wenn sie sich auch hier am klarsten ankündigt in jenen sympathetischen Bewegungen, welche unwillkürlich die willkürlichen begleiten; überall dämmert die Anmuth empor, wo die Linien der Schönheit, von starrer Gebundenheit befreit, zu erzittern beginnen. Am schlagendsten und schönsten hat Schelling in seiner Rede: Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur das Wesen der Anmuth ausgesprochen, wo er sie historisch als eine Entwickelungsstufe der Kunst darstellt: Jm Beginn erscheint der schaffende Geist ganz verloren in die Form, unzugänglich, verschlossen und selbst im Großen noch herb. Je mehr es ihm aber gelingt, seine ganze Fülle in Einem Geschöpf zu vereinigen, desto mehr läßt er allmählich von seiner Strenge nach, und wo er die Form25 völlig ausgebildet, so daß er in ihr befriedigt ruht und sich selbst faßt, erheitert er sich gleichsam und fängt an, in sanften Linien sich zu bewegen. Dieses ist der Zustand der schönsten Blüthe und Reife, wo das reine Gefäß vollendet dasteht, der Naturgeist frei wird von seinen Banden und seine Verwandtschaft mit der Seele empfindet. Wie durch eine linde Morgenröthe, die über der ganzen Gestalt aufsteigt, kündigt sich die kommende Seele an: noch ist sie nicht da, aber Alles bereitet sich durch das leise Spiel zarter Bewegungen zu ihrem Empfange. Die starren Umrisse schmelzen und mildern sich in sanfte. Ein liebliches Wesen, das weder sinnlich noch geistig, sondern unfaßlich ist, verbreitet sich über die Gestalt und schmiegt sich allen Umrissen, jeder Schwingung der Gliedmaßen an. Dieses, wie gesagt, nicht greifliche und doch Allen empfindbare Wesen ist es, was die Sprache der Griechen mit dem Namen der Charis, die unsrige als Anmuth bezeichnet.

Wir haben gesehn, daß die Schönheit die Einheit der Jdee und des Bildes, ihre vollkommene Harmonie ist. Diese Harmonie aber wird aufgelöst, nicht zerstört; die Jdee sprengt mit triumphirender Gewalt das Band dieser Einheit; sie greift über das Bild hinaus; sie erhebt sich über die Gestalt und das ist das Wesen des Erhabenen. Doch auch diese kühne Ausweichung muß zur Harmonie zurückkehren, die dann um so vollkommener ist, da sie den Widerspruch überwunden in sich aufgenommen. Jn diesem Erheben liegt zugleich eine Thätigkeit! Je plötzlicher es stattfindet, desto imposanter ist seine Wirkung, desto rascher scheint die Schranke der Gestalt zerbrochen. Daß sie dies aber in Wahrheit nicht ist, daß die Form gleichsam gewaltig ausgedehnt, aber doch nicht formlos wird das ist das Geheimniß des Erhabenen. Die Elasticität des Schönen wird durch das Erhabene am meisten angestrengt, aber nicht gebrochen. Das reine Schauen, das uns dem Schönen gegenüber erquickte, wird durch das Erhabene erschwert, indem es uns gewaltsam aus seiner Sphäre reißt. Ueberlegene oder ungeahnte Kräfte, furchtbare Gewalten aus dem Reiche der Natur und des Geistes stürmen auf uns ein und drohen mit ihrer unendlichen Macht den schauenden Geist zu erdrücken. Er fühlt sich nicht mehr als das reine, denkende und schauende Wesen; er fühlt sich auf einmal in seiner Endlichkeit. Aber daß er doch wieder mit kühnem Kampfe26 über alle diese Störungen triumphirt und sich durch diesen Triumph doppelt über sein persönliches, endliches Sein in das Reich der reinen Anschauung erhebt das läßt die ästhetische Wirkung des Erhabenen, des kämpfenden Schönen, größer erscheinen, als die der ruhigen und kampflosen Schönheit. Neben dieser Unendlichkeit des sinnlich Erhabenen, des Raumes, der Zeit, der Kraft, welche die in der Natur schlummernde Jdee zu solcher überraschenden Mächtigkeit erhebt, daß der Geist sich ihr gegenüber erst klein fühlt, um sich dann groß zu fühlen, einer Erhabenheit, der in der sittlichen Welt die Naturkraft des Bösen entspricht, giebt es auch eine positive sittliche Erhabenheit, der Kampf und das Opfer für die Jdee mit Aufgabe der sinnlichen Lebensgüter. Dies ist die Erhabenheit der Helden und Märtyrer der Menschheit, die für ihre Ueberzeugung stritten, duldeten und starben, eines Regulus, der für die Pflicht sich opfert, eines Cato, der für das Jdeal seiner Republik in den freiwilligen Tod geht. Hier theilen wir die Erhebung der Helden über das Vergängliche und dringen durch die Schauer der Wehmuth, die letzte Verklärung der geopferten Sinnlichkeit, zu dem frohlockenden Triumphe des freien Geistes hindurch. Ebenso erhaben ist die Leidenschaft, mag sie nun die welthistorische der Cäsaren und Napoleone sein, die, während sie dem eigenen großen Triebe folgen, nur Organe des Weltgeistes sind, oder mag sie den Dolch eines Macbeth und Othello schwingen und uns durch die furchtbare That erschrecken. Jn der Leidenschaft vereinigt sich das sinnlich und sittlich Erhabene; es ist die aller Banden spottende Naturkraft und zugleich die höchste imponirende Energie des Wollens. Darum machen auch jene Zeitalter der Geschichte, in denen die Leidenschaft herrscht, die Revolutionen der Menschheit, einen erhabenen Eindruck. Vor Allem aber ist erhaben eine Weltanschauung, für welche das Göttliche eine über die Welt übergreifende Macht ist. Deshalb bietet die hebräische Poesie die reichsten Beispiele für das Erhabene. Es ist ebenso einseitig, das Erhabene auf die Natur, wie auf die Welt des Geistes beschränken zu wollen. Da das Erhabene wesentlich in einem Hinausgehn über das gewohnte Maß besteht, so ist es zugleich dunkel, denn dunkel ist alles Unmeßbare. Bis zur Gestaltlosigkeit erscheinende Umrisse sind ihm eigen. So sagt Hiob, als er sein Nachtgesicht erzählt: Es stand ein Bild vor meinen Augen, und ich kannte27 seine Gestalt nicht, es war stille, und ich hörte eine Stimme: wie mag ein Mensch gerechter sein als Gott! Gerade die Dunkelheit ruft hier die Wirkung des Erhabenen hervor. Es liebt die Andeutung, die Kürze, die sinnliche Abbreviatur. Die Jdee überflügelt das Bild. Es ist erhaben, daß Jupiter's Augenbrauen den Olymp bewegen erhaben, daß die Gottheit nicht hinter dem Feuer, nicht hinter dem Donner, nicht hinter dem Sturmwinde kommt, sondern im linden, leisen Wehen. Je mehr das Bild sich verkleinert, desto mehr wächst der Gedanke.

Das Erhabene wird zum Tragischen, wenn ein Held im Kampfe mit der Weltordnung und dem Weltgesetze untergeht. Schon im Allgemeinen ist der Untergang alles Hervorragenden, der Macht, der Herrschaft, der Schönheit, des Glückes, durch das Naturgesetz, durch die blinde Macht des Zufalls tragisch. Eine solche Tragödie ist das Loos des Schönen, Max unter den Hufen der Pferde. Diese blinde Macht ist der Neid der Götter, vor welchem Solon warnt, und vor welchem Polykrates zittert. Hier ist noch kein Handeln, keine gewußte, gewollte Ueberhebung! Anders, wenn der Wille handelnd eingreift in die Welt, sich zur That entschließt, wenn die Leidenschaft in dämonischer Kraft nach ihren Zielen ringt! Jede That wird zur Schuld; denn sie stört sowohl den Zusammenhang des Bestehenden, das sich gegen sie wendet, als sie auch, als die That eines bestimmten Charakters, mit dem Fluche seiner Einseitigkeit behaftet ist.

Jm Erhabenen sehen wir den Widerstreit der beiden Momente des Schönen so gestaltet, daß die Jdee das Bild überflügelt und in Schatten stellt. Die Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichtes verlangt nothwendig, daß auch umgekehrt die Erscheinung, das Bild, die Jdee überflügle und sich auf Unkosten der letzteren zu behaupten suche. So wenig in jener Form das Bild verschwand: so wenig verschwindet hier die Jdee. Dort war das Bild zum sinnlichen Zeichen herabgedrückt; aber dies Zeichen genügte, um die erhaben aufschwebende Jdee in der Welt des Schönen festzuhalten; hier schimmert die Jdee durch die in aller Breite und Fülle behaglich ausgedehnte Erscheinungswelt hindurch, und gerade ihr Schimmer giebt diesem Standpunkte die echte Freudigkeit. Das umgekehrte Erhabene nun ist das Komische. Das Komische als die Ueberhebung der Erscheinung ist vorzugsweise sinnlich;28 jeder Stufe des Erhabenen stellt es eine Gegenstufe gegenüber. Rückt es dieselbe dicht und plötzlich an jene heran so entsteht der Contrast. Das Erhabene betont das Allgemeine, das Komische das Einzelne; dort verschwindet die Welt in der Gottheit, hier die Gottheit in der Welt; aber diese Welt selbst ist nur ein freies Spiel des Komischen, dem seine eigene Willkür, das eigene Wohlsein und Wohlseinlassen über Alles geht. Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas. Das Erhabene kann unmittelbar komisch werden: das Heilige einer früheren Welt kann der Aufklärung einer späteren in einem komischen Lichte erscheinen. Das Komische fixirt sich in der Posse, im komischen Typus, in der burlesken Gestalt. Jn der Welt des Geistes aber wird es zum Witz, der fragmentarischen Genialität, dem vorüberfliehenden Blitz des Komischen, der, indem er entlegene Vorstellungen gesellt, den Widerspruch in der Welt der Erscheinung schlagend hervorhebt. Der Humor aber erfüllt die ganze Persönlichkeit; im Humor wird der komische Proceß zum absoluten, sein Wesen ist die Wehmuth über den gebrochenen Schein der Jdee in der Welt, über den ewigen Widerspruch zwischen Göttlichem und Jrdischem, Geist und Natur; aber er mißt das erstere mit dem zweiten. Die ganze Welt der Sinnlichkeit, alle Contraste des Witzes und der Phantasie, den höchsten Farben - und Gestaltenreichthum erschöpft er, um die Jdee damit zu messen, die aber erhaben immer über dies Maß hinausgreift. Darum ist in seinem Lachen Schmerz und Größe, und er führt die lachende Thräne im Wappen. Aus diesem ganzen Widerstreite der kämpfenden Schönheit, diesem Fliehen und Suchen der Jdee und des Bildes stellt sich zuletzt die reine Schönheit wieder her, bereichert durch diesen Kampf, den sie als wesentlich in sich selbst aufgenommen.

Doch wie kommt die Jdee der Schönheit zur Erscheinung? Das bewußtlose Dasein der Jdee ist die Natur, das bewußte der Geist. Auch das Schöne schlummert in der Natur und erwacht im Geiste. Natur und Geschichte ist die Stoffwelt des Schönen; es geht durch alle Reiche der Natur, durch alle Zeitalter der Geschichte hindurch. Aber nur selten entbindet es hier der Zufall in seiner ganzen Reinheit; ungeläutert, getrübt, mit Fremdartigem verbunden harrt es des erlösenden Geistes. Die Stufe des Geistes, auf der er das Schöne im Finden schafft und29 im Schaffen findet, ist die Phantasie. Jn der productiven Phantasie lebt die Jdee in ihrer Reinheit, und durch sie wird das stoffartig Schöne zum Jdeal geläutert. Doch dies Bild der reinen Schönheit ist nur ein innerliches. Die Phantasie hat das Naturschöne zerstört, aber nur, um es schöner wieder aufzubauen. Das innere Bild bedarf derselben äußeren Wirklichkeit, wie das Naturschöne. Dazu aber gehört der sinnliche Stoff, in den es die Phantasie hineinarbeitet. Diese Einheit des Naturschönen und der Phantasie ist die Kunst; sie ist die Thätigkeit, die sie im einzelnen Gebilde lebendig hinstellt für die Anschauung aller. Die Thätigkeit des Künstlers ist theoretisch und praktisch zugleich. Die Jdee lebt und entfaltet sich zuerst im Gemüthe des Künstlers, und dann schließt sie sich wieder im Kunstwerke zusammen. Der Genius ist die innere, das Kunstwerk die äußere Offenbarung der Jdee; das künstlerische Schaffen, welches höchste Begeisterung und Besonnenheit in sich vereinigt, die Verwandlung der inneren Offenbarung in die äußere. Diese Verwandlung ist ihrem Wesen nach eine nicht analysirbare Transsubstantiation; ihre äußere Form ist die künstlerische Technik. Die Kunst gliedert sich nun in Künste, die Alles beherrschende Seele des ganzen Kreises bleibt die Poesie, die ebenso gegenwärtig ist in jeder einzelnen Kunst, wie sie dieselben in ihrem eigenen Reiche wiederholt. Um so mehr bedarf es scharfer Grenzbestimmungen dieses Reiches, damit die Poesie nicht in ihrer scheinbaren Allgegenwart ihr eigenstes Wesen verflüchtige.

Zweiter Abschnitt. Die Dichtkunst.

Wir haben gesehen, daß die Kunst dem inneren Jdeal eine sinnliche Gegenwart schaffen, das Kunstwerk sich als Einzelnes in einem bestimmten Stoffe darstellen muß. Jn der That bezwingt die Architektur den todten Stein zu harmonischer Gestalt; die Plastik arbeitet aus Marmor und Erz die schönen Formen des Göttlichen heraus; die Malerei zaubert auf die Wand oder die Leinwand mittelst der Farbe Gestalt und Leben und überwindet die Fläche, indem sie den Schein aller Dimensionen über sie hinhaucht. Wo aber ist der Stoff, das Material der30 Dichtkunst? Wo ist die sinnliche Gegenwart des dichterischen Gebildes? Die in der Vorstellung wiedergespiegelte Sinnlichkeit ist das Material der Dichtkunst. Die Einbildungskraft ist gleichsam die Erinnerung der ganzen äußeren Welt, die in die Seele aufgenommene Stoffwelt. Diese sinnliche Vorstellung ist Material, wenn auch vergeistigtes. Wie draußen sind auch in der Seele die Erscheinungen bunt zusammengewürfelt und aufgehäuft; wo das Schöne darin erscheint, schimmert es, selbst zufällig, durch eine Welt der Zufälligkeit hindurch. Diese Welt der Vorstellungen ist daher ebensogut wie Stein, Marmor und Erz, wie Farbe und Leinwand, ein Stoff der Kunst. Aber er ist der reichste, wie wir gleich hinzusetzen können. Er hat keine Erdschwere, wie jene unmittelbar sinnlichen Stoffe, welche durch ihre ganze Beschaffenheit die Thätigkeit des Künstlers in engere Kreise bannen. Er ist ihr am verwandtesten; denn der Künstler schafft nur durch die gesteigerte Kraft und Jntensität der Vorstellung und Anschauung, welche in der Poesie zugleich das Material seiner Kunst bildet. Die allgemeine Phantasie also, die sich passiv und empfangend verhält, ist der Stoff, in welchen der Dichter sein Kunstwerk überträgt, in dem er es aufbaut. Wohl weckt in dieser Phantasie schon das Gedächtniß die schlummernden Bilder; aber nur in zufälliger Reihe oder an der Kette des Verstandes. Die schaffende Phantasie aber weckt in der empfangenden die Bilder nach dem Gesetze des Schönen; sie greift nur diejenigen Tasten zusammen, die einen harmonischen Akkord geben, und läßt die dazwischen liegenden in ihrem Schlummer verharren. Daß der Stoff todt, roh sei, der Bildung gewärtig, erfüllt sich auch hier wie bei den anderen Künsten; denn die Einbildungskraft ist, dem Dichter gegenüber, ein leeres Blatt, auf das er schreibt. Die empfangende Phantasie ist eine camera obscura; die schaffende führt die wechselnden Bilder in ihr vorüber. Wohl bedarf jede andere Kunst ebenfalls der aufnehmenden Phantasie*) Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß des Künstlers. (Wilhelm von Humboldt, Werke Bd. 4. S. 19.); aber das Kunstgebilde, das sie schafft, steht selbstständig zwischen dem Schaffenden und Empfangenden; das Kunstgebilde des Dichters wird aus der Phantasie heraus und in die Phantasie hineingebaut. Die einzige Vermittlerin des geistigen Verkehrs, die31 Sprache, kann hier auch nur die schaffende und empfangende Phantasie vermitteln. Die Sprache aber ist auch das Organ und Vehikel des gewöhnlichen Bewußtseins. Wie sich daher die dichterische Vorstellung von der gewöhnlichen unterscheidet: so die dichterische Sprache von der gewöhnlichen. Das Wort bezeichnet den Begriff und ruft das Bild hervor. Der erstere ist von selbst ausgeschlossen, da wir uns nicht im Reiche des Begriffes, sondern im Reiche der Vorstellung bewegen; auf dem zweiten nur beruht die Macht der Poesie. Doch das dichterische Bildniß ist die idealisirte Vorstellung, und nur das idealisirte Wort kann dies Bild erwecken. Je geistiger der Stoff, das ganze Reich der Poesie ist: desto sinnlicher muß ihr Vehikel, das Wort sein. Die künstlerische Jdealität des Wortes ist seine Sinnlichkeit; das dichterische Wort muß eine concentrirte Sinnlichkeit athmen. Die Sprache hat ihre Malerei, ihre Musik, und nur durch sie wirkt die Dichtkunst. Das Malerische der Sprache beruht auf einer Wahl und Zusammenstellung der Worte, durch welche das Bild in klaren Umrissen, in farbenprächtiger Fülle wie mit einem Zauberschlage vor der Seele steht. Welche Magie, welchen Duft schon das einzelne Wort haben kann: das zeigen hundert Beispiele aller großen Dichter. Das rechte Wort ist immer Offenbarung des Genius; kein Röhrenwerk pumpt es hervor. Die Musik der Sprache aber, durch welche die dichterische sich über die gewöhnliche erhebt, besteht nicht blos im Wohlklang, der Mißtönendes ausschließt; sie besteht im geregelten Gang der Sprache, deren Maß und Gewicht sich in tactmäßiger Folge geltend macht; sie besteht im wiederkehrenden Zusammenklang, der zugleich einschmeichelnd und befriedigend das Ohr gefangen nimmt. Erst in dieser geläuterten Gestalt wird die Sprache aus einem Medium des täglichen Verkehrs und des gemeinen Verständnisses die lebensvolle Trägerin des dichterischen Gedankens. Die Sprache aber gerade ist es, welche der Dichtkunst das Uebergewicht über die anderen Künste verleiht in Bezug auf die Fülle und Tiefe des Jnhaltes, den sie auszudrücken vermag. Dem Dichter gab ein Gott, zu sagen, was er leide. Dies Sagen erst entbindet die innerste Empfindung, und zwar mit jener Bestimmtheit, welche das Hin - und Herwogen der Töne vergeblich auszudrücken ringt; dies Sagen erst entfesselt die Zunge dem plastischen Laokoon, dem sogar der Ausschrei des Schmerzes verwehrt ist, und entrollt32 eine bewegte, in ewigem Fortgang und Wechsel begriffene Welt, gegenüber dem unwandelbaren Augenblick, den der Pinsel des Malers auf die Leiwand gebannt hat. Freilich, die vermittelte Sinnlichkeit der Dichtkunst ist keine so frische und unmittelbar lebendige, wie die der anderen Künste, die ihr Bild in den greifbaren Stoff hinausstellen; sie steht an jener bedenklichen Grenze, wo die Region des Sinnlichen sich ganz in das geistige Gebiet zu verlieren scheint; aber darin, worin die Schwäche der Poesie besteht, besteht auch wieder ihre Stärke. Es ist falsch, daß die Wirkung der Kunst in geradem Verhältniß steht zur stoffartigen Sinnlichkeit der Erscheinung; sie steht vielmehr im umgekehrten Verhältniß zu ihr. Schon die Malerei, welche den bunten Schein auf die Fläche haucht, wirkt kräftiger als die Plastik, welche ihr Kunstwerk in raumerfüllender Körperlichkeit vor uns hinstellt. Eine gemalte Venus reizt ganz anders die Phantasie und selbst die Sinne, als eine gemeißelte, und die schlimmste stoffartige Wirkung des Sinnlichen übt das Phantasiegebild des Dichters aus. Gerade die starre Mitte des Körperlichen bricht abkühlend den heißen Erguß der Seele in die Seele, der Phantasie in die Phantasie. Jedes in die Sinnlichkeit hinausgestellte Kunstwerk isolirt zuerst den Beschauer vom Schöpfer, ehe es die Leitung der Phantasie wieder fortsetzt und das Jdeal des einen auch in der Brust des anderen lebendig macht. Doch wo die Phantasie nur in und für die Phantasie malt und meißelt: da blitzt der electrische Funken mit ungebrochener Kraft zündend hinüber. Vom psychologischen Standpunkte aus könnte man noch erwähnen, daß die Wärme der empfangenden Phantasie um so mehr entbunden wird, je mehr sie selbst an der Thätigkeit des Schaffenden Theil nimmt, je mehr sie ihre eigene Productionskraft anstrengen muß. Das fertige Bild des Malers, des Bildhauers thut dies nun in weit geringerem Grade, als das Bild des Dichters, welches erst in der angeregten, mitwirkenden Phantasie des Hörers wird. Es entwickelt gleichsam die gebundene Kraft der Phantasie im anderen, die ihm nun entgegenkommt in feuriger Bewegung, und in ihrem inneren Erzittern das werdende Bild in sich abdrückt. So lebendig kann kein Maler die Erhabenheit Jehova's darstellen, wie der Dichter, welcher uns im Säuseln der Lüfte die kommende Gottheit erscheinen läßt. Die erregte Phantasie sucht sie im Feuer, im Donner, im Sturmwind, in allen gewaltigen33 Bildern der Natur; sie hat schon suchend all' ihre Kraft und Pracht entwickelt und nimmt nun das sanftere Bild um so lebendiger in sich auf. Wie furchtbar wirkt die Hinrichtung der Maria Stuart, wenn wir sie aus Leicester's Seele heraus empfinden; wie verstärkt die doppelte Spiegelung das Bild! Schon bei einer wirklichen Schilderung des schrecklichen Actes hätten dem Dichter ganz andere Hilfsquellen für sein innerliches Bild zu Gebote gestanden, als etwa dem Maler, der in Verlegenheit gewesen wäre, welchen Moment der Handlung er zu ihrer Darstellung hätte herausgreifen können! Doch der Dichter erhöht die Wirkung des Bildes, indem er nicht unmittelbar schildert, sondern die Schilderung in die Seele eines Mannes verlegt, der in innigen und wechselnden Herzensbeziehungen zur Fürstin steht, und durch dessen Zweizüngigkeit sie dem Tode verfällt. Doch auch diese Spiegelung genügt dem Dichter nicht; er macht Leicester nicht zum unmittelbaren Zuschauer der Hinrichtung; er läßt uns mit ihm das Schreckliche nur durch das mit der Handlung verbundene Geräusch errathen. Und so erst erregt er in uns jene athemlose Spannung, in die das Herannahen des Furchtbaren das Gemüth versetzt, und läßt uns den ganzen Schmerz blitzartiger Vernichtung, den sein wirkliches Erscheinen, den die vollbrachte That hervorruft, mit durchfühlen. Die That des Macbeth, die Ermordung des Königs, ist am schrecklichsten in ihren vorausgehenden und nachfolgenden Spiegelungen. Der gespenstig drohende Dolch, die nachtwandelnde Königin, welche das Blut nur an ihre Hände träumt das versetzt unsere Phantasie erst in jene Stimmung, welche das äußerliche Geschehen nicht hätte erzeugen können. Diese große Wirkung des innerlichen Bildes der Dichtkunst beruht auf dem Wesen der menschlichen Einbildungskraft. So gewinnt die Poesie durch diesen Aether der inneren Sinnlichkeit, wenn sie auch an Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung einbüßt, doch wieder an Macht über das Gemüth. Hierzu kommt, daß gerade diese Jnnerlichkeit sie befähigt, den ganzen und uneingeschränkten Reichthum der Jdee zu entfalten, einen geistigen Jnhalt, den in solcher Fülle keine andere Kunst in sich aufzunehmen vermag. Die Schönheiten der Natur, die Thaten der Geschichte, die Gedanken des Geistes, die unendliche Erscheinungswelt der Leidenschaften, alle Stimmungen des Gemüthes fallen in ihren Kreis; aber sie muß diesen ganzen Jnhalt für die Anschauung innerlich verbildlichen34 und lebendig machen für die Empfindung. Der Duft der Empfindung muß über allen Bildern zittern, die sie entrollt. Unsere beiden größten Dichter, Schiller und Goethe, haben sich in diesem Sinne ausgesprochen. Schiller sagt: Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand in ein Object zu legen, so daß dieses Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter, und Goethe: Lebendiges Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den Dichter. Während man bei der Schiller'schen Erklärung blos an die Lyrik denkt oder selbst an die Musik denken kann, spricht Goethe klarer aus, wie es mit der Empfindung des Dichters steht. Denn in der That würde man fragen können, ob und wo z. B. in der beschaulichen Darstellung des Epos die Empfindung zu ihrem Rechte komme? Die hier gemeinte Empfindung des Dichters ist aber nicht blos das Gefühl der eigenen Seelenlage; sie ist das lebendige Gefühl der Zustände, und dies soll sie auch hervorzaubern. Die Sonne der Poesie soll nicht blos das Memnonsbild beleuchten; sie soll es innerlich erzittern machen. Der Dichter muß die Welt in seine Empfindung aufgenommen haben, ehe er sie aus derselben herausgebiert. Ueber den plastisch festen Gestalten Homer's schwebt jene unbeschreibbare Klarheit und Heiterkeit, der jonische Himmel seiner Seele, der sich in allen Bildern spiegelt, die er schildert, der jedes Gemüth in einen gleichen Aether taucht. Ueber den so scharfen Charakteren Shakespeare's, die in der Bestimmtheit ihrer Züge bis zum Schroffen, Eckigen und Verzerrten fortgehen, über dieser so reich ausgemalten Welt des Handelns zittert jener Duft der Wehmuth, welche diese Welt der Täuschung, des Scheins wie einen großen Traum anschaut, und über jeder Scene schwebt das unsichtbare Motto:

Wir sind solcher Stoff,
Wie der von Träumen, und dies kleine Leben
Umfängt ein Schlaf!

So intensiv empfindet freilich nur der Genius! Er kann die Gestalt mit höchster Anschaulichkeit loslösen, die Charaktere und ihre Zwecke zu größter Selbstständigkeit befreien; aber was sie sind, sind sie nur durch die Kraft seiner Empfindung, welche die Seele dieser ganzen erschaffenen Welt ist.

35

Jn der That steht die Poesie in der Mitte des Universums und wirft, wie Wilhelm von Humboldt sagt, nach allen Seiten ihre Strahlen in's Unendliche! Sie ist in diesem höchsten Sinne Weltseele, Centrum der schöpferischen Empfindung; im kleinsten Bilde, das sie schafft, ist das All gegenwärtig und gerade hierin unterscheiden sich die großen Dichter von den kleinen, die nur Stücke aus dem All herausschneiden und selbst die eigene Seele nur stückweise geben. Sie war, im Bunde mit der Musik, die erste Kunst und wird die letzte sein!

Es ist keine inhaltlose Phantasie, wenn Anastasius Grün behauptet, daß erst mit dem letzten Menschen der letzte Dichter von der Erde auswandern wird. Jn welche Bahnen auch die Menschheit getrieben wird, welche Jnteressen auch das Jahrhundert beherrschen mögen: das ist alles nur neuer und reicherer Stoff für den dichterischen Genius, der in die bunte Welt die eigene große Seele hineinschaut. Der Mensch bleibt ja ewig ihr Mittelpunkt, und erst mit dem Menschen stirbt die Poesie. Freilich bedarf es des großen Dichters, den nicht, wie die Scheinpoeten, die Aeußerlichkeiten einer neuen Kulturepoche blenden, daß sie sich mit ganzer Seele an ihre vergänglichen Jnteressen und Zwecke hingeben, sondern der den Faden der ewigen Entwickelung festhält, den die breite Prosa der Erscheinung nicht irrt, wenn sie auch gleich einer dichten, dumpfen Wolke niederregnet, sondern der gleichsam aus ihren zerrinnenden Tropfen mit dem Strahle der ewigen Jdee den Regenbogen der Schönheit aufbaut!

Diese weitere Auffassung der Poesie, als Seele der Welt und deshalb auch Seele jeder Kunst, als die Jdee selbst in ihrem ganzen Reichthum, wie sie ein großes Gemüth anschaut und darstellt, möge jetzt wieder dem engeren Begriff der Dichtkunst weichen, wie ihn vorher dieser Abschnitt entwickelt, und dessen weitere Ausführung in allen seinen Bestimmungen erst unser ganzes Werk geben kann. Hiernach ist die Dichtkunst diejenige Kunst, welche die Jdee des Schönen mit, in und für die Phantasie darstellt, indem die schaffende Phantasie aus den Tiefen der Empfindung heraus ihr die Jdee spiegelndes und tragendes Gebilde mittelst der idealen Sprache in der idealen Sinnlichkeit der empfangenden Phantasie aufbaut.

36

Dritter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Malerei.

Als Kunst erscheint die Poesie neben den anderen Künsten, und es gilt zu bestimmen, was sie von jenen aufnimmt, und wie sie sich von ihnen sondert. Jean Paul erklärt sich zwar gegen den Parallelismus der Darstellung, aus welchem man Nichts lernen könne*)Vorschule der Aesthetik. S. 18 spricht er von den verschiedenen Wegen der neuen Aesthetiker, Nichts zu sagen: der erste ist der des Parallelismus, auf welchem Reinhold, Schiller und Andere ebenso oft auch Systeme darstellen; man hält nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu construiren, an irgend einen zweiten (in unserem Falle Dichtkunst etwa an Philosophie oder an bildende und zeichnende Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z. B. sein würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die andere mehr die Arme, jene bewege sich mehr in krummen, diese in geraden Linien, jene für, diese gegen einen Menschen. ; doch er faßt dies zu äußerlich. Jede Bestimmung ist nach Spinoza eine Negation; aber auch umgekehrt jede Negation eine Bestimmung. Das Reich existirt nur durch seine Grenze, und der Nachweis der Schranke gehört zum Nachweis des Wesens. Außerdem spielen in die Poesie als die vollkommenste Kunst die anderen so hinein, daß ihr eigenes Wesen am meisten durch die Erkenntniß aufgehellt wird, was ihr mit ihnen gemeinsam ist, und wodurch sie sich von ihnen unterscheidet. Daß hier der analytische Gang die schlagendsten positiven Resultate ergiebt, hat wohl am klarsten Lessing in seinem Laokoon bewiesen, dessen Grundsätze für das Verhältniß der Poesie und Malerei noch für den heutigen Tag maßgebend erscheinen müssen.

Die Malerei mag hier die anderen bildenden Künste überhaupt vertreten, da sie gerade in den wesentlichen Vergleichungspunkten mit ihnen übereinstimmt und für sie gesetzt werden kann. Der Maler giebt dem geistigen Bild durch Linien und Farben eine sinnliche Wirklichkeit auf der Fläche, im Raume; der Dichter verwirklicht das seine in der Vorstellung, und zwar durch die Sprache, also in der Zeit. Der Maler schafft sein Bild durch das Nebeneinander der Linien und37 Farben, der Dichter durch das Nacheinander der Worte. Dieser Unterschied ist so bedeutend, daß er uns auf eine neue wesentliche Bestimmung der Poesie führen wird. Zunächst ersehen wir schon daraus, daß der Kreis der Poesie ein unendlich größerer ist, als der der Malerei! Die Malerei kann niemals eine Entwickelung geben, sie kann immer nur den Moment darstellen, und es kommt für sie wesentlich darauf an, den schlagenden Moment zu wählen, dessen Gegenwart eine so vielsagende ist, daß er zugleich die Vergangenheit zusammenfaßt und den Wiederschein der nahen Zukunft trägt. Die Poesie aber ist wesentlich Entwickelung; sie giebt eine Aufeinanderfolge der Momente, und deshalb fällt alles innere und äußere Geschehen in ihren Kreis, nicht blos die Handlung selbst, sondern auch ihre Genesis und ihre Folgen.

Man hat in der neuesten Zeit von einer Poesie des Nebeneinander gesprochen! Karl Gutzkow hat sie in seiner Vorrede zu den Rittern vom Geiste der Poesie des Nacheinander gegenübergestellt und scheint so die Dichtkunst in ein ihr fremdes, räumliches Gebiet herabzudrücken. Doch ist dies blos Schein; denn der Autor spricht nur von nebeneinanderbestehenden, concentrischen und excentrischen Lebenskreisen, die in fortwährender Rotation um ihre Mittelpunkte sind; er spricht nur von einem gleichzeitigen Geschehen, von einem Nebeneinander der Handlungen und Empfindungen. Und hierdurch wird sogar die Grenzlinie zwischen Poesie und Malerei noch schärfer bestimmt. Denn die Gleichzeitigkeit der Handlungen kann nur die Poesie darstellen, nicht die Malerei, obwohl sie auch ein Nebeneinander im Raume voraussetzt. Doch der Zeitbegriff ist hierbei überwiegend. Homer kann malen, was gleichzeitig auf der einen und auf der anderen Seite des Schlachtfeldes vor sich ging; er kann dies freilich nur nacheinander malen; die Phantasie kann die Bilder nur nacheinander aufnehmen; aber wie der Dichter durch sprachliche Bestimmungen die Gleichzeitigkeit ausdrücken kann, so kann auch die Phantasie in einem blitzartigen Moment das Nacheinanderangeschaute zugleich setzen. Der Maler dagegen kann nur das Eine oder das Andere malen und wenn er beides malt, so hat seine Kunst kein Mittel, das Gleichzeitige und Zusammengehörige der beiden Bilder auszudrücken.

Lessing hat diesen Unterschied im Laokoon scharf und schlagend38 auseinandergesetzt; aber gerade die Schärfe seiner Bestimmungen läßt sie leicht einseitig erscheinen, wenn sie nicht einer erweiternden Auslegung theilhaft werden. Körper sind nach ihm der Gegenstand der Malerei; Handlungen der Gegenstand der Poesie. Doch Körper existiren nicht allein im Raume, sondern auch in der Zeit. Jede Erscheinung ist Wirkung einer vorhergehenden, Ursache einer folgenden, und somit das Centrum einer Handlung. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. Jnsofern nun diese Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen. Die Malerei kann in ihren coexistirenden Compositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nützen und muß daher den prägnantesten wählen. Ebenso kann die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nützen und muß daher diejenige wählen, welche das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite erweckt, von welcher sie ihn braucht.

Lessing spricht vorzugsweise von der epischen und dramatischen Poesie und vom historischen Gemälde: darum die Beschränkung der Poesie auf Handlungen. Jm weitern Sinne müßte man dann Empfindungen, insofern sie auch in der Zeit aufeinanderfolgen, die innern Handlungen der Seele nennen. Oder glaubt Lessing die innere Welt der Seele, die Empfindung ausschließen zu müssen, weil hier der Vergleichungspunkt zwischen Malerei und Dichtkunst fortfällt? Fast scheint es so, denn er sagt vorher: Jch will bei den Gemälden blos sichtbarer Gegenstände stehen bleiben, die dem Dichter und Maler gemein sind. Freilich malt der Künstler blos Sichtbares, aber die Empfindung ist damit nicht ausgeschlossen. Ein Landschaftsbild z. B. ist nur dann gelungen, wenn es eine bestimmte Stimmung der Seele athmet. Lessing vergißt die Lyrik und die ihr entsprechende Landschaftsmalerei, weil er eine zu scharf ausgeprägte Verstandesnatur war, um sich auf diesem Gebiete der Jnnerlichkeit heimisch zu fühlen. Für die Poetik gestaltet sich die Frage so: inwieweit und wie darf der Dichter malen? Zunächst steht fest, daß das Malerische nie der39 letzte Zweck des Dichters sein kann, und schon dadurch ist die beschreibende Poesie als eine bestimmte Gattung verurtheilt. Lessing ließ gegen sie vorzugsweise die Batterieen seines Scharfsinnes spielen, da gerade zu seiner Zeit die Thomson, Haller, Brockes und Kleist sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Das beschreibende Gedicht als solches ist jetzt nur eine historische Curiosität und kann hier nur an dieser Stelle besprochen werden. Sein Stoff ist die Natur, aber die todte Natur in ihren Formen und Gestalten. Haller bringt die Botanik in Verse und zergliedert uns eine Alpenblume: Wurzel, Stengel, Blatt, Krone und Kelch, Staubfäden und Pistille, mit der Genauigkeit des Naturforschers, der sie unter der Lupe angesehn. Was er uns aber nicht zergliedern kann und doch allein als Dichter geben sollte: das ist der Duft dieser Blume. Und der Duft überhaupt fehlt der beschreibenden Poesie: der höhere Duft der Seele. Thomson malt uns die Jahreszeiten in einer Mosaik von Bildern, aber der Eindruck seiner Dichtung ist so ermüdend, als wären wir durch eine Gemäldegallerie von Landschaftsbildern gewandert, die wir im Vorübergehn nur oberflächlich betrachten konnten. Denn auf diesem Gebiet muß der Dichter gegen den Maler den Kürzeren ziehen. Wohl fehlt auch die menschliche Thätigkeit nicht; aber diese Thätigkeit tritt nur als Staffage auf. Diese Schnitter und Winzer sind so äußerlich hineingemalt, wie ihre Aehrenbündel und Mostfässer. Jn Kleist's Frühling bemerkt man hin und wieder eine pulsirende Ader der Empfindung aber das Ganze geht ebenfalls in einem Nebeneinander von Bildern, in einer äußerlichen Breite auf. Die Aeußerlichkeit als Selbstzweck ist das Wesen der beschreibenden Dichtgattung, und damit ist sie als eine unberechtigte Zwittergattung zwischen Poesie und Malerei verurtheilt. Wenn das Aneinanderreihen todter Bilder im Raume malerisch ist: so kann die Schilderung nur dichterisch werden durch innere Bewegung. Man kann zunächst der Natur diese Bewegung leihn, indem man nicht die gewordene Gestalt festhält, sondern sie als im ewigen Proceß des Werdens begriffen darstellt. Schon an und für sich ist die Natur in Bewegung, das aufgeregte Meer, der Sturm, das Gewitter dichterisch. Man könnte sagen: Hier ist Handlung in der Natur. Der Maler kann nur einen bestimmten Moment fixiren, nur diese Gestalt des Wogenschlags,40 der Brandung; der Dichter führt die wechselnden Erscheinungen in der Zeitfolge an uns vorüber. Jn dieser Bewe gung der Natur symbolisirt sich von selbst die menschliche Thätigkeit:

Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt;
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt
Und Fluth auf Fluth sich ohn 'Ende drängt,
Und will sich nimmer erschöpfen und leeren,
Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.

(Schiller.)

Der Maler kann uns nur den moosbewachsenen Felsen, das Gebirge mit seinen Klippen und Schluchten malen; der Dichter zeigt uns die Thätigkeit der Natur, die es erschuf:

Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgeründet,
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut,
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht,
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Thal gemildet.

(Goethe.)

Noch berechtigter aber wird die Beschreibung, wenn sie die Natur ganz in die Stimmung des Gemüthes auflöst und nur seine Reflexe über das äußerliche Bild ausgießt. Hier hört der Landschaftsmaler auf, wo der Dichter anfängt. Bei jenem geht die Stimmung aus dem Bilde, bei diesem das Bild aus der Stimmung hervor. Jean Paul ist Meister darin, auch das umfassendste Landschaftsgemälde in die Farben der Stimmung zu tauchen, die seine Helden beseelt. Bei jener beschreibenden Poesie wandert der Held durch die Landschaft; bei der echten die Landschaft durch den Helden. Byron's Childe Harold führt uns durch halb Europa, malt uns Lissabon, Venedig, Athen; aber er ist kein in Verse gebrachtes Reisehandbuch. Ueber allen diesen Bildern, mag der Held auf der Seufzerbrücke in Venedig stehen oder dem Donnersturm im Schweizer Jura lauschen, zittert der Hauch seiner eigenen, gebrochenen Seele. Es ist die Elegie eines blasirten, heimatlosen Gemüthes, das in der äußern Welt nur seinen Spiegel sucht und findet! Doch die Beschreibung der Natur wird auch dann dichterisch, wenn wir in ihr gleichsam die Parallelstellen zum Leben des Geistes aufsuchen, wenn sich der dichterische Gedanke unmittelbar an die Schilderung knüpft. Ein Mustergedicht hierfür ist Schiller's Spaziergang, der an den41 Frühling Kleist's zu erinnern scheint, sich aber gerade dadurch von ihm unterscheidet, daß wir nicht hier locker zusammenhängende Bilder erhalten, sondern die vorüberfliehende Welt der Erscheinung zum Spiegel wird für die sittliche Welt. Sehr schön und tief hat auch Goethe dies Verhältniß des Menschen zur Natur, das die äußere Welt zum Gedicht umzaubert, und damit das Geheimniß der echten dichterischen Beschreibung, zugleich in einem herrlichen Muster derselben, in jenem bekannten Faustmonolog geschildert:

Erhab'ner Geist, du gabst mir, gabst mir Alles,
Warum ich bat! Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönntest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freund's zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Jm stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihren Fall dumpf hohl der Hügel donnert;
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eig'nen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber; schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch,
Der Vorwelt silberne Gestalten auf,
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.

Das ist echte dichterische Malerei! Die Natur in Beziehung zum Menschen, aber nicht in jener nothwendigen, aus der die Prosa der Existenz hervorgeht, sondern in der freien, dichterischen! Hier ist kein logischer Zwang, daß das bestimmte Naturbild gerade die bestimmte Gedanken - und Empfindungskette hervorruft; es ist die freie Wahl des dichterischen Gemüthes!

Wie verhalten sich nun die Freiligrath'schen Gedichte zu den aufgestellten42 Grundsätzen? Sind sie nur eine exotische Pflanze im Blumengarten der alten, beschreibenden Poesie? Jst Freiligrath nur ein Haller redivivus, der, statt auf den Alpen, in allen Zonen herumbotanisirt? Und soll diese reiche, neuentdeckte Welt, die durch ihre Farbenpracht so anlockend wirkt, die Welt der Tropen und der Pole, deren Schleier kühne Reisende zerrissen, für die Poesie ein für alle Mal verloren sein? Gewiß nicht! Es kommt nur auf die Behandlungsweise an, und ein echtes Dichtertalent wird uns keinen orbis pictus todter Bilder geben, ohne die Seele, ohne die Bewegung der Poesie. Was zunächst liegt, ist, die Natur zu schildern in ihrem Kampfe mit den Menschen und so ihren großartigen Bildern die höchste Bewegung und tiefste Bedeutung zu geben. Hierher gehört z. B. Freiligrath's Mirage und mein Gedicht auf Franklin, wo ich die Polarwelt in ihrem Kampfe mit dem kühnen Weltentdecker schildere. Dann aber ist es der Hauch einer kosmopolitischen Empfindung, der Odem eines mächtigen, völkerverbindenden Weltverkehrs, welcher die Segel der Freiligrath'schen Gedichte schwellt. Dies ist z. B. in Florida of Boston nicht in breiten Reflexionen ausgesprochen, aber doch wie ein Aether der Stimmung über das Ganze ausgebreitet:

Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung,
An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog.

Jm Gesicht des Reisenden ist die Wüste lebendig gemacht mit allen ihren Schrecken; sie erzählt ihre Geschichte. Dies ist nicht dichterische Schilderung, und kein Maler kann es darstellen, weil alles wie im Wirbel vorüber braust:

Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen,
Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen,
Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen
Jmmer mehr noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen,
Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen.

Jn seinen berühmten Thierbildern: Löwenritt, Unter den Palmen schildert Freiligrath nicht die Thiere, wie Raff, sondern er zeigt sie uns in Bewegung, in heißem Kampf, und jeder Kampf hat seine sittliche Spannung. Hat man Freiligrath den van Aken der Poesie genannt: so gilt dies insofern mit Recht, als er zuerst gleichsam seinen dichterischen Kopf der Thierwelt in den Rachen steckte und ihn43 unversehrt wieder herauszog. Er hat Löwen, Schlangen und Wallfische dichterisch courfähig gemacht. Jm Ganzen ist er von der Anklage, die Grenzen der Dichtkunst und Malerei verwischt zu haben, freizusprechen.

Was die tausend Gegenstände des menschlichen Bedürfnisses und Verkehrs betrifft, so darf der Dichter sie gewiß auch schildern, aber er muß sich dabei von einer niederländischen Kleinmalerei frei halten. Denn diese Objecte haben nur Werth für den Dichter, insoweit der Mensch seine Seele, oder die Kultur ihre Bedeutung in sie hineingelegt. Hiergegen wird von den neuen Romanschriftstellern fast durchgängig gesündigt. Wenn Jmmermann schildert, wie der Hofschulze einen Wagen anspannt: so ist dies zwar eine Reihenfolge von Momenten, von denen der Maler nur eins herausheben könnte aber er verfällt dabei in eine Prosa der Technik, die dem Maler nicht erspart bleiben kann, die aber jede Dichtung verunstaltet. Die Farbe leiht Allem, auch dem Geringfügigsten, einen schönen sinnlichen Schein. Ueberdies hat der Maler die Mittel, das Geringfügige geringfügig darzustellen. Das Kleine erscheint klein im Raume, das Unbedeutende kann in Schatten gestellt werden. Dagegen wird das Wort, das Vehikel des Dichters, in dessen Klang kein Maß liegt für das Große und Kleine, gemißbraucht, wenn es das Kleinliche und Nichtssagende ausführlich malt. Am weitesten gehn hierin unsere Dorfgeschichtenschreiber, welche den Grundriß jeder Scheuer mit der Genauigkeit eines Architekten entwerfen und an jedem Düngerhaufen ihre malerische Kunst versuchen. Doch nicht blos die niederländische, auch die italienische Schule des neuen Romans verfällt in denselben Fehler. Laube z. B. in seiner sonst vortrefflichen Gräfin Chateaubriand ist der Gropius der französischen Lustschlösser und ergeht sich dabei in einer Decorationsmalerei, welche die Grenzen des dichterisch Erlaubten überschreitet. Jm Allgemeinen ist anzuerkennen, daß die französischen Romanschriftsteller in dieser Beziehung die englischen bei Weitem übertreffen, die durch das Muster Walter Scott's sich zu dieser verkehrten, breiten Ausmalung des bedeutungslos Aeußerlichen verleiten lassen.

Wenn nun auch der Dichter in seinen Schilderungen nicht in das Gebiet des Malers übergreift: so ist er immer noch zu tadeln, wenn er den Vorsprung, den seine Kunst vor der des Malers hat, nicht geltend44 macht. Nehmen wir z. B. ein Schlachtgemälde von Horace Vernet und ein dichterisches von Scherenberg. Mag das erste noch so riesige Dimensionen haben, wie seine Smala : Vernet kann immer nur einen Moment darstellen, Scherenberg schildert eine ganze Schlacht, ihre Entwickelung, ihre Krisen. Dieser Vortheil macht sich von selbst geltend. Aber Vernet kann uns nur den äußerlichen Kampf der Franzosen und Beduinen malen; er kann uns seine culturhistorische Bedeutung nicht darstellen; er kann uns keine Perspective der Jdeeen entrollen. Der Dichter, der sich freiwillig auf das beschränkt, wozu den Maler das Wesen seiner Kunst zwingt, bleibt offenbar hinter den Anforderungen der seinigen zurück. Scherenberg schildert uns in Waterloo und Leuthen glänzend die taktischen Manövers der Schlacht, die Angriffe der Schwadronen, die Evolutionen der Jnfanterie, die Wirkungen des Geschützes; auch die Art und Weise seiner Schilderung ist dichterisch, schlagend, in großen Zügen; aber über dem ganzen Bilde schwebt nur der Pulverdampf des Malers, nicht der Hauch der geschichtlichen Jdee, welche gerade in der Sprache des Dichters ihren begeisterten Apostel finden soll.

Wir haben bis jetzt erörtert, inwieweit der Dichter malen darf! Auf die andere Frage, wie der Dichter malen soll, hat Lessing ein für alle Mal die entscheidende Antwort gegeben und das Axiom hingestellt, dessen Nichtbeachtung so vielen Dichtwerken der Gegenwart zum Nachtheile gereicht. Die an den Raum gebannte Malerei kann nur einen einzigen Moment der Handlung aus der Zeitfolge ergreifen und muß deshalb den schlagendsten wählen; die in der Zeit fortschreitende Dichtkunst kann nur eine Eigenschaft aus der Welt des Raumes ergreifen und muß deshalb die bezeichnendste wählen. Homer hat, sagt Lessing, für ein Ding gemeiniglich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte, schwarze Schiff. Weiter läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein. Aber wohl das Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes macht er zu einem ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf, sechs besondere Gemälde machen müßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte. Wenn auch die Schärfe der Lessing'schen Antithese vielfache Milderungen zuläßt: so bleibt doch ihre Grundwahrheit bestehen. Sie erklärt sich mit vollem Recht gegen jene verkehrte Gründlichkeit45 der dichterischen Schilderung, welche den ruhenden Gegenstand durch die erschöpfende Fülle seiner Eigenschaften darstellen will und dadurch vor die Phantasie nur ein verwirrtes und zerrinnendes Bild bringt. Der Maler giebt, wie die Natur, die sinnliche Anschauung mit einem Schlage, indem die Fülle der Eigenschaften im Raume mit einem Blick erfaßt wird. Der Dichter, der ihm nacheifern will, bringt sich um die Wirkung seiner Kunst, indem die Menge von Eigenschaften, die in der Zeit nacheinander aufgezählt werden, kein klares Bild geben kann. Dies erreicht der Dichter nur, indem er die schlagendste Eigenschaft aufgreift. Die Malerei beleuchtet ihren Gegenstand mit der Fackel, die Dichtkunst nur mit dem Blitze. Das Aufzählen der Eigenschaften durch die Sprache gehört der wissenschaftlichen Zergliederung an, welche die Theile auseinander nimmt ohne Rücksicht auf das geistige Band; die dichterische Anschauung aber soll das Ganze schaffen; die Phantasie verlangt stets das ganze Bild. Auch das Bild des Dichters soll, wie das des Malers, mit einem Schlage vor unserer Seele stehen. Das ist aber nur dann möglich, wenn der Dichter die schlagende Bezeichnung trifft, die das Bild plötzlich in die innere Vorstellung hineinhebt. Dies Element der Phantasie, für welche der Dichter schafft, verträgt nicht die Bestimmtheit der Umrisse und der Farbengebung, wie die todte Fläche des Malers; aber selbst lebendig und beweglich, selbst zeugungskräftig, bedarf es nur der begeisterten Anregung, um das Bild hervorzurufen. Das einzige rechte Wort schafft auf diesem Boden besser die Gestalt, als ganze Sätze voll beschreibender Phrasen. Das Bild der Dichtkunst ist geistiger Art! Was ihm an Sinnlichkeit fehlt: das muß es durch Geist ersetzen.

Diese Erörterungen sind sehr fruchtbringend für die dichterische Praxis. Man braucht heutzutage nicht mit Lessing auf Haller's Schilderung des Enzians oder auf das Gemälde der Helena, das Constantinus Manasses entwirft, zurückzugehen, um die verfehlte Anwendung des malerischen Princips innerhalb der Dichtung an Beispielen klar zu machen. Unsere historischen Romanschreiber, Walter Scott an der Spitze, haben uns hierin mit allzureichlichem Stoffe versorgt. Sie entwerfen stets ein vollständiges Kostümbild ihrer Helden von Kopf bis zu Fuß, von den Federn des Hutes bis zu den Sporen der Stiefel! Sind wir aber glücklich bei den Stiefeln angelangt, so haben wir längst vergessen,46 wie der Hut aussieht! Wir haben alle Kleider einzeln, aber nicht den Eindruck, den der ganze Anzug macht, nicht sein dichterisches Bild, das niemals durch ein todtes Nebeneinander von Eigenschaften hervorgerufen wird. Sollen diese Eigenschaften von der Poesie dargestellt werden: so müssen sie nacheinander, an einen geistigen Faden der Bewegung gereiht, hervortreten. Homer giebt uns vom Schild des Achilleus gleichsam die Geschichte; ebenso vom Bogen des Pandarus, und fängt mit der Jagd des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht ist. Dadurch werden seine Eigenschaften für die Phantasie lebendig. Freiligrath wäre nur ein exotischer Wouwerman und kein Dichter, wenn er uns im Löwenritt die Giraffe von Kopf zu Fuß so hinmalte, wie jener seinen berühmten Schimmel. Dieser Dichter ist ein zu großer Meister seiner Kunst, um solche todte Menageriebilder aus dem jardin des plantes zu geben. Ein Poet aus der Schule Walter Scott's hätte mit dem Stabe des Menageriewärters auf das ruhig dastehende Thier gezeigt und dabei erzählt, daß es ein buntes Fell, einen braungefleckten Hals, leichte Füße und große Schnelligkeit habe und überhaupt einem Riesenpferde vergleichbar sei! Freiligrath aber malt diese Eigenschaften in seinem klassischen Gedichte nicht nebeneinander hin; er läßt sie wie Funken aus der lebensvollen Bewegung nacheinander hervorsprühen:

Plötzlich regt es sich im Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken
Springt der Löwe; welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
Jn den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen,
Als das bunte Fell des Renners, den der Thiere Fürst bestiegen?
Jn die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne,
Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne.
Mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt;
Sieh, wie Schnelle des Kameeles es mit Pardelhaut vereinigt.
Sieh, die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen!
Starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen; rieselnd fließen
An dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen
Und das Herz des flücht'gen Thieres hört die stille Wüste klopfen.

Doch sollte dem Dichter die Schilderung der körperlichen Schönheit z. B. der weiblichen, verschlossen sein? Sollte er keine Madonna, keine Venus, keine Helena in seinen Versen malen dürfen, oder nur mit flüchtig47 streifenden Beiwörtern, wie Homer die göttlich schöne Helena und Virgil die pulcherrima Dido? Lessing führt die Schilderung der bezaubernden Alcina im rasenden Roland an, um zu zeigen, wie dies Ausmalen der einzelnen Züge, diese Fülle der hervorgehobenen Eigenschaften das Bild zugleich verwischt und erdrückt. Dennoch muß er zugeben, daß Einiges in diesem Gemälde dichterisch wirkt, und dies Wirksame sind nicht die Formen und Farben, sondern der Reiz, die Anmuth, welche, wie wir oben sahen, die Schönheit in Bewegung ist. Jn kurzer Formel: der Dichter male die Schönheit als Wirkung und male sie durch ihre Wirkung. Als Wirkung geht die Schönheit aus der Seele hervor, die in wechselndem Reize um ihre Linien spielt. So wenn es von der Bianka in meinem Carlo Zeno heißt:

Und stets die volle Seele giebt der Blick,
Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren!
Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück,
Des Herzens Kindheit ewig unerfahren.
Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen
Und doch von sanften Gluthen übergossen.
Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen
Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen,
Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele,
Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut,
Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut,
Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle.

Die letzten Zeilen deuten zugleich das zweite an. Homer schildert die Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie auf die versammelten trojanischen Greise macht, als sie in ihre Mitte tritt. Dies Malen durch den psychologischen Reflex ist echt dichterisch und dem inneren Element der Phantasie angemessen. Daß die Häßlichkeit dagegen eher mit dem stückweisen Aufbau der einzelnen Züge in der Poesie geschildert werden kann, daß sie hierin viel weiter gehen darf, als die Malerei: das erklärt sich gerade daraus, daß eben die Schlagkraft des häßlichen Bildes durch das Nacheinander der Momente in der Poesie gemildert wird, während sie durch ihr Nebeneinander in der Malerei drastisch hervortritt. Man vergleiche hierüber, was Lessing über den Laokoon gesagt.

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Um die reiche Gedankenwelt zu veranschaulichen, hat der Dichter andere Mittel, als der Maler, dessen allegorische Darstellung nicht der äußeren Attribute entbehren kann, um nur annähernd die Bestimmtheit eines in eine Gestalt verwandelten Begriffes darzustellen. Der Dichter begiebt sich daher seines Vorzuges, wenn er, wie Horaz, die Nothwendigkeit mit eisernen Haken und Nägeln darstellt. Dies ist schlechte und mit Recht getadelte Malerei; denn der Dichter macht hier unnöthigerweise die Schranke dieser Kunst zur seinigen. Er muß die Nothwendigkeit schildern durch ihre lebendigen Wirkungen, durch welche sie sich als die eiserne Macht in den Geschicken der Einzelnen und der Völker offenbart.

Diese Winke mögen genügen, um zu zeigen, inwieweit und wie das Malerische in der Poesie auftreten darf. Nur die geistig und sinnlich bewegte Schilderung findet hier ihre Stätte, während die ungebührliche Breite des malenden Elementes die Poesie in Prosa auflöst.

Vierter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Musik.

Der Bund dieser beiden Künste und ihre Unzertrennlichkeit ist historisch älter als ihr selbstständiges Bestehen. Seit der geflügelte Götterbote mit seinem Fuße die Schildkröte berührt und durch den Ton, den sie von sich gab, auf die Erfindung der Lyra geführt wurde, hat das alte Hellas die Dichtgattungen und die Musik gemeinsam entwickelt. Zur lesbischen Barbitos sangen Alkaeos und Sappho ihre liebeathmenden Strophen, Flöten begleiteten das heitere Skolion nach der Mahlzeit und des Tyrtäos kampflustige Distichen, die Nänien und Epitaphien an der Verbrennungsstätte und am Grabhügel der Todten und die Epinikien des Pindar. Auch der von keinem Jnstrumente begleitete Gesang, den die Alten nach Varro assa vox nannten, war ihnen bekannt. Die chorische Lyrik des Stesichoros wurde ein Theil der Tragödie, und so gesellte sich die dramatische Poesie dem Chorgesang und Klang der Jnstrumente. Aus diesem innigen Bunde aber rissen sich Dichtkunst und Musik wieder los, um in selbstständiger Entwickelung nach gesonderten Zielen zu ringen. Wenn sie sich wieder gesellten: so geschah es nicht ohne Opfer von der49 einen oder anderen Seite, nicht ohne daß die eine Kunst der anderen dienstbar geworden wäre, freilich nicht ohne das Bewußtsein, welches den römischen Bürger begleitete, wenn er in den Saturnalien die Rolle des Sclaven übernahm: daß diese Dienstbarkeit eine freigewählte und vorübergehende sei und er, abgesehen von ihr, die Herrschaft der Welt behaupte. Daß sich Musik und Dichtkunst historisch aus einem und demselben Keime erschlossen, deutet auf ihre innige Verwandtschaft als schwesterliche Künste, eine Verwandtschaft in den ersten kanonischen Graden, welche unbedingt die Ehe ausschließt, zu der ein neuer Kunstreformator sie zwingen will. Die Musik hat mit der Dichtkunst die Welt der Jnnerlichkeit gemein, welche nur den Bestimmungen der Zeitfolge unterworfen ist. Das räumliche Bild, welches von der Poesie nur aus dem äußeren Raum in die Vorstellung übertragen wird, ist aus dem Kreise der Musik gänzlich ausgeschlossen. Die bestimmte Vorstellung, den bestimmten Gedanken auszudrücken, fehlen ihr alle Mittel. Der Poesie gegenüber ist sie eine Stumme von Portici, während sie den anderen Künsten gegenüber der Welt zum ersten Male die Zunge löst. Sie ist die Welt in ihrem innersten Ertönen, in ihrer ahnungsvollen Tiefe, in welche ja die Seele des Menschen mitversenkt ist, und deren geheimnißvollen Zauber sie mit größerer Macht ausspricht, als jede andere Kunst. Jn ihrer Form erinnert sie an die Arithmetik, an die Zahl, die ja ebenfalls in der Mitte zwischen Geistigem und Sinnlichem steht. Leibnitz nannte die Musik mit Recht eine verborgene Arithmetik der Seele, die zählt, ohne es zu wissen. Auf der Zahl beruht nicht nur die ganze geheimnißvolle Architektonik der Musik: die Jntervalle der Töne und die Einschnitte des Tactes; der Ton selbst beruht auf der bestimmten Zahl der Schwingungen. Die Zahl bannt die forteilende Zeit in das künstlerische Gesetz, und hier ist der Punkt, wo der Rhythmus der Poesie und der Rhythmus der Musik sich begegnen. Aber wieviel reicher ist dieser als jener! Welche zahlreiche Figurationen gestattet der einzelne Tact, während dort die karge Form sich stereotyp wiederholt! Auf diesem Gebiete kann die Poesie mit der Musik nicht wetteifern, und das beruht auf dem wesentlichen Unterschied der Bedeutung, den der Ton für die eine und die andere Kunst hat. Für die Musik ist der Ton das Material der Kunst nur in ihm kann sie ihren Jnhalt ausführen, nur mit50 ihm ihre Gebäude errichten. Er ist der Baustein für jedes Theben, das Amphion's Leier zusammensingt! Für die Poesie ist der Ton nur Vehikel und er ist es nicht als Ton, sondern als Wort, als Zeichen der Vorstellung, und nur im Reim macht sich der sinnliche Zusammenklang als solcher geltend. Darum sind die Geheimnisse der Tonwelt und der ganze unerschöpfliche Reichthum ihrer Bewegungen für den Dichter verloren! Er kennt ihn nicht, weil er ihn für seine Zwecke nicht braucht! Um das Wort in seiner zeitlichen Bewegung auszudrücken, dazu genügt ein einfacheres Maß, und um die Grenze des Verses anmuthig zu markiren, um das Wort selbst tönen zu lassen: dazu genügt der einfache Accord des Reimes. Will die Poesie hierin mit der Musik wetteifern und den Accent auf das sinnlich berauschende Tönen legen: so verwischt sie die Grenzen ihres Gebietes. Aufeinandergehäufte Schlagreime oder allzuspielerisch und üppig verschlungene Reimformen, wie sie uns manche romanische Muster bieten, zeigen uns dann das vergebliche Streben der Dichtkunst, mit der Musik auf einem Boden zu wetteifern, wo diese Kunst allein heimisch ist.

Die Welt der Jnnerlichkeit dagegen, welche beide Künste darstellen, erscheint für jede als eine wesentlich verschiedene. Der Ton ist gleichsam die Seele des äußern Objects, das in seinen Schwingungen von der Starrheit der Materie erlöst wird. So ist er auch der äußere Stoff, in welchem das innere Erzittern der Seele in wechselnder Stimmung und Empfindung am geeignetsten dargestellt werden kann. Dagegen vermag er weder die Empfindung in die Vorstellung zu erheben, noch die Vorstellung in Empfindung zu verwandeln. Hier beginnt das Reich der Dichtkunst! Sie ruft ihre Empfindungen durch Vorstellungen hervor und malt sie in Vorstellungen aus! Das innere Bild ist für die Poesie dasselbe, was für die Musik der Ton ist. Nur ein Verkennen dieser Wahrheit, nur die irrige Ansicht, daß der Ton in der Dichtkunst dieselbe Bedeutung habe, wie in der Musik, konnte die Theorie Richard Wagner's hervorrufen, welche die Dichtkunst als unselbstständig und aus dem Gefühl ihres Mangels heraus der Tonkunst in die Arme führt. Hier ist umgekehrt zu behaupten, daß die Dichtkunst ihren ganzen Reichthum aufopfert, wenn sie sich auf jenes einfache Weben der Empfindung beschränkt, welches die Musik allein künstlerisch zu gestalten vermag. Ob51 aber die Musik, wenn sie zu einem Mittel des Ausdrucks herabgesetzt wird*)Richard Wagner, Oper und Drama Bd. 1. pag. 21., gewinnt: das ist eine Frage, deren Beantwortung nicht in eine Poetik gehört.

Wir haben gesehn, wie alt der Bund zwischen beiden Künsten ist; doch gerade ihre weitere selbstständige Entwickelung löste ihn mit Nothwendigkeit auf. Der Dialog trat im Drama selbstständig hervor; die Musik begleitete nur die Reflexionen des Chors und konnte in dieser Begleitung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das Volkslied freilich erzeugte sich stets zusammen mit der Melodie! Das naturwüchsige einfache Empfinden, das sich nur halb für die Vorstellung erschloß, bewegte sich auf demselben Boden mit der Musik; das Wort deutete nur die Schwingungen der Seele an, welche erst in den Schwingungen des Tones ihren vollständigen Ausdruck fanden. Das einfache Lied, nicht einmal die ganze Lyrik, das Lied, in welchem das Bild nur wie ein flüchtiger Schein aus dem wogenden Aether der Empfindung aufzuckt, konnte daher bei der weiteren Entfaltung der beiden Künste allein ihrem alten Bunde treu bleiben. Jene zarten hingehauchten Weisen Goethe's, Uhland's, Heine's, Geibel's forderten ähnlich wie die Lieder der Minnesänger die Musik heraus, der Empfindung einen volleren und wärmeren Ausdruck zu geben. Doch waren diese Lieder deshalb keine Undinen, keine Sprachnixen, denen nur die Musik eine Seele geben konnte. Man lese diese Lieder; sie sind auf ihren eigenen Füßen ruhende Kunstwerke. Sie haben in Bild und Wort, Rhythmus und Reim ihre eigene Musik und wirken stimmungsvoll und die Empfindung weckend auf das Gemüth. Die Musik kann diesen Ausdruck verstärken, aber sie ist für die künstlerische Wirkung keineswegs unentbehrlich. Die Ode, die Elegie aber, alle höheren Gattungen der Lyrik, in denen die Empfindung nicht mehr kindlich an der Eischaale pickt, sondern mit freiem Fluge in das erschlossene Reich der Phantasie sich erhebt, zeigen die charakteristischen Vorzüge der Poesie in so glänzendem Lichte, daß die Musik mit ihren Mitteln nicht mehr folgen kann oder die eigenen Vorzüge opfern müßte. Ebenso verhält es sich mit der epischen, mit der objectiv-darstellenden Poesie, gegen die auch Richard Wagner eine leichterklärliche Abneigung hat. Wir haben bereits52 im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung berechtigt ist. Die Musik ist ganz Empfindung; in der Dichtkunst ist die Empfindung nur der Duft, der über den entrollten Bildern der Vorstellung zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: Was nicht werth ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth*)Richard Wagner, Oper und Drama. Bd. 3. S. 208..

Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir täglich in der Oper ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern Seite wird uns das Kunstwerk der Zukunft**)Richard Wagner, das Kunstwerk der Zukunft (1850); Oper und Drama. 3 Bde. (1852.) offenbart, in welchem diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue, aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln, welche für die reformirte Dichtkunst gelten sollen, nur auf die reformirten Operntexte beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den Kopf gestellten Lessing nennen könnte, weil er mit demselben Eifer, wie jener auf die Sonderung der Künste und Kunstgattungen, auf ihre Vereinigung bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht, außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen gehört.

Richard Wagner wird scheinbar von einem sittlich reformatorischen Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau. Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe. Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen was53 bleibt da übrig, als der nackte, auf allen Vieren kriechende Urwäldler des Einsiedlers von Montmorency? Unser Staat, unsere Gesellschaft, unsere Religion und Sitte sind ihm nur Fesseln des Menschenthums. Sein Jdeal ist der naive Gefühlsmensch das rechte Jdeal eines Musikers. Und in der That verkappt sich unter dem sittlichen Reformator nur der absolute Musikus, dem der ganze Reichthum unserer Kultur zuwider ist, weil er sie nicht in Musik setzen kann. Denn er besitzt ästhetische Einsicht genug, um über den Standpunkt der Componisten hinaus zu sein, welche glauben jeden Thorzettel in Musik setzen zu können. Er will die Schranke seiner Kunst zur Schranke aller Künste machen. Darum setzt er die Malerei zur Decorationsmalerei herab, und seine Liberalität gegen die Poesie, welche dieselbe mit vollstem Rechte zurückweisen darf, ist nur eine scheinbare. Er küßt sie wie Judas, indem er sie gefangen nehmen läßt. Doch wird man uns entgegnen, er räumt ihr ja ein höheres Recht ein, als alle früheren Componisten; er will sie ja von ihrer Dienstbarkeit gegen die Musik im Operntexte befreien; er macht ja umgekehrt die Musik nur zur Auslegerin der Poesie. Man vergißt aber dabei, daß die andern Componisten die Poesie nur für ihre Zwecke dienstbar machten und ihr außerhalb der Oper ein Reich unbestrittener Herrschaft ließen, daß aber Wagner außerhalb des Kunstwerkes der Zukunft keine Poesie mehr gelten läßt! Und dies Kunstwerk der Zukunft ist, trotz der scheinbar demüthigen Stellung der Musik, so wesentlich Oper, das Drama verzehrende Oper, daß die Poesie nur die Rolle einer apanagirten Prinzessin spielt, nachdem man ihr all' ihre Königreiche geraubt. Man hat die Oper überhaupt einen constitutionellen Staat genannt, obgleich in ihr nur ein Scheinconstitutionalismus Geltung hat, indem die Musik alle Herrschaft und die Poesie nur eine berathende Stimme hat. Dies Verhältniß ist im Kunstwerke der Zukunft keineswegs aufgehoben, und man braucht blos an mit voller Orchesterbegleitung gesungene Strophen zu denken, um die bescheidene Rolle anzuerkennen, die hier dem dichterischen Worte zufällt. Ob aber die Musik ihrerseits bei dieser declamatorischen Richtung gewinnt, welche die Melodie nicht gelten läßt, sondern nur einzelne melodiöse Sätze, die Musik an Sylben, Worte, Metren bindet, es nur zu musikalischer Erwärmung bringt: das ist eine Frage, deren Beantwortung den Musikern von Fach54 zufällt. Jedenfalls sieht Wagner nur mit dem Auge des Musikers. Darum wüthet er gegen das Literaturdrama, d. h. gegen die dramatische Dichtung, welche die Charaktere auf den Boden reich gegliederter Lebensverhältnisse stellt. Der Mensch, der im Drama der Zukunft sich darstellen wird, hat mit dem prosaisch intriguanten, staatsmodegesetzlichen Wirrwarr, den uns're modernen Dichter in einem Schauspiele auf das Umständlichste zu wirren und zu entwirren haben, durchaus Nichts mehr zu thun; sein naturgesetzliches Handeln und Reden ist: Ja, ja! und Nein, nein! wogegen alles Weitere vom Uebel d. h. modern, überflüssig ist*)Kunstwerk der Zukunft p. 204.. Also die entsetzliche Armuth der Naturlaute soll das geistig reiche Pathos der Tragödie ersetzen! Und warum weil die Musik mit diesem gedankenvollen Pathos Nichts anzufangen weiß! Man vergleiche den dichterischen Text eines Hamlet und Macbeth, Wallenstein und Carlos mit dem Text eines Tannhäuser, und man wird einsehn, welche Bereicherung der Poesie das Kunstwerk der Zukunft in Aussicht stellt. Ganz folgerichtig erklärt sich Wagner auch für das Wunder in der Poesie und schlägt überhaupt jene romantische Richtung ein, welche musikalischen Motiven günstig ist, aber die objective Gestaltung der Dichtkunst im höchsten Grade beeinträchtigt. Wenn wir indeß das Kunstwerk der Zukunft seiner nach Alleinherrschaft strebenden Ansprüche entkleiden: so läßt es sich wohl, wie auch die Wagner'schen Versuche beweisen, als ein musikalisches Drama denken, das allerdings entfernt an die antike Tragödie erinnert, schwer aufzufindende, einfache Gefühlsstoffe wählt und in der Ausführung Poesie und Musik in einem gewissen mittleren Gleichgewichte, in einer mittleren Temperatur hält, in welcher aber beide Künste Gefahr laufen, das Niveau der Mittelmäßigkeit nicht zu überschreiten. Daß das mindestens bei der Poesie der Fall ist, beweisen vorläufig die Wagner'schen Operntexte, die als Operntexte ganz gut, als poetische Kunstwerke aber ohne alle Bedeutung sind.

Die Wagner'schen Paradoxen erweisen sich in der That ersprießlich für die dichterische Gestaltung des Operntextes, wenn wir auch als Princip festhalten, daß der Dichter in der Oper, ihrem ganzen Wesen nach, nur für die Zwecke des Musikers arbeitet. Er kann dies mit gutem55 Gewissen thun, da ihm ja sonst das freie, unverkümmerte Reich der Dichtkunst offen steht. Jn der Kunst der Beschränkung wird sich hier der Meister zeigen. Der Operndichter kann nur ganz einfache Stoffe wählen, Stoffe, deren Motivirung in durchsichtigster Klarheit vorliegt, die sich nur in der Gefühlssphäre bewegen. Verwickelte politische Jntriguen sind ebenso ausgeschlossen, wie verwickelte psychologische Motive. Ein Hamlet läßt sich ebensowenig in einen Operntext verwandeln, wie ein Glas Wasser. Und doch ist bei Hamlet eine große Tiefe der Jnnerlichkeit; aber sie steht nicht auf dem Boden des einfachen Gefühles, sondern sie durchläuft alle Vermittelungen geistvoller Reflexion. Das ist höchst dichterisch, trotz Richard Wagner, aber durchaus nicht musikalisch. Dagegen wird die Einfachheit des Motivs nicht ausgeschlossen, wenn es sich an die Massen vertheilt. Darum sind: die Stumme von Portici und Tell gute Operntexte. Der Operndichter kann in der Charakteristik nicht in's Einzelne gehen, wie der Dramatiker, der die speciellsten Züge wählt und bis zu den schroffsten Linien fortgeht; hier kann die Musik nicht folgen. Er muß die Gestalten in allgemeinen Umrissen halten. Darum ist die phantastische Wunderwelt ein geeigneter Hintergrund für die Oper, für welche die Gestalt als solche gleichgültig ist, und welche ebensogut ein Quartett von fleurs animées schreiben kann, wie von Prinzen und Prinzessinnen. Die gestaltlose Welt, die Naturerscheinung, das empörte Meer, der Sturm, das Unwetter sind passende Zwischenspiele der menschlichen Handlung in der Oper. Diese Handlung selbst kann wohl mit Märschen, Kämpfen, Tänzen ausgeschmückt sein; aber sie muß in ihrem einfachen Gange sich an Conflicte des Gefühles anschließen. Die Musik hat alle Mittel, das einsame Gefühl sowohl in seiner Jnnerlichkeit, wie sein Steigen, sein Wachsthum, sein Heraustreten und Hervorbrechen darzustellen. Hierin muß ihr der Operndichter entgegenkommen. Ebenso soll er den Einzelnen der Masse gegenüberstellen, Kämpfe und große Erschütterungen der Massen vorführen. Er muß allen einzelnen Musikformen vom Lied und Duett bis zum Sextett, vom Chor bis zum allstimmigen Finale Gelegenheit geben, sich geltend zu machen. Dabei darf er freilich das poetische Gesetz richtiger Motivirung nicht vernachlässigen. Seine Kunst wird gerade darin bestehen, all' jene Formen, sowie der Dramatiker seine Scenen, aus dem natürlichen56 Gange der Handlung einfach zu entwickeln, so daß man nirgends die Absicht merkt, wie der Dichter zwei oder vier oder sechs Helden nur äußerlich zum musikalischen Appell zusammenbläst. Diese folgerichtige Entwickelung aus dem Gefühle erstreckt sich auch auf die Scene, welche ein Recht hat, in der Oper mitzuspielen und ihren ganzen Reichthum zu entfalten, doch innerhalb der Grenzen poetischer Wahrheit. Deshalb tadelt Wagner mit Recht den Sonnenaufgang in Meyerbeer's Propheten, der nicht dramatisch motivirt ist, obwohl dies so leicht möglich war. Das Schlittschuhlaufen in dieser Oper fällt unter denselben Gesichtspunkt. Die meisten Operntexte leiden am Mangel einfach klarer und folgerichtiger Motivirung. Daher sind sie zum Theil unsinnig, zum Theil unverständlich. Was nun den dichterischen Text selbst betrifft: so muß er zunächst rein und wohllautend sein, mit größter Einfachheit die Empfindung aussprechen, da hier der Musiker, nicht der Dichter die reichere Farbengebung übernimmt. Tiefe Gedanken, prächtige oder breite Schilderungen, hinundhergehende Reflexionen sind ebenso ausgeschlossen, wie allzu üppige rhythmische Formen. Klarer, angemessener, harmonischer Ausdruck und Reinheit des Reimes und Rhythmus sind dagegen durchweg erforderlich. Nur indem die Poesie auf die Fülle und den Glanz ihres Wesens verzichtet, kann sie mit der Musik ein Bündniß eingehen. Diese Verzichtleistung erkennt auch das Kunstwerk der Zukunft an; aber indem es sie zur absoluten macht und die ganze Dichtkunst auf das Niveau eines guten Operntextes herabdrückt, erweist es sich nur als ein reactionärer Rückgang zu den Anfängen der Kunst und entspricht jenem unhistorischen Standpunkt ikarischer Sittlichkeit, der aus der reichen Entwickelung der Geschichte heraus in irgend ein geträumtes Eldorado flüchtet. Wagner ist in der Aesthetik ebenso abstrakt, wie jene Naturrechtslehrer Hobbes und Hugo Grotius, welche eine vor - oder nachgeschichtliche Zeit zur Begründung ihrer Lehren wählten. Seine Kunstlehre ist so einseitig, wie jene Rechtsphilosophie, und sein absolutes Kunstwerk wäre zugleich eine Vermischung der Gattungen und ihr ununterbrochenes Opferfest.

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Fünfter Abschnitt. Die Poesie und die Prosa.

Jndem die Poesie mittelst der Sprache ihr Werk in der nicht mehr unmittelbaren Sinnlichkeit der Vorstellung aufbaut, steht sie in bedenklicher Weise an den Grenzen der Prosa, welche ebenfalls durch die Sprache Begriffe, Vorstellungen und Anschauungen zu erwecken sucht. Doch das Wesen der dichterischen Weltanschauung und des dichterischen Kunstwerkes bestimmen hier alsbald einen tiefbegründeten Unterschied.

Die Poesie ist älter als die Prosa! Das Gefühl lebte und webte in vollständiger Einheit mit der Welt, und das ist der Boden der Dichtkunst, welche unentwickelt blieb, wie die unerschlossene Welt, aber doch im dumpfen Weben bereits ihr eigenstes Wesen offenbarte. Erst die Analyse des Verstandes zerbrach diese Einheit. Sie zeigte den Zusammenhang der Erscheinungen, stellte auf die eine Seite das Object, auf die andere den Begriff, und löste das Object in seine Eigenschaften, den Begriff in seine Unterschiede auf. Jm Leben selbst aber schuf sie eine Fülle praktischer Zwecke, ließ den Willen schwanken zwischen Pflicht und Genuß und in neuen oder stets erneuerten Anläufen nach seinen Zielen ringen. Die prosaische Weltanschauung beruht auf dieser Sonderung des Begriffes und der Erscheinung, des Strebens und des Zweckes, oder sie geht nicht einmal dazu fort, nimmt die Dinge, wie sie sind, respectirt ihre ganze Zufälligkeit und versenkt sich mit Behagen in die von allen Jdeeen verlassene Wirklichkeit. Das ist der Standpunkt des gewöhnlichen Lebens, jene Analyse der Standpunkt der erkennenden Wissenschaft. Für die Poesie nun scheint zunächst der Jnhalt derselbe; auch sie hat es mit Erscheinungen und Gedanken zu thun; aber ihr Wesen ist die lebendige Einheit von beiden; sie entkleidet die Erscheinung ihrer Zufälligkeit, indem sie dieselbe als Spiegel der Jdee auffaßt; sie feiert die ewige Menschwerdung des Gedankens, indem sie denselben in die Fülle der Erscheinung untertaucht. Die Atomistik des Verstandes liegt ihr ebenso fern, wie die praktische Rastlosigkeit des Willens. Sie läuft nicht an einer Reihe endlicher Zwecke dahin. Sie schaut die einzelne Erscheinung sub specie aeternitatis, im ewigen Lichte der Schönheit als Selbstzweck, und wenn sie den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen mit aufnimmt,58 so läßt sie ihn nicht in eine endlose Kette auslaufen, sondern sie führt ihn, wie die Strömungen des Blutes im Organismus, auf einen lebensvollen Mittelpunkt zurück. Sie ist und bleibt im Herzen der Welt!

Dichtwerke, welche den Standpunkt des gewöhnlichen Lebens zu dem ihrigen machen, fallen daher aus der Poesie heraus. Sobald mir die Welt, wie sie gerade ist, der Mensch, wie er geht und steht, das sinnliche Ding, an das ich meine Nase stoße, das ganze Neben - und Durcheinander der Erscheinung ohne alle Reflexe der Jdee ein würdiger Gegenstand der Poesie erscheint, befind 'ich mich mitten in der Prosa. Hierher gehört zunächst die beschreibende Poesie, dann aber, ihrem Wesen nach, die ganze Dorfgeschichtenliteratur, ein großer Theil der historischen Romane und der sogenannten praktischen Bühnenstücke. Auf diesem ganzen Gebiete fängt überall die Prosa an, wo der Humor aufhört, der allein in diese Welt der Aeußerlichkeit den Blitz des Jdeals zaubert. Jean Paul z. B. mag das Detail eines Schulmeisterlebens bis in seine mikroskopischen Züge erschöpfen; er bleibt immer ideal, weil er mit dem Auge des Dichters schaut, weil er die Jdee, wenn auch in verkehrter Spiegelung, in die Erscheinungswelt hineinflieht. Den beliebten Dorfgeschichtenschreibern ist es aber feierlicher Ernst mit jedem Tische in der Dorfschenke, mit jedem Pferdegeschirr, das im Stalle hängt. Jeremias Gotthelf schildert ohne allen Humor den Kampf zweier Mägde, von denen die eine die andere in die offene Düngergrube gestoßen; er stellt Betrachtungen über die beste Methode der Stallreinigung an und verfolgt in seinem Hauptwerke den praktischen Zweck, nachzuweisen, wie man aus einem guten Knechte ein guter Bauer wird. Sein Uli ist eine in Scene gesetzte Gesindeordnung. Andere schildern die Volkssitten im Schwarzwald oder in Böhmen oder in Schlesien und gerathen in das Gebiet der Reisebeschreibung. Oder man erzählt uns eine ziemlich verwickelte Criminalgeschichte nach Art und Weise des neuen Pitaval, in welcher weder der Steckbrief des Helden, noch die genaue Beschreibung des corpus delicti und die Angabe aller Jndicien fehlt. Unser juristischer Verstand findet dabei vielleicht eine nicht uninteressante Beschäftigung; aber seine Thätigkeit hat mit der Poesie Nichts gemein. Der historische Romanschriftsteller liebt es, seinem Werk eine weitläufige geschichtliche Einleitung vorauszuschicken, in welcher er uns sowohl über sein Quellenstudium unterrichtet,59 als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde Prosa, welche in ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die didaktische Poesie hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt, noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge neuer französischer Romane, in denen das Seelenleben und die Gesellschaft nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine poetische Synthese.

Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der sinnlichen Welt erhebt sich indeß die Philosophie und scheint so mit der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie in der Jdee, die Poesie in der Erscheinung. Es ist gewiß die höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen, und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu Dante's divina commedia und Goethe's Faust haben großartige, über die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang: da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles von Faust und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen Lyriker, in Mosen's Ahasver und Jordan's Demiurgos unverkennbar hervortritt*)Vgl. meine Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. p. 293.. Gerade dies prosaische residuum macht den Unterschied60 zwischen Philosophie und Poesie am klarsten. Wo dem Dichter der kühne Wurf gelingt: da scheint das Welträthsel gelöst, Wahrheit und Schönheit vermählt, der höchste Gedanke, den der Denker in dialektischer Entwickelung erzeugt, in unmittelbarer Schönheit auch für die Anschauung geboren. Wo er mißlingt: da müht sich der Dichter ab, ihn auf Art und Weise des Philosophen hervorzubringen; da hört man die dialektischen Fäden in der Gedankenfabrik herüber - und hinüberschnurren; da sitzt die Metaphysik als zehnte Muse am Webstuhl, aber wir erhalten nimmer das fertige schöne Bild. Das vergebliche Ringen läßt auch den Ausdruck seinen dichterischen Reiz verlieren und die Farb - und Gestaltlosigkeit des philosophischen Denkens annehmen. Solche Wendungen finden sich häufig in Sallet's sonst gedankenvollen Gedichten, so z. B. in Unsterblichkeit :

Doch was in mir den Wechsel überdauert,
Spürt mancher Jüngling noch in tiefster Brust,
Wenn ich aus Gott in ihn zurückgeschauert,
Unsterblich in der Menschheit mir bewußt!

Dagegen beruht Schiller's Dichtergröße vorzugsweise darauf, daß er in seinen Gedichten die höchsten Probleme des Gedankens in schönster Anschaulichkeit mit aller Lebenswärme der Empfindung zu gestalten wußte.

Philosophie und Dichtkunst sind sich darin verwandt, daß sie beide darauf ausgehen, ein Ganzes zu schaffen, das als ein Mikrokosmos die Welt in sich trägt. Doch der Philosoph schafft dies Ganze nur, indem er sein Gedankengebäude vollendet; das Einzelne ist lebendig, aber nur für das Ganze, nur im Fluß der Jdee; für den Dichter ist das Einzelne selbst das Ganze, selbst die erscheinende Jdee!

Doch nicht blos die Weltanschauung des Dichters unterscheidet das dichterische Kunstwerk vom prosaischen; auch sein innerer Organismus ist ein wesentlich verschiedener. Das Dichtwerk hat organisches Leben; es ist sich selbst Zweck; alle Gattungen der Prosa haben ihren Zweck außer sich. Der gleiche Hauch der Liebe beseelt das Ganze und auch seinen kleinsten Theil; in einem Dichtwerk kann nichts Zufälliges, nichts Gleichgültiges existiren. Vergleichen wir die höchsten Gattungen der Prosa, nächst der Philosophie, mit der Dichtkunst, um diesen Unterschied klar zu machen!

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Die Geschichtschreibung hat den Zweck, uns über das Geschehene zu unterrichten, uns dasselbe in seinem Zusammenhang vor Augen zu führen. Mag sie dabei mit der Naivetät der Chronik zu Werke gehn oder die pragmatische Darstellung vorziehn, welche die Thatsachen auf ihre Ursachen zurückführt: sie bleibt an das zufällige Factum gebunden. Sie erzählt das Ueberlieferte und sucht durch die Kritik der Quellen Alles aus dem Wege zu räumen, was die Reinheit der Ueberlieferung trüben könnte. Thatsächliche Wahrheit ist ihr Hauptzweck. Wohl kann sie dabei auch Nebenzwecke verfolgen; sie kann patriotische Gesinnung zu erwecken trachten; sie kann der Gegenwart den Spiegel der Vergangenheit vorhalten wollen; aber alle diese Zwecke, selbst der Hauch einer freien und frischen Gesinnung, erheben sie nicht in das Reich der Poesie. Schon die Art und Weise, wie der Geschichtschreiber und der Dichter sich zum gegebenen Material verhalten, markirt die Grenzen zwischen Prosa und Poesie. Auch der Geschichtschreiber muß die Masse des Stoffes, welche ihm das Studium der Quellen an die Hand gegeben, künstlerisch sichten. Zunächst scheidet er das Unverbürgte aus; dann sucht er das Widersprechende entweder unter einem höheren Gesichtspunkte zu vereinigen oder er hebt nur die eine am meisten verbürgte und begründete Nachricht hervor; dann sucht er das Bedeutende vom Unbedeutenden zu sondern. Bedeutend aber ist ihm das, was ein Licht auf den Zusammenhang der Thatsachen wirft, was die Gründe von Krieg und Frieden, den innern Organismus der Staaten, den Charakter der Staatsmänner und Feldherrn oder die Entwickelung der Kultur zu erhellen vermag. Wieweit er in dieser Sichtung geht, das hängt vom Charakter seines Werkes ab, indem eine Specialgeschichte eine viel größere Fülle oft bedeutungsloser Mittheilungen aufnehmen muß, als eine allgemeine Geschichte der Welt oder der Nation. Das Jnteresse der Wahrheit als solche erstreckt sich bis auf die mikroskopischen Züge des Weltgeistes. An und für sich ist der Geschichtschreiber hierin sowenig beschränkt wie der Naturforscher, der stets neue Species von Jnsecten und Käfern an seine Nadel spießt oder neue Arten berühmter Modeblumen zieht jede neue Kenntniß bereichert die Wissenschaft. Die Grenzen, die sich daher der Historiker selbst steckt, sind beliebig und vom Zufalle abhängig; denn es ist ein Zufall, ob er die Geschichte einer Burg und62 Stadt oder die eines Zeitalters schreibt. Dagegen ist das Kunstwerk des Historikers für den Dichter selbst wieder Material; er beginnt damit eine neue Sichtung, aber nicht im Jnteresse thatsächlicher Aufklärung, im Dienste der Wahrheit, sondern im Jnteresse künstlerischer Gestaltung, im Dienste der Schönheit. Wie weit er dabei die Wahrheit berücksichtigen muß, ist eine Frage, die uns noch später beschäftigen wird. Keineswegs kann er die Erzstufen des Historikers benutzen; er muß ihr Silber los schmelzen für seine Kunst. Die Breite der Kulturprosa, die ewigen Wiederholungen des Geschehens, die nüchternen ursächlichen Zusammenhänge sind ihm ein Gräuel er sammelt alles Zerfahrne in einem großen Brennpunkte des Willens und der Empfindung! Wie wesentlich ist für den Historiker der Neuzeit die Darlegung diplomatischer Aktenstücke, der Nachweis des Ganges der Cabinetspolitik! Wie unbrauchbar aber für den Dichter ist das seelenlose Schreiberwesen, selbst wo es die Geschicke der Völker entscheidet! Er muß die Politik aus dem todten Spiele des Verstandes und völkerrechtlicher Beweisführung in die Seele eines Helden hinüberretten, der seinen entscheidenden Willen in sie hineinlegt! Wie wichtig ist für den Geschichtschreiber die friedliche Entwickelung des modernen Verfassungslebens! Welcher Dichter der Welt aber könnte z. B. die Geschichte des süddeutschen Constitutionalismus poetisch behandeln! Oder wer die finanziellen Ursachen der französischen Revolution, die Thiers und Louis Blanc so ausführlich darlegen, als dramatisches Motiv benutzen, oder die Assignaten im Gesange eines Epos dichterisch verklären? Da war freilich Homer glücklich, dessen Münze nicht in papierenen Zeichen, sondern in lebenden Wesen bestand, und der den Werth der Rüstungen des Glaukos und Diomedes nur durch die Zahl der Rinder bestimmte, für welche sie feil waren. Der Dichter greift aus der Geschichte ein Ganzes heraus, das einen nothwendigen Anfang und Ende hat; der Historiker verfährt auch hierin willkürlich, er kann die Geschichte Roms bis zu Augustus oder bis zu Constantin schreiben das ist für den Werth seines Werkes gleichgültig. Wo aber der Geschichtschreiber verstummt oder die in der Seele der Helden ruhende Begründung ihrer Thaten nur andeutet: da tritt der Dichter in sein volles Recht, indem er den vollen und ganzen Charakter erfaßt und die That aus ihm mit Nothwendigkeit hervorgehn läßt. Das Phlegma der63 Geschichte verwandelt er in Spiritus, das einmal Geschehene in ein ewiges Geschehn!

Der Historiker scheint in das Gebiet des Dichters überzugreifen, wenn er wie z. B. Livius eine bestimmte Situation durch selbsterfundene Reden ausmalt. Sobald der Geschichtschreiber erfindet, wird er seiner Aufgabe in der That untreu. Er mag seine Helden nur das sagen lassen, was sie unter den gegebenen Umständen und ihrem Charakter nach hätten sagen können: immerhin überschreitet eine Ergänzung in dieser freien Art die Grenzen seiner Darstellung. Anders verhält es sich mit dem Vortrage überlieferter Mythen, mögen sie noch so dichterisch sein. Wo hingegen in der Sprache wie z. B. bei Schiller der dichterische Schmuck vorwaltet, da wird der Ausdruck, der dem Geschichtschreiber nur für seine Zwecke dienstbar sein soll, zu einer Bedeutung erhoben, die er nur in der Dichtkunst besitzt!

Umgekehrt greift der Dichter in das Gebiet des Historikers über, sobald er breite Einleitungen und Entwickelungen giebt, welche den ursächlichen Zusammenhang der Begebenheiten mit dem ganzen Beigeschmack stoffartiger Zufälligkeit auseinandersetzen, sobald er an Klio's erborgten Faden nur einige schwächliche Fictionen reiht, sobald er durch Bemerkungen jeder Art zeigt, daß ihm die historische Wahrheit mehr gilt als die dichterische. Hiergegen sündigen Walter Scott, selbst Bulwer z. B. im letzten der Barone und ihre zahlreichen Nachahmer. Der historische Roman verführt überhaupt zu solchen einleitenden und vermittelnden Kapiteln, in denen der Dichter mit vollem Bewußtsein den Griffel Klio's ergreift und den unverarbeiteten Rohstoff der Geschichte handlangermäßig aufschichtet. Der Dramatiker ist diesen Mißgriffen weniger ausgesetzt, weil er die Handlung aus den Characteren heraus und mittelst ihrer eigenen Rede gestaltet, er müßte denn, wie ein neuester Tragödiendichter, zu dem verzweifelten Mittel greifen, in den Reden seiner Helden die historisch gesprochenen Worte in ihrer authentischen Würde durch Sternchen auszuzeichnen, um sie von den weniger glaubwürdigen Redensarten des Dichters zu unterscheiden. Doch ist nicht zu leugnen, daß auch der historische Tragödiencyklus Shakespeare's, der einigen neuern Revolutionsdramen und Hohenstaufenstücken zum Muster diente, zu sehr an stoffartiger Erdschwere leidet, zu64 sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische Sonne kreist.

Noch näher als die Geschichtschreibung scheint die Beredtsamkeit an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große Kluft von ihr geschieden, daß das rhetorische Kunstwerk praktische Zwecke verfolgt, während das dichterische Selbstzweck ist. Der Redner wendet sich stets an den Willen, der Dichter an die Anschauung. Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine oraison funèbre von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht, wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den Redner Zweck, kann für den Dichter nur Anlaß sein, ein selbstständiges Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen Gedankenreihen zu suchen.

Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern z. B. von Hugo Blair Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft, ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt Redefiguren, die sich mehr an den Willen wenden, und solche, welche mehr die Anschauung vor Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten, während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen65 und syntaktischen Figuren, z. B. diejenigen, welche auf der Stellung und Wiederholung der Wörter beruhen, vorzugsweise rhetorisch, während die Tropen, der eigentlich bildliche Ausdruck, mehr der Dichtkunst angehören. Doch ist hier keine durchgreifende Grenze zu ziehen, die allein durch das Tendenzmäßige der Rede, das Tendenzlose der Dichtung bezeichnet wird.

Wie verhält es sich nun mit der Tendenzpoesie und mit den rhetorischen Verirrungen der Dichtkunst? Diese Frage erscheint um so wichtiger, als ein Theil der Kritik Tendenz und rhetorisch zu beliebten Stichwörtern gewählt hat, mit denen vollkommen begriffslos gewirthschaftet wird. Einseitige Geschmacksrichtungen bemächtigen sich solcher Ausdrücke, um sie in ihrem Jnteresse auszubeuten. Der Begriff wird so ausgeweitet, daß sein tadelnder Jnhalt auch auf berechtigte Dichtgattungen paßt. Die romantische Schule insbesondere in ihrer Opposition gegen die Schiller'sche Gedankenpoesie, Ludwig Tieck an der Spitze, der unseren größten Dramatiker einen spanischen Seneca nennt, machten die Rhetorik Schiller's zu einem Stichwort, welches bis in die neueste Zeit gegen alle kräftigen Richtungen moderner Poesie von den Nachbetern der Romantik benutzt wurde. Vorzüglich verurtheilte man damit die politische Lyrik, doch nur insoweit mit Recht, als es den Dichtern nicht gelungen war, ein selbstgenugsames, vom Hauch der Stimmung durchzittertes Bild für die Phantasie hinzustellen. Dieser Tadel trifft aber keineswegs ihre berühmtesten Vertreter, welche mit gleichem Rechte wie Pindar, Tyrtäos, Horaz, Körner den Staat in die Kreise ihrer Empfindung zogen. Ein Kriegslied des Tyrtäos und Körner, die Marseillaise eines Rouget de Lisle sind allerdings auf Märschen und vor Kämpfen gesungen worden; aber der Dichter legte keinen äußerlichen Zweck, sondern nur den Hauch seiner kriegerischen Stimmung in dieselben. Eine Jdee, welche die Dichtung trägt, ist von einer Tendenz, die ihr nur angeheftet ist, wesentlich verschieden! Hat der Dichter soviel Energie, auch die politischen Bewegungen der Zeit ganz in seine Stimmung aufzunehmen, ihnen Gestalt, Fleisch und Blut zu geben: so ist seine politische Lyrik vollkommen berechtigt. Der Tadel der Rhetorik trifft daher nicht die Richtung als solche, sondern die dichterische Ohnmacht, die sich in ihr versucht.

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Wenn man aber die geschichtlichen Trauerspiele Schiller's wegen ihrer rhetorischen Stellen tadelt: so vergißt man dabei, daß im historischen Drama das Rhetorische unabweislich Platz greifen muß, aber nur als ein Moment im dramatischen Kreislaufe und im Dienste der Poesie! Wir sehen, daß das Rhetorische sich vorzugsweise an den Willen wendet, der sich auf bestimmte Zwecke richtet! Die Wurzel für alle höheren Potenzen des Drama's ist aber eben der menschliche Wille und der dramatische Conflict entsteht aus dem Conflict seiner Zwecke. Es werden daher hier Scenen vorkommen, wo auch durch die Energie des Wortes auf den Willen eingewirkt wird! Ein Verschwörer, wie Fiesko, der seine revolutionaire Begeisterung den Genossen einzuhauchen sucht, ein Volksmann, wie Stauffacher, der die Gemüther durch die Macht der Rede zum Freiheitsbunde entzündet, ein Staatsmann, wie Burleigh, der seine Königin zum entscheidenden Schritte gegen die gefangene Feindin zu bestimmen sucht, ein Feldherr, wie Wallenstein, der seine Kuirassiere zum Abfalle vom Kaiser zu bewegen trachtet wie sollen sie denn anders als durch die Rede, durch eine allerdings dichterisch potenzirte Rhetorik ihre Zwecke erreichen? Nicht blos Schiller, auch Shakespeare ist reich an solchen Beispielen wir erinnern nur an die Rede des Marc Anton bei Cäsar's Leiche, an die zahlreichen Reden der Feldherren an ihre Truppen, an die Reden der Mutter und Gattin des Coriolan u. s. f. Wenn auch die dichterische Begeisterung hier einen höheren Schwung nimmt, als die blos rednerische: so bewegen wir uns hier durchaus nicht im reinen Element der Stimmung, sondern haben bestimmte Zwecke vor uns, die durch bestimmte rednerische Mittel erreicht werden sollen. Doch diese Zwecke sind nie der letzte Zweck des Drama's selbst; das Rhetorische ist nur eine berechtigte Ausweichung der dichterischen Diction und hebt sich wieder in die organische und selbstständige Harmonie des Kunstwerkes auf. Auch erhält das Rhetorische im Drama, da es einer bestimmten Person in den Mund gelegt wird, zugleich die Bedeutung des Charakteristischen. Die Rede soll den Charakter des Redners malen! Und in der That, wie hätte Shakespeare den Charakter des Marc Anton schlagender darstellen können, als durch seine meisterhafte Rede an Cäsar's Leiche! Alle diese feineren Unterschiede sind indeß jener Kritik gleichgültig, welche mit dem Sturmbocke67 des Rhetorischen in alle neueren Geschichtsdramen Bresche läuft und sich mit dieser Phrase ein Ansehen bei dem Publikum zu geben weiß! Wir wollten hier nur auf die innere Nöthigung des Dramatikers, zu rhetorischen Mitteln zu greifen, hinweisen und damit der gedankenlosen Polemik eine wohlfeile Waffe aus der Hand winden.

Wenn wir so die Hauptgattungen der Prosa von der Poesie geschieden, so bliebe noch übrig, zu untersuchen, inwieweit der prosaische, unrhythmische und reimlose Styl selbst zum Träger des dichterischen Ausdruckes und der dichterischen Darstellung werden kann. Doch wollen wir diese Untersuchung erst aufnehmen, wenn wir die Bedeutung des Rhythmus und Reims selbst genügend dargelegt.

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Zweites Hauptstück. Der Geist der Dichtkunst.

Erster Abschnitt. Die dichterische Stoffwelt.

Die Jdee des Schönen ist Erscheinung. Jhre vollkommene Erscheinung ist das vom Geiste hervorgebrachte Kunstwerk; aber auch in der Natur, zu welcher wir hier die Geschichte mitrechnen müssen, erscheint diese Jdee, wenn auch in einer vom Zufall getrübten und gestörten Weise. Die Kunst läutert das Naturschöne durch ihre geistige Reproduction und wählt aus seinem weiten Reiche den Stoff, der ihr am meisten entgegenkommt.

Von allen Künsten hat die Dichtkunst, die sich im freien Reiche der Phantasie bewegt, die reichste Stoffwelt vor sich; ja sie vereinigt nicht nur die Stoffwelten aller anderen Künste, sondern diese selbst in der ihrigen. Das Werk des Architekten, des Bildhauers, des Malers kann die Muse des Dichters selbst zu Ergüssen begeistern, welche jene Schöpfungen durch das bewegte Wort ergänzen; ja der Dichter kann das wortlose Werk des Musikers in bestimmte Anschauungen und Empfindungen übersetzen. Zunächst bietet sich dem Dichter die physikalische und landschaftliche Natur dar, die er aber, wie wir bereits oben gesehen, nicht selbstständig behandeln kann, ohne in die unpoetische Beschreibung zu verfallen. Wir besitzen zwar derartige schildernde Gedichte nicht blos in Bezug auf die Jahreszeiten, sondern sogar auf die Gesundbrunnen mit medicinischdoctrinairem Beigeschmack; doch können wir sie nur für Verirrungen erklären. Dagegen bietet gerade die landschaftliche Natur die reichsten69 Anregungen für das Gemüth, für die Stimmung des Lyrikers. Ein Mairegen, ein Abendsonnenstrahl, ein Gang im Walde können befruchtend auf sie einwirken. Die Kunst des Dichters besteht hier darin, Bild und Empfindung in eins zu wirken. Darin sind Goethe, Lenau und Geibel Meister. Das Naturobject als solches tritt nicht in den Vordergrund; aber der Hauch, die Beleuchtung, die malerische Stimmung. So ist z. B. das Schilf gewiß ein dürftiger Gegenstand für einen beschreibenden Poeten, der uns seine hohen, dicken Halme, seine Rispe, seine silberhaarigen Aehrchen botanisch vormalen wollte. Lenau aber in seinen Schilfliedern versetzt uns an das öde Schilfgestade, wo das Rohr im Winde bebt, läßt bald den Abendstern durch die Binsen und Weiden scheinen, bald die Stürme den Teich aufwühlen, die Blitze ihn durchleuchten, bald den Mond seine bleichen Rosen in den grünen Kranz des Schilfes flechten. So beseelt er die Natur und macht sie zum Spiegel des Gemüthes. Das Schilfgestade ist hier die melancholische Stätte, wie der melancholische Grund des Gemüthes; und wie über jene die wechselnden Bilder und Beleuchtungen hinfliehen, so nimmt auch die Melancholie des Dichters bald einen sanfteren, wehmuthsvolleren, bald einen bewegteren, wilderen Charakter an. Die echte Poesie der Jahreszeiten findet nur hier ihre Stätte, mag man nun den Frühling mit Wilhelm Müller als Bräutigam auftreten lassen oder mit Lenau um seinen Tod klagen oder den trennungsschaurigen Odem des Herbstes und seine Schwermuth mit Lenau und Geibel besingen. Die Jahreszeiten werden hier nicht zu selbstständigen Gemälden benutzt, nicht einmal zu Arabesken, welche um den Rahmen eines inneren Seelenbildes schweifen, sondern sie sind mit diesem innig verschmolzen. Doch auch abgesehen von der unmittelbaren Einheit, in welcher die Stimmung der Natur und die der Seele verschmelzen, giebt die landschaftliche, überhaupt die unorganische Natur einen Reichthum von Bildern her, in denen sich das Leben des Geistes spiegelt.

Der Geist wird ebensowenig durch solche Bilder aus der Natur herabgesetzt, wie Bilder des geistigen Lebens zu tadeln sind, wenn sie auf die Natur angewendet werden. Grün mag immer den Lenz einen Rebellen nennen; er ist, trotz Julian Schmidt, damit in seinem guten Rechte. So bleibt die Natur eine reiche Fundgrube für die dichterische Bildersprache,70 besonders das Spiel der Kräfte, der Blitz, der Sturm, die Uebergänge von Licht und Farben, in denen sich sowohl der Kampf des Menschenlebens, als der Stimmungswechsel der Seele symbolisirt.

Die organische Natur kann schon selbstständiger in die Poesie eintreten; sie hat schon ihre eigene, nicht erborgte Seele. Das Pflanzenreich mit seinem stillen, sanften, allmählich wachsenden Leben hat, auch abgesehen von der Symbolik der Blumensprache, eine eigenthümliche Verwandtschaft mit dem Dichtergemüthe, dessen Schöpfung sich ebenso sanft von der Seele löst, ebenso allmählich, aus Erd 'und Himmel Nahrung saugend, in die Höhe wächst! Die Pflanze hat zum Theil ihre stereotype Poesie! Eine bestimmte dichterische Bedeutung ist untrennbar mit ihr verbunden. Man kann z. B. nicht an die Eiche denken, ohne sich an Manneskraft und deutsche Gesinnung erinnern zu lassen. Aehnlich geht es mit der Rose, dem Veilchen, dem Vergißmeinnicht! Von Goethe's Röslein auf der Haiden, von Bürger's Blümchen Wunderhold, von der blauen Blume des Novalis, der Zauberblume der Romantik bis zu den fleurs animées der neuen Miniaturlyrik haben Blumen aller Art in den dichterischen Rabatten gewuchert. Die Poesie hat indeß dabei mehrere Klippen zu vermeiden. Die erste, an welcher Haller gescheitert, ist die botanische Beschreibung von Blatt und Stengel, Kelch und Krone; denn wo das Herbarium anfängt, hört die Poesie auf. Die andere entgegengesetzte ist das unklare Personificiren, das aus Grandville's malerischen Arabesken in die deutsche Literatur übergegangen ist. Man legt in die Pflanze zuviel Seele und Charakter und verwischt gerade dadurch ihre bestimmte Physiognomie! Es ist eine Blumenfastnacht, welche durch unsere Duodezgedichte schwirrt! Und dabei fallen die Blumen fortwährend aus der Rolle, welche die Natur ihnen anvertraut! Diese Koketterie einer willkürlichen Blumenbeseelung ist ein charakteristischer Zug unserer modischen Toilettenliteratur. Jeder Poet hat seinen eigenen Selam! Jn der Regel finden alle diese Personificationen der Blumen ohne inneren Zusammenhang Statt; der Dichter geht durch einen Garten oder einen Wald und sieht nun im Mondenschein oder sonstiger Beleuchtung die verschiedensten Gestalten aus den Blumenkelchen steigen oder die Bäume die sonderbarsten Gesichter schneiden. Diese allegorische Botanik ist Selbstzweck! Wie ganz anders z. B. in Freiligrath's Mustergedicht der71 Blumen Rache, das leider! viel dazu beigetragen, den Blumenspuk der Modelyrik zu entbinden! Dort ist alles Handlung; die Gestalten sind ihre Träger und ebenso reizend wie angemessen geschildert. Auch in dem Gedichte die Lerche von Annette Droste-Hülshoff, in welchem allegorisch das Nahen der Sonne als einer Fürstin und der ehrfurchtsvolle Gruß der huldigenden Natur geschildert wird, läßt man sich die kühne Blumensymbolik gefallen, da sie gleichsam im Geiste der Situation gehalten ist:

Maaßliebchen hält das klare Auge offen,
Die Wasserlilie sieht ein wenig bleich,
Erschrocken, daß im Bade sie betroffen;
Wie steht der Zitterhalm verschämt und zage!
Die kleine Winde pudert sich geschwind
Und reicht dem West ihr Seidentüchlein lind.
Daß zu der Hoheit Händen er es trage!

Noch berechtigter ist diese Beseelung der Blumen, wo sie nur ein Wiederschein des menschlichen Gemüthes in einer bestimmten Situation ist, wo der Dichter nur mittelbar durch seinen Helden oder seine Heldin diese Seele in die Blumenwelt hineinschaut. Wenn in meiner Göttin Marie, vom Geliebten entführt, auf ihrer Flucht durch den Klostergarten eilt, so mag die folgende Stelle wohl nicht als müßige Malerei erscheinen, sondern als lebendiger Ausdruck der Situation und der angstvoll erregten Empfindung der Heldin:

Die Blumen neigen sich in bösem Grollen,
Wie Geister des verlassenen Altars!
Der Mohn mit schwerem Haupt im Mönchsgewand
Scheint schläfrig noch ein Anathem zu lallen.
Der Rittersporn erhebt zum Fluch die Hand,
Ein Lehnsherr, zürnend flüchtigen Vasallen.
Die Nachtviole schließt die Kelche zu,
Der Blick der Frevler soll sie nicht entweihn.
Die Lilie, aufgeschreckt aus bleicher Ruh,
Bebt schattenhafter noch im Mondenschein u. s. f.

Ein meisterhaftes Stimmungsbild aus dem Gebiete der Pflanzenwelt hat uns Heine in seinem Liede vom Fichtenbaum und der Palme gegeben. Auch zu Trägern eines Gedankenbildes eignet sich die Blume, wie Uhland im Mohn die träumerische Weltanschauung des Dichters,72 Geibel in der Sonnenblume die einsamplatonische Liebe und ich selbst in Passionsblume und Parnassia*)Neue Gedichte S. 128. den Gegensatz zweier Weltanschauungen darstelle.

Die Thierwelt in ihrer eigenen freien Bewegung und ihrer Beziehung zum Menschen bietet der dichterischen Muse reicheren Stoff, wenn auch hier, lebensvollen Wesen gegenüber, die Personification aufhört, und das sinnig Träumerische des Pflanzenlebens in diesem schärfer ausgeprägten organischen Proceß keine Stelle findet. Doch von Homer's Rossen und Don Quixote's Rosinante bis zur Giraffe Freiligrath's hat die Thierwelt in der Poesie eine große Rolle gespielt. Das Hauptinteresse, das der menschliche Geist an der Thierwelt nimmt, ist darauf begründet, daß er in ihr einen Spiegel seiner Eigenschaften findet: darum erfreut uns das weiter ausgeführte Thierepos, ein Froschmäusekrieg, ein Reineke Fuchs, weil wir in den Thiergesichtern die Menschenphysiognomieen wieder erblicken, weil fast in jedem Thiere irgend eine menschliche Eigenschaft bis zur Carrikatur ausgebildet ist. Auch Don Quixote's Rosinante und Sancho's Grauer erregen nur deshalb unsere Theilnahme, weil wir in ihnen nicht blos die Begleiter, sondern die passenden Pendants ihrer Herrn erblicken. Freilich, wo die Thiermalerei im Sinne der niederländischen Schule Selbstzweck wird, da hört die Poesie auf, ebenso wo das Thier in einem Menschendrama zum Helden wird, wie der Hund des Aubry, der einen großen Dichter von der Leitung der Bühne verscheuchte. Freiligrath vermeidet diese Klippe nur dadurch, daß er uns das Thierreich in seinen Kämpfen zeigt, in welche wir unvermerkt ein menschliches Pathos hineinschaun. Dennoch geben wir einer Ballade, wie die Jagd des Mogul von Strachwitz, noch den Vorzug vor den Freiligrath'schen Schlachtbildern der Thierwelt, weil dort nicht nur der Kampf des Tigers mit dem Menschen geschildert ist, sondern auch durch eine schlagende charakteristische Pointe ein menschlich bedeutender Abschluß gewonnen wird. Dasselbe gilt von Schiller's bekannter Ballade der Handschuh. Für die Dichtgattung selbst bestimmende Bedeutung hat die Thierwelt in der äsopischen Fabel erhalten. Der Grund, warum hier der Dichter statt der Menschen73 Thiere sprechen und handeln läßt, um irgend eine moralische Lehre dadurch anschaulich zu machen, ist wohl hauptsächlich die größere Charakterbestimmtheit der Thiere, die gleichsam in einer einzigen Eigenschaft aufgeht. Der Fuchs vertritt die List, der Wolf den Räubersinn, das Lamm die Sanftmuth. Es ist gleichsam eine Hieroglyphensprache, welche dem gemeinen Bewußtsein verständlich ist. Der Mensch dagegen eignet sich nicht zu solchen bildlichen Abbreviaturen des Begriffes, weil in jedem Einzelnen eine Fülle von Eigenschaften lebendig ist. Hierzu kommt, daß wir an Geschichten aus der Menschenwelt alsbald einen Antheil des Gemüthes nehmen, während die Thierwelt zur ungetrübten Versinnlichung einer Lehre darum geeigneter ist, weil wir ihren Geschicken nur eine mäßige Theilnahme schenken, welche die Erkenntniß des moralischen Gedankens durch keine Gefühlsaufregung zu verdunkeln vermag.

Der Mittelpunkt der Poesie ist der Mensch. Die landschaftliche Natur ist sein Spiegel, Pflanzen - und Thierwelt die Symbolik seines Wesens. Erst im Reiche des Geistes kann die Dichtkunst den höchsten Aufschwung nehmen! Die menschliche Gestalt hat ihre Symbolik; sie kündet schon mit beredteren Zügen den Geist! Wie der Dichter die Schönheit schildern soll, haben wir schon oben gesehn! Die ideale plastische Schönheit, das Götterbild, liegt seiner Kunst am fernsten, dagegen ist das Jnteressante, Reizende, Pikante, Ausdrucksvolle der äußern Erscheinung für sie ein günstiger Vorwurf. Jn der Schilderung der Physiognomie darf der Poet nie die Grenzen jenes bekannten Schillerschen Spruches überschreiten:

Es ist der Geist, der sich den Körper baut!

Ein Aneinanderreihen unwesentlicher, gleichgültiger Züge würde jeden bestimmten Eindruck verwischen. Die Physiognomie ist dem Dichter nur Mittel der Charakterdarstellung! Der Charakter, die unendliche persönliche Eigenheit, aus einer Mischung von Naturanlage, Temperament und Grundsätzen hervorgegangen, ist der Quellpunkt aller großen Dichtgattungen der Neuzeit. Der Dichter würde indeß seine Kunst schlecht verstehn, wenn er gleich von vornherein ein wohlgetroffenes und sorgfältig ausgeführtes Portrait seiner Helden seinem Werke vorausschicken wollte. Der Charakter darf von ihm nie als ein fertiges Ganzes geschildert werden; er muß Zug auf Zug in freier Entwickelung aus der74 Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten; unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und zu enthüllen.

Die Scheidung der Geschlechter, der Gegensatz von Mann und Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter, die Liebe von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis, Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer lyrisch, und so bringt sie auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert, im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder mit den realen Lebensverhältnissen man denke z. B. an Romeo und Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der Ehe, wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen. 75Hier erinnern wir nur an die Wahlverwandtschaften, an die Romane einer George Sand und die scharfe Physiologie der Ehe, die sich in den Werken eines Balzac und anderer neufranzösischer Autoren findet. Die Liebe als Eifersucht kann ebensogut eine tragische Wendung nehmen (Othello, Herodes und Mariamne, Herzog von Mailand von Massinger), wie komisch behandelt werden, z. B. in dem vortrefflichen Lustspiele von Colman: the jealous wife. Nicht blos der Ausgang, die Katastrophe werden hierfür entscheidend sein, sondern auch die ganze Auffassung der Eifersucht, entweder als einer tiefen, die Seele beherrschenden Leidenschaft, oder als einer kleinlichen, die Gewohnheiten des Lebens tyrannisirenden Marotte. Aus der Ehe entsteht ein sittlicher Kreis von Pflichten, die auf natürlicher Grundlage ruhn: Gattenliebe, Vater -, Mutter - und Geschwisterliebe, die auch für die Lyrik einen innigen Hauch der Empfindung bieten (Geibel's Gedichte auf den Tod seiner Gattin, Victor Hugo's Ode an seinen Vater, Heine's Sonett an seine Mutter), aber durch den Conflict, in den sie gegenseitig gerathen können, noch mehr der Tragödie einen willkommenen Stoff bieten. Jn der That beruht die Mehrzahl der antiken Tragödieen auf diesem Conflict. Den Undank der Kinder hat Shakespeare im König Lear zum Mittelpunkte eines großartigen Trauerspieles gemacht. Jn der neuen Romanliteratur wuchert die Poesie der natürlichen Kinder, freilich nur als eine Poesie der Ueberraschungen, welche aus Namensverwechselungen, verlorenen Taufscheinen u. s. w. hervorgeht. Goethe hat in seiner unvollendeten natürlichen Tochter die ideale Seite dieses Verhältnisses hervorzuheben gesucht. Neben der Liebe ist die Freundschaft zu allen Zeiten von den Dichtern besungen worden. Jn ihr ist der sympathetische Zug der Natur gemildert, die Einheit des Denkens und Strebens aber verstärkt. Deshalb eignet sie sich für die Lyrik nur als Anlehnung für die Darstellung des gemeinsam Erstrebten (Klopstock's Oden, die Oden des Horaz u. s. f.). Eigentlich lyrische Freundschaften, die von der begeisterten Wärme der Empfindung gesättigt sind, hat Jean Paul in seinen humoristischen Romanen geschildert. Die aufopfernde Handlungsweise der Freundschaft finden wir in Schiller's Ballade die Bürgschaft dargestellt. Jm Drama brauchen wir blos an Orest und Pylades, Posa und Carlos, Clavigo und Carlos, Romeo und Mercutio, Wallenstein76 und Max zu erinnern, um die verschiedene Auffassungsweise, welche hier dies Verhältniß zuläßt, anschaulich zu machen.

Treten wir aus dem Kreise der Familie und der persönlichen Beziehungen in das öffentliche Leben hinaus: so tritt uns die Gesellschaft mit ihrer Sitte und Kultur, der Staat mit seinen wechselnden Formen und Kämpfen, mit dem Schwerte des Rechts im Frieden, dem Schwerte der Gewalt im Kriege entgegen. Doch alle diese objectiven Einrichtungen sind geworden und noch in dauernder Entwickelung begriffen. Jn ihnen ist der Menschengeist lebendig; aber das Leben des Menschengeistes ist die Weltgeschichte, und somit können wir unter ihr die reiche Stoffwelt begreifen, die sich uns hier eröffnet. Selbst der Dichter und Romanschriftsteller, der freierfundene Stoffe aus der Gegenwart schöpft, muß sein Werk auf unserem Kulturzustande, dem Leben der Gesellschaft, unseren politischen Verhältnissen aufbauen; er versetzt uns in die Geschichte, wenn er sich auch an die letzte Gestalt ihrer Entwickelung anlehnt. Selbst wenn der Dramatiker, wie Meyern in seinem Ein Kaiser, scheinbar abstract-politische Stoffe wählt, so scheint doch immer ein concretes Staatsleben mit dem Reichthum all' seiner Beziehungen hindurch.

Wie verhält sich nun die Poesie zur Stoffwelt der Geschichte? Jnwieweit ist sie verpflichtet, ihren Ueberlieferungen treu zu bleiben? Wir wissen recht wohl, daß Egmont ein Familienvater mit vielen Kindern war und doch stört uns in Goethe's Trauerspiel sein Verhältniß zu Klärchen durchaus nicht; wir wissen, daß der Schiller'sche Jnfant Don Carlos weit entfernt davon ist, ein treues Portrait seines halsstarrigen und unmäßigen historischen Urbildes zu sein und doch hat dies Trauerspiel zu allen Zeiten die Gemüther erwärmt und hingerissen. Wir sehn daher, daß die Wirkung eines Dichtwerkes nicht von seiner historischen Treue abhängig ist. Auf der andern Seite hätte Goethe Egmont nicht in offener Rebellion, nicht im Kampfe sterben lassen, Schiller den Jnfanten Don Carlos nicht zum Könige von Spanien machen dürfen, ohne daß sich das Gefühl der Leser und Hörer dagegen aufgelehnt. Wir sehn daher, daß die geschichtliche Wahrheit ebenso berücksichtigt werden muß. Es giebt geschichtliche Daten, die durchaus feststehn und von keinem Poeten abgeändert werden können. Cäsar muß über den Rubicon77 gehn, Napoleon auf Sanct Helena sterben. Keinesfalls darf das historisch entscheidende Factum verletzt werden! Nur der feine Tact des Dichters findet hier das Richtige heraus. Es ist z. B. historisch entscheidend, daß Egmont auf Alba's Befehl hingerichtet wurde; denn an diese Hinrichtung knüpft sich der Abfall der vereinigten Niederlande. Es ist dagegen gleichgültig, ob die Jungfrau von Orleans von den Engelländern verbrannt wird oder im Kampfe stirbt, denn das wesentliche Jnteresse dieser heroischen Gestalt knüpft sich an ihr Leben, nicht an die Art und Weise ihres Todes.

Was den Charakter der geschichtlichen Helden betrifft, so steht der Dichter hier zunächst auf gleichem Boden mit dem Historiker. Beide werden den Charakter aus seinen Handlungen zu entziffern suchen, nur daß der Historiker zu diesem Zwecke auch das kleinste überlieferte Detail benutzen wird, während der Dichter wiederum nur die historisch entscheidenden Handlungen in's Auge faßt! Die Auffassung des Dichters kann hier die des Historikers ergänzen, da jener tiefer in die Seele, in ihre innersten Motive greift. Hier hört oft die Ueberlieferung auf; es beginnt jenes geheimnißvolle dämonische Element, welches die Domaine des Dichters ist. Wallenstein's Abfall z. B. ist eine historische Thatsache, deren Acten noch nicht geschlossen sind. Der Dichter, den Hauptzügen der Geschichte getreu, interpretirt sie in seiner freien Weise und hebt daraus eine ideale Gestalt und einen idealen Conflict hervor. Vielleicht hat er dabei das innerlich Dämonische des großen Heerführers besser getroffen, als der Geschichtschreiber. Doch hat er diese Gestalt nur zum dramatischen Helden erwählt, weil er an ihre großen geschichtlichen Handlungen seine dichterische Jdee knüpfen konnte! Darum verfährt er hier mit ganz anderer Treue, als im Don Carlos ein Held, von dem die Geschichte eben keine historisch entscheidenden Handlungen erzählt, und dessen Charakter daher für den Dichter ein viel reicherer Stoff zu beliebiger Modellirung in ästhetischem Jnteresse wird. Halten wir dies Hauptprincip fest, so ergiebt sich von selbst, daß die Helden der Specialgeschichte der dichterisch umschaffenden Phantasie einen bei weitem freieren Spielraum gönnen, als die Helden der Weltgeschichte. Der historische Roman wird sich, bei dem beschränkteren Rechte der Erfindung, das ihm überhaupt zusteht, kaum an die letzteren wagen dürfen, während78 die Tragödie, welche mehr die leuchtenden Gipfel der Geschichte berührt und von ihren Helden alles Kammerdienermäßige fernhält, auch diese in den Kreis ihres dichterischen Schwunges ziehen kann. Jm Ganzen steht als Princip fest, daß der Dichter die geschichtlichen Thatsachen in keinem anderen, als im ästhetischen Jnteresse abändern darf und sie daher unversehrt bestehen lassen kann, wo sie die Harmonie seines Kunstwerkes nicht stören. Hat man dagegen in der neueren Zeit die Behauptung aufstellen hören: der Dichter habe blos dem Weltgeiste nachzudichten, blos sein großes Gedicht, die Weltgeschichte, abzuschreiben, so ist dies nur das alte Princip der Naturnachahmung, in eine neue Form gegossen.

Jnwieweit die verschiedenen Epochen der Geschichte überhaupt der Dichtkunst Stoff gegeben und ihren Charakter bestimmt haben: das zu untersuchen ist von hohem ästhetischen Jnteresse, würde aber die Grenzen unserer Poetik überschreiten. Für die Gegenwart handelt es sich darum, welches Zeitalter dem modernen Dichter am günstigsten ist, eine Frage, deren Entscheidung selbstverständlich scheint, obgleich gerade über diesen Punkt die verkehrtesten Ansichten verbreitet sind. Unsere Dramatiker haben in neuester Zeit mit Vorliebe antike Stoffe gewählt, während die Lyriker, an die Gegenwart gewiesen, nur in erzählenden Gedichten, wie z. B. Geibel im Tod des Tiberius, auf die alte Welt zurückkamen und kein Romanschriftsteller heutzutage in die Fußstapfen Wieland's treten und die Theilnahme der Lesewelt für einen Agathon und Aristipp in Anspruch nehmen möchte. Die biblisch-orientalische Mythe, Esther, Susanne, Judith, Herodes u. s. f. hat durch ihren farbenprächtigen Hintergrund, durch ihren romanhaft spannenden Jnhalt und die kühnen Züge der Leidenschaft viel Verlockendes auch für den modernen Dramatiker, umsomehr, als die altbiblische Weltanschauung die Entfaltung eines freien menschlichen Pathos nicht hemmt und der unsrigen wenigstens nicht feindlich gegenübersteht. Auch sind die Bedingungen der Handlung in jener patriarchalischen Epoche einfach und für die großen Züge der Tragödie günstig. Dennoch haben sich die verschiedenen Tragödieen Saul, das Weib des Urias, Herodes und Mariamne, Daniel und Susanne, die Makkabäer und selbst Judith keines durchgreifenden Erfolges zu erfreuen gehabt, obgleich ihre Verfasser, Gutzkow, Beck, Meißner, Hebbel, Werther,79 Ludwig namhafte und talentvolle Dichter sind. So muß man doch wohl den biblischen Stoffen, trotz ihrer scheinbaren Vorzüge, die Schuld des Mißlingens zuschieben, indem jene patriarchalischen Gestalten für die moderne Bildung etwas Fremdartiges haben und sich nicht in Fleisch und Blut der Gegenwart verwandeln lassen.

Aehnlich verhält es sich mit den mythischen Stoffen aus der griechischen und römischen Vorwelt, welche überdies von einer religiösen Weltanschauung gedichtet sind, die der unsrigen widerspricht. Goethe hat zwar in seiner schönen dramatischen Studie Jphigenie gezeigt, wie man diese antiken Stoffe modernisiren und verinnerlichen kann, aber es bleibt doch ein unüberwundener Rest des Stoffes, der uns herausfühlen läßt, daß dies Gedicht nicht das ursprüngliche Product einer freischaffenden Begeisterung ist! Denn es liegt ein Widerspruch der Situation, die dem alten Mythos entlehnt ist, und der Empfindung, die der Dichter des achtzehnten Jahrhunderts hineingelegt, schon darin, daß wir uns diese edle, klare, herrliche Frauengestalt mit dem feinen und tiefen Gefühl gleichzeitig als die barbarische Schlächterin denken müssen, welche mit dem Opfermesser die gestrandeten Fremdlinge hinwürgt. Unter den graziösesten Schleiern einer zarten und edlen Poesie regt sich hier das Molochartige einer alten, blutigen Kulturstufe, welche den Begriffen der Gegenwart fremd ist. Was aber einem Goethe nicht gelang, darin werden gewiß unsere jüngsten Poeten mit ihren Klytemnestren und Medeeen nicht glücklicher sein. Anderes verhält es sich mit Stoffen aus der politischen Geschichte Griechenland's und Rom's, in denen sich dramatische Charaktere zeigen und dramatisches Leben gährt. Ein Coriolan, ein Julius Cäsar, ein Tiberius Gracchus, ein Alexander eignen sich, wenn sie in Shakespeare'scher Weise mit allem Reichthum freier menschlicher Züge behandelt werden, wohl zu Helden der Tragödie. Doch stört auch hier immer ein fremdartiger Hintergrund der Kultur, der Sitte, der Denk - und Empfindungsweise, z. B. in den unvermeidlichen Beziehungen der Geschlechter, und nur die großen, geschichtlichen Motive und Charaktere fesseln das Jnteresse. Auch liegt die Versuchung nahe, hier eine gelehrte Bildung in Form und Jnhalt zur Schau zu stellen und philologische Noten in Scene zu setzen, wovon z. B. die Alexandrea von Märker ein hervorragendes Beispiel giebt. Für die Ballade hat80 Schiller seine Stoffe mit Vorliebe aus dem Alterthum gewählt, doch mehr aus dem Bereich der rein menschlichen Anekdote (Ring des Polykrates, Bürgschaft), als aus dem der höheren Mythe (Kassandra). Der Kampf des Christenthums mit dem Heidenthum hat die zahlreichen Märtyrerlegenden und Trauerspiele wie Polyeucte hervorgerufen. Sein glänzendster geschichtlicher Held ist Kaiser Julian, der in Eichendoff's lyrisch-epischer Dichtung wohl mit phantasievollen Lichtern beleuchtet, aber nicht in seiner ganzen Bedeutung erfaßt worden ist.

Das Mittelalter ist keine reiche Fundgrube günstiger Stoffe für den modernen Dichter! Wir sind seiner Denk - und Empfindungsweise vollkommen entfremdet, trotz aller Bestrebungen, dieselbe gewaltsam der Gegenwart aufzudrängen. Seine reiche Jnnerlichkeit scheint zwar einem frischen, dichterischen Quell auszuströmen; aber sie war zu sehr kritiklose Empfindung, um nicht auf der anderen Seite ebenso äußerlich zu werden. Die Kreuzzüge z. B. hatten bei aller fanatischen Begeisterung doch die sehr äußerliche Tendenz, das Grab Christi zu erobern, als wenn der begrabene Christus welthistorischer wäre, als der für die Erde auferstandene, als wenn die Bedeutung seiner Religion sich an die zufällige Stätte seines Werkes knüpfte! Tasso's befreites Jerusalem läßt uns daher heutzutage trotz seiner dichterischen Schönheiten kalt. Ebenso hatte das Ritterthum zwar sehr erhabene Grundsätze, aber eine äußerliche faustrechtliche Praxis. Nachdem es Ariost phantastisch, Cervantes ironisch aufgelöst, nachdem wir einen Orlando und Don Quixote besitzen: kann uns die ernstgemeinte Auferweckung der alten Eisenmänner, die Beseelung der alten Schienen und Brustharnische, wie es Babo auf der Bühne, Fouqué und Redwitz in der Lyrik und Epik, Spieß, Cramer u. A. im Roman versucht, keine Theilnahme mehr abgewinnen, und selbst der wackere Götz interessirt uns nur durch das aufgehende Licht der neuen Zeit, das sich auf seinem Harnisch bricht! Auch die mondbeglänzte Zaubernacht der Romantik mit ihren Feeen, Zauberern, Nixen, Rittern, Gnomen, Kobolden, Engeln, wie sie Ludwig Tieck im Octavian und der Genovefa heraufbeschworen oder Brentano in der Gründung von Prag, hat trotz aller träumerischen und glänzenden Beleuchtung dem hellen Tage der Gegenwart nicht zu imponiren vermocht. Der großartige Kampf zwischen Kaiser und Papst, Staat und Kirche bietet81 zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt, daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende Poesie in sich.

Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen die staatlichen Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus, welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große, Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen. Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen, setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte Aeschylos nicht seine Perser, Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII. dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch82 nicht im Wesentlichen, beschränken! Denn nur das Miterlebte giebt ein so bestimmtes Bild, daß der Dichter Nichts fortzunehmen, Nichts hinzuzusetzen vermag, mag dies Bild nun in seiner schaffenden Phantasie oder in der aufnehmenden feststehn! Alles dagegen, was durch Berichte der Zeitgenossen uns zu Ohren kommt, wird bereits frei von unserer Phantasie gestaltet und es ist ihr ganz gleichgültig, ob sie nach den Beschreibungen die Schlacht von Pharsalus oder die Schlacht von Waterloo, die Belagerung von Sagunt oder von Sebastopol auszumalen hat. Daß naheliegende historische Stoffe bei einer dramatischen Behandlung auf äußere Hindernisse stoßen, geht weder die Poesie noch die Poetik an. Das sociale Leben der Gegenwart ist die letzte Frucht der historischen Entwickelung und bietet eine Fülle geistiger Stoffe, besonders für den Roman und das Lustspiel. Hier schöpfen die neuern französischen Romanschriftsteller, hier Dickens und Thackeray, hier Gutzkow, Freytag, Hackländer. Hier findet die psychologische Analyse, der moderne Humor, die Begeisterung für Reformen, der Scharfsinn, der stets neuauftauchende Probleme der Kultur dichterisch zu lösen versucht, eine ergiebige Ernte. Auf der anderen Seite gehört eine große dichterische Kraft dazu, die Sprödigkeit einer breiten, oft mechanischen Kulturprosa mit den verwickelten Verhältnissen der Gesellschaft zu überwinden, und es liegt die Versuchung nahe, rohe und unverarbeitete Verstandeselemente mit in die dichterische Schöpfung aufzunehmen. Hier bleibt Jean Paul ein großes Muster; denn in letzter Jnstanz triumphirt nur der Humor einer großen Seele, die Alles mit ihrem eigenen Hauch durchdringt, über die verstandesmäßige Prosa moderner Zustände.

Wie verhält es sich nun mit der Welt des Wunderbaren, einer Stoffwelt, die so recht nur der Phantasie angehört? Jst nicht hier ihre unbeschränkte Heimath zu suchen, indem sie, von allem ursächlichen Zusammenhang unabhängig, ganz frei mit dem selbsterzeugten Stoffe schaltet? Scheint dagegen in unserer Zeit, wo die Naturwissenschaften jeden Winkel der Welt mit ihrer Fackel durchleuchten, noch ein anderes Wunder möglich, als das ewige der Natur und des Geistes? Jn der That, die Göttermaschinerie des Epos würde sich in unserer Zeit in keiner Weise anwenden lassen, obgleich sich noch Schiller mit dem Gedanken trug, eine moderne Form für dieselbe zu erfinden. Etwas anderes sind83 Homer's naive Olympier und die Riesengestalten der Edda, etwas Anderes die allegorischen Wunder der Henriade und Tasso's langweilige Teufel. Diese Art von Wunder entspringt nicht einer freischaffenden Phantasie, sondern einem nüchternen Verstande, der sich abmüht, einer abgelebten Regel zu gehorchen und eine veraltete Tradition zu beseelen. Tasso läßt den Teufel mit Hörnern erscheinen, gegen welche alle Berge und Felsen nur kleine Hügel sind; er läßt den Schutzengel Raimund's aus der himmlischen Rüstkammer einen diamant'nen Schild von solcher Breite holen, daß er vom Kaukasus bis an den Atlas alle Länder und Meere bedeckt. Milton läßt seinen Satan die ersten Karthaunen erfinden, dagegen seine Engel, und zwar vor Erschaffung der Welt, ganze Gebirge entwurzeln und den Teufeln an den Kopf werfen. Diese ernstgemeinte Erhabenheit des Wunderbaren schlägt unmittelbar in's Lächerliche um. Anders das freie Spiel der Phantasie bei Ovid und Ariost, in Shakespeare's Sturm und Sommernachtstraum, in der Märchenwelt des Phantasus! Hier ist Alles in den Aether der mondbeglänzten Zaubernacht getaucht; hier gilt die Logik des Traums und seiner freischwebenden Arabesken! Diese Herrschaft des Märchenhaften ist berechtigt innerhalb ihrer Grenzen! Nur darf sie nie in das Abgeschmackte übergehn, am wenigsten aber sich für den Kern und das Wesen aller Poesie ausgeben! Das war der Jrrwahn der Romantik, an dem ihre Talente gescheitert sind! Der Duft der blauen Blume des Novalis hatte sie berauscht, und in ihrer Traumestrunkenheit sahn sie nicht die Schönheit der Welt am hellen Tage der Geschichte! Dennoch sind ihre Märchenwunder dichterischer, als die biblischen Schatten, die Klopstock mit der erhabenen Monotonie seines messianischen Schwunges heraufbeschwört. Eine andere Domaine des Wunderbaren, außer dem Märchen, bleibt die formlose Gedankendichtung, von Dante's divina commedia bis zu Goethe's Faust, weil hier der Dichter nach Gestalten greift, die seine Jdee versinnlichen, und die Mächte der Natur und des Geistes mit Fleisch und Blut bekleidet. Durch geistvolle innere Lebendigkeit wird hier die Klippe der todten Allegorie vermieden. Auf der andern Seite bildet das volksthümliche Geisterwesen einen nothwendigen Gegensatz gegen die Vertiefung in metaphysische Probleme. Die Hexenküche, die Walpurgisnacht zerstreuen uns durch ihre frische, handgreifliche Lebendigkeit, lassen das84 geistige Streben des Titanen Faust mit seiner Jnnerlichkeit nicht bis zur Ermüdung vorwalten und stehn doch in gedanklichem Zusammenhange mit ihm. Ebenso ist der Erdgeist eine echt dichterische Personification, wie die Naturgeister in Byron's Manfred, während die philologischen Gespenster und die nüchternen allegorischen Gestalten im zweiten Theil des Faust unlebendige Versuche einer ermatteten Phantasie sind, gelehrte Noten oder abstracte Begriffe dichterisch anschaulich zu machen. Solche dämonische Gestalten, wie Mephistopheles und Ahasver, Träger einer Jdee, haben wahrhaft dichterisches Leben und werden einer Gedankendichtung, die sich mit den höchsten Fragen des Menschengeistes beschäftigt, nimmer entbehrlich werden.

Das echte Wunder kann der Dichter der Neuzeit nur in die Seele verlegen, in deren Stimmungen noch die Gespensterwelt ein vergängliches Leben führt. An das Gespenst glauben wir nicht; wohl aber an die Stimmung, welche Gespenster sieht, an die Erregung der Seele, die Schauer der Nerven. Wer das Gespenst malen will, der verscheucht es. Altschottische Balladen, Goethe's Erlkönig sind Mustergedichte solcher Stimmungen, in denen schattenhaft das Grauenvolle der Seele nahe tritt, Shakespeare hat im Macbeth, Hamlet, Julius Cäsar die innere Erregung seiner Helden theatralisch versinnlicht und läßt den Zuschauer zugleich mit seinen Helden die Geistergebilde sehen, die ihre Seelen bestürmen! Er geht indeß darin äußerlich zu Werke und läßt den Geist von Hamlet's Vater nicht blos dem Dänenprinzen selbst, sondern auch den Schildwachen und Hamlet's Freunden erscheinen, so daß er aufhört, ein psychologisches Gespenst zu sein, und ein handgreifliches wird. Der richtige Jnstinct wird die Dichter der Neuzeit abhalten, hierin dem Vorbilde des Britten zu folgen; denn mit dem Geisterglauben verschwindet alle Nöthigung zu dieser Art dramatischer Seelenmalerei. Echt modern ist dagegen die humoristische Auflösung der Gespensterfurcht, wie sie uns Byron im Don Juan vorführt, der anstatt des gefürchteten Geistes zuletzt den Leben athmenden Leib der Lady Fitzfulk umarmt. Die Taschenspielerei des neuen Magierthums, der alten und neuen Cagliostro's, welche zur Zeit unserer Klassiker so en vogue war, daß Goethe nicht blos im Großkophta, sondern auch im Wilhelm Meister, Schiller im Geisterseher, Jean Paul in mehreren85 Romanen dieser raffinirten Romantik Rechnung trug, wird noch gegenwärtig häufig zu romanhaften Ueberraschungen angewendet. Doch schon unsere großen Dichter sahen sich genöthigt, dem effectvollen Wunder die nüchterne Aufklärung folgen zu lassen, die in ihrer äußerlichen Weise an die rationalistischen Auslegungen der Bibelwunder erinnerte. Auch hier gilt unser Satz: das Wunder hat für den modernen Dichter nur eine psychologische Bedeutung! Wozu noch eine poetische Geisterklopferei, da die Welt der Seele und des Geistes der Wunder genug hat, zu denen dem Dichter vor allen andern Sterblichen der Schlüssel verliehen ist?

Zweiter Abschnitt. Die productive Phantasie.

Die unerschöpfliche Stoffwelt, deren Reichthum wir im vorigen Abschnitt angedeutet, ist das große Reservoir, aus welchem der menschlichen Einbildungskraft Bilder und Erinnerungen zuströmen. Jn der Einbildungskraft spiegelt sich indeß das Naturschöne mit seiner ganzen trüben Zufälligkeit, in stoffartiger Weise sie ist die menschliche Seele als Erinnerung der Welt. Deshalb würde das Naturschöne vergeblich der Wiedergeburt zum Jdeal harren, wenn die Einbildungskraft das einzige ästhetische Organ des Menschen wäre. Doch hier tritt eine höhere Kraft der Seele ein, die Phantasie als die Kraft der reinen Anschauung, welche in höherer Potenz zur Kraft der künstlerischen Gestaltung wird. Wohl schöpft sie mit der Einbildungskraft aus dem Quelle der äußern Welt, aber sie schöpft auch aus dem Reiche der Jdeeen, die sie in diese Welt hineinschaut. Die Einbildungskraft träumt; die Phantasie dichtet. Auch die Einbildungskraft schiebt die Farben und Formen der Welt zu kaleidoskopischen Bildern zusammen und auseinander; aber ihr Spiel ist ein zufälliges und ihr Gebilde ungeläutert, ein Zusammensetzspiel mit gegebenen Steinen, mit ausgeschnittenen Theilen. Erst die Phantasie bringt zu diesen Erinnerungen der äußern Welt die platonischen Erinnerungen aus der Welt der Jdeeen hinzu, durch welche sie fähig wird, jene zu läutern und zu gestalten. Die Phantasie schaut86 nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem sie es schaut. Der dichterische Schöpfungsproceß ist ein Act der Phantasie! Was an ihm geheimnißvoll erscheint, das beruht auf dem eigenthümlichen Wesen des Schönen, wie es sich in der Welt der Seele spiegelt. Das Schöne tritt fertig als Object, mit der Unmittelbarkeit des sinnlichen Dinges vor uns hin; es berührt uns mit dem ganzen frischen Reize der Natur und ist doch ungetrübte Jdee zugleich! Dieser frische Reiz der Natur, dieser Zauber des Unmittelbaren und Ursprünglichen begleitet auch die schaffende Phantasie und zeigt sich hier sowohl als natürliche Begabung, als eine dem Einzelnen gewährte Gunst, wie auch als begeisterte Eingebung, der eine unsichtbare Macht in die Feder zu dictiren scheint!

Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn als Gedicht erscheinen läßt, das ist nicht die willkürliche Verknüpfung der Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner geträumten Welt. Die Personen, die der Traum hinzaubert, haben Fleisch und Blut, Form und Farbe und fallen nicht aus der Rolle. Nur selten unterbricht der Träumende, wie ein reflectirender Dichter, die objective Welt, die er schafft, und in welche er sich mit allen seinen Sinnen, seinem Empfinden und Denken, seinem vollsten Glauben versenkt. Es träumt z. B. Jemand von der Angst vor einem Examen und während desselben, das er schon längst gemacht hat. Mitten in diese zagend empfundene Angst schleicht sich leise aufdämmernd der Gedanke: aber wie ist es möglich, daß du dies Examen noch einmal machen mußt, du hast es ja schon gemacht ein Gedanke, mit welchem das bewußte Gehirn die Dichtversuche der Ganglien corrigirt und ihnen den Vorwurf der Verletzung der historischen Treue macht; aber die dichtenden Ganglien lassen sich durch diese subjective Reflexion nicht unterbrechen, das Gehirn mit seinen schüchternen Einwürfen verharrt in seiner dienenden Stellung; jene fahren fort, über den Delinquenten den ganzen Angstschweiß einer mit folternder Genauigkeit ausgeführten Prüfung zu verhängen. So groß ist die Objectivität des Traums, daß er in dieser Hinsicht dem Dichter zum Muster dienen könnte. Dagegen ist der Traum nachlässig bis87 zum Abgeschmackten in der Motivirung; er springt hin und her, verschiebt die Decorationen auf's Wunderbarste und löst die Welt in dissolving views auf. Oft treibt er's so bunt, daß das kritische Gehirn es nicht aushalten kann und darüber erwacht. Von sittlichen oder ästhetischen Rücksichten ist bei den dichtenden Ganglien nicht die Rede; daß Gräßliche, Scheußliche, Bestialische drängt sich oft in den Vordergrund. Die Ganglien sind hypergenial. Es ist höchst charakteristisch, daß die romantische Schule den Traum zum Kanon der Dichtkunst machte. Jn der That sind viele ihrer Productionen mehr mit den Ganglien, als mit dem Gehirn gedichtet. Von dieser roheren Bildergesellung der Einbildungskraft mögen wir lernen, wie die productive Phantasie schafft! Zunächst gehört zur freien Production das Bewußtsein, das dem Traume fehlt sie weiß, daß das Bild, das sie schafft, ein Bild und ihre Schöpfung ist! Dann verknüpft der Traum die Bilder willkürlich, nachdem er sie zufällig aufgegriffen die dichtende Phantasie verbannt den Zufall, der die Schönheit trübt. Sie ordnet das reiche Spiel der Vorstellungen, dem der Traum sich blindlings hingiebt, zu harmonischer Verschlingung. Seiner Unbesonnenheit setzt sie Besonnenheit entgegen, und wenn ihre Jnspiration auch dieselbe Naturwurzel haben mag, wie die Eingebungen der Träume, so ist doch die dichterische Begeisterung eine edle Tochter der Jdee, während die Anregungen des Traumes nur aus einem System der Nerven hervorgehen, das auch einmal, so gut es gehen will, während das Gehirn schlummert, den Herrn spielt! Besonnenheit und Begeisterung sind nun in der That die beiden Factoren der dichtenden Phantasie, deren Product das Dichtwerk ist.

Die Begeisterung ist jener Enthusiasmus für das Schöne, der, verstärkt durch die Gluth momentaner Hingebung, schöpferische Kraft gewinnt. Doch sie kommt, wie eine Schickung, wie eine Gunst über den Schaffenden (pati deum); ihn treibt eine Gewalt mit willkommener Nöthigung, der er selbst mit süßer Rührung gehorcht! Diese Gewalt ist aber nicht, was sie scheint, nichts Fremdes, Despotisches; es ist die Fülle der eigenen Kraft, die zur Gestaltung drängt, das Räthsel des eigenen Wesens, das sich lösen möchte! Es ist die Schönheit selbst, die an die Pforten der Künstlerseele klopft und um das Leben bittet, das nur sie ihr gewähren kann, und gerade ihr Durchgang durch das feurig erregte88 Gemüth ist von jenen erhabenen Schauern begleitet, welche die dichterische Begeisterung charakterisiren. Wo sie den Dichter verläßt, da hört er auf, ein Dichter zu sein! Wer nicht das Gefühl gehabt, als ob ihm in die Feder dictirt werde; wer die Worte sucht und nicht findet, nicht im Glück über den Fund, wie getragen von unsichtbaren Schwingen, zu einem neuen weiter eilt; wer sich am Rhythmus und am Reim, wie an unwillkommenen Hemmungen, abarbeitet, statt daß ihm der geregelte Gang zum Flügel wird und der Reim zum Schlüssel, der ihm ungeahnte Gedanken zauberisch erschließt: der darf nicht mitsprechen, wo von dichterischer Begeisterung die Rede ist, dem läßt sich nicht klar machen, was doch nur mit der persönlichen Begabung, mit einer Begünstigung der Natur zusammenhängt! Doch die Begeisterung ist nicht nur blos der zündende Blitz des Augenblickes; sie muß sich zur latenten Wärme condensiren, welche eine lange Arbeit des Schaffens mit treuer Hingabe beseelt. Die begeisterten Anläufe genügen nicht; wie die Begeisterung überhaupt allein nimmer unsterbliche Werke schafft. Das sehen wir an den Sturm - und Drangepochen großer Dichter, die bei diesen, wie bei Schiller und Goethe, vorüberrauschende Ouverturen waren, bei anderen, wie bei Lenz, Klinger, Grabbe, so lange dauerten, wie ihr Dichten und Leben! Hier ist ungeregelter, maaßloser Schwung; die Begeisterung hat keinen rechten Jnhalt; sie gleicht oft dem Sturme, der dürre Blätter in die Lüfte wirbelt. Jhr ganzes Schaffen ist vulcanische Eruption Spalten, Risse; Befruchtendes, aber als glühende Lava; Blitze, aber aus Aschenwolken! Es fehlt die Besonnenheit! Schon der klardenkende Horaz hat diese wüste Genialität gegeißelt: Weil Demokrit das Genie höher stellt, als die mühsame Kunst, und die besonnenen Dichter vom Helikon ausschließt, so läßt ein großer Theil von Dichtern Nägel und Haare wachsen, sucht Einöden und meidet die Bäder. Ja gewiß wird derjenige Dichterruhm ernten, der seinen Kopf, den drei Nießwurzinseln nicht heilen konnten, niemals der Scheere unterwirft; und Goethe sagt:

Vergebens werden ungebund'ne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben!

Die Begeisterung, die Manie, welche nach Plato's Phädrus der Dichter mit dem Weissager, dem Geisterbeschwörer und dem Verliebten gemein hat, wird, bei ungebundener Alleinherrschaft, wohl Dämonisches89 und Leidenschaftliches, aber nicht das Schöne hervorrufen! Wohl aber muß die Dichtung des Nüchternen stets vor der Dichtung des Begeisterten verschwinden, und Plato hat die hohe Bedeutung der gesunden Manie, des begeisterten Heraustretens aus dem gewohnten Gleise, nach Gebühr gewürdigt. Jn seinem Jon läßt er den Sokrates sagen: Alle wahren Epiker, wie alle wahren Lyriker, bringen nicht durch Kunst, nur durch Begeisterung alle die schönen Gedichte hervor. Und wie die korybantischen Tänzer nicht in bewußtem Zustande tanzen, so dichten auch die Lyriker ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie in Ton und Tact hineingerathen. Und wie die Bacchantinnen in ihrem Rausch aus Bächen Milch und Honig schöpfen, aber nicht, wenn sie bewußt sind: so thut auch der Geist der Lyriker das, was sie selbst sagen: denn sie versichern uns ja, daß sie von Honigbächen aus Gärten und Auen der Musen ihre Lieder, umherfliegend gleich den Bienen, pflücken und uns darbringen. Und sie haben Recht: denn der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, geweihtes Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert, unbewußt und von Sinnen ist.

Wenn der göttliche Plato den Hauptnachdruck auf die Begeisterung legt: so stellt schon der schärfere Aristoteles ihr die Besonnenheit als gleichberechtigt zur Seite, indem er die Gabe der Dichtkunst ebenso dem Feinfühligen, Geistreichen*)Poet. 17 εὐφυής., wie dem Begeisterten zuspricht. Die Wahrheit ist, daß die Besonnenheit nur im Bunde mit der Begeisterung das Vollendete schafft. Sie ist die das Schaffen begleitende Kritik, welche aber bei dem Genie nicht äußerlich nebenhergeht, sondern in seiner dichterischen Anschauung von Hause aus mitgesetzt ist. Wenigstens wird der begeisterte Wurf des Großen und Ganzen aus den Händen des Genies mit jener inneren Wahrheit und Folgerichtigkeit gelingen, welche die nachfolgende Kritik nur anerkennen kann. Daß aber diese Besonnenheit in der Durcharbeitung des Einzelnen, der Verbesserung des Gefüges, der Feile der Form eine große Rolle spielt, ist gewiß nicht in Zweifel zu ziehen. Nur muß man auch hier nicht an eine isolirte Verstandesthätigkeit denken. Die Kritik kann z. B. ein dichterisches Wort beseitigen, das ihr matt, nicht geeignet, nicht schlagend genug erscheint; sie kann das richtige suchen,90 aber finden wird sie es nur durch einen neuen Act der Jnspiration. So ist es von Byron bekannt, daß er viele Adjectiva verwarf und ausstrich, ehe er das rechte stimmungsvolle fand, das in den Charakter des Gedichtes paßte und seinen Zauber erhöhte. Hier erlöste die prüfende Besonnenheit den Genius von vorüberfliehenden Verdunkelungen und gab ihm seinen ursprünglichen Glanz wieder. Dichter, in denen die Feinfühligkeit und Geistreichigkeit vorwiegt, wie Pope, Boileau, Lessing, Jmmermann, Gutzkow, welche nach Lessing's scharfer Beobachtung Alles in sich durch ein Röhrenwerk in die Höhe pumpen, fehlt zwar die Begeisterung nicht, denn sonst würden sie überhaupt nicht Dichter zu nennen sein; aber die Besonnenheit geht ihr voraus. Bei ihnen schafft den Wurf des Ganzen die Kritik; die begeisterte Wärme durchdringt nur das Einzelne. Mit feinem Spürsinn, nicht aus innerer Nöthigung, wird der Stoff ergriffen, gegliedert, gestaltet; leichte Auffassung, scharfer Blick, beziehungsreicher Witz ersetzen hier die Schwungkraft des Enthusiasten; aber das Kunstwerk wird mehr zusammengesetzt, als erschaffen, es fehlt ihm die organische Einheit; es wird ein Mechanismus, an dem sich viel schieben, rücken, zusetzen läßt, dem man aber mit dem Räderwerk die Seele aus dem Leibe nimmt. Die Fehlgriffe Lessing's bei der Wahl seiner Stoffe, der einen Nathan in die Zeit der Kreuzzüge und eine römische Virginia an einen deutschen Fürstenhof versetzt, zeigen zur Genüge, wie der Scharfsinn in seinen Combinationen irren kann, wo die Begeisterung nimmer fehlgreifen würde! Man vergleiche nur Jmmermann's Münchhausen mit einem Roman von Jean Paul und man wird augenblicklich den Unterschied zwischen dem Humor der Besonnenheit und dem der Begeisterung erkennen! Dort eine Erfindung von mühseliger Absichtlichkeit, von geistreichen Bezügen hier Alles frisch, frei, voll aus der Seele strömend! Der moderne εὐφυής des Aristoteles, und zwar κατ 'ἐξοχὴν, ist Karl Gutzkow er bringt es zu einer Bedeutung, welche den Enthusiasten den Rang streitig macht! Er hat Geist, Wärme, Leben aber doch fehlt ihm die μανία Plato's, der ursprüngliche Dithyrambus der Seele, der alle Schöpfungen durchklingt! Darum ist er oft unglücklich in seinen Combinationen, in seinen Griffen; denn bei der Besonnenheit kann man nur von Griffen sprechen, nicht vom Wurf, der nur der Begeisterung zukommt. Das Feuer der Besonnenheit wird nur durch lange Reibung91 hervorgerufen, das der Begeisterung blitzt mit einem Schlag empor. Die Phantasie, die Geburtsstätte der Dichtung, ist zuerst jene Stätte der Empfängniß, wo sich die Jdee des Schönen und das vom Dichter ergriffene Object begegnen. Nach Goethe's Ansicht, daß jedes Gedicht ein Gelegenheitsgedicht sei, scheint das Ergreifen des Stoffes dem Zufall anheimgegeben. Dies ist dahin zu beschränken, daß die Veranlassung, welche dem Dichter den Stoff zuführt, eine zufällige sein kann; aber daß er gerade diesen Stoff ergreift, ist kein Zufall mehr, sondern die innere Nöthigung seines Genius. Eine Novelle, eine Chronik, ein Erlebniß mag dem Dichter den Stoff zuführen, ja selbst die äußerlichste Bestellung hat ihr gutes Recht, wenn der bestellte Stoff nur der Art ist, daß er die Begeisterung des Genius zu wecken vermag! Und zwar gilt hier die persönliche Bestimmtheit des Dichters, sein charakteristisches Gepräge. Shakespeare, der Meister großer Seelengemälde, fühlte sich durch jene Novellen angezogen, in denen, wie in Romeo und Julie, Othello, Hamlet, die Chronik menschlicher Leidenschaft enthalten war. Aus dem Knäuel der Novelle entwickelte er jene dramatischen Fäden, die bis in die tiefsten Labyrinthe der Menschenseele hineinreichen. Es ist kaum anzunehmen, daß diese Stoffe sympathisch, Leben zündend auf Schiller gewirkt hätten, dessen energische, nach der historischen That hin gespannte Natur durch die großen Helden und Staatsmänner der Geschichte enthusiastisch angeregt wurde! Die Wahl des Stoffes ist daher schon immer eine That der Begeisterung, eine innere Nothwendigkeit! Wohl kann derselbe Stoff auch entgegengesetzte Dichternaturen entzünden, wenn er nur eine Saite derselben in Schwingung setzt. Auch Goethe hätte einen Tell schreiben können und trug sich mit diesem Stoffe, sowie er einen Egmont und Götz geschrieben. Doch ihn hätte nur das Charakterbild interessirt, er hätte dem leichtblütigen Niederländer, dem treuherzigen deutschen Ritter das Schweizer Naturkind gesellt, und in der Ausführung wäre gewiß viel Genrebildliches, viel Jery und Bätely mituntergelaufen.

Hat die Dichterphantasie nun ihren Stoff erfaßt: so beginnt sie mit seiner Läuterung und Erhebung. Das Zufällige scheidet sie aus und giebt ihm Schwingen der Seele. Sie sucht der Gestalt die schöne Mitte des Menschlichen zu retten, hält sie allgemein genug, daß Jeder mit ihr92 denken und empfinden kann, und doch auch wieder individuell genug, daß ihr Denken und Empfinden das scharfe Gepräge eines bestimmten Charakters trägt. Vor der dichtenden Phantasie schwebt stets ein ganzer Zug von Gestalten und Bildern je reicher sie ist, desto größer die Fülle der Vorstellungen, die über ihre Schwelle tritt! Jn dieser Beziehung ist alles Dichten ein rasches und glückliches Wählen, nicht der Kritik, sondern der Begeisterung! Von allen diesen Bildern kann nur eins das berufene sein, die Jdee zu tragen der Genius winkt und wie Eisen an den Magnet schießt es zu schönem Bund an den Gedanken, während die andere dunkle Schaar wieder zum Orkus, in die Nacht der Seele hinabsinkt.

Die dichterische Phantasie, als Begabung des Einzelnen, hat nun ihre bestimmten Grade, nach denen man die Dichtergrößen zu messen pflegt. Die künstlerische Begabung überhaupt ist der Jnstinct des Schönen! Dieser Jnstinct ist als passiver weit verbreitet, die allgemeine Empfänglichkeit, ohne welche dem Künstler das Publikum fehlen würde. Der Sinn für das Schöne kann einen hohen Grad erreichen, ohne aus der Passivität herauszugehn. Jn der That giebt es dichterische Naturen, in denen ein großer Genius schlummert, ohne je zu erwachen! Wir glauben zwar nicht, daß Raphael ein großer Maler gewesen, auch wenn er ohne Hände geboren worden aber er hätte auch so in seiner Phantasie die sixtinische Madonna angeschaut! Es kann Menschen geben mit der Phantasie, mit dem Weltblick eines Shakespeare aber ihnen ist nicht die Zunge gelöst, sie tragen diese dichterische camera obscura der Welt schweigend herum! Es sind die großen, stummen Poeten, die in keine Poetik gehören! Vielleicht versuchen sie zu dichten aber ihr Sprechen ist nur ein Stottern, und sie bringen die Gedanken, die hell vor ihrer Seele stehen, nur in zerhackten Wörtern zu Tage. Sie stehen noch jenseits der Grenzen der Dichtkunst; denn diese beginnt erst da, wo es ein Gott dem Menschen gab, zu sagen, was er leide. Mit diesem Sagen wird der Jnstinct des Schönen activ wir treten in den hellen Tag der dichterischen Begabung.

Man unterscheidet die dichterische Begabung als Talent und Genie. Talent ist Formgewandtheit, Sicherheit und Geläufigkeit des Denkens, Empfindens und Gestaltens, aber mit unbewußter Anlehnung an irgend93 ein Gegebenes Genie ist die erhabene Sicherheit einer großen Natur, welche, um mit Kant zu sprechen, der Kunst die Regel giebt und aus dem frischen Born ihrer Originalität schöpft. Das Talent ist glänzend und blendend im Einzelnen, das Genie durchgreifend und bewältigend im Ganzen. Das Talent ist in vielen Satteln gerecht, das Genie vielleicht nur in Einem, aber in diesem Einen einzig. Es ist, wie Schelling sagt, still, einfach, groß und nothwendig wie die Natur. Das Genie legt in Alles die ursprüngliche Kraft, Weihe und Fülle einer nur ihm eigenthümlichen Weltanschauung; es ist immer im Mittelpunkt der Welt und des geistigen Lebens. Das Talent verfolgt bald diese, bald jene Richtung; was ihm eigen scheint, ist oft anempfunden und angeweht, oder wo es ihm wirklich angehört, da fehlt ihm die Tiefe; es bewegt sich immer auf der Oberfläche der Welt! Das Genie hat das Organ für das Bedeutsame des Lebens; ihm ist die Anschauung der Jdeeen angeboren; es sieht das Ewige im Vergänglichen. Das Talent hat einzelne Lichtblicke, die es dem Genie nähern; aber im Ganzen ist es in alle vergänglichen Jnteressen des menschlichen Willens zu sehr verwickelt, zu flüchtig, um den Spiegel des Alls immer rein zu halten. Ueber der Form verliert es oft den Gehalt! Die Form des Talentes kann dem Anscheine nach glücklicher und glänzender sein, als die des Genies aber die Form des Genies trägt jenes Siegel höherer Nothwendigkeit, das sich nicht beliebig von seiner Schöpfung lösen läßt. Wie meisterhaft ist die Form bei Platen, Geibel und andern Talenten wie sehr aber fehlt ihr jenes eigenthümliche Arom, das einen Schiller, Shakespeare oder Jean Paul kennzeichnet, jener unsagbare geistige Duft, der uns gefangen nimmt mit eigenthümlicher Trunkenheit, uns das Gefühl giebt, wir leben in einer Welt, die nur einmal existirt, in der Welt, die der Genius schuf! Jn der That haben diese Dichter einen stets auf das Große und Ganze der Welt und des Lebens gerichteten Sinn, und während die Werke des Talentes die mannichfachsten geistreichen Betrachtungen über menschliche Verhältnisse, über die Beziehungen des Lebens enthalten, die nach allen Seiten hin auf's Treffendste bezeichnet werden, finden wir in den Werken des Genies einen aus dem ewigen Grund des Lebens hervorsprudelnden Gedankenquell! Ebenso tief wie große Religionsstifter und Denker fassen jene Dichter das Leben auf, und wo die94 Weisheit verstummt, darf die Schönheit noch reden und das Weltgeheimniß lösen! Vom Genie ist indeß die Genialität zu unterscheiden, die nur der unausgegohrene Drang des Genius ist! Jn allen Uebergangsepochen der Literatur wuchern die Genialitäten; was sie schaffen, sind Anläufe origineller Kraft, denen aber die große Durchbildung des Genius fehlt. Sie haben nicht die Sauberkeit, Gefälligkeit, nicht die schwunghafte Form des Talentes, ihnen fehlt sowohl der Fluß des Talentes, wie der Guß des Genies; es sind kometarische Naturen, umirrender Lichtdunst ohne sichere Bahn, vulkanisch zerklüftete Geister! Wohl hat auch das echte Genie etwas Vulkanisches; doch gleicht es darin der Sonne, deren Vulkane wir nicht sehen, wohl aber das Licht, das sie über so viele Welten ausströmen! Wir erinnern an Otway, an Lenz, an Grabbe, auch Heine und Byron stehn an der Schwelle des Genies, ohne sie ganz zu überschreiten! Hier fehlt nicht der Hauch, der Klang aus der Tiefe, der überraschende Blitz, der das Leben erhellt, aber es fehlt die große, stille Tiefe des Genius, in der die Welt sich spiegelt! Die Natur, die einen Shakespeare schaffen will, hält plötzlich inne im Schaffen und schafft nur einen Grabbe. Seine Dichtungen sind von demselben kosmischen Ursprung; aber es sind Meteorsteine und keine Welten! Hierher gehört auch die kokette Jronie der Romantiker, welche auf den Freibrief des Genies trotzen, ohne ihn zu besitzen! Heine dagegen hat das Auge des Genius; aber er schielt damit durch schlechte Gewöhnung, und nur selten sieht es uns an mit dem reinen und tiefen Blick. Die stille Naturkraft des Genius wird bei diesen Genialitäten trotzig, lärmend und herausfordernd; sie kehren das Herbe, Schroffe, Gigantische hervor, verachten die Form, die ihnen für ihren bedeutenden Jnhalt ein Hinderniß scheint, und bringen so nur schöne Fragmente hervor! Diese Gradbestimmungen der productiven Phantasie lassen noch viele Gliederungen und Uebergänge zu, bis zu jenen Diminutivtalenten herab, welche an der Grenze des Dilettantismus stehn und irgend eine chinesische Erzählung mit geschickter Porzellanmalerei auf die Theetische der ästhetischen Cirkel stellen.

Die Dichternaturen, im Kreise ihrer Begeisterung lebend, können, wie es Goethe im Tasso geschildert, reizbar, launisch wechselnd in ihren Stimmungen sein! Wie das Gemälde der Phantasie innerlich ergreifender95 ist, als die Wirklichkeit: so ist auch das Leben der Phantasie von höherer Spannung, von größerer Aufregung begleitet! Dem Dichter ist es das wahre Leben ein höheres Gewebe der Maja, als die wirkliche Welt! Die großen Genien werden indeß immer im Leben harmlos, still, unbefangen sein, leicht zu täuschen, weil sie die kleinen Zwecke der List zu durchschauen verschmähen, weil ihnen die Jnteressen des äußern Lebens werthloser sind! Jhre Sittlichkeit besteht in der großen Güte, mit der ein Gemüth, das überall das Ewige schaut, die Welt umfängt! So waren Shakespeare, Jean Paul, Goethe! Klarer Sinn, frische Empfänglichkeit für alles Große, Gute, Schöne, reger, doch vielleicht einseitiger Wissenstrieb werden sie auszeichnen! Was die Wendung zur wirklichen That betrifft, so ist die Energie der Phantasie nicht immer eine Energie des Willens, ja die Ueberreizung der ersteren kann die letztere lähmen. Horaz hat, trotz aller energischen Oden, in denen er den Unerschrockenen preist, dem selbst der Zusammensturz der Welt nicht die Fassung raubt, in der Schlacht bei Philippi seinen Schild fortgeworfen, und Herwegh, der die Kreuze aus der Erde reißt und in Schwerter verwandelt, hat sich im badischen Revolutionskriege, nach Abzug aller verleumderischen Zuthaten, mindestens nicht als Held gezeigt. Diesen kann man einen Tyrtaeos, Camoëns, Körner und Andere gegenüberstellen. Dante war ein energischer Staatsmann, Lamartine ein sentimentaler welch 'ein Unterschied ist aber auch zwischen der divina commedia und den harmonies religieuses!

Ueber die Bildung und Erziehung des Dichters hat Vida in seiner Poetik eine Menge Lehren gegeben, die nur von der äußerlichen Pädagogik jener Zeit Zeugniß ablegen. Jn neuester Zeit hat sich dagegen oft die Ansicht hören lassen, ein Poet müsse alle Bücher beiseite werfen und nur im Buche der Schöpfung, in Wald und Flur u. s. f. lesen, eine Ansicht, der wir so viele inhaltleere Reimereien verdanken, und die einen Theil der Modelyriker zu Pygmäen macht, gegenüber den erhabenen Gestalten unserer großen Klassiker! Gerade die geistige Befruchtung durch die vielseitigste wissenschaftliche Bildung hat die volle Entfaltung jener reichen Genien hervorgerufen! Man denke nur an Schiller's philosophische und historische Studien, an Goethe's Naturstudien und universale Bildung, an Jean Paul's Polyhistorie, an Lessing's und96 Herder's vielseitige Kenntnisse man vergleiche damit die damaligen und heutigen Matthisson's, Salis 'und Hölty's, und man wird zugeben müssen, daß unsere großen Geister sich von den kleinen gerade durch die Tiefe und den Reichthum der Bildung unterscheiden! Alle jene Dichtergenien haben auch wissenschaftliche Werke hinterlassen; sie haben theoretisch und kritisch gewirkt, und es ist ganz consequent, wenn man ihre echten Nachtreter in den allseitig gebildeten Autoren, den Hebbel's und Gutzkow's, sucht und nicht in den Vertretern einer ephemeren Lyrik! Der Dichter soll auf der Höhe seiner Zeit stehen; deshalb muß ihm ihr ganzes geistiges Streben erschlossen sein! Das Leben ist seine äußere, die Kunst und Wissenschaft seine innere Bildungsschule, und nur die Jgnoranz preist das ignorante Talent! Eine andere verkehrte Auffassung der dichterischen Begabung ist diejenige, welche in ihr einen Kainsstempel sieht und den Dichter einsam mit flammender Stirne durch die Mitwelt wandern läßt. Hiergegen muß man behaupten, daß die Einsamkeit des Genius keine unselige ist, und daß die Gabe der Dichtkunst als eine Gunst des Geschickes angesehen werden muß. Denn gerade der Weltblick des Genius hat jene Ruhe und Harmonie, welche zugleich die höchste Weisheit und das höchste Glück der Erde ist. Man wird diese Ansichten wenig modern finden, weil die Zerrissenheit, das Unglück der Talente zu den Stichwörtern der modernen Schule gehört. Die Jronie der Romantiker hat sich in diese Koketterie mit dem Weltschmerz geflüchtet und seit der englische Childe Harold seine von den Orgien Newsteadabbey's erschöpfte Seele in die Toga einer großartigen Weltmüdigkeit hüllte, seit der bleiche deutsche Poet der rue d'Amsterdam mit seiner Krankheit prahlte, lange vorher, ehe ihn die Hand des Schicksals auf ein schmerzliches Krankenlager warf, haben die jungdeutschen Autoren und selbst Dichter wie Freiligrath und Beck das Dogma vom Fluche des Dichtertalents an die Spitze ihres Credo's gestellt. Die Jdeale dieser Richtung waren die Halbgenies, ein Günther, Lenz, Grabbe! Jn allen Gesellschaften bemühten sich die Poeten, jene verstörte Positur des einsamen Schmerzes und der erhabenen Weltmüdigkeit anzunehmen, welche für ein sicheres Kennzeichen ihrer hohen Begabung galt! Diese Zeit ist glücklicherweise vorüber! Die echte moderne Poesie wird sich in alle Dissonanzen des Lebens vertiefen, ohne ihre ewige Harmonie zu verlieren! 97Und wenn auch der Optimismus eines Leopold Schefer und das vielgepriesene Glück dieses dichterischen Polykrates nach der andern Seite hin als extrem gelten muß: so steht sie doch der echten dichterischen Weltanschauung näher, als jene Verzweiflung der Ohnmacht und Blasirtheit. Doch wird man uns entgegnen, daß der Genius und der Wahnsinn sich keineswegs fern sind; man wird uns auf Hölderlin und Lenau verweisen, auf andere geniale Menschen, einen Rousseau und Alfieri, die in einzelnen Lebensmomenten dicht an der Grenze des Wahnsinns standen. Jn der That zeigen sich Dichternaturen oft unverständig in den Beziehungen des wirklichen Lebens; die Ungeduld über seine störenden Berührungen kann sich bis zur Leidenschaftlichkeit steigern; das an die Anschauung der Jdeeen gewöhnte Auge verlernt leicht den Blick auf den Zusammenhang der endlichen Dinge. Schon Plato hat dies sehr schön ausgedrückt, indem er die irdische Welt mit einer Höhle von Schattenbildern vergleicht, in welcher sich ein Auge nicht zurechtfindet, das außerhalb der Höhle das Sonnenlicht und die wirklich seienden Dinge, die ewigen Jdeeen geschaut. Er sagt, daß kein echter Dichter ohne einen gewissen Wahnsinn sei, und auch Aristoteles stimmt ihm hierin bei*)Nach Seneca de tranq. animi 15, 16: nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit. Vergl. auch hierüber die geistvollen Betrachtungen Schopenhauer's: Die Welt als Wille und Vorstellung. S. 274 u. flgde.. Die Dichter selbst bekennen, daß ihr Aug ' in schönem Wahnsinn rollt. Jn der That ergeht sich der Dichter, wie der Wahnsinnige, in einer Kette von Phantasiebildern, die ein selbstständiges, der äußern Wirklichkeit entlegenes Leben haben. Auch der Dichter wird von seinen Phantasiebildern hingerissen, wie der Wahnsinnige aber bei jenem ist das Bewußtsein der freien Schöpfung lebendig, der wache über dem Spiele der Vorstellungen stehende Geist; dieser ist ganz in ihrem Taumel verloren und unterscheidet sich nicht mehr als Schöpfer von seinem Werke! Wo daher dies Band des Bewußtseins zerreißt: da kann leicht das Genie in Wahnsinn übergehen und seine glänzende Bildersprache im Reiche zusammenhangloser Einbildungen fortsetzen! Man wird die gestörte Harmonie reich begabter Geister bedauern, aber nie vergessen dürfen, daß die dichterische Manie von der des98 Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und seiner Ophelia unterscheiden würde!

Dritter Abschnitt. Jdealismus und Realismus.

Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das Kunstwerk, die Dichtung. Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten, müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als je entbrannt ist wir meinen den Jdealismus und Realismus.

Der Realismus geht von der Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit aus, der Jdealismus von der Welt der Jdeeen, vom Reiche des Geistes. Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem, je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei Goethe der Realismus, bei Schiller der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung; denn Goethe hat einen Faust geschrieben und Schiller Wallenstein's Lager. Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei geächtet und sucht sich überhaupt vom Geist nach Art des Proktophantasmisten im Faust zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:

Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagirt,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Jst er von Geistern und vom Geist curirt.
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Die Nachahmung des Wirklichen als eine bloße Wiederholung desselben kann das Kunstschöne nicht erzeugen. Zwar dürfen wir nicht vergessen, daß auch bei dieser bloßen Wiederholung ein Durchgang durch die Phantasie des Künstlers stattfindet, der das Wirkliche von einigen Schlacken säubert und einen, wenn auch schwachen Schimmer des Jdealen darüber ausgießt. Doch ist dieser poetische Hauch nicht bedeutsamer, als was uns aus einem Tagebuch, einer Biographie, Memoiren anweht nur Silber - und Goldpapier, das sich an die rauhe Schaale der Wirklichkeit anschmiegt, ohne sie aufzulösen! Sehen wir nun, welche Rolle der Realismus in der Poesie spielt und unter welchen Auspicien er den Sieg über seinen Gegner zu erringen sucht!

Die industrielle Entwickelung der Neuzeit, der praktische Zug unserer Kultur scheint jene stille Jdeeenwelt zerstört zu haben, in welcher die Denker und Dichter von Weimar gelebt! Man drängt die Poesie auf den Markt der öffentlichen Jnteressen, und nachdem sie eine Zeit lang den politischen und religiösen Tendenzen gedient, soll sie jetzt der Prosa des Lebens, den Jnteressen der verschiedenen Stände, dem Ackerbau, dem Fabrikwesen, dem Handel und den Gewerben dienstbar werden. Auch diese Seite unserer Kultur hat ihre Jdealität wir erinnern nur daran, wie Grün, Beck und Geibel dem Dampf und den Eisenbahnen ihr poetisches Element abgelauscht! Aber der Realismus will, daß wir uns für die Dinge, wie sie gerade sind, interessiren, daß die Poesie die Wirklichkeit abschreibe und das profane Berufsleben mit ihrem Zauber heilige! Man hat z. B. den Satz proklamirt: der Roman soll das deutsche Volk bei seiner Arbeit suchen! Jn Folge dieses Satzes haben wir nun Romane erhalten, in denen sich die Poesie der Materialwaarenhandlungen, der Schieferdeckerei und verschiedener anderer Gewerbe geltend macht! Jener mit so vielen Prätensionen auftretende Satz ist indeß nicht viel mehr als eine Nichts sagende Phrase! Die Arbeit isolirt den Menschen und um so mehr, je mehr sie sich in ein technisches Detail vertiefen muß. Ein Fabrikarbeiter, der jahraus jahrein dieselbe mechanische Handbewegung macht, wird die Poesie seines Lebens gewiß nicht in seiner Arbeit suchen, und wenn auch ein Schneider, nach der Autorität Heinrich Heine's, in seinen Rock Jdeeen legen kann, so wird doch die Poesie einer Schneiderwerkstatt bald erschöpft sein, so rasch, daß sie für den mehrbändigen Roman100 von Karl v. Holtei nicht ausreichte! Dieser Realismus, der das deutsche Volk bei seiner Arbeit sucht, kann nur gleichzeitig die Arbeit und die Poesie verderben! Ein humoristisches Dichterauge kann zwar in den alltäglichen Verkehr Gemüth und Geist hineinschauen aber etwas Anderes ist's, die kleine Misère des Lebens zu vergeistigen, etwas Anderes, sie zu verherrlichen! Bei Jean Paul ist immer der Mensch das Erste, mag er uns das kleinste Dorfschulmeisterlein schildern, nicht sein Stand und seine Arbeit in den realistischen Romanen ist es umgekehrt! Wie reizend ist das Stillleben, wenn es Jean Paul darstellt! Welches echt idyllische Behagen umschwebt seine Pfarr - und Schulhäuser, und wie spannt sich über dem kleinsten Fleck Erde, den er schildert, der ganze Himmel mit allen Sternen aus, welche der Menschheit leuchten! Und dabei ist er reicher an realistischen Zügen, als unsere modernen Dorfgeschichtenschreiber; aber sie stehen nie um ihrer selbst willen da, es sind unendlich feine, farbenreiche Zeichnungen auf den Schwingen der Psyche! Alles geht auf in der Stimmung des Dichters, die groß, frei, weltumfassend in das Kleinste ihre eigene Bedeutung legt. Wie anders ist der Realismus der Prügeleien, Grenzstreitigkeiten, Civil - und Criminalprocesse, welcher unsere Dorfnovellen belebt! Wie ganz und voll ist hier die Hingabe an die Prosa der Lebensbedürfnisse, die ausführliche Schilderung der äußerlichen Geräthschaften, der profansten Handthierungen, die an und für sich unser Jnteresse in Anspruch nehmen sollen. Ein Maler, wie Tenier und Ostade, kann das künstlerische Jnteresse an sein Genrebild fesseln es tritt als Ganzes vor uns hin; jedes Einzelne ist berechtigt, da wir es zusammen schauen, und gerade die ästhetische Hingabe an das Unbedeutende erfüllt uns mit Rührung! Bei dem Dichter gestaltet sich dies, wie wir schon oben sahen, ganz anders, und er verfällt, durch Detaillirung des Unbedeutenden, in baare Prosa.

Gleich unberechtigt ist der blanke Realismus im Drama! Familiengemälde, in denen irgend ein prosaisches Laster, wie die Spielwuth, oder ein prosaisches Verbrechen, wie Kassendefecte, verstandesmäßig nach Ursache und Wirkung abgehandelt oder die Folgen schlechter Erziehung in Scene gesetzt werden, in denen die Charakteristik daguerreotypartig uns nicht die kleinste Warze erspart und die spießbürgerliche Gemüthlichkeit des häuslichen Zusammenlebens durch Gespräche über die Tintenflecke101 an den Händen der Kinder ausgedrückt wird solche realistische Lebensbilder entbehren zu sehr der Wiedergeburt aus dem Geiste, um einen anderen als ernüchternden Eindruck zu machen. Ebenso verkehrt ist das Verlangen, das der Realismus an die Tragödie stellt: sie solle die Weltgeschichte kopiren! Das Vorbild, das Shakespeare in seinem historischen Dramencyklus gab, ist durchaus nicht nachahmenswerth; es fehlt diesen Dramen die centrale Einheit des Kunstwerkes, und die meisten derselben stehen an der Peripherie, nicht im Centrum des Shakespeare'schen Genius. Der Weltgeist verfolgt in der Geschichte andere Zwecke, als die Schönheit für diese hat er im Geist des Künstlers ein Asyl begründet, der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.

Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt, wo er sich in den Dienst der Jdee begiebt und die von ihr durchleuchtete Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt. Jn dieser Weise waren Homer und Shakespeare, Goethe und Jean Paul Realisten! Sie hatten den Sinn für alle Formen und Farben der Wirklichkeit, aber der durchscheinende Untergrund der Jdee hob und verklärte ihre bunte und vielbewegte Welt! Eine eigenthümliche Abart des Realismus ist der phantastische, wie er sich z. B. in den Werken der romantischen Schule offenbarte. Obgleich hier die gewöhnlichen Bedingungen des verstandesmäßigen Zusammenhanges der Erscheinungen aufgegeben waren: so bewegte sich doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen Vignette der Weber Zettel mit seinem angezauberten Eselskopf ist.

Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht, ist es an der Zeit, die Rechte des Jdealismus und einer Poesie des Geistes zu wahren, gegen deren Verirrungen wir nicht blind sind, die aber doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer geistverlassenen Wirklichkeit huldigt. Man mag gegen Schiller und seine Schule polemisiren, soviel man will, man mag die philosophischen Ausschreitungen in der Lyrik, den mehr gedankenvollen, als sinnlich kräftigen Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln dennoch ist nicht zu leugnen, daß der Jdealismus nicht nur dem deutschen Volke näher steht, inniger mit seinem ganzen Geistes - und Gemüthsleben verwachsen ist,102 als der Realismus, sondern sich auch mehr in der Sonnennähe der Kunst befindet! Das Princip des Realismus ist für die künstlerische Ausführung das Dürftigste von der Welt! So z. V. im Drama, wo es den Ausdruck des Affectes und der Leidenschaft gilt! Der Realist hilft sich hier mit irgend einem naturgemäßen Seufzer, einem ach! o! ihr Götter! einer stummen Ohnmacht, wofür sich in den Werken unserer Sturm - und Drangautoren, z. B. in den Dramen von Klinger, die zahlreichsten Proben finden. Dies ist allerdings Nachahmung der Natur; aber schon Hegel verlangt, daß der Dramatiker sein Pathos expliciren solle, und die Beschränkung auf die Naturlaute der Empfindung ist ein Zeichen geistiger Armuth, welche sich nicht in die Tiefen der Seele zu versenken und hinter ihren Schleiern und Verhüllungen ihr eigenstes Wesen zu ergründen und auszusprechen vermag. Gerade wo die Natur verstummt, soll der Poet ihr eine Sprache leihen!

Freilich giebt es auch einen windigen, spinnenbeinigen Jdealismus, der nur ein dichterisches Schattenspiel an der Wand zu Tage bringt! Die große Maculatur der Liebeslyrik, die im Duft der Empfindungen zerflattert, ohne ihnen schöne Gestalt zu geben, gehört hierher. Ein großer Theil der Klopstock'schen Lyrik und Epik mag auch diesem falschen Jdealismus zugerechnet werden; denn die Empfindungen Klopstock's bewegen sich zerfließend in einem so verdünnten Aether und in den Ausdrücken einer so abstracten Ueberschwenglichkeit, daß sie dadurch ungenießbar werden. Die Empfindung muß aus ihrer reinen Jnnerlichkeit heraustreten, wenn sie uns ergreifen will die dichterische Empfindung bedarf des Bildes als ihrer Handhabe und wird uns nur durch das Bild ergreifen. Sonst bleibt sie ein musikalisches Weben und es ist charakteristisch genug, daß Klopstock die kühnsten sprachlichen Fugen anwenden muß, um die unbestimmte Musik seiner Seele auszudrücken! Daher seine in undeutschen Pyrrhichien schwindsüchtig galloppirenden Rhythmen oder die Sisyphusarbeit, mit der er ebenso undeutsche Molossen aufeinanderwälzt! Daher der Oratorienstyl seiner Messiade, welche sich zuletzt in gehalt - und gestaltlose Engelssymphonieen verflüchtigt! Ein ebenso verkehrter Jdealismus blüht an den Pforten der Romantik als die blaue Blume des Novalis, gährt gestaltlos in Hölderlin's Hyperion, schafft immer wieder Dichter und Künstler, um sich aus der realen103 Welt in die Stimmungen des Dichtergemüthes flüchten zu können! Hierher gehört auch eine metaphysische Poetik, welche ihre Jdeeen und Begriffe nicht in Gestalten umsetzen kann; hierher die klassische Nachdichterei, welche Formen, die einer anderen Welt angehören, der Gegenwart aufzuzwingen sucht.

Nur die echte Durchdringung von Natur und Geist, Jdealismus und Realismus im Bunde schaffen das wahrhaft schöne Dichtwerk! Da aber alle Dichtung aus dem Geiste hervorgeht, eine freie Schöpfung des Geistes ist: so hat das Princip des Jdealismus höhere Berechtigung als das des Realismus, welcher diesen freischaffenden Geist an die Galeerenbank der Wirklichkeit schmiedet und zur sclavischen Nachahmung der Natur verdammt.

Vierter Abschnitt. Der Dichter und der Zeitgeist.

Der dichterische Genius gehört einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte an, und seine wahre Bedeutung besteht darin, dem Geist dieser Epoche einen vollkommenen und ewigen Ausdruck zu geben. Das ist die Größe von Homer und Sophokles, Dante und Calderon, Shakespeare und Schiller! Der Genius kann seiner Zeit vorleuchten, aber sie nur giebt ihm die Fackel in die Hand. Er vereinigt in sich alle Lebens - und Gedankenfülle seines Jahrhunderts und giebt ihr sein eigenes Gepräge.

Die Dichter des Alterthums und des Mittelalters waren von dieser Wahrheit unmittelbar durchdrungen! Naive Kinder ihrer Zeit schwankten sie nicht in der Wahl und Behandlung ihrer Stoffe, sondern der Puls ihrer schöpferischen Thätigkeit richtete sich nach dem Herzschlag ihres Zeitalters. Erst der neueren Zeit war es vorbehalten, jenen Dilettantismus zu erzeugen, der sich in alle erdenklichen Weltanschauungen hineinphantasirt und alle Formen nachahmt, selbst wenn ihre Seele längst entflohen. Das moderne Jdeal aber hat ebenso seine Berechtigung, wie das antike und mittelalterliche, auf welche wir einen flüchtigen Blick werfen wollen.

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Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das symbolische. Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt, aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen, dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht losgerungen hat, ein Hin - und Herspielen der Beziehungen und der Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des Volksgeistes ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke, deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana, die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's westöstlichem Divan ist es Mode geworden, den seelenerregenden Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen, und besonders Rückert hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte, wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte, wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die Lebens - und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse105 erwecken; aber die selbstständige Dichtkunst kann sich jene Formen nur vorübergehend aneignen, da dieselben überdies sich durch ihre naive Kindlichkeit gegen den modernen Jnhalt spröde zeigen.

Das plastische Jdeal, das Jdeal des klassischen Alterthums, ist ebenfalls, wie das symbolische, der Ausdruck des ganzen Glaubens, Lebens und Empfindens jener Zeit. Jener klare Formensinn, der sich unter Hellas heiterem Himmel entfaltete, drückte auch den Werken der Dichtung sein Gepräge auf und zauberte alle Götter - und Menschenbilder mit klarsten Umrissen in einen durchsichtigen Aether der Phantasie. Dies Jdeal stellt die ungebrochene Jugend der Menschheit dar, die ohne Sehnsucht und Wehmuth und alle Störungen der Reflexion nur nach erreichbaren Zielen strebt! Die einfache Schönheit, die reine Jdealität der Form, mußte sich, wie in den Tempeln und Sculpturbildern, auch in den Dichtwerken abprägen! Einfach waren die Lebens - und Kulturformen, einfach die Conflicte voll und ganz, fest in sich begründet, trat der Mensch in's Leben und in's Gedicht! Doch eine sittliche Grazie der Behandlung umschwebte selbst das Rohe und Gewaltsame und milderte seine Grausamkeit. Jn dieser Klarheit der Form, Sicherheit der Zeichnung, in der ganzen künstlerischen Harmonie, in der maaß - und tactvollen Behandlung bleiben die großen Genien Griechenlands ewige Muster, der Quell, an dem auch die Muse der Gegenwart schöpfen muß, wenn sie sich die Jdealität der Jugend bewahren will! Auch das strengere Rom hat in Horaz und Ovid, Tibull und Properz und selbst in Virgil, der wohl der kleinste von diesen Dichtern ist, eine Reihe von Talenten, deren geistreicher Zug der Gegenwart verwandter ist, die aber daneben die antike Harmonie und das plastische Gepräge der Darstellung haben. Es ist kein Verbrechen für die Gegenwart, daß Properz sie begeistert, wie er Goethe entzückt, daß wir bei Latium und Hellas in die Schule gehen! Jene großen Züge plastischer Bestimmtheit, wie sie die antike Poesie aufweist, sind der Dichtkunst in keiner Epoche entbehrlich, aber die bloße Nachahmung der Antike entwürdigt die schöpferische Kraft der Neuzeit und hat selbst viele Werke unserer Klassiker in bloße gelehrte Studien verwandelt. Die Sehnsucht nach den Göttern Griechenlands, die wie jede Sehnsucht romantisch ist und nicht hellenisch, der Seufzer Schiller's, der sich aus der deistischen Aufklärung heraus nach einer mit106 lebendigen Gestalten bevölkerten Welt sehnte, muß sich auf jene Heiterkeit der Weltanschauung beschränken, die den Parnaß aller Zeiten so umschweben muß, wie sie den griechischen Olymp umschwebt. Der große heitere Sinn sei, auch in getrübter Zeit, dem Künstler eigen! Doch unserer Zeit die ungemilderte Strenge plastischer Formen aufzwingen, Helden und Heldinnen der griechischen Mythe auf die Bretter bannen und bei'm Zeus und Styx schwören zu lassen das ist eine klägliche Wiedererweckung hellenischen Geistes, die gerade das verabsäumt, was sie von den großen Mustern vorzugsweise hätte lernen sollen! Jene Alten waren die Söhne ihrer Zeit, ihres Volkes bis in alle Schwächen, bis in jeden Aberglauben hinein und sind doch und gerade deshalb unsterblich geworden! Oder stört es uns bei Sophokles, daß eine seiner Haupttragödieen Antigone, auf jenem hellenischen Aberglauben beruht, nach welchem der Unbestattete auch im Schattenreiche keine Stätte fand und an den Fluthen des Styx Jahrhunderte lang umherirren mußte? Das Begräbniß war daher den Alten wichtiger, als der Tod selbst und nur aus diesem Aberglauben erklärt sich die ganze Handlungsweise einer Antigone, erklärt sich die Fortsetzung der Tragödie Ajax noch nach dem Tode des Helden! Sophokles dichtete aus der Weltanschauung seines Volkes heraus thun wir dasselbe!

Der Gegensatz des plastischen Jdeals ist das romantische, das Jdeal des Mittelalters, leise aufdämmernd in vorchristlicher Zeit in den altgermanischen Sagen, in den Riesenbildern der Edda und Ossian's Nebelgestalten, aber erst durch die Vermählung mit dem christlichen Geiste zu voller Pracht entfaltet! Hier ist alles Jnnerlichkeit, Glauben, Glorie, Empfindung daneben aber geht unvermittelt die Rohheit der äußern Welt ihren Gang fort! Das keusche Minnelied und die derbste Liebespraxis, die heiligste Begeisterung z. B. der Kreuzfahrer und die brutalsten Ausschweifungen, innige Frömmigkeit und ungezähmte Raublust gehen Hand in Hand! Der heilige Choral in den Herzen, in den Fäusten die Brandfackel! Dennoch vollzog sich in dieser dunklen Epoche, wo die Begräbnißlampen des heiligen Grabes allein die Welt erleuchteten, eine große Umwälzung der Geschichte, und die Einkehr in das Jnnere bereitete ein Leben des Geistes vor, von welchem die alte Zeit keine Ahnung hatte! Die romantische Kunstform ist zerflossen und unbestimmt! Man vergleiche107 selbst das markigste Product dieser Phantasie, die Nibelungen, mit der Jlias wie verschwimmend die Umrisse, wie verwaschen die Fresken! Nach Homer kann man eine Karte der Umgegend Troja's entwerfen so klar ist seine dichterische Zeichnung der Scene, wo die Handlung spielt! Jn den Nibelungen hört man von Worms, dem Rhein, vom Hunnenland doch das sind alles höchst gleichgültige Ortsbestimmungen! Dagegen ist die Motivirung in den Nibelungen eine durchaus innerliche und beruht auf Empfindungen und Begriffen, welche der alten Welt fremd waren. Zwar die schöne Helena ist die Ate des trojanischen Krieges aber welche andere Rolle spielen die Frauen, eine Brunhilt, eine Kriemhilt in den Nibelungen! Sie sind die Heldinnen des Gedichtes und führen durch ihren eigenen Entschluß und ihre eigene That seine Katastrophen herbei! Traumhafter gestaltet sich das Jdeal des Mittelalters in einem Parcival, Titurel, Lohengrin und mit süß verbrecherischer Sinnlichkeit in Tristan und Jsolde, himmelweit verschieden von dem olympischen Glück des netzgefesselten Mars und seiner Venus! Hier schafft die Jnnerlichkeit, die bis zum Raffinement geht, eine verbrecherische Wollust, welche die Alten nicht kannten! Bestimmter schon wurde die romantische Zeichnung bei den romanischen Poeten, denen das antike Vorbild lebendig war! Dante ist zugleich der Homer und Hesiod, Tasso der Virgil, Ariost der Ovid des Mittelalters! Jn den Liedern der französischen Troubadours versetzte sich die Romantik des Herzens mit jenem protestirenden Geiste, der aus den Religionskriegen der Provence die Vorläufer der großen reformatorischen Umwälzung Europa's machte. Die neuere romantische Schule hat das Jdeal des Mittelalters mit gezwungener Absichtlichkeit heraufbeschworen und in seine mondbeglänzte Zaubernacht die oft barocken Gestalten einer mit jedem Jnhalte des Lebens spielenden Phantasie hineingeträumt.

Das moderne Jdeal, das Jdeal der Neuzeit, vereinigt in sich das plastische und romantische, entlehnt von jenem die geläuterte Klarheit künstlerischer Form und objectiver Gestaltung, von diesem die tiefe, reiche Jnnerlichkeit des Gemüthes, und stellt beides auf den Boden des freischaffenden und handelnden Menschengeistes. Die moralische Zurechnung dringt bis in die Tiefen des Gewissens; der Charakter in allen Mischungen108 der Eigenschaften, in allen seinen Widersprüchen, in seiner ganzen unendlichen Eigenheit wird der Träger der Geschichte, der Mittelpunkt der Poesie! Der Menschengeist entdeckt ungeahnte Naturgesetze, eröffnet der Phantasie die weitesten Blicke in die fernen Zonen, in unter - und überirdische Geheimnisse; die Astronomie erläutert den Himmel, die Geologie die Hölle! Gleichzeitig ist diesen Triumphen der Wissenschaft die weiteste Verbreitung gesichert. Was die Phantasie einbüßt, indem ihr die alten Reiche, die sie schuf, der Tartarus und das Elysium, die Hölle und das Paradies geraubt werden: das gewinnt sie durch den Reichthum der wirklichen Welt, der sich ihr erschließt. Die literarische Kritik durchforscht und ordnet die geistigen Schätze aller Zeiten; die Aesthetik giebt der Production feste und tief begründete Gesetze!

Diese vorherrschende Macht der Erkenntniß aber wirkt verführend auf die Poeten. Jndem sie geistig die Dichtweise aller Zeiten beherrschen, ahmen sie dieselbe nach und schmiegen sich willkürlich allen Formen an. Die naive Hingabe an den Genius des Jahrhunderts droht verloren zu gehn! Die Wahl der Stoffe aus entlegenen Zeiten verführt nicht nur zu äußerlichen Anachronismen, sondern zu Anachronismen des Denkens und Empfindens. Die Poeten folgen ihren gelehrten Sympathieen, statt dem Geiste ihrer Zeit zu folgen, bewirthen das Publikum mit antiken Symposien und mittelalterlichen Tafelrunden, oder gar mit finnischen und lappischen Volksliedern, indem sie sich am Schreibpulte in die Naivetät der Naturlaute hineinphantasiren! Es entsteht eine styllose Verwirrung des Geschmacks; die Virtuosität des nachahmenden Talentes droht die ursprüngliche Kraft, den Zug des Genius zu verdrängen!

Diesem gegenüber stellt die Poetik das moderne Jdeal scharfbetonend in den Vordergrund, ein Jdeal, das am wenigsten mit der Blasirtheit und der Zerrissenheit der jungdeutschen Epoche zusammenfällt und auch mit vorübergehenden Parteitendenzen Nichts gemein hat. Die Kultur der Gegenwart hat ein scharfes, wohlunterscheidbares Gepräge; eine neue Aera der geschichtlichen Entwickelung hat begonnen. Wir sind die Kinder dieser Kultur und sollen sie dichtend nicht verleugnen. Aus dem Herzen seiner Zeit heraus dichte der Poet dann dichtet er für die Nachwelt. Das ist das erste Axiom aller echten Poesie und nur dadurch unterscheiden sich die großen Dichter von den kleinen. Jm Geiste109 der Zeit dichten, heißt nicht der Mode huldigen die Mode gehört dem Tage an, nicht der Kulturepoche des Jahrhunderts. Jm Geiste der Zeit dichten, heißt nicht das Ewige verleugnen das Ewige geht durch alle Zeiten hindurch, die Menschwerdung der Jdee begiebt sich heute, wie vor Jahrtausenden; aber das Schöne ist erscheinende Jdee; die Erscheinung ist auf diesem Gebiete von gleicher Bedeutung, wie die Jdee selbst. Und indem diese untertaucht in den großen Verwandlungsproceß, in die ewig neue Gestaltung der Geschichte, empfängt sie von jeder Epoche ein anderes Gewand! Während die Jronie des Cervantes und der Welthumor Shakespeare's an der Schwelle der neuen Zeit standen, Voltaire und Rousseau begabte, aber unkünstlerische Propagandisten derselben waren, Schiller und Goethe in einzelnen Werken mit Begeisterung ihre Jdeeen verkündigten, in andern wieder sich von der Herrschaft der Antike nicht freizumachen verstanden: hat die neueste Zeit, besonders in Lyrik und Roman, eine wahrhaft moderne Richtung hervorgerufen, welche den Beruf der Poesie erkannt hat, aus dem Leben der Gegenwart zu schöpfen. Wenn sie der Begeisterung, den Gedanken und Empfindungen der Neuzeit eine künstlerische Form zu geben weiß und das moderne Jdeal mit der Weihe des Genius erfaßt: dann wird eine Blüthe der Klassicität erreicht werden, gegen welche die unserer klassischen Epoche nur als eine verheißungsvolle Vorblüthe erscheinen kann.

Fünster Abschnitt. Das dichterische Kunstwerk.

Die Phantasie, die einen Stoff aus dem Reiche des Naturschönen erfaßt, gestaltet ihn künstlerisch, indem sie ihm eine die Jdee des Schönen tragende Erscheinung giebt. Wie das Naturschöne, muß auch das Kunstschöne eine für die Anschauung lebendige Wirklichkeit haben. Das Kunstwerk besteht für die Sinnlichkeit die Sinne sind die Agenten der Schönheit, welche ihr Kapital in Umlauf setzen. Die Sinnlichkeit der Poesie aber ist eine innerliche, ideale; es ist die im Reiche der Vorstellung lebendige Sinnlichkeit, deren Formen und Farben nicht mit der äußern Frische der Plastik und Malerei wetteifern, deren Klänge, nur110 dem Bild und Gedanken dienstbar, nicht die freie Selbstständigkeit der musikalischen Töne erringen, deren Magie und Wirkung auf den inneren Menschen aber durch die potenzirende Kraft der Vergeistigung eine um so gewaltigere ist. Jn dieser idealen Sinnlichkeit muß das dichterische Kunstwerk eine selbstständige Wirklichkeit haben. Wie jedes Kunstwerk ist es eine einzelne Erscheinung, aber als einzelne zugleich einzig. Während die einzelnen Dinge der realen Welt ihren wahren Werth nur durch den Begriff der Gattung erhalten, der sie angehören und die sie zusammen bilden helfen: hat das Kunstwerk als einziges einen unendlichen Werth, indem es nicht über sich hinausweist, sondern die ganze Jdee lebendig in sich trägt. Das Dichtwerk hat daher als Ganzes seine bestimmten Grenzen, die nicht der Zufall festgesetzt hat, die aus seinem Wesen hervorgehen. Jnnerhalb dieser Grenzen ist es ein lebendiger Organismus, dessen Theile nur durch und für das Ganze bestehen, der nach außen eine geschlossene Einheit, nach innen ein reiches, vielgegliedertes, aber der einen Seele gehorchendes Leben darstellt.

Sehen wir nun zuerst, wie das Dichtwerk entsteht! Was den Dichter aus der Stoffwelt anweht, ist zunächst das dichterische Motiv, der Stoff, insofern er der Phantasie als geeignet zur künstlerischen Darstellung erscheint. Der Stoff wird zum Motiv, indem der Jnstinct des Künstlers seine Berechtigung anerkennt. Wir sagen ausdrücklich der Jnstinct; denn es ist der erste Blick der genialen Anschauung auf den Stoff, eine Art geistiger Brautwahl, die Ueberzeugung, daß es der rechte ist. Das Motiv ist der erste Keim des künstlerischen Organismus und auf der anderen Seite der erste Hauch der platonischen Liebe in der Seele des Künstlers. Jrgend ein historisches Bild, ein Wallenstein, eine Maria Stuart, erscheint der Seele des Dramatikers im Schimmer einer Verklärung, die sie seiner eigenen Gedanken - und Traumwelt so nahe rückt, daß sein Genius sich sehnt, sie in sich aufzunehmen. So wird dem Lyriker irgend eine Stimmung zum Motiv seines Gedichtes, dem Romandichter ein Erlebniß zum Motiv eines Romanes. Ueber Werth oder Unwerth des Motivs kann erst die Ausführung entscheiden, doch kann ein Motiv für den einen Dichter werthlos, für den anderen bedeutend sein, je nach Art und Richtung der Talente. Die Motive, welche Ludwig Tieck im Octavian und Fortunatus gestaltete, wären für jeden anderen Poeten,111 der nicht Tieck's phantasmagorische Weltanschauung besitzt, gänzlich unfruchtbar gewesen. Weiter als das Motiv geht die Conception, die dichterische Zeugung. Es ist die erste Vereinigung des gefundenen Bildes und der schaffenden Jdee im Gemüth des Künstlers; aber eine momentane, geheimnißvolle, dunkle Vereinigung. Sie giebt dem Dichter den ersten Genuß der Production, das ahnungsvolle Aufgehen im Gegenstande! Noch ist Alles chaotisch und dunkel; aber das entzückende Selbstgefühl der Schöpferkraft sagt ihm bereits: hier wird es Licht werden! und ein flüchtiger Blitz erleuchtet ihm prophetisch die gestaltete, bunte Welt, die aber bald wieder in die Nacht der Seele zurücksinkt. Das dramatische Talent z. B., das ein Motiv erfaßt, wird in schattenhafter Gliederung bereits den Stoff gestaltet vor sich sehen. Es wird schon die Einschnitte der Acte, die Gruppirung der Charaktere, die Peripetie mit einer, wir möchten sagen, visionairen Klarheit, die es noch nicht festzuhalten weiß, vor sich sehen; denn die echte Begabung schaut in den Stoff die in ihr schlummernde Kunstform gleich mit hinein. Durch die Conception ist das Kunstwerk als Ganzes in der Seele des Dichters aufgegangen; aber dieser Aufgang selbst ist noch ein vorübergehender Moment.

Die Ahnungen der Conception sucht der Dichter in der Skizze festzuhalten. Jene ist ein Act der Begeisterung, diese ein Act der Kritik. Was der Dichter dort in dunkler Einheit zusammengeschaut, soll sich hier in seinem inneren Zusammenhang rechtfertigen. Mit der Skizze beginnt die Mühe des Schaffens! Jener glückliche Durchblick der Begeisterung durch den traumhaft emporgewachsenen Prachtbau des Kunstwerkes ist gänzlich verschwunden; der Stoff erweist sich plötzlich herbe und ungefügig und bietet der harmonischen Zusammenordnung ungeahnte Schwierigkeiten. Sie alle zu besiegen, ist noch nicht die Sache der Skizze! Auch sie eilt über Vieles hinweg, um nur den architektonischen Grundriß des Ganzen hinzuzeichnen. Das kleinere lyrische Gedicht bedarf dieses Apparates von Vorbereitungen nicht; bei ihm fällt Conception und Composition zusammen. Anders verhält es sich bei dem Roman und bei dem Drama! Was hier die Skizze zu entwerfen hat, ist zunächst die Fabel, die der Dichtung zu Grunde liegt. Bei dem Roman ist die Skizze damit erschöpft; denn die Vertheilung des Stoffes auf die einzelnen Kapitel112 und Bücher ist hier willkürlicher und fällt weniger in's Gewicht. Dagegen kann die Skizze des Dramatikers von doppelter Art sein und zwar so, daß sich der Fortgang von der ersten Skizze zur zweiten als nothwendig erweist. Zunächst entwirft der Dramatiker blos die Fabel im Zusammenhange einer Erzählung, d. h. seine Fabel, in welcher der überlieferte Stoff der Geschichte oder Novelle bereits eine wesentliche Umschmelzung erlitten hat. Dann aber folgt der zweite genauere Entwurf, in welchem die Handlung auf die einzelnen Acte und die einzelnen Scenen vertheilt wird und das Skelett des ganzen Drama's fest und klar zu Tage liegt. Wohl ist diese Skizze nicht unumstößlich; denn je mehr sie sich mit Leben und Farben erfüllt, desto mehr wird die ausfüllende Gestaltung diese oder jene Andeutung ergänzen und verbessern. Jn den von Schiller hinterlassenen dramatischen Skizzen ist der Gang des Drama's mit vollkommener Klarheit entworfen; doch nur in der Skizze des Warbeck ist auch die Eintheilung der Acte ausgesprochen, während in den Malthesern, den Kindern des Hauses und den Fragmenten des Demetrius nur die Aufeinanderfolge der Scenen angegeben ist. Den Malthesern und den Kindern des Hauses hat Schiller eine Darstellung der historischen und socialen Situation vorausgeschickt, aus welcher das Drama herauswachsen soll, und zugleich die künstlerische Jdee entwickelt, die ihm vorschwebte! Hinterlassene Skizzen anderer Autoren zeigen uns eine Eigenthümlichkeit der Production, welche gleich zu dem prägnanten Gipfel der Entwickelung, den eigentlichen Schlagscenen hineilt und alles Andere zunächst unausgeführt läßt, um sich gewissermaßen selbst den Erfolg zu sichern oder die Begeisterung zu einem feurigen Kern zu condensiren, an den das übrige Drama anschießt. Doch wird solchen Werken die organische Entwickelung fehlen, das allmähliche Wachsthum der Charaktere und der Handlung, mit dem auch die Seele des Dichters, harmonisch begleitend, zu den Höhepunkten der Begeisterung heranwächst. Davon abweichend ist die Art und Weise, wie z. B. Tibull nachweisbar seine Elegieen producirt, indem er sich an den Hauptstellen dem freien Strome seiner Begeisterung überläßt und was dazwischen liegt, zunächst nur andeutet und lässig ausführt, um einer späteren nachhaltigen Begeisterung die vollständige künstlerische Durchführung vorzubehalten. Sich nicht an einzelne Hemmungen der Form zu stoßen, deren113 kritische Beseitigung den Geist der Begeisterung hemmen würde, sie einer späteren besonnenen Kritik zu überlassen, ist gewiß förderlich, und auch in Schiller's Fragmenten finden sich zahlreiche Stellen, in denen Gedankenstriche Wörter oder Verse andeuten, welche die Jnspiration dem Dichter nicht gleich an die Hand gab, und die er daher einem späteren dichterischen Nachsinnen überließ.

Jn der Skizze machen sich bereits die Gesetze der Komposition geltend. Die Komposition kann ebenfalls als Vorarbeit der Dichtung betrachtet werden; doch gewinnt sie ihr volles Gepräge erst in der Ausführung selbst. Sie ist kein äußeres Schema, keine voraus gefertigte Schablone; sie ist das der Dichtung inwohnende Formgesetz, durch dessen Evolution das Dichtwerk entsteht. Das Naturschöne, wie es der Dichter findet, ist ein Rohstoff, der erst einem Scheidungs - und Läuterungsproceß unterworfen werden muß, eh 'er sich einer weiteren künstlerischen Behandlung fähig erweist. Die erste Thätigkeit der Komposition ist die Ausscheidung des Stoffartigen, mit welcher eine Abrundung durch die ersten Zuthaten aus der Seele des Dichters verbunden ist. Der Dramatiker z. B. wählt einen historischen Charakter zum Mittelpunkte seines Drama's. Die Geschichte überliefert ihm eine Fülle von Daten, die sich auf diesen Charakter beziehen. Zunächst schneidet er das Segment einer bestimmten Handlung aus dem ganzen Lebenskreise heraus, denn eine ganze Biographie in Scene zu setzen, ist eine Art und Weise, welche Platen im romantischen Oedipus vortrefflich persifflirt hat. Die historische Handlung ist aber mit einer Fülle von Einzelnheiten behaftet, die für den Dramatiker unbrauchbar sind. Darunter befindet sich Manches, welches dem Anschein nach der Gestaltung günstig ist, aber als ein Zuviel ausgesondert werden muß. Schiller mußte sich z. B. in seinem Wallenstein auf eine bestimmte Zahl der Obristen und Generale beschränken, die er um den Haupthelden gruppirte. Nach historischen Vermuthungen war Wallenstein's Astrolog, Seni, mit gegen ihn verschworen. Der Dichter begnügte sich, an Octavio und Buttler den Treubruch gegen den Feldherrn darzustellen. Die Ermordung von Jllo, Terzky und Kinsky auf dem Schlosse, wohin sie der Commandant Gordon eingeladen, hat der Dichter nicht dramatisirt, um dadurch nicht den Eindruck der Ermordung Wallenstein's abzuschwächen. Der ahnungsvolle Blick,114 den Wallenstein auf die erleuchteten Fenster des Schlosses wirft, und der kurze Bericht der That genügen für die Zwecke des Dramatikers. Ebenso hat Goethe in seinem Egmont den mitschuldigen und mitgerichteten Grafen Horn ganz in den Hintergrund gedrängt, weil die Oekonomie des Drama's als Helden kein um dieselbe Achse kreisendes Doppelgestirn verträgt. Hierher gehört auch das Geheimniß der dramatischen Abbreviatur, das eine Schlacht durch eine Scene ausdrücken muß. Die Ueberfülle der Kampfscenen in Shakespeare's Königsdramen und in seinem Coriolan, äußerlich durch die scenische Möglichkeit der damaligen Bühne motivirt, ist eine Ausschweifung in das epische Gebiet, welche der dramatischen Kraft Eintrag thut. Auch in den Stoffen, welche aus Romanen entlehnt sind, ist ein Zuviel, das in der Retorte des Dramatikers verdunsten muß. Frau Birch-Pfeiffer z. B. stopft bei ihren Einschlächtereien für die Bühne in der Regel zuviel in ihre dramatischen Würste. Doch auch der Roman kann ein stoffartiges Zuviel enthalten. Die Romane von Walter Scott und Bulwer geben oft historische Uebersichten, die ganz aus dem Rahmen der Dichtkunst herausfallen. Der Ausfall, den der gegebene Stoff durch diese Ausscheidungen erleidet, wird wieder gedeckt durch die Erfindung des Dichters, der an die Stelle minder geeigneter Gestalten seine Phantasiegebilde setzt.

Der zweite Act der Komposition ist die Anordnung, welche die Theile des geläuterten Stoffes nach ihrer Bedeutung für die Jdee des Kunstwerkes zusammenstellt, das Hauptsächliche und Nebensächliche in die richtige Beleuchtung rückt und Jedem für seine Entwickelung den geeigneten Raum zumißt. Die Haupthandlung tritt in den Vordergrund; aber sie kann nicht isolirt sein; sie hat ihre Verzweigungen, ihre Ausläufer nach der Seite. Was von dieser Nebenhandlung mitaufzunehmen ist: das darf nicht mit gleichem Aufwand und mit gleicher Betonung, wie die Haupthandlung, zur Geltung kommen, sondern muß sich in gedämpfter Abstufung in sie einfügen oder an sie anreihen. Es kann in jedem Kunstwerke nur eine Haupthandlung geben, obgleich das Epos eine viel größere Ausweitung derselben verstattet, als das Drama. Shakespeare liebt es, in seinen Dramen anscheinend zwei Haupthandlungen darzustellen, die selbstständig nebeneinander hergehen; doch das große Geschick dieses Dichters besteht darin, einen Knoten der Handlung zu115 schürzen, in welchem sie in Eins verschmelzen. Bei tieferer Betrachtung zeigt sich dann, daß diese beiden Handlungen nur concentrische Kreise waren, welche von Anfang an denselben Mittelpunkt der Jdee hatten. So scheinen z. B. im Kaufmann von Venedig zwei nur locker verknüpfte Handlungen nebeneinander herzugehen: das Darlehn, das der Jude Shylock dem Antonio gab, mit seinen Folgen, und die Werbung der Freier um die schöne Portia. Jn der That scheinen ihre Reflexionen vor den geheimnißvollen Kästchen einen selbstständigen, die Hauptentwickelung beeinträchtigenden Raum einzunehmen. Wie gewandt ist nun die Vereinigung beider Handlungen und die Lösung des Knotens durch den eigenthümlich kecken und geistreichen Charakter der Portia herbeigeführt! Nun geht auch plötzlich die Grundidee des ganzen Stückes dem Auge auf, der Triumph des Geistes über das todte formale Recht, das sich in jener sinnigen Testamentsverordnung, wie in diesem brutalen Schuldgesetz ausspricht.

Die Nebenhandlung, die ein selbstständiges Jnteresse für sich in Anspruch nimmt, immer aber der Haupthandlung untergeordnet bleibt, heißt Episode. Zum Begriff der Episode gehört nothwendig, daß die Haupthandlung auch ohne sie bestehen könnte; sie ist kein organisches Glied derselben, sondern nur locker mit ihr verknüpft. Jhre Berechtigung ist je nach den verschiedenen Dichtgattungen eine verschiedene, größer im Epos, geringer im Drama. Die kleinere Episode ist oft nur Verzierung, wie der Erker in der Baukunst, die Coloratur in der Musik! Oft ist sie Ruhepunkt, indem auch der energisch fortschreitende Gang des Drama's solcher Stationen zur Umschau oder Einkehr bedarf; oft dient sie dazu, die Stimmung und Atmosphäre des geschichtlichen Hintergrundes anschaulich zu machen oder das Charakterbild des Helden selbst durch einen Zug zu ergänzen, der für den Fortgang der Handlung nicht unbedingt wesentlich ist. Hier ist natürlich das strengste Maaßhalten vonnöthen, damit das Drama nicht zu einem bloßen Charaktergemälde wird, wozu die neuere Zeit nach Shakespeare's Vorgang neigt. Jm Wilhelm Tell ist nach strengem dramatischem Gesetz nicht blos Bertha und Rudenz, sondern auch der ganze Rütli eine Episode! Die Befreiung des Schweizer Volkes, die man als Thema dieses Drama's angiebt, ist Stoff für ein Epos, nicht für ein Drama. Die echt dramatische Handlung im116 Tell beschränkt sich auf den dritten und vierten Act. Die Volksscenen im Egmont sind keine Episoden; sie versetzen uns in die Stimmung und Atmosphäre der Zeit, aus welcher der Held hervorging; dagegen drängt sich im Fortgange der Handlung viel Episodisches mit ein. Jm neuern Drama hat man wieder ein strengeres Gesetz der Composition befolgt wir erinnern an Stücke, wie Gutzkow's Uriel Acosta, die mit Ausschluß alles Episodischen gearbeitet sind. Das Beiwerk, das im Drama Episode sein würde, ist im Epos vollkommen an seinem Platze, wie wir bei der Untersuchung über die einzelnen Dichtgattungen noch näher sehen werden.

Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Anordnung ist die wirksame Gegenüberstellung, die in Spannung übergeht, der Kontrast, der mit schwächerem Reflex schon das Nebeneinander der Erscheinungen beleuchtet. Der Kontrast ist die Verschiedenheit des Verwandten und Aehnlichen. Wir können mit Vischer einen Kontrast des Unterschiedes und des Gegensatzes annehmen. Die Wirkung, besonders durch den letzteren, ist eine so augenfällige und schlagende, daß gerade mit ihr der leichteste und häufigste Mißbrauch getrieben wird. Zunächst kann eine Nebenhandlung mit der Haupthandlung kontrastiren. Der Abschied Hektor's und der Andromache bildet in der Jlias einen reizenden Kontrast mit den Kampfesbildern, und spätere Epiker, besonders Tasso, haben ihre Kriegsscenen mit zahlreichen Liebesbildern durchwoben! Wie kontrastirt nicht das paradiesische Entzücken eines Rinaldo im Zaubergarten seiner Armida mit der rauhen Arbeit der Kreuzfahrer in Jerusalems Felsenwüste! Auch die Liebe von Max und Thekla kontrastirt wirksam gegen das wilde Kriegs - und Lagerleben des dreißigjährigen Krieges. Jn Hermann und Dorothea bilden die in die friedliche Rheinidylle herübergeschwemmten Trümmer der Revolution, das einfach bürgerliche Leben und das hereinbrechende Weltgeschick einen effectvollen Gegensatz. Wenn Dunkan in Macbeth's Schloß einzieht und den landschaftlichen Frieden, die lichte, milde Luft einathmet, wenn uns Banko vom Sommergast, der Schwalbe, erzählt, die sich hier an allen Vorsprüngen, Friesen und Pfeilern angebaut wie wirksam ist dieser Kontrast mit den Vorbereitungen des Mordes, die wir bereits an dieser stillen Stätte belauscht! Wie117 ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen an!

Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der Gruppirung der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die Gruppirung des Unterschiedes wiegt mehr im Roman, die des Gegensatzes mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict, der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen Jean Paul's Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden Matthieu im Hesperus der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im Titan. Auch in den Rittern vom Geiste ist die Gruppirung der Charaktere von Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische Schlurk und der cynische Hackert wie mannichfach ist die Stellung dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn. So bei Murray und Ackermann, die Beide nach Amerika ausgewandert, Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere als Kontrast hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht grell und schreiend sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in118 Sue's ewigem Juden, indem hier die geheimnißvolle Erbschaft einen mehr zufälligen Einheitspunkt giebt, um den sich die ausgesucht verschiedensten Lebensstellungen vom indischen Prinzen bis zum Pariser ouvrier, von der reichsten Weltdame bis zur armen Grisette gruppiren. Der ewige Jude und die Ritter vom Geiste, welche in ihrer Komposition an ihn erinnern, zeigen indeß am klarsten das Wesen romanhafter Gruppirung, die nicht auf dem scharfen Gegensatz beruht, sondern um irgend eine Mitte, wie dort um eine Erbschaft, hier um einen Gedankenbund, einen harmonischen Farbenkreis bildet. Jm Drama dagegen ist die Gruppirung der Charaktere eine polare die Achse der Handlung hat zwei Pole, die kämpfenden Principien und Charaktere. Kreon und Antigone, Maria Stuart und Elisabeth, Karl und Franz Moor erläutern diese Gegenüberstellung. Es kann sich dieser polare Gegensatz in zwei concentrischen Kreisen wiederholen, wie z. B. Lear und seine Töchter, Gloster und seine Söhne; er kann sich in der historischen Tragödie, doch schon auf Unkosten des strengeren dramatischen Styles, an zwei Parteien, an zwei Völker vertheilen, wie in den patriotischen Tragödieen Shakespeare's an die weiße und rothe Rose, in Schiller's Wilhelm Tell an die Oesterreicher und Schweizer. Nach beiden Seiten hin gruppiren sich nun um die kämpfenden Haupt-Charaktere die andern Gestalten und bilden theils in parallelen, theils in convergirenden und divergirenden Linien Uebergänge zwischen ihnen. Je symmetrischer dies Liniennetz entworfen ist: um so harmonischer wird die Wirkung des Drama's sein. Ein Beispiel dieser kunstvollen Gruppirung bietet von unsern deutschen Dramen vorzüglich Schiller's Maria Stuart. Hier stehen sich die beiden Königinnen mit einem Reichthum von Kontrasten gegenüber: die eine als freie Herrscherin, die andere in Banden, die eine stolz auf ihre jungfräuliche Würde, die andere mit dem Hintergrund mehrfacher Ehen und verbrecherischer Liebeshändel, die eine eitel und herrschsüchtig, die andere sanft und resignirt, die eine umgeben von der unmittelbaren Glorie der Majestät, die andere verklärt durch die Erinnerung an eine ihr geraubte Macht, die eine geschmeichelt von einer verrätherischen Werbung, die andere geliebt mit wahnsinniger Leidenschaft. Um Elisabeth selbst stehen ihre Rathgeber, der staatsmännisch ernste und finstere Burleigh und der ehrwürdige, dem Zug des Herzens folgende Shrewsbury. 119Während in diesem Kreise die Treue loyaler Ergebung waltet, umgeben Maria Stuart ihre Kammerfrauen und Melvil mit der Anhänglichkeit rührender Hingebung. Zwischen den beiden Königinnen aber bewegen sich Mortimer und Leicester hin und her, welche dem dramatischen Verlaufe des Stückes die eigentliche Spannung geben. Diese Charaktere sind meisterhaft gegenübergestellt: jener wild und leidenschaftlich, dieser vorsichtig und berechnend, jener der feurige Verschwörer, dieser der intriguirende Hofmann, jener von einer fanatischen, alles überstürzenden Gluth der Empfindung, dieser von einer leise unter der glatten Schaale des Höflings aufdämmernden Schwärmerei. Dabei sind beide jesuitische Heuchler. Mortimer verleugnet die Schule nicht, die er durchgemacht seine Heuchlermaske ist die Kruste um einen Vulkan. Leicester dagegen ist nur der leichterregte doppelzüngige Höfling, dessen Eitelkeit durch die Gunst zweier Königinnen geschmeichelt wird, der beiden huldigt und beide verräth. Wie diese beiden Charaktere nun in der Handlung sich gegeneinander bewegen, sich in ihren Bahnen kreuzen, sich mit wechselndem Mißtrauen verfolgen, bis der eine durch den Verrath des andern fällt: das ist mit einer außerordentlichen Kunst der Kontrastirung vom Dichter ausgeführt. Ebenso wirkt das Lustspiel am meisten durch den Kontrast: wir erinnern nur an Bauernfeld's Bürgerlich und romantisch, an sein Großjährig, wo der Fortschritts - und Rückschrittsmann sich mit komischem Eigensinn gegenüberstehn, an Pitt und Fox, wo der Kontrast in den Charakteren der beiden Staatsmänner die humoristische Achse ist, um welche das Stück rotirt.

Der auf die Spitze getriebene Kontrast, wie er sich vielfach in den neuern französischen Dramen und Romanen zeigt, bringt eine Wirkung hervor, die grell und stoffartig ist und damit aus dem Gebiete der Kunst heraus fällt. So beruht Victor Hugo's Ruy Blas auf der Liebe eines Bedienten zu einer Königin. Hier ist absichtlich der Unterschied der Stände auf die Spitze gestellt. Noch schlimmer sind die Kontraste im Triboulet, die hauptsächlich darauf beruhn, daß ein Hofnarr in rührende und ergreifende Situationen geräth und das sittliche Pathos eines Vaters entwickeln muß. Auch in Victor Hugo's Han von Jsland springt ein Effect nach dem andern aus grellen Kontrasten hervor. Eine romanhafte Ueberraschung ruft ein Kontrast hervor, der in120 einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in seiner Clotilde von Lusignan uns einen solchen Juden vorführt, der als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provençalischen Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt, und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich in ähnlicher Weise in den Romanen von Sue, Montépin u. A. wiederholen. Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir uns in der Clotilde in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte, und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel mit seinem scenischen Kontrast ist ein beliebter Drucker der französischen Romandichtkunst.

Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben. Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung ihr gutes Recht die Einheit der Stimmung ist dann nicht gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie, welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie121 eine krankhafte zersetzt. Doch als modisch beliebte Manier hat diese Ueberreizung mit lyrischen Kontrasten vielen Schaden gethan man kann sie bei Dichtern, wie Beck, Lenau u. A. verfolgen, die den Einfluß Heine's nicht ganz verleugnen.

Der Kontrast bedarf vor Allem der Motivirung. Die Motivirung ist der innere Kausalnexus des Kunstwerkes. Das Kunstwerk als Ganzes tritt aus dem verstandesmäßigen Zusammenhange der Erscheinungen heraus seine Wirkung beruht gerade darauf, daß es wie ein Blitz der Jdee unser Auge trifft, daß wir nach seiner weiteren Legitimation nicht fragen, weil uns das All in ihm erschöpft scheint. Doch innerhalb seines Organismus selbst waltet der Verstand in der Verkettung des Gewebes, freilich so, daß wir ihn selbst über seiner Schöpfung vergessen. Die Motivirung ist der immanente Verstand der Dichtung. Jn der äußern Welt ist die Kette der Ursachen und Wirkungen eine unendliche. Sie geht endlos zurück in der Zeit, verliert sich endlos in die Breite des Raumes. Jede Erscheinung ist nur der Knotenpunkt vieler weit in die Vergangenheit zurücklaufender Fäden und wächst dabei mit tausend Fasern aus einer gleichzeitigen Welt hervor. Das erste Erforderniß künstlerischer Motivirung ist daher die Beschränkung, das Abstecken der Grenze in Zeit und Raum. Wieweit soll der Dichter in seiner Motivirung zurückgreifen, und wieviel soll er aus der Breite der umgebenden Welt mit aufnehmen? Das Drama z. B. bietet eine abgeschlossene Handlung dar; aber diese Handlung selbst geht aus einer Vergangenheit hervor, welche hinter dem Vorhang liegt. Der Anfang des Dramas soll uns nun gleich die rückwärts reichenden Fäden der Handlung in die Hand geben, zugleich mit der Grundlage, aus welcher das ganze Stück hervorgeht. Diese Motivirung heißt im Drama Exposition, und wir verlangen von ihr, daß sie in dramatischer Weise durch Handlung, und nicht in epischer durch Erzählung vor sich gehe. Verkehrt dagegen ist die beliebte Manier der sogenannten Bühneneffectschriftsteller, uns von Hause aus in ein unentwirrtes Netz von Verhältnissen einzuspinnen, das Vergangene als ein unerschlossenes Geheimniß mit räthselhaft drohender Haltung durchzuführen und erst am Schlusse mit dem Knoten des Stückes selbst auch diese dunklen Antecedentien zu lösen. Die Spannung des Dramas geht nach der Zukunft122 hin, nicht nach der Vergangenheit, und nichts absichtlich Unmotivirtes darf als Contrebande mit in das Stück hineingeschleppt werden, da das Publikum von Haus aus mit im Geheimniß sein muß. Die Voraussetzungen der dramatischen Handlung dürfen indeß weder zahlreich, noch verwickelt sein. Dramen, deren Stoff aus Romanen entlehnt ist, leiden in der Regel an einem Uebermaß der Handlung, das sich nicht in die fünf Acte zusammenpressen läßt, sondern über die Schwelle des Dramas hinaus sich in's Weite dehnt. Dieser dramatisch ungestaltete Ueberschuß, der indeß als Motivirung unerläßlich ist, explodirt in der Regel als Erzählung, die oft weder den Charakter noch die Situation weiter entwickelt, sondern nur ein gewaltsames Auskunftsmittel des Dramatikers ist, welcher plötzlich jongleurartig das Band, das für den Zusammenhang des Dramas nöthig, ellenlang aus dem Munde seiner Marionetten zieht. Auch hinter der Schwelle des Roman's liegt eine Vergangenheit, welche seine Gegenwart motivirt. Der Romanschriftsteller aber, der Alles als Vergangenheit vorführt, muß ein anderes Gesetz der Spannung beobachten, als der Dramatiker. Bei ihm sind Geheimnisse, die er später erst löst, vollkommen berechtigt, und es ist in seine Gewalt gegeben, wann und wo er ihren Schleier lüften will. Er kann, wie Steffens, in seinen Romanen die ganze Geschichte früherer Generationen später erzählen und den Großvater nach dem Enkel auf die Bühne treten lassen. Jm Gegentheil, das Jneinanderschachteln der Zeiten trägt dazu bei, die Behaglichkeit und den Weltüberblick des Epos zu fördern. Die Erzählung des Vergangenen ist hier ganz am Platz. Jm Gegentheil muß die gründliche, historische Exposition, welche Walter Scott und seine Nachtreter in ermüdender Breite ihren Werken vorausschicken, so daß man erst über einen seichten Graben muß, um in die Festung zu gelangen, als unkünstlerisch verworfen werden. Jm Epos wird zwar eine Handlung durch den Boden weitverzweigter Verhältnisse, durch die ganze Lage der Welt motivirt, nicht wie im Drama durch einen Willensact der handelnden Charaktere; aber diese Welt soll sich in allmählicher Evolution am Faden der Begebenheiten vor uns aufrollen, und nicht schon am Eingange des Werkes als ein fertiges Treibhaus für noch unsichtbare Pflanzen aufgebaut werden. Dies hängt überhaupt mit der Rolle zusammen, welche dem Verstand im Kunstwerke zufällt. Diese Rolle darf nur eine123 keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende Kraft dem Zusammenhang des Kunstwerkes, wie dem der Natur untergebreitet sein; eine aufdringliche Motivirung hebt uns aus dem freien Aether der Poesie in das Reich der Prosa. Man muß nicht Alles, und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält das Kunstwerk einen kleinlichen, durch das letztere einen unklaren Charakter. Jn der Tragödie sind kleinliche Coulissenmotivirungen, wie wir sie in französischen Stücken finden, nicht berechtigt. Shakespeare und Schiller motiviren immer nur mit großen Zügen. Ja, Shakespeare motivirt oft zu wenig, wie er uns z. B. in Hamlet das Verhältniß zwischen dem Helden und seiner Ophelia nur durch Andeutungen klar macht, welche eine verschiedene Auffassung von Seiten der Ausleger hervorgerufen haben. Wer aber zuviel motivirt, z. B. im Drama einer Handlung mehrere gleichzeitige Beweggründe unterschiebt, der beleuchtet ein Bild mit mehreren Kerzen, deren sich kreuzender Glanz die Klarheit aufhebt.

Die Motivirung muß folgerichtig sein; sie darf weder gegen die Logik des Naturgesetzes, noch gegen die des menschlichen Herzens verstoßen. Jn der Naturschilderung verlangen wir Treue und Korrectheit; wir wollen die Blumen nicht in einer Jahreszeit blühen sehen, in der sie in der Wirklichkeit nicht einmal Knospen treiben; das Kolorit eines exotischen Klima's muß uns mit jener Treue geschildert werden, welche der Physiognomik der Gewächse und der Pflanzengeographie Rechnung trägt. Der Lyriker, der seine Stimmung an ein Naturbild knüpft, muß ebenfalls diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber die Ergänzung der ausgelassenen Bilder, die Begründung ihres Zusammenhanges muß der Phantasie möglich sein, indem die Zwischenglieder schon durch den Organismus des Ganzen mitgegeben und gleichsam mit einer unsichtbaren Tinte geschrieben sind, die durch die Reagentien einer feurig erregten Phantasie hervortritt. Selbst in der Welt des Phantastischen und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen, die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein und rückwärts fließende Bäche, wie in dem Märchen vom Tannenbaum 124von Redwitz, läßt man sich auch im Märchen nicht gefallen, das kein Wunder begehen darf blos um des Wunders willen. Jotham im Buch der Richter gründet darauf eine schöne Fabel, daß die Bäume einen König wählen. Schiebt man den Bäumen einmal Sprache und Willen unter, so ist das Weitere ganz folgerichtig ausgeführt. Der Oelbaum lehnt die Wahl ab, weil er nicht seine Fettigkeit, der Feigenbaum, weil er nicht seine Süßigkeit lassen will jeder Baum spricht gemäß seiner Natur und seinen Eigenschaften. Der Tannenbaum von Redwitz ermangelt als ein confuses Symbol dieser Naturwahrheit. Schon Horaz erwähnt von Homer:

Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet,
Primo ne medium, medio ne discrepet imum.

Die psychologische Folgerichtigkeit ist für die Motivirung in Roman und Drama unerläßlich. Die Handlung ist ein Act des Willens; die größere oder geringere Kraft des Willens, der gewohnte Kreis der Vorstellungen, die ihn bestimmen, hängt aber von der ursprünglichen Grundlage des Charakters ab. Nur der Dichter, der einen Charakter mit organischer Einheit schafft, wird seine Handlungen folgerichtig motiviren. Es bedarf hier für den einzelnen Fall keiner weiteren Erwägung. Ein festausgeprägter Charakter läßt dem Dichter selbst keine Wahl, ob er ihn so oder anders handeln lassen will. Shakespeare's Hamlet, der den König gleich nach der Ansprache des Geistes im ersten Act erstäche, wäre kein Hamlet mehr. Selbst die Naturbestimmtheit spielt hier eine große Rolle. Den lahmen, buckligen Richard treibt das Bewußtsein seiner Mißgestalt zum Verbrechen; der Mohr Othello darf mit größerem Recht der Liebe seiner Gattin mißtrauen, und der dicke Fleischklumpen John Fallstaff vom Humor des Materialismus übersprudeln. Jndeß würde eine Beschränkung der Motivirung auf das Temperament, die Naturanlage, das Körperliche die Poesie zu einem einseitigen Realismus verleiten, wie er sich in vielen Werken der neuen französischen Schule und ihrer Nachahmer ausspricht. Auf der anderen Seite kann die psychologische Motivirung in ein gesuchtes Raffinement verfallen, welche bald das Abweichende und Ungewöhnliche, bald das Allzufeine und Verwickelte mit Vorliebe auswählt. Wir erinnern nur an die Motivirung in Hebbel's Maria Magdalena und besonders in seiner125 Julie. Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere nicht hineindenken, weil sie zu sehr der Sitte und dem natürlichen Empfinden widerspricht. Welch 'ein grenzenloses Raffinement liegt in dem Benehmen einer Clara, die ihre Jungfräulichkeit aus Berechnung opfert, um sich die Treue des Geliebten zu sichern! Abgesehen davon, daß diese Berechnung nicht gerade von scharfem Verstande zeugt welch' einen Charakter, der allem Mädchenhaften widerspricht, setzt dies spekulative stuprum voraus! Wenn uns Hebbel dennoch seine Heldin als ein Wesen von zarter und schwärmerischer Empfindung schildert: so ist entweder die That, welche die Voraussetzung des ganzen Stückes ist, unmotivirt, oder der Charakter der Heldin selbst. Noch anomaler sind alle Voraussetzungen der Julia nur daß die Handlung hier sich mit jener folgerichtigen Absurdität entwickelt, die mit Nothwendigkeit aus dem Zusammenwirken lauter mit Spleen und Sparren behafteter Charaktere hervorgeht.

Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste des Dichtwerkes entsprechen. Die Geschichte giebt oft einen Kausalnexus an die Hand, den der Dichter nicht brauchen kann, weil ihm die ideale Würde fehlt. Das Abschreiben der Wirklichkeit würde hier nur eine Tragikomödie erzeugen. Ein Tragödiendichter, der z. B. eine Verschwörung, eine großartige Staatsaction darstellen und dazu die Motive wählen wollte, die in der Restaurationszeit einen Plaignier zu einer Verschwörung gegen die Bourbons trieben, würde sich lächerlich machen, wie verbürgt auch immer ihre historische Wahrheit sei. Dieser Plaignier verschwor sich nämlich, wie uns Veron in seinen Memoiren erzählt, gegen Ludwig XVIII., weil seine Erfindung, die bottes à la hussarde, welche Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der Restauration wieder abgeschafft worden waren. Die Verschwörung wurde entdeckt und Plaignier hingerichtet. Eine Verschwörung mit solchem Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie nicht durch ein Verbot von Stiefelschäften und eine gekränkte Schuhmacherseele motiviren. Jm Lustspiele und im Roman muß die Motivirung mehr in's Einzelne gehen, als in der Tragödie, wo der ideale Flug der Gestalten leichter über die kleinen Zusammenhänge des realen Lebens126 hinwegträgt. Doch muß auch hier jede Scene motivirt sein! Die Personen dürfen nicht auf die Bühne treten, ohne daß ihr Erscheinen theils einen guten Grund hat, theils aber auch wieder als Triebrad in die Fortbewegung der Handlung eingreift. Jm Einzelnen haben indeß auch große Tragödiendichter sich in der Motivirung nicht gerade stark bewiesen und Fehler begangen, die ein mäßiger Verstand mit Leichtigkeit entdeckt und rügt. Sophokles z. B. läßt den König Oedipus durch Kreon über den Tod seines Vorgängers Laios unterrichten. Da Oedipus schon einige Jahre an der Stelle des Laios regiert, so ist es sehr unwahrscheinlich, daß er nicht selbst über diesen Tod bereits ganz genau unterrichtet gewesen sein sollte. Diese Art der Exposition ist daher ungeschickt. Kreon theilt ihm ferner mit, daß Apollo verlangt, die Mörder des Laios sollten zur Rechenschaft und Rache gezogen werden. Es kommt daher Alles darauf an, die Mörder des Laios zu entdecken. Oedipus frägt also mit Recht, ob keiner von den Begleitern des Laios, die bei seiner Ermordung zugegen gewesen, noch am Leben sei? Als er aber erfährt, daß einer der damaligen Gefährten des Königs noch lebe, läßt er diesen nicht zu sich fordern, und selbst als er später erscheint, frägt er ihn nicht einmal danach. Das ist vollkommen unmotivirt und verstößt gegen die einfachsten Forderungen des Verstandes. Freilich wäre sonst die Katastrophe des Stückes schon in der ersten Scene herbeigeführt worden! Shakespeare, so unübertrefflich in den großen Motiven, ist keineswegs tactfest in den kleinen. Sorgsamer motivirt Schiller, obwohl die Handlungsweise des Posa im Don Carlos eines Commentars bedarf.

Auf der sorgsamen Motivirung beruht die Korrectheit der Komposition, der klare und übersichtliche Zusammenhang. Höher als die bloße Korrectheit steht der Rhythmus, welcher die harmonische Bewegung der Gruppen ist. Durch ihn gewinnt die Gliederung des Kunstwerkes eine tactvolle Lebendigkeit. Der Fortgang der Handlung und ihre regelmäßig wiederkehrenden Ruhepunkte, die Entgegenbewegung ihrer einzelnen Glieder, die verstärkt als Bewegung ganzer Gruppen wiederkehrt, die epische und dramatische Stimmenführung und Stimmenverflechtung, der Fugengang, die scheinbare Selbstständigkeit der einzelnen Glieder, die aber dennoch durch den beharrlichen Grundgedanken einheitlich gefesselt werden, das Fortschreiten der einen Gruppe während des127 Zurückbleibens der andern, Trennungen, die eine neue Vereinigung, Lösungen, die eine neue Spannung vorbereiten: das Alles gehört der inneren Rhythmik des künstlerischen Organismus an, jener Musik, die der Genius in sich selbst trägt, und deren sanftwirkendes Gesetz er fast unmerklich durch seine Schöpfungen ausgießt. Den Zauber merkt man wohl, doch nicht, woher er kommt und nur der feingebildete Sinn kann sich Rechenschaft geben von den Ursachen der harmonischen Wirkung. Shakespeare war ein Meister dieser Rhythmik. Jndem er es liebt, einen Grundgedanken an mehrere Gruppen zu vertheilen, gewinnt er in seinen Dramen Raum für eine wechselnde Fort - und Gegenbewegung derselben, bis er die getrennten Flüsse der Handlung zu einem majestätischen Strom vereinigt, der die Jdee des schöpferischen Meisters in voller Klarheit spiegelt. Vischer hat in seiner Aesthetik (Bd. 3. S. 45.) den rhythmischen Gang in König Lear mit gewohnter Feinfühligkeit nachgewiesen man könnte ihn ebenso im Kaufmann von Venedig, in Maaß für Maaß, auch in Schiller's Maria Stuart nachweisen. Jn der Lyrik zeichnen sich die Odendichter, besonders Pindar, durch eine kühne Rhythmik des Gedankens aus.

Eine nähere Darstellung der Kompositionsgesetze werden wir erst bei dem Epos und Drama geben, da sie, verschieden in diesen Hauptgattungen, dort erst größere Bestimmtheit gewinnen. Dagegen müssen wir jetzt das Gewand, in welches die Dichtkunst sich hüllt, näher in's Auge fassen. Das Vehikel der dichtenden Phantasie ist die Sprache die dichterische Technik beruht wesentlich auf ihrer Behandlung. Nur der Genius giebt ihr das Gepräge, aber die Kenntniß des dichterischen Ausdrucks, der Figuren und Bilder, der Verskunst und des Reimes lehrt uns erst, seine gesetzgebende Macht würdigen, während sie auch für das eigene Schaffen eine bewußte und tiefere Gesetzmäßigkeit hervorruft.

E128

Drittes Hauptstück. Die Technik der Dichtkunst.

Erster Abschnitt. Das dichterische Wort.

Die Wahl treffender und edler Ausdrücke fesselt und bezaubert die Hörer und verleiht zugleich Größe, Schönheit, gesundes Aussehen, Gewicht, Kraft und Energie. Diese Worte Longin's (Ueber das Erhabene C. 30) weisen darauf hin, daß die rednerische, noch mehr aber die dichterische Kunst vorzugsweise von der Wahl des Ausdruckes abhängig ist. Der Ausdruck aber läßt sich zuerst als einzelner in's Auge fassen, als dichterisches Wort, ehe wir ihn im Zusammenhang der Worte, als dichterische Wendung betrachten.

Vor dem Genius liegt der Sprachschatz offen da er kann aus ihm wählen, er kann ihn bereichern; denn er hat das Recht, die Sprache fortzubilden, weil in ihm die sprachschöpferische Kraft ruht. Wer den Bildungsgang der Sprache verfolgt, wird auf eine Menge von Wörtern stoßen, bei denen nur das Dichtertalent zu Pathen gestanden. Das Wort: furchtlos z. B. ist jetzt bei uns so vollkommen eingebürgert, daß wir uns wundern, es irgendwo als ein neugeschaffenes bezeichnet zu finden. Gottsched aber erwähnt es noch als ein glückliches Wagniß Simon Dach's, der es in dem Vers:

Und man sollte furchtlos stehn?

zuerst in die deutsche Sprache eingeführt.

Der Sprachschatz enthält nun eine Menge geprägter Münzen, bei denen der Prägstock des Dichters nicht thätig war, und die auch keinen poetischen129 Cours gewinnen können. Hierzu gehören zunächst die Fremdwörter, die in der deutschen Dichtersprache nur ein sehr beschränktes Gastrecht finden dürfen. Ohne dem blinden Eifer einer Sprachreinigung zu huldigen, welche das Fremdwort auch aus unsern prosaischen Werken und dem Gebrauch des Lebens verbannen will, wo wir mit dem Wort in der Regel auch den bestimmten Begriff verlieren: muß man doch zugeben, daß die Reinheit der poetischen Diktion durch den Gebrauch der Fremdwörter in ungehöriger Weise getrübt wird. Wohl giebt es Fremdwörter, die ebenso unentbehrlich, wie eingebürgert sind, und die daher auch der Dichter nicht vermeiden kann, doch die große Mehrzahl derselben verfällt in der Poesie mit Recht dem Strafgerichte der Puristen. Unsere Klassiker haben sich vom unnöthigen Gebrauch der Fremdwörter nicht freigehalten, was bei ihnen um so weniger auffällt, als sich durch Schiller's und Goethe's Dichtungen eine ganze Kette mythologischer Namen zieht; denn wo beständig vom Orkus die Rede ist und sogar statt des Himmels sich der unbewölkte Zeus in den Fluthen spiegelt, da fallen Ausdrücke, wie Sphäre, Aether, Element weniger auf. Goethe läßt den Faust von neuen Sphären neuer Thätigkeit sprechen. Schiller sagt: Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre, spricht vom Symbol des Schönen und des Großen, von der heil'gen Sympathie, der das Unsterbliche erliegt, von dem Jdeale, vor dem die beschämte That muthlos fliehen soll. Gerade diese Fremdwörter haben etwas Oedes und Todtes; denn sie sind abstracte Schatten aus dem Orkus der philosophischen Terminologie. Unsere neueren philosophischen Poeten, Sallet, Jordan, Titus Ulrich u. A., haben sich ebensowenig vor dem Gebrauche solcher Kunstausdrücke gehütet, und wir können hierher auch mit gleichem Rechte die deutschen Wendungen rechnen, welche Hegel zu Schlagwörtern seiner Philosophie gestempelt: das Fürsichsein, Beisichsein, Außersichsein, bei denen die Muse ein Recht hat, außer sich zu gerathen, wenn sie ihnen in einer Dichtung begegnet; denn sie sind ebenso unschön, wie unsinnlich! Je freier der ideale Styl der Dichtung von Fremdwörtern, desto geläuterter ist seine künstlerische Haltung. Dennoch lassen wir hier eine Ausnahme gelten; es ist die exotische Schilderung, wo ein angemessenes Kolorit selbst die fremdklingenden Worte zu erfordern scheint, wo sie wie mit einem würzigen Hauch die Dichtung durchziehen. 130Wir denken hierbei vorzugsweise an Freiligrath, der diesen Fremdlingen noch dadurch eine besondere Auszeichnung zu Theil werden läßt, daß er sie zu Reimen verwendet. Jm Gegensatz gegen die abstracte Verschwommenheit der philosophischen Fremdwörter geben diese eine schärfere Bestimmtheit und haben überdies die Entschuldigung für sich, daß die deutsche Sprache keine Worte hat, um sie zu ersetzen. Wenn Freiligrath sagt:

Und sehet: noch ein Schemen,
Ein Kämpfer auf dem Nil,
Ein Führer von Triremen,
Der unter Cäsar fiel!

so bezeichnet dieser Ausdruck in ganz bestimmter Weise und sonst unerreichbarer Kürze das römische Ruderschiff; auf der anderen Seite bedarf er für das ungelehrte Publikum eines Commentars. Solche Ausdrücke lassen sich nur gebrauchen, wo sie sich selbst erklären.

Es gehört große Kunst dazu, Worte, die eine Specialität der Marine, des Krieges, der Volks - und Erdkunde ausdrücken, so anzuwenden, daß der Ausdruck nicht seinen dichterischen Adel einbüßt. Freiligrath besitzt meistens diese Kunst. Doch treibt er ebenso oft einen überflüssigen Luxus mit Fremdwörtern, wo sie Nichts zur Charakteristik beitragen, nicht den Zauber des Kolorits erhöhen, z. B.:

nur noch durch diese Schleusse,
Und deinen Kupferbauch umplätschert das Bassin!
Wie sich auf dem Verdeck die rüst'gen Lootsen drängen!
Zur Arbeit singen sie; einfach, mit rauhen Klängen
Schallt über's Wasser der Refrain.

Die Länder - und Völkernamen, die Freiligrath in seine Verse gewebt, können ebensowenig für bloße Fremdwörter gelten, wie die mythologischen Namen, die Goethe's und Schiller's Dichtungen durchranken.

Wie Freiligrath ein Muster für den entschuldbaren Gebrauch des Fremdworts in der Dichtkunst: so ist es Scherenberg für den verwerflichen. Seine Hauptdichtung: Waterloo beginnt mit den Versen:

Jacta est alea entweder oder!
Spricht der gefang'ne Cäsar der Franzosen
Auf Elba
131

und charakterisirt damit von vornherein das dichterische Kauderwälsch, das durch seine sonst talentvollen Dichtungen geht. Scherenberg streut die Fremdwörter in einzelnen Brocken in seine Verse, aber nur in den humoristischen Theilen des Werkes läßt sich diese absichtliche Sprachmengerei rechtfertigen.

Was der ernsten Muse versagt ist, das gerade kommt der komischen zu Statten. Das mit Geschick angewendete Fremdwort ist ein Hauptträger der komischen Wirkung, und zwar nicht blos da, wo es die Sprachmengerei zu verspotten gilt, wie in Rachel's und Laurenberg's Satyren:

Ein braver Kapitain, ein alter Freiersmann,
Hub seinen Mengelmuß mit diesen Worten an:
La Maître machet mir en façon der Franzosen
Für gut contentement ein paar geraumer Hosen,
Jch selber bin mir gram, mir knorrt der ganze Leib
Daß ich jusqu 'à présent muß leben ohne Weib.
Was hab' ich nicht gethan? Was hab 'ich nicht erlitten,
O Cloris, dein amour und Schönheit zu erbitten?
Weil dein Eclat soweit die andern übergeht,
Wie wenn ein Diamant bei einem Kiesel steht.
Soleil de notre temps, o Auszug aller Tugend!
O himmlischer Trésor! u. s. f.

Rachel, der Poet.

Die deutschen Dramatiker haben sich in den verschiedensten Epochen unserer Literatur diese komische Wirkung nicht entgehen lassen. Andreas Gryphius läßt in seinem Horribilicribrifax sowohl den Helden des Stückes, als seinen Gegner Daradiridatumdari das Französisch, Spanisch und Welsch durcheinander mischen, während der Schulmeister Sempronius Griechisch und Lateinisch im Uebermaaß in seine deutsche Rede wirkt; Lessing's Riccaut de la Marlinière radebrecht deutsch und französisch mit komischer Wirkung durcheinander und hat in der neuesten Zeit an Gutzkow's Königslieutenant Thorane einen Nachfolger gefunden, dessen Deutsch-Französisch stets einen leise komischen Anflug mit sich führt, aber dort, wo es ernstere sentimentale Wirkungen hervorrufen soll, gekünstelt erscheint.

Einen ebenso undichterischen Eindruck, wie das Fremdwort, das unnöthigerweise angebracht wird, macht das deutsche Ersatzwort der132 Puristen, welche nicht das Product eines sprachschöpferischen Genius ist, sondern die mühsame Erfindung einer sprachkünstelnden Grille, wenn es sich an die Stelle eingebürgerter Wörter fremden Ursprungs drängen will. Trotz des Fremdwörterbuchs von Heyse und des Potsdamer Sprachreinigungsvereins verfällt indeß die neuere Poesie selten in diesen Fehler, den in früheren Zeiten bereits Rachel in seinen Satyren verspottet. Die Thätigkeit des Puristen ist in diesem Falle nur eine Karrikatur der Thätigkeit des Dichters, welcher neue Worte entweder durch eigene Bildnerkraft, durch einen Act der Jnspiration schafft oder ältere oder veraltete in neuen Schößlingen zu Ehren bringt. Hierüber hat schon Horaz in seiner Poetik die richtigsten Lehren ertheilt*)Hor. de art. poet. 46 72.. Er hat, indem er sich auf den Vorgang des Plautus, Cato und Ennius beruft, auch für Virgil und für sich das Recht in Anspruch genommen, neue Wörter in die Sprache einzuführen, unter dem Vorbehalt, dies Recht mit Maaß in Anwendung zu bringen; er hat auf der anderen Seite die organische Entwickelung der Sprache selbst, die er mit dem Laubwalde vergleicht, der zuerst die ältesten Blätter verliert, im Lenz aber sich jugendlich mit frischem Schmuck erneuert, in ihrem Wesen richtig erkannt und als den Wächter dieser ganzen sprachlichen Fortbildung, mag sie nun vom dichterischen Talent oder vom nationalen Genius selbst ausgehen, den Sprachgebrauch hingestellt:

si volet usus,
Quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi.

Daß alte Wurzeln neue Stämme, alte Stämme neue Zweige, Blätter und Blüthen treiben, ist das gute Recht der sprachlichen Entwickelung. Der Dichter kann manches ältere Wort durch glückliche Anwendung wieder zu Ehren bringen, wie es in vielen Fällen das Vorbild Goethe's beweist. Dagegen ist die romantische Schule, besonders Fouqué, in eine widerliche Manier verfallen, indem sie, minniglich und reckenhaft, altdeutsche Wörter unverändert aufnahm, um damit ihre Dichtungen in einer mittelalterlichen Weise auszustaffiren, welche dem Genius unserer Zeit widerspricht. Auch Redwitz in seiner Amaranth und selbst Fontane und Andere in altdeutschen Balladen befleißigen sich oft einer133 Ausdrucksweise, die an die alten gothischen Burgen und Kapellen erinnert. Ebensowenig ist der Chronikenstyl in den historischen Romanen von Willibald Alexis zu billigen, durch den zwar ein naiv treuherziger Ausdruck erreicht wird, aber auf Kosten der höheren künstlerischen Ausbildung der fortgeschrittenen Sprache.

Da jede Sprache in verschiedene Dialekte zerfällt, so entsteht die Frage, inwieweit die Dichtung sich des einen oder anderen Dialektes bedienen darf? Als Grundsatz muß es wohl feststehen, daß die Dichtung sich in jener Sprache der geläuterten Bildung zu bewegen hat, welche von allen provinziellen Anklängen frei ist. Denn erst in ihr hat der Genius der Sprache jenen Höhenpunkt erreicht, wo er alle Besonderheit abgestreift, um einen harmonischen Spiegel des Gedankens zu schaffen; sie erst ist das Palladium der nationalen Einheit. Nur in einer Sprache, in der die Nation sich als Ganzes fühlt, können dauernde Schöpfungen des Genius niedergelegt werden.

Die Ausnahme von dieser Regel kommt besonders der komischen Dichtung zu Statten. Die Komik dringt überall auf die speciellste Bezeichnung; sie geht bei der Charakteristik viel weiter in's Einzelne, als die ernste Dichtung. Sie kann sich des Dialekts trefflich bedienen, um einem Charakter dadurch ein schärferes Gepräge der Eigenthümlichkeit zu geben, um ihn durch den Kontrast humoristisch hervorzuheben. Shakespeare's Capitain Fluellen im Heinrich V. ist ein Beispiel hierfür, welches sich spätere englische Lustspieldichter zu Nutze machten wir erinnern nur an den schottischen Anflug, durch den Sir Pertinax Macsycophant in Macklin's the man of the world, an den nordenglischen Dialekt, durch den John Mordy in Cibber's the provoked husband sich gleich in charakteristischer Weise einführen. Auch die englischen Romanschriftsteller, wie Walter Scott, Dickens, bedienen sich oft des Dialekts bei komischen Nebenfiguren. Die deutsche Posse ist vorzugsweise lokaler Art und daher ganz in den Humor dieser Dialekt-Unterschiede getaucht. Wir haben vorzugsweise Wiener und Berliner Possen, in denen der lokale Ausdruck jovialer Gemüthlichkeit und naseweiser Kritik vortrefflich durch die Eigenthümlichkeiten des betreffenden Dialektes unterstützt wird. Holtei erreicht in seinen Wienern in Berlin durch den Kontrast beider Dialekte eine humoristische Wirkung. 134Lokale Witzblätter, wie der Kladderadatsch, die fliegenden Blätter in München, Saphir's Wochenkrebs in Wien sind ebenfalls auf die Ausbeutung dieses volksthümlichen Sprachschatzes angewiesen, der durch seine bunte wechselnde Einkleidung dem Witz Frische und Neuheit verleiht und ihm überhaupt einen eigenthümlich aromatischen Beigeschmack giebt. Wenn man dagegen in ernsten und sentimentalen neuen Dorfgeschichten von Auerbach, Ludwig u. A. überall auf Provinzialismen stößt, die mit übertriebenem Behagen ausgebeutet werden, so kann man darin nur einen Verstoß gegen den guten Geschmack und eine bedrohlich hereinbrechende realistische Barbarei finden.

Eine zweite Ausnahme von der oben aufgestellten Regel läßt sich für eine Art lyrischer Poesie, für das Volkslied geltend machen. Jeder Dialekt hat etwas Naturwüchsiges, das dem ursprünglichen Quell des Gemüthes nahe zu liegen scheint. Die niedern Stände überhaupt leben und weben in dieser provinziellen Bestimmtheit des Ausdruckes; die Naivetät der Empfindung scheint sich in ihr am glücklichsten abzuspiegeln. Der Dialekt hat etwas Knospenartiges, Mädchenhaftes; der nur halb erschlossene Genius der Sprache schlägt in ihm sein träumerisches Auge auf. Dieser ahnungsvolle Reiz hat neuerdings einige Dichter bestimmt, den Dialekt zum Gewand einer volksthümlichen Lyrik zu wählen, deren Bedeutung freilich auf die Landesgrenzen beschränkt ist, innerhalb deren er das herrschende Jdiom ist. Hebel's alemannische Gedichte haben den schwäbischen, Holtei's schlesische den schlesischen, Klaus Groth's Quickborn den niederdeutschen zur Einkleidung einer Liederdichtung gewählt, die manche liebliche Blüthen getrieben. Doch ist ebenso oft mit dieser waldfrischen Ursprünglichkeit des Dialektes in süßlicher Weise kokettirt worden; man hat seine Berechtigung überschätzt und wohl gar die einzig echte Poesie in den oft stammelnden Naturlauten der Volkslyrik gesucht.

Wenn wir nun im Einzelnen erwägen wollen, wie der dichterische Ausdruck Kraft und Grazie durch das bloße Wort gewinnt: so werden wir zunächst das Hauptwort und Beiwort in's Auge fassen müssen. Das Hauptwort scheint als feste abgeschlossene Form der schöpferischen Thätigkeit des Poeten nur einen geringen Spielraum zu bieten. Er wird zunächst jene unkräftigen, abstracten Bildungen, besonders mit der135 Endung: ung zu vermeiden haben, die in unserer neuen orientalischen Lyrik eine allzugroße Rolle spielen*)Auch Platen ist nicht frei davon. Er sagt z. B. der Elemente Bildungen zerfließen (Rom. Oedipus)! Die Schlußparabase dieser Komödie wimmelt von solchen abstracten Wörtern.. Es fehlt ihnen alle sinnliche Anschaulichkeit! Dagegen haben die mehr aktiven, von Zeitwörtern gebildeten Hauptwörter wie z. B. Berather, Thäter, Erhalter, Kraft und Frische:

Harret, bis im Morgenwinde eure Turbanfedern flattern
Morgenwind und Morgenröthe werden ihnen zu Bestattern.

Freiligrath.

Jhrer Spur folgt die Hyäne,
Die Entweiherin der Grüfte! Freiligrath.
Schöpfrin, Entfalterin
Himmlischer Zier
Stehst du, Gestalterin,
Muse vor mir.
Oder du Liebe,
Einigerin,
Jrdischer Triebe
Reinigerin.

Rückert.

Es liegt hierbei eine Personifikation zu Grunde, welche die Sprache selbst vollzieht, und die der Dichtung zu Gute kommt. Auch fließt hier gerade ein ergiebiger Born für neue Wortbildungen, welche aus alten Stämmen zwanglos herauswachsen**)Die Wirkung der Diminutiv bildungen, das Niedliche, Zierliche tändelnd zu schildern, hat Rückert in dem Gedicht: die Göttin im Putzzimmer, auf's Glücklichste erreicht. Selbst die Häufung der Diminutive ist hier nicht störend: Nischchen, Zellchen, Tischchen, Gestellchen, Schreinchen, Quästchen, Steinchen, Kästchen, Ringelchen, Kettchen, Dingelchen, Blättchen, Nädelchen, Häckchen, Fädelchen, Fleckchen, Wickelchen, Schleifchen, Zwickelchen, Streifchen &c.. Doch hat auch das scheinbar spröde Hauptwort eine Seite, wo es sich für dichterische Neubildungen gefügig erweist. Seine Fähigkeit, durch die Zusammensetzung mit andern Hauptwörtern neue Wörter zu bilden, ja selbst Nebenbestimmungen als gleich berechtigt in sich aufzunehmen, verleiht dem Ausdruck ebenso Reichthum, wie Energie. Daß sich diese Fähigkeit soweit erstreckt, um selbst die Spielereien136 des aristophanischen Humors nachahmen zu können, hat Platen im Oedipus gezeigt:

Nie will ich einen Oedipus,
Jch selbst erfinden, zeigen euch, wie jener Mensch
Es hätte machen sollen, ein historisches
Vorzeitsfamilienmordgemälde bühnenhaft
Dem Publikum vorbei zu führen.
Ja, wo wäre denn
Dekorationsveränderung und sonstige
Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie.

Jn diesen kühnen komischen Zusammensetzungen liegt eine Kraft, welche einen ganzen Satz in die Einheit eines Wortes zusammendrängt.

Keine Dichtung gewährt interessantere und reichere Belege für die Bedeutung dieser Wort-Zusammensetzungen, als Goethe's Faust. An der Neuheit, Frische und Energie des Ausdruckes, die uns aus dem ersten Theil entgegenweht, haben sie einen wesentlichen Antheil. Dagegen zeigen gerade die mühseligen Wort-Composita des zweiten Theiles, wie die Hand des Dichters erlahmt und zu solchen kühnen Griffen unfähig geworden ist. Hier zeigt es sich, wie das Hauptwort in seinen Zusammensetzungen sogar für den ganzen Styl charakteristisch werden kann, indem sich ebenso die glückliche Dichterkraft der Jugend, wie die manierirte Ohnmacht des Alters in ihnen ausprägt.

Man vergleiche die folgende Sammlung solcher Wörter aus dem ersten und zweiten Theile:

Erster Theil: Gnadenpforte, Dichterhöhe, Brudersphäre, Wettgesang, Donnergang, Paradieseshelle, Sphärenlauf, Wirkenskraft, Wissensqualm, Freudebeben, Flammenbildung, Lebensfluthen, Thatensturm, Spiegelfluth, Erdensonne, Jugendmacht, Höllenluchs, Teufelsfaust, Riesenfichte, Nachbaräste, Nachbarstämme, Gedankenbahn, Feuerpein, Blend - und Schmeichelkräfte, Traum - und Zaubersphäre, Lock - und Gaukelwerk.

Zweiter Theil: Erfüllungspforte, Wechseldauer, Doppelzwerggestalt, Glitzertand, Blitzeswerk, Geister-Meister-Stück, Bücherkruste, Krächzegruß, Flügelflatterschlagen, Zitterwogen, Glanzgewimmel, Alt - Wälder, Flüsterzittern, Säuselschweben, Gezwergvolk.

137

Welche gesetzgebende Schöpferkraft in den Bildungen des ersten, welche Verknorpelungen des Styles in denen des zweiten Theiles!

Aus diesen Beispielen ersehn wir zugleich die größere Prägnanz, die der Ausdruck durch solche Zusammensetzungen gewinnt. Theils werden sie durch eine Verbrüderung von Substantiven gebildet, wie Sphärenlauf, für Lauf der Sphären, Wissensqualm für Qualm des Wissens, und gewinnen durch die Aufnahme des Genitivs an Kürze und Kraft; theils sind es adjectivische Bestimmungen, die sich in morganatischer Ehe an das Substantivum antrauen lassen: Brudersphäre für brüderliche Sphäre, Riesenfichte für ries'ge Fichte, Spiegelfluth für spiegelnde Fluth, Blend - und Schmeichelkräfte für blendende und schmeichlerische Kräfte. Eine unglückliche Bereicherung dieser Flora giebt das Wort Alt-Wälder im zweiten Theile für alte Wälder. Diese Abbreviaturen des Ausdruckes, die aus der Standeserhöhung des Adjectivums hervorgehn, geben ihm eine große Schlagkraft. Noch größer ist die der Antithese, wenn die beiden vereinigten Wörter zugleich entgegengesetzt sind: z. B. Erdensonne. Wechseldauer im zweiten Theile klingt gesucht. Goethe liebt es auch, zwei neue Reiser auf einen Wortstamm zu impfen: Traum - und Zaubersphäre, Lock - und Gaukelwerk, wobei das erste in der Regel mehr vom zweiten in's Schlepptau genommen wird, so daß man die Kühnheit der Zusammensetzung z. B. Lockwerk überhört.

Noch wichtiger für die dichterische Diktion als die Wahl des Hauptwortes ist die des Beiwortes, in welchem sich der eigentliche Zauber der Phantasie und Empfindung und die specifische Kraft jedes einzelnen Talentes ausspricht.

An den Beiwörtern kann man Homer und Pindar, Aeschylos und Sophokles, Virgil und Horaz, Schiller und Goethe, Heine und Lenau unterscheiden. Schon der alte Nesichorus ist wegen des geschicktesten Gebrauchs der Beiwörter für den anmuthigsten Poeten gehalten worden. Ein Beiwort, das eine einfache Bestimmung einfach ausdrückt, kann dennoch eine große Kraft der Bezeichnung, eine große Jnnigkeit der Empfindung ausdrücken. Goethe liebt solche Adjectiva: hoch, reg, sanft, dunkel, schwer; hohe Gestalten, rege Wipfel, sanfte Pfeile, dunkles Laub, schwere Wolke.

138
Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
Jm dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht!

Wie einfach sind die Beiwörter in diesem Vers gewählt, und wie geben sie doch durch ihre Zusammenstellung ein stimmungsvolles Bild! Auch gefällig, anmuthig sind Lieblingsbeiwörter dieses Dichters! Spiegelt sich in ihnen nicht ganz die plastische Klarheit seiner Seele und seines Styles? Jn Heine's Liedern finden sich ebenfalls einfache Beiwörter, welche von einem großen Reize der Stimmung begleitet sind. Doch wiegen hier die sinnlichen vor, nicht in Goethe's plastischem, sondern in stoffartigem Sinn: süß, weich:

So schwebt mir vor ein süßes
Anmuthig liebes Bild.
Mädchen mit dem rothen Mündchen,
Mit dem Aeuglein süß und klar.
Jn den Armen meiner Kön'gin
Ruht mein Königshaupt so weich.

Jm Kontrast damit drückt er sein Unbehagen durch Wörter wie dumpf, wund, elend aus! Liebeslust und Lebenssattheit, der Grundzug seiner Gedichte, prägt sich in seinen Lieblingsadjectiven aus. Doch hat er mit Goethe den Vorzug gemein, daß er dem einfachsten Beiwort oft eine prägnante Bedeutung zu geben weiß z. B.:

Jch weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin!

Ganz abweichend von diesen beiden Dichtern liebt Schiller abstracte Beiwörter, wie edel, sittlich, herrlich, ewig, schrecklich, zärtlich, himmlisch, Beiwörter, welche den idealen Charakter und das sittliche Pathos seines Dichtens treffend repräsentiren. Wo er aber schildert, häuft er die Synonyma in einer fast unschönen Weise:

Wie's von Salamandern und Molchen und Drachen
Sich regt 'in dem furchtbaren Höllenrachen,
Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachlichte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers gräuliche Ungestalt,
139
Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne
Der entsetzliche Hay, des Meeres Hyäne!

Lenau wiederum liebt Beiwörter wie still, stumm, trüb, traut, dunkel, in denen sich die Melancholie seiner Seele malt.

Alle diese Beiwörter fördern direct die Anschaulichkeit und die Stimmung. Hierher gehören auch die stereotypen Beiwörter Homer's: die rosenfingrige Eos, die blauäugige Athene, der blondgelockte Menelaos u. s. w. Eine größere Wirkung als diese einfachen Adjectiva bringen diejenigen hervor, in denen eine Metapher latent ist. Wir können jene Adjectiva der Bezeichnung, diese Adjectiva der Beziehung nennen. Hier handelt es sich nicht blos um ein epitheton ornans, um eine plastische, sinnliche, sittliche Bezeichnung; das Adjectivum trägt hier nicht blos die Fackel, um das Substantivum zu beleuchten; es steht sogar im offenen Widerspruch mit seinen Eigenschaften und wird ihm nur durch einen kühnen Machtspruch des Dichters beigegeben, welcher dann dem Substantivum eine Bedeutung unterschiebt, die ohne Zusammenhang mit seinem eigentlichen Wesen ist und sich gleichsam nur als ein Reflex aus der ganzen Situation, aus dem ganzen Gedanken auf dasselbe ergießt. So wenn einem sinnlichen todten Ding eine geistige Eigenschaft untergeschoben wird. Note: Abgr. zwischen Adjektiv der Bezeichnung und der Beziehung (in letzterem Metapher) - Unterkat. : Adj. d. Bez.Heine sagt:

Und das ist ein Drehn und Winden
Vor den buntbemalten Puppen,
Und das blökt und dampft und klingelt,
Und die dummen Kerzen funkeln.

Note: impl. Werk: Almansor - Bsp. für obige Abgr. - Unterkat. : Adj. d. Bez.

Jn dies Beiwort flüchtet sich die Kritik des Dichters über die ganze Handlung. Es hat zu dem Substantivum, bei dem es steht, keine andere Beziehung, als daß es dasselbe mit zum Träger des Gedankens macht. Note: zugehöriger Poetikentext exempl. - Unterkat. : Adj. d. Bez.Goethe spricht vom stolzen Licht, das der Mutter Nacht den Vorrang streitig macht, von den süßen Rosen. Note: impl. Werk:??? - Wortlaut? - Unterkat. : Adj. d. Bez.Shakespeare ist reich an solchen beziehungsreichen Beiwörtern:Note: Werke: Kaufmann von Venedig, Wie es euch gefällt, Romeo und Julia - Unterkat. : Adj. d. Bez.

Jch rath 'euch lieber, in den kecksten Farben
Der Lust zu kommen.

Kaufmann von Venedig.

Note: Unterkat. : Adj. d. Bez. William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedighttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vn1w_0
Welch 'eine Bürgerfrau nenn' ich mit Namen,
Wenn ich hehaupt ', es tragen Bürgerfrau'n
Der Fürsten Aufwand auf unwürd'gen Schultern.

Wie es euch gefällt.

Note: Unterk. : Adj. d. Bez. William Shakespeare: Wie es euch gefällthttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vn1b_0
140
Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote
Des Himmels dem erstaunten, über sich
Gekehrten Aug 'der Menschensöhne, die
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun
Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken.

Romeo und Julie.

Note: Unterkat. : Adj. d. Bez. William Shakespeare: Romeo und Juliahttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vndf_0

Die trägen Wolken (lacy-pacing clouds) sind es hier nur im Gegensatze zu dem beschwingten Boten des Himmels (winged messenger)! Note: Unterkat. : Adj. der Bez. William Shakespeare: Romeo und Juliahttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vndf_0Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine sinnliche Eigenschaft einem geistigen Subject unterschieben. Note: Unterkat. : Adjektiv der BeziehungEinige Wendungen dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei übersieht z. B. glühende Leidenschaft, heller Sinn, brütender Gedanke, unergründlicher Schmerz. Note: Unterkat. : Adjektiv der BeziehungDingelstedt spricht von strohbedeckter und begnügter Stille, Note: Dingelstedt? impl. Werk:??? - Wortlaut?Shakespeare von frostiger Warnung (Richard II. ), von verwirrten Tagen und faulen Zeiten (Heinrich IV.);Note: William Shakespeare: König Richard IIhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vmw0_0William Shakespeare: König Heinrich IVhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vnj5_0

O glänzende Zerrüttung, gold'ne Sorge.

(Heinrich IV.)

Note:
Doch eh 'die Kron', um die er wirbt, in Frieden
Die Schläf 'ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen
Von zehentausend Muttersöhnen übel
Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln
Die Farbe ihres mädchenblassen Friedens
Jn scharlach'ne Entrüstung.

(Richard II.)

Note:

Hier liegt in den Adjectiven eine allegorische Kraft. Wir sehen den Frieden als ein blasses Mädchen, ihm gegenüber die scharlach'ne Entrüstung, die blutrothe Kriegsfurie! Der Dichter kleidet durch diese Adjectiva abstracte Begriffe in sinnliche Farben, aber nur die Beziehungen des Gedankens machen es möglich, daß diese Haupt - und Beiwörter zusammengestellt werden. Note: Ja das Beiwort kann bis zum Gegensatz gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom harmon '- schen Zwist der Töne spricht. (Sommernachtstraum.) Die Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und das Drama.

Auch die Flora der Adjectiva läßt sich auf dem Wege der Zusammensetzung141 durch Neubildungen bereichern, die allerdings nur so bildsamen und formenreichen Sprachen wie der griechischen und deutschen, zu Gesicht stehn. Der Ausdruck gewinnt dadurch an Kraft und Mark. Wenn wir die Participien der Verben, die meistens adjectivisch gebraucht werden und dadurch, daß sie das von ihnen regierte Object mit in sich hineinnehmen und mit ihm ein Wort bilden, eine große Zahl von Zusammensetzungen liefern, mit hinzu rechnen, so erhalten wir mehrere Klassen adjectivischer Komposita.

Erstens: Beiwort und Beiwort vereinigen sich zu einem Worte: blondlockig, leichtbeschwingt, heiligroth (Heine), schwarzflüglicher Tod (Euripides nach Fritze), weißflügliches Kreterschiff (Euripides).

Zweitens: Beiwort und Hauptwort, und zwar kann das Hauptwort die nähere Bestimmung des Beiwortes sein z. B. thränenfeucht für: feucht von Thränen, thauschwer (Platen) für: schwer von Thau, oder das Hauptwort enthält einen Vergleich: marmorblaß für: blaß wie Marmor, löwenbeherzt (Platen), beherzt wie ein Löwe, taubenmild (Heine), mild wie die Taube. Hierin liegt eine wesentliche Kräftigung der Anschaulichkeit des Ausdruckes, indem die Eigenschaft gleichsam mit demjenigen sinnlichen Object zusammenwächst, das sich vorzugsweise durch sie auszeichnet. Hierher gehören nun die activen Participien, die mit dem Accusativ, den sie regieren, ein Wort bilden: weinstocknährend (Platen), leichenwitternd (Heine), schicksalverkündend (Euripides) und die passiven Participien, welche das Substantiv, von dem sie regiert werden, mit in sich aufnehmen: säulengetragen (Schiller), prophetengefeiert (Heine).

Drittens: Das Beiwort oder Participium nimmt eine Adverbial - oder Zahlbestimmung in sich auf: weitgähnend, schluchtwärtslockend, dreinamig, dreigestaltete (Goethe).

Die meisten dieser Adjectivbildungen sind indeß so gewichtig, daß sie sich für die leichteren Gattungen der Dichtkunst unbrauchbar erweisen. Jn einem Liede z. B. würden sie einen alle Grazie erdrückenden Eindruck machen, wie Felsblöcke, die man in einen Blumengarten gewälzt. Jn der Epopöe, in den Chören der griechischen Tragödie, in den Parabasen der Komödie, in den antiken und den ihnen nachgebildeten modernen142 Oden oder Pindarisch freien Rhythmen sind sie dagegen ganz an ihrem Platze, obwohl nicht zu leugnen ist, daß die antikisirenden Oden Klopstock's, Ramler's, Platen's durch die Häufung solcher allzuwuchtigen Eigenschaftswörter, die sie meistens der Spondäen und Molossen wegen bilden, einen schwerfälligen Anstrich gewonnen haben und in einen manierirten Ton verfallen sind. Ueberhaupt gehört viel Tact und Geschmack, Maß und Selbstbescheidung zu diesen Neubildungen. Grünumschränkter Plan, flügeloff'ne Erfüllungspforten (im zweiten Theil des Faust) sind Zusammensetzungen ohne rechte Kraft. Wenn das Hauptwort, mit welchem sich das Beiwort vermählt, einen Vergleich involvirt, so muß der Vergleichungspunkt vollkommen klar sein, wie z. B. taubenmild, marmorblaß, marmorkalt, marmorglatt. Jst dies nicht der Fall: so hat das zusammengesetzte Wort keinen Schwerpunkt. Jn den Wörtern von Anastasius Grün: lenzungeduldig, lenzübermüthig ist die Vergleichung zu fern liegend und gesucht; ebenso in kranzdunkel, das Platen gebraucht; bei einigen Wörtern von Minkwitz wie z. B. fruchtherrlich kann man sich gar Nichts denken. Hier beginnt das Gebiet der hochtrabenden und nichtssagenden Redensarten.

Glücklicher, als die Odendichter von Fach, ist, in Bezug auf die geschmackvolle Adjectivbildung, Heinrich Heine in seinen dithyrambischen Nordseebildern. Wie glücklich sind alle die folgenden Wörter gebildet:

leichenwitternd, seelenschmelzend, seelenzerreißend, zartdurchsichtig, hochgegiebelt, seidenrauschend, stillverderblich, schwarzbemäntelt, flechtengekrönt, feuerberauscht u. s. f.

Das richtig gewählte einzelne Adjectivum genügt zur dichterischen Lebendigkeit der Schilderung! Doch können mehrere nebeneinanderstehende Eigenschaftswörter die Lebendigkeit erhöhn:

Hinaus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Hains.

Auch können sie durch den Kontrast anmuthig wirken:

Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Jhr Himmelstöne, mich im Staube?

Zusammenstellungen, wie: duftig bunt, hastig regsam (Heine),143 unbegreiflich hold geben dem Ausdruck Anschaulichkeit und Jnnigkeit; doch erkälten sie ebenso, wenn sie gezwungen und gesucht sind z. B. drohend mächt'ge Runde, in frevelnd magischem Vertrauen, heimlich kätzchenhaft begierlich (Faust, zweiter Theil). Eine allzugroße Häufung der Adjectiva thut der Klarheit des Styles und des Bildes Eintrag, um so mehr, wenn Synonyma zusammengestellt sind. So ist folgende Stelle von Anastasius Grün fehlerhaft und schwülstig, indem in ihr das Subject, das Meer, von acht Adjectiven fast erdrückt wird:

Unermeßlich und unendlich,
Glänzend, ruhig, ahnungsschwer,
Liegst du vor mir ausgebreitet,
Altes, heil'ges, ew'ges Meer!

Durch solche Häufung von Eigenschaftswörtern, die oft an und für sich gesucht, oft unnöthigerweise in den Superlativ gesetzt sind, zeichnet sich der Styl des zweiten Theils von Goethe's Faust vorzugsweise aus. Da der Dichter das schlagende Beiwort nicht fand, so suchte er die fehlende Qualität durch die Quantität zu ersetzen:

Fort, ihr edlen frohen Gäste
Zu dem seeisch! heitern Feste
Blinkend, wo die Zitterwellen
Ufernetzend leise schwellen!
Du droben ewig-Unveraltete,
Dreinamig-dreigestaltete,
Du Brusterweiternde, im Tiefsten-sinnige,
Du ruhig scheinende, gewaltsam innige!
Verbräunt Gestein, bemodert, widrig,
Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig

Der Superlativ: schnörkelhaftest paßt für all' diese Adjectivbildungen und Häufungen im zweiten Theile des Faust, die ebensoviele Marotten eines altersschwachen Styles sind. Der Superlativ dient in der Dichtung selten dazu, den Positiv zu verstärken; in der Regel giebt er einen steifen, kanzleiartigen Anstrich und erinnert an submissest und devotest. Der zweite Theil des Faust wimmelt von Superlativen, die144 bald unnöthig abschwächen, bald unnöthig hinaufschrauben. Solche Wendungen, wie der grauenvollsten uns'rer Höllen,

Zerrt unnützeste Gespinnste
Lange sie an Licht und Luft,
Hoffnung herrlichster Gewinnste
Schleppt sie schneidend zu der Gruft.

und viele hundert andere sind von einer frostigen Mattigkeit. Eher vermag der Komparativ den Ausdruck zu verstärken, man denke an Klopstock's:

Und die Stille ward stiller

nur nicht, wenn er mit jener maaßlosen Verschwendung angewendet wird, mit der ihn Schiller in einer höchst prosaisch gebauten und logisch nüchternen Periode seiner Künstler fast in jeden Vers streut. Hier bildet er eine eigene Art des grammatischen Schwulstes:

Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,
Je höhre, schönre Ordnungen der Geist
Jn einem Zauberbund durchflieget,
Jn einem schwelgenden Genuß umkreist,
Je weiter sich Gedanken und Gefühle,
Dem üppigeren Harmonieenspiele,
Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan,
Je schönre Glieder aus dem Weltenplan,
Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,
Sieht er die hohen Formen dann vollenden,
Je schönre Räthsel treten aus der Nacht,
Je reicher wird die Welt, die er umschließet,
Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,
Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht.
Je höher streben seine Triebe,
Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe.
So führt ihn in verborgnem Lauf
Durch immer reinre Formen, reinre Töne
Durch immer höhre Höhe und immer schönre Schöne.
Der Dichtung Blumenleiter still hinauf.

Man weiß in der That nicht, ob jene Goethe'schen Superlative oder diese Schiller'schen Komparative unerträglicher sind. Was nun das Zeitwort betrifft, so können wir uns bei seiner Betrachtung kürzer fassen. Hier ist die Hauptregel für den Dichter, Verba zu wählen, welche nicht145 zu abstract verklingen, sondern sinnliche Anschaulichkeit und Lebendigkeit haben; Zeitwörter, die für die Sinne malen, z. B. irgend einen Klang für das Ohr darstellen, indem der deutsche Sprachschatz an ihnen außerordentlich reich ist. Eine Häufung von Verben kann einen onomatopöischen Anstrich hervorbringen, wie in dem bekannten Gedicht von August Kopisch: Die Heinzelmännchen oder in jener Stelle der Walpurgisnacht :

Das drängt und stößt, das rauscht und klappert,
Das zischt und quirlt, das zieht und plappert,
Das leuchtet, sprüht und stinkt und brennt,
Ein wahres Hexenelement!

Die größere Anschaulichkeit wird erreicht, wenn das Verbum dem Subject, das Gedanken oder Empfindungen ausdrückt, einen sinnlichen Zustand oder eine sinnliche Thätigkeit zuschreibt:

Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein.

(Goethe.)

Das Herz zerbricht in mir.

(Goethe.)

oder umgekehrt, wenn einem sinnlichen Subject ein geistiger Zustand oder eine geistige Thätigkeit zugeschrieben wird:

Jm Winde bebt das Rohr.

(Lenau.)

Wo verdorrte Disteln nicken.

(Sallet.)

Das Grün des Frühling's mühte
Sich mit vergeb'nen Mühn.

(Rückert.)

Das Verbum gewinnt Kraft und Frische und Neuheit, wenn es die Bestimmung, statt sie als ein todtes Vorwort vor das regierte Substantivum zu setzen, in sich hineinnimmt. Statt zu sagen: des Sturmes Gesang tönt durch die glühende Wüste ist es kräftiger, mit Lenau zu sagen:

Des Sturmes Gesang durchtönt die glühende Wüste
*)Sallet im Prometheus sagt: die Flamme mußte sie durchrasen, Gottes Odem sollte sie durchleuchten. Ebenso Neubildungen mit ver, ent, zer: ich habe mein Leben verträumt und vertrauert (Chamisso), das Schattenbild zerflittert (Dingelstedt), mit um: umzischt von der Meerfluth (Freiligrath); umflort von eitlem Glaß (Lenau); umwölbt vom Portal (Geibel);
*).
146

Man vergleiche in demselben Gedicht: Glauben, Wissen, Handeln:

Flog mir an's Herz, das ihm entgegendrang.
Wo uns von ihm jed 'Blümchen auf der Wiese
Ein Liebeszeichen froh entgegenhält.
Erwacht und Gottes süßen Namen singt
Und aus der Brust zu ihm hinüberdringt
Wo der Sturm, ein trunkener Sänger Gottes dahinbraust.

Durch die Fähigkeit des deutschen Zeitwortes, mit den verschiedensten Bestimmungswörtern zusammenzuwachsen, wird es den Dichtern möglich, aus ihm eine neue und reiche Flora von Wort-Varietäten zu ziehen. Ueber die Zusammensetzung des Participiums mit Hauptwörtern oder Beiwörtern haben wir schon oben bei den adjectivischen Bestimmungen gesprochen.

Was schließlich die Partikeln betrifft, so kommt ihnen in der dichterischen Rede nur ein sehr bescheidenes Plätzchen zu. Denn gerade der logische Zusammenhang, den sie bezeichnen, und der sich in der Prosa gern so klar wie möglich geltend macht, muß in der Poesie mehr herausgefühlt, als ausdrücklich angezeigt werden. Solche doktrinaire Verbindungswörter, wie daher, also, mithin, folglich, dennoch, insofern, insoweit, dagegen weil, überhaupt u. s. f. müssen aus der Poesie gänzlich verbannt werden. Zeitbestimmungen mit nachdem auszudrücken, ist ebenfalls schwerfällig und undichterisch. Wenn der Poet ein je gebraucht, so muß er es vermeiden, ein gewissenhaftes desto darauf folgen zu lassen, lieber je wiederholen, nur nicht in dem störenden Uebermaaß, wie es die oben angeführte Stelle aus Schiller's Künstlern zeigt. Die einfachste Partikel: und ist wegen der Unscheinbarkeit und Leichtigkeit der Verbindung für den Dichter die günstigste, sodaß man ihre häufige Wiederholung unter dem Namen: Polysyndeton zu den Figuren gerechnet hat. Jn der That machen alle guten Dichter von dieser Figur einen häufigen Gebrauch:

*)der Strahl umspielt dein Haar (Geibel); mit ab: kein hirnlos Lieblingsliedlein abzuklimpern (Sallet); mit auf: aufschwirrt der Wasservögel Schaar (Gottschall); mit über: Verderben überflammt den Port (Gottschall) u. s. f.
*)147
Und es wallet und siedet und brauset und zischt.

(Schiller.)

Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Und herrschet weise
Jm häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen,
Und wehret dem Knaben
Und reget ohn 'Ende
Die fleißigen Hände,
Und mehrt den Gewinn
Mit ordnendem Sinn u. s. f.

(Schiller.)

Durch das Polysyndeton wird eine größere Lebhaftigkeit des Ausdruckes erreicht, die aber dann in's Schleppende verfällt, wenn die einzelnen verbundenen Satzglieder zu weitgedehnt sind. Durch das Weglassen des Und an Stellen, wo es die Prosa setzen müßte, eine Figur, die man Asyndeton genannt hat, gewinnt die Rede größere Kürze und Energie:

Wandle, strebe, dulde, schweige.

(Zedlitz.)

Kochend wie aus Ofens Rachen
Glühn die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Thiere wimmern
Unter Trümmern,
Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet.

(Schiller.)

Störend und im höchsten Grade abschwächend wirken die kleineren Verbindungswörter nun, ja, wohl u. a., wo sie ohne innere Nöthigung zur Ausfüllung des Metrums gebraucht werden, am störendsten, wenn sie in die Thesis oder an das Ende der Verszeile gesetzt sind oder gar den Reim bilden helfen. Ueberhaupt schließt die Anschaulichkeit und Lebendigkeit, welche der dichterische Ausdruck erstrebt, alle Wörter aus, welche nur eine syntaktische Bedeutung haben oder in der Prosa einen kunstvoll verschlungenen Periodenbau aufbauen helfen. Die dichterische Syntax ist kühn, naturwüchsig, kurz, haßt große Perioden und weitschweifige Verbindungen, liebt die Sprünge, die Lücken, läßt zu Ergänzungen Raum und kann daher die vermittelnden Partikeln ebensowenig brauchen, wie die unnöthigerweise ausfüllenden Wörter.

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Zweiter Abschnitt. Bilder und Figuren.

Wie das Kunstwerk überhaupt in der schönen Mitte zwischen Geist und Sinnenwelt liegt: so strebt auch der dichterische Ausdruck diese Mitte darzustellen, indem er sowohl das Geistige versinnlicht, als auch das Sinnliche vergeistigt. Dies geschieht durch das Bild, welches daher kein müßiger Schmuck der Rede, sondern eine innere Nothwendigkeit des dichterischen Schaffens ist. Das Bild ist nur die Abbreviatur dessen, was die Dichtung im Ganzen und Großen ist. Die ganze Sprache ist, auch in ihren abstrakten Wendungen, ein Schatz abgeblaßter Bilder, die ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung so verloren haben, daß man bei ihrem Gebrauch sich nicht mehr derselben erinnert, z. B. begreifen, entfalten. Sobald der Mensch sich mehr nach innen wendet und immer neue Welten des geistigen Lebens entdeckt, überträgt er unwillkürlich die Bezeichnungen der realen Welt auf die Gegenstände jenes idealen Reiches. Derselbe Jnstinkt, der die Sprache in ihrem Entwickelungsgange bestimmt, bestimmt auch den Dichter in seinem begeisterten Schaffen. Er sucht nicht nach Bildern; sie strömen ihm zu, ebenso wie Vers und Reim ihn tragen, ihn inspiriren, nicht hemmen und lähmen. Er denkt, nicht blos in Tönen, wie der Dichter sagt, sondern auch in Bildern Rhythmus und Reim sind die Musik, das Bild ist die Malerei der Sprache.

Die Lehre von den Bildern und Figuren ist mit einem Aufwande von großem Scharfsinne und mühseliger Gelehrsamkeit bis in's Einzelne ausgebildet worden. Während Aristoteles, Cicero, Quinctilian nur einzelne zerstreute Winke über den bildlichen Ausdruck geben, haben spätere Rhetoren und Grammatiker nicht blos alle einzelnen Blumen aus dem Kranze der Sprache herausgerissen, sondern auch diese Blumen selbst wieder zerrupft und zerpflückt und jedes Blumenblättchen einzeln in ihr rhetorisches Herbarium gelegt. Ueber dieser Zerfaserung aller erdenklichen sprachlichen Wendungen, wie sie z. B. im dritten und vierten Buche von Scaliger's Poetik oder in der Figurenlehre des Johannes Bentzius zu finden ist, verliert man die Hauptgesichtspunkte, das Wesentliche und Unwesentliche, ganz aus den Augen, indem dieser haarspaltende149 Scholasticismus, der selbst die gefrorenen Blumen der Grammatik und Syntax mit in seinem Register führt, über der mikroskopischen Feinheit der Unterschiede ganz ihre tiefere Begründung vergißt*)Scaliger (Poetices liber III. cap. XXIX. u. flgde. ) zählt, nachdem er sich gerühmt, der erste zu sein, der die Figuren in bestimmte Rubriken gebracht, u. a. folgende auf: significatio, demonstratio, sermocinatio, attemperatio, moderatio et correctio, asseveratio, conditio, exclamatio, repetitio, frequentatio, acervatio, celeritas, evasio, commoratio, coniunctio, attributio, anticipatio, assimilatio, exemplum, imago, translatio, collatio, comparatio, retributio, substitutio, allegoria, praescriptio, agnominatio und so mit Grazie noch durch 30 weitere Kapitel; Joannes Bentzius in seinen: de figuris libri duo 1594 ist ebenso unerschöpflich in verwirrender Aufzählung. Mit mehr Takt, Geschmack und Beschränkung verfährt Marcus Rambler in: Elocutionis rhetoricae libri duo (1598).. Später ist diese Lehre von den Tropen und Figuren eher vernachlässigt worden und auf einige Gemeinplätze beschränkt, die bei der Tageskritik in Curs blieben. Sie bedarf einer gründlichen Reform, zu der leider die Grenzen, die diesem Werke vorgezeichnet sind, nicht den genügenden Raum gewähren**)Eine solche Reform ist neuerdings versucht worden von Guethe: Ueber die wirklichen und scheinbaren Fehler der bildlichen Darstellung überhaupt und der Metapher insbesondere (1844); sie enthält manches Beherzigenswerthe, obgleich sie sich ebenfalls auf zu feine Distinktionen einläßt und in ihren Rechtfertigungsgründen des scheinbar Verfehlten zu weit geht..

Man unterscheidet zunächst Bilder und Figuren, und zwar, indem man unter den ersteren alle jene Wendungen versteht, in denen das Wort nicht in seiner eigentlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung gebraucht wird, unter den letzteren alle anderen, vom Gewöhnlichen abweichenden Wendungen der Sprache und des Gedankens. Doch scheint uns diese Erklärung des Unterschiedes nicht durchgreifend genug, indem z. B. die Vergleichung, die Nichts ist, als ein ausgeführtes Bild, nicht zu den Bildern gerechnet werden könnte, weil in ihr keine Uebertragung vorkommt. Wir verstehen, dem Wortlaut gemäß, unter Bild die Belebung des Ausdruckes für die Phantasie, welche das Sinnliche entweder mittelbar oder unmittelbar vergeistigt, das Geistige versinnlicht, eine Erscheinung durch die andere erhellt, während die Figur (von den Griechen schonοχήμα genannt) die Belebung des Ausdruckes für die150 Empfindung und den Verstand ist, welche den Gedanken durch bestimmte Formen der Stellung und Wendung lebendiger und eindringlicher macht. Das Bild geht aus der Jntuition des Dichters; die Figur aus seinem Pathos hervor. Der unendliche Reichthum der Beziehungen, der für die Menge versteckt, für den Dichter offenbar ist, ruft das Bild hervor. Weil der Genius im Centrum der Welt ist, sieht er Alles, auch das scheinbar Entlegenste, in innigem Zusammenhang und schaut in zwei Dinge ein Drittes, eine höhere Gemeinsamkeit hinein. So überwindet er die Starrheit und Gebundenheit der Materie und ihre Fremdheit, dem Geiste gegenüber, und umgekehrt, die Gleichgültigkeit der Erscheinungen gegeneinander; er bewegt die todte Welt durch den lebendigen Fluß seines Denkens und Empfindens. Das Bild ist der lebensvolle Exponent für die Verhältnisse der geistigen und Erscheinungswelt, ein Exponent, den nur der Dichter findet. Die Figur dagegen stellt nur die Ausdrücke in bestimmte Schemate der Rede, welche von den Rhetorikern nicht erfunden sind, sondern nur von der Empfindung und Leidenschaft. Das Bild ist sachlich, die Figur nur sprachlich, das Bild poetisch im engeren Sinne, die Figur mehr rhetorisch. Deshalb haben die Rhetoriker die ganze wuchernde Flora von Figuren klassificirt, den Bildern dagegen nur eine geringe Aufmerksamkeit zugewendet.

A. Bilder.
1. Die Vergleichung.

Die Vergleichung stellt die verglichenen Gegenstände ausdrücklich nebeneinander. Das Bild, das sie neben den Gegenstand setzt, wird mit Behagen ausgemalt, und zwar nicht blos in jenem Zuge, welcher das tertium comparationis bildet, sondern auch in anderen Zügen, welche mit ihm in keinem Zusammenhang stehen.

Die Vergleichungen, welche Cicero lumina orationis, die Lichter der Rede, nennt, mögen in der Prosa oft zur Erläuterung dienen, indem sie durch irgend eine Analogie den aufgestellten Satz einleuchtender machen. Die vergleichende Thätigkeit des Verstandes, welche die den Gegenständen gemeinsamen Bestimmungen erfaßt und den einen durch den andern erhellt, bedarf indeß gerade jener Schärfe und Präcision, welche dem freien Spiel der dichterischen Phantasie bei ihren Gleichnissen entbehrlich151 ist. Denn wenn auch die dichterische Vergleichung ein helleres und lebhafteres Licht auf den Gegenstand fallen läßt, so hat doch das Bild in ihr seinen selbstständigen Reiz, und gerade dadurch unterscheidet sie sich von den anderen bildlichen Wendungen. Das tertium comparationis ist hier nicht blos ein Punkt der Vergleichung, sondern auch ein Punkt der Verknüpfung für zwei Anschauungen, wodurch es dem Dichter möglich gemacht wird, den Kreis seiner Schilderung zu erweitern und jenes freieren Schwunges der Phantasie zu genießen, der Nahes und Fernes verknüpft. Giebt nicht die epische Vergleichung dem Sänger der Jlias ein anmuthiges Recht, das von den blutigen Bildern der Schlacht ermüdete Auge auf irgend einem stilleren idyllischen Bilde ausruhen zu lassen, das uns eine Scene aus dem Thierleben oder aus dem Lebenskreise des Landmannes in heiterem, landschaftlichem Rahmen entrollt? Und verweilt Homer nicht bei dieser idyllischen Schilderung mit dem ausruhenden Behagen eines Rossetummlers, der sein entschirrtes Gespann, matt vom Kampfe, auf fröhlicher Weide grasen läßt? Nicht zur Verschönerung des Ausdruckes, sondern zur Bereicherung der Anschauungen dient die Vergleichung.

Hieraus geht schon hervor, daß dies verweilende Bild vorzugsweise der verweilenden Dichtgattung, dem Epos, angemessen ist, und wieder vorzugsweise dem antiken Epos, weil die Vergleichung als das plastische Bild dem plastischen Style des Alterthums entspricht. Ja man könnte das antike Epos, besonders die Jlias, mit dem Schilde des Achilleus selbst vergleichen, da sich, wie um diesen die heiteren Reliefs des Bildners, um dasselbe ein Kranz plastischer Vergleichungen hinzieht. Auch das neuere Epos folgt in Bezug auf behagliche Ausmalung dem antiken Muster:

Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne
Sie noch einmal in's Aug ', die schnellverschwindende, faßte,
Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens
Schweben siehet ihr Bild, wohin er die Blicke nur wendet,
Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben:
So bewegte vor Hermann die liebliche Bildung des Mädchens
Sanft sich vorbei und schien dem Pfad in's Getreide zu folgen.

Goethe, Hermann und Dorothea.

Diese Vergleichung giebt uns zugleich ein schlagendes Beispiel von152 der selbstständigen Ausmalung des Bildes. Hermann sieht Dorothea einen Weg in's Getreide verfolgen das ist das unmittelbare Bild, das uns der Dichter vorführt. Jn dem Bilde der Vergleichung dagegen, das sich daran knüpft, haben wir sogar eine ganz verschiedene Scenerie, dunkle Gebüsche, Felswände; es ist, selbst was den eigentlichen Vergleichungspunkt betrifft, in einer erweiternden Weise ausgeführt; kurz, es ist wie ein zweites Bild an das erste geheftet. Das ist das Wesen der echten, epischen Vergleichung. So vergleicht Homer das Blut, das dem Menelaos über die Schenkel fließt, mit dem Purpur, mit welchem das Elfenbein gefärbt wird; aber er begnügt sich nicht damit, den Vergleichungspunkt der Farbe hinzustellen; er giebt ein vollkommenes, mit vielen einzelnen Zügen ausgestattetes Genrebild. Wir sehen Frauen aus Mäonien oder Karien Elfenbein mit Purpur färben zum Gebiß der Pferde; wir sehen dies Elfenbein verwahrt in der Kammer liegen, obgleich viele Reiter es zu tragen wünschen; verwahrt für einen König als Schmuck dem Roß zur Zierde, dem Reiter zum Ruhme. Jn der That vergessen wir hierüber die Wunde des Menelaos; aber liegt nicht in diesem Vergessen gerade ein eigenthümlicher Reiz, jene echt epische Beruhigung, welche durch einen weiten, Vieles zugleich schauenden Weltblick hervorgerufen wird?

Die Bilder aus dem Thierreiche liegen einer naiven Weltanschauung am nächsten. Sie glaubt die Vorzüge ihrer kämpfenden Helden zu erheben, wenn sie dieselben mit den Vorzügen der Koryphäen der Thierwelt vergleicht. Jn der That repräsentirt jedes Thier eine Eigenschaft in einem so hervorragenden Grade, daß die Fabel es wagen kann, das Thier für diese Eigenschaft zu setzen. Firdusi sagt sehr naiv:

Kein Mensch ist er, dem Elephanten
Vergleich 'ich diesen niemals Uebermannten.

Homer vergleicht den Achilleus mit einem Löwen u. s. f. Jm Uebrigen aber entnimmt er seine Vergleichungen dem ganzen Kulturleben seiner Zeit, ein nachahmenswerthes Muster für die Epiker aller Zeiten, welche in den Vergleichungen noch ein Mittel finden können, das Kulturgemälde, das zu entrollen ihre Aufgabe ist, zu vervollständigen. Da es indeß der Charakter der epischen Vergleichung mit sich bringt, daß sie sowohl die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Object der Handlung153 ablenkt, als auch einen größeren Raum für ihre selbstständige Entfaltung in Anspruch nimmt: so ist gerade hier dem Dichter die größte Sparsamkeit in Bezug auf ihre Anwendung anzurathen, indem eine Häufung so ausgeführter Vergleichungen das Epos schleppend machen und das Jnteresse des Lesers verwirren würde. Jn dieser künstlerischen Oekonomie ist Goethe im Hermann und Dorothea mit preiswürdigem Beispiele vorangegangen.

Jm Gegensatz hierzu finden sich Vergleichungen mehr lyrischer Art gehäuft bei den orientalischen und spanischen Dichtern bis zu verwirrender und blendender Pracht. Die reiche Phantasie erfreut sich an ihrem eigenen kaleidoskopischen Spiel und triumphirt, indem sie einen Stein nach dem andern an ihren blitzenden Schmuck reiht und dabei alle erdenklichen Kombinationen durchläuft. Hierzu kommt, daß die orientalische Weltanschauung, in gährender Natursymbolik befangen, das Subject durch eine Fülle von Prädikaten der Erkenntniß näher zu bringen sucht und eine Menge von Vergleichungen wie Kerzen vor dem einen Bilde ansteckt, die indeß mehr blenden als erleuchten. Man vergleiche nur den Firdusi, das Hohe Lied und selbst die Dramen Calderon's. Wenngleich die hebräische Poesie im Ganzen in ihren Vergleichungen kürzer und schlagender ist, als das griechische und römische Epos: so finden sich doch auch in ihr Stellen, in denen das vergleichende Bild Nebenbestimmungen ausführt, die durchaus selbstständig sind und nicht dazu dienen, die Aehnlichkeit mit dem verglichenen Bilde zu vervollständigen. So wenn es im Hohen Liede heißt: Dein Haus ist wie der Thurm David's mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilde hangen und allerlei Waffen der Starken. Deine zwo Brüste sind zwo junge Rehzwillinge, die unter Rosen weiden, bis der Tag kühle werde und die Schatten weichen.

Wenn die epische Vergleichung die Anschaulichkeit erhöht: so sucht die lyrische mehr auf die Stimmung zu wirken. Sie erreicht dies, indem das tertium comparationis bei ihr mehr innerlicher, als äußerlicher Art ist, mehr der Empfindung, als der Anschauung einleuchtend. Am vortrefflichsten sind Vergleichungen, in denen sich Beides vereinigt:

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Der Buchenwald ist herbstlich schon geröthet,
Sowie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben,
Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben.
Das Bächlein zieht und rieselt kaum zu hören
Das Thal hinab, und seine Wellen gleiten,
Wie durch das Sterbgemach die Freunde schreiten,
Den letzten Traum des Lebens nicht zu stören.

Lenau.

Jn diesen schönen Vergleichungen ist nicht nur das tertium comparationis durch seine sinnliche Wahrheit einleuchtend, sondern die Bilder hauchen selbst jene melancholische Stimmung aus, welche die Einheit des ganzen Gedichtes ist. Das Dichtergemüth, das in eine bestimmte Situation versenkt ist, wird von selbst zu Vergleichungen greifen, welche aus ihr hervorgehn und z. B. das Naturbild mit der Stimmung der Seele verknüpfen. So singt Meissner am Meere :

Kaum daß ein leises Weh
Durchgleitet mein Gemüth,
Wie durch die stumme See
Ein weißes Segel zieht.

Jn den Vergleichungen Ossian's herrscht eine aller plastischen Anschauung widersprechende Gleichsetzung des Naturbildes und der Gemüthsstimmung, und zwar ist es bei ihm selten die Thierwelt, meist die landschaftliche Natur mit ihrer wechselnden Beleuchtung, welche ihm den Stoff seiner Bilder giebt. Wenn Homer seine Helden mit den Löwen, Firdusi mit den Elephanten vergleicht: so vergleicht sie Ossian mit der Sonne, mit der Wolke, mit dem Nebel. Nur ein Gemüth, das bereits seine eigene Stimmung in die Natur hineingeschaut, kann solche Bilder wieder aus ihr herausgreifen. Wenn z. B. Ossian sagt: Angenehm sind die Worte des Gesanges und lieblich sind die Geschichten vergangener Zeiten. Sie sind wie der Thau des Morgens auf dem Rehhügel, wenn die Sonne schwach auf seiner Seite schimmert und der Teich unbewegt und blau in dem Thale steht so liegt hier das tertium comparationis in der melancholischen Lieblichkeit des Eindruckes, die rein subjektiver Art ist, und nur in einem Nebenzug, im schwachen Schimmer der Sonne, liegt ein Halt für die Anschaulichkeit des Bildes.

155

Jm Drama sind ausgeführte Vergleichungen ein offenbarer Fehler, weil sie die innere und äußere Handlung hemmen. Auch die Rechtfertigung Hegel's, daß ein Gemüth, das sich ihnen hingiebt, sich dadurch als eine edle Natur zeige, die über der bestimmten Leidenschaft und Situation steht, scheint uns gesucht. Shakespeare ist zwar reich an Vergleichungen; aber diese Vergleichungen sind eigentlich nur aufgeblätterte Metaphern! Sie haben alle unmittelbare Schlagkraft, und niemals, selbst in den Zuständen der Reflexion, läßt sich der große Dramatiker auf jene epische Vergleichungsweise ein, welche im Ausmalen der Nebenbestimmungen schwelgt. Jeder Zug ist zugleich eine schlagende Beziehung, und dadurch ist das Behagen der eigentlichen Vergleichung aufgelöst. Note:

2. Die Metapher.

Die Metapher ist eine koncentrirte Vergleichung, bei welcher statt des Gegenstandes, der verglichen wird, unmittelbar derjenige gesetzt wird, mit dem die Vergleichung Statt findet eine kühne Metamorphose der Phantasie*)In totum autem metaphora brevior est similitudo, eoque distat, quod illa comparatur rei, quam volumus suprimere, haec pro ipsa re dicitur. Quint. VIII. 6. 9.. Auf der Metapher beruht vorzugsweise Anmuth, Kraft und Glanz der Rede**)Metaphora cum ita est ab ipsa nobis concessa natura, ut indocti quoque ac non sentientes ea frequenter utantur, tum ita iucunda atque nitida, ut in oratione quamlibet docta, proprio tamen lumine eluceat. Quint. VIII, 6, 4.;Note: Verweis auf Quintilian in Fußnote, darum als paraphras. Sekundärlit. annotiertQuintilianVIII, 6, 4http: / / data. perseus.org / citations / urn: cts: latinLit: phi1002. phi0018.perseus-lat1: pr. 6wie sie selbst im gewöhnlichen Leben, in der Redeweise des Volkes, in den Ausbrüchen der Leidenschaft in Anwendung kommt, so strömt sie einer reichen Phantasie auch im reichen Maaße zu, ohne Zwang und Gewaltsamkeit. Note: Sie ist das dichterische Bild κατ 'ἐξοχήν, und die überwiegende Mehrzahl der von den Dichtern angewendeten Bilder muß zu den Metaphern gerechnet werden. Note: Wir haben oben gesehen, wie die Sprache selbst reich ist an inkarnirten Metaphern, die ihre sinnliche Blüthe bereits gegen ihre geistige Bedeutung verloren haben; wir haben Adjektiva und Verba von metaphorischer Kraft erwähnt. Der naive Vorgang der Sprach-Entwickelung selbst beweist zur Genüge, daß die Metapher nicht eine leere Zierde des dichterischen Ausdruckes, sondern eine innere Nothwendigkeit desselben ist. 156Schon die prosaische Rede kann durch die Metapher, wenn sie richtig und schlagend angewendet ist, an Energie und Kürze gewinnen. Sie ist eine geistvolle Abbreviatur, und die Schriftsteller, welche reich an Metaphern sind, gehören wahrlich nicht zu den weitschweifigen. Für die Dichtung aber ist die Metapher die wahre Blume des Ausdruckes, nicht im Sinne eines müßigen, hineingewirkten und gestickten Schmuckes, sondern als der nothwendige und schöne Höhepunkt seiner Entfaltung. Note: Wozu, könnte man fragen, die Vertauschung des eigentlichen Ausdruckes mit dem uneigentlichen, da jener doch größere Klarheit und Deutlichkeit besitzt? Will die dichterische Rede sich blos durch diesen äußerlichen Zierrath von der prosaischen unterscheiden, sich künstlich über dieselbe erheben? Oder soll dieselbe Neigung der müßigen Phantasie, die sich im Errathen des Rebus und des Räthsels ein Fest bereitet, auch auf dem Gebiete der Dichtkunst durch die Metapher befriedigt werden? Nein, nicht äußerliche Rücksichten bestimmen den Dichter, die Metaphern in seinen Werken etwa so anzubringen, wie man bunte Laternen in einem illuminirten Garten an die Bäume hängt; auch wäre die Metapher fehlerhaft, die man wie ein Räthsel errathen müßte, die nicht ihre Bedeutung klar auf der Stirne trüge! Eine innere Nöthigung treibt die Phantasie zu dieser Vertauschung von Bild und Bedeutung, zu dieser unmittelbaren Versinnlichung des Geistigen und Vergeistigung des Sinnlichen, zu dieser beziehungsreichen Verwechslung der Erscheinungen. Jedes Dichtwerk ist ein bedeutungsvolles Bild, und was das Dichtwerk im Großen, ist die Metapher im Kleinen. Man kann die Metapher nur für überflüssig erklären, wenn man die Poesie für überflüssig erklärt. Note: Jhre innere Nothwendigkeit für den Dichter zeigt schon der Dichtproceß selbst oder wer wollte glauben, daß ein Shakespeare mühsam auf die Metaphernjagd ausgegangen? Wer weiß nicht, daß der echte Dichter in Bildern denkt, daß sich ihm Alles unter der Hand in Metapherngold verwandelt? Note: Man wird uns Homer, Sophokles und Goethe als Dichter, die an Metaphern arm sind, anführen;Note: Wertung nicht annotierbarman wird sie den orientalischen Poeten, den Hymnensängern und Propheten der Bibel, einem Aeschylos und Pindar, einem Calderon,Note: Personen: orientalische Poeten, Hymnensänger und Propheten der Bibel, Aeschylus, Pindar, CalderonShakespeare und Jean Paul und den modernen Lyrikern, besonders der österreichischen Dichterschule, entgegenstellen, bei denen allen die Metapherflora in üppigster Blüthe steht. Note: Personen: Shakespeare, Jean Paul, moderne Lyriker, österreichische DichterschuleAber abgesehn davon, daß sich auch bei157 jenen großen Poeten Metaphern finden, die im streng plastischen und epischen Styl durch die Vergleichung und Personifikation ersetzt werden können wird jede Dichtung, in welcher Empfindung und besonders der Gedanken vorwiegt, die Metapher nicht entbehren können,Note: Anwendung der Metapher (Annotation?)wie auch Goethe in seiner metapherreichsten Dichtung, dem Faust, bewiesen! Note: Anwendung der Metapher (Annotation?)Die bloße Deutlichkeit des Gedankens, der sich nicht mit einem Bilde vermählt, würde zur unpoetischen Nüchternheit werden, und wenn auch die einfache Empfindung des Herzens sich ohne metaphorischen Schmuck mit großer Jnnigkeit aussprechen kann, so ist dies doch auf einen kleineren Kreis von Empfindungen beschränkt, die in ihrer allgemein gültigen Sittlichkeit uns, wenn sie nur erwähnt werden, mit feierlicher Rührung erfüllen. Note: So einfach innig kann man mit Virgil die Gattin und das Vaterland singen*)Man vergleiche z. B. Te, dulcis coniux, te solo in litore secum Te veniente die, te decedente canebatVirg. Georg V. 465. Sternitur infelix alieno volnere, coelumque Adspicit et dulcis moriens reminiscitur Argos. Aen. X. 781. ;Note: hier als Zitat expl. annotiert, weil Zitat in Fußnote (2 Werke)aber schon das naive Volkslied gebraucht, wenn es die Geliebte verherrlicht, beziehungsreichere Wendungen. Note: Werkgr. : VolksliedNatürlich sprechen wir hier immer von der Metapher, die der Genius gebraucht mit Maaß und Takt, ohne Ueberladung; denn ein sinnloses Aufeinanderhäufen derselben kann den künstlerischen Eindruck ganz aufheben. Was aber ihren falschen Gebrauch, ihre Schiefe und Mattheit betrifft: so werden wir hierüber im nächsten Kapitel sprechen. Hier genügt es, hervorzuheben, daß sich alle Vorzüge der Metapher in ihrer Schlagkraft zusammenfassen, indem Sinn und Bild wie von Ewigkeit an mit einander getraut werden. Solche Metaphern sind schöpferisch, und sie bereichern den Sprachschatz. Jn äußerlicher Hinsicht belebt die Metapher den Ausdruck; sie dient zur Verstärkung besonders an Stellen des Affektes und der Leidenschaft, welche selbst eine Häufung der Metaphern vertragen. Entweder vertieft sich das Gemüth in eine Vorstellung, die es in eine Fülle von Bildern auseinanderlegt, oder sein Hinundherschwanken zwischen verschiedenen Vorstellungen prägt sich in diesem Wechsel158 der Bilder aus. Dann giebt die Metapher dem Ausdruck Adel, Würde und vor allem Neuheit, indem die geniale Phantasie gerade durch die Metapher sprachschöpferisch wirkt. Gegen die einfache Deutlichkeit des eigentlichen Ausdruckes giebt die Metapher eine höhere Klarheit, indem sie das Geistige, das blos für den begreifenden Verstand deutlich ist, auch der Anschauung näher bringt, und statt der einfachen Jnnigkeit der Empfindung, die der eigentliche Ausdruck bezeichnen kann, eröffnet sie eine reichere Welt der Stimmung, die aus ihrem Bilde uns anweht. Schließlich kann sie auch als ein Erzeugniß der frei und üppig spielenden Phantasie, in einzelnen Gattungen, besonders im Phantastischen und Komischen, ihr gutes Recht haben, indem wir uns an der glänzenden Taschenspielerei des Witzes erquicken, der alle festen Dinge der Welt in seinem glänzenden Strom mit verflüssigt und, indem er eins in das andere verkleidet, durch diese bunte Fastnacht uns auf das Anmuthigste beschäftigt. Note: Es ist dies die letzte Konsequenz jener uns angeborenen Freude an aufgefundenen Aehnlichkeiten und Vergleichungen, die schon Aristoteles erwähnt, jener Freude, einen Gegenstand im andern wahrzunehmen, die uns zugleich ein stolzes Gefühl von der freien Macht unseres Geistes giebt. Note: impl. Werk:???

Wir können vier Arten von Metaphern, je nach den Gegenständen, die miteinander vertauscht werden, unterscheiden. Note: Die erste Art setzt einen sinnlichen Gegenstand für den andern,Note: z. B. ein Wald von Masten, das Gold der Sonne, und ist besonders der naiven Dichtung eigen. Note: Werkgruppe: naive DichtungJn der Regel findet hierbei eine Art Standeserhöhung statt, indem eine Erscheinung aus einem niedern Kreise, z. B. aus dem unorganischen Leben, in einen höheren, in das organische hinübergepflanzt wirdNote: Werkgruppe: naive Dichtungz. B. die Schärfe meines Schwertes frißt das Hirn des Löwen und trinkt dunkles Blut des Mächtigen. Parturiunt montes Horaz. Note: Horaz: Ars Poetica139http: / / data. perseus.org / citations / urn: cts: latinLit: phi0893. phi006.perseus-lat1: 125-152 Die Woge bäumt sich am Gestade Ossian. Note: impl. Werk:???Heine singt dagegen:

Die blauen Veilchen der Aeugelein,
Die rothen Rosen der Wängelein,
Die weißen Lilien der Händchen klein

Note: impl. Werk:Heinrich Heine: Die blauen Veilchen der Äugeleinhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / pt82_0

und spricht vom vollblühenden Mond.

Wo dichtgewölbt des Geisblatts üpp'ge Schatten
Mit Hagedorn und mit Jasmin sich gatten.

Sommernachtstraum.

Note:
Heinrich Heine: Atta Troll. Ein Sommernachtstraumhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / ptkh_0
159
Schling ', o Strom, deinen blauen Lauf
Durch die enge Fläche von Lutha;
Ueber ihr laß den grünen Hang
Niederhangen vom Hügel;
Laß am Mittag ihn schauen die Sonne,
Dort steht auf dem Felsen die Distel,
Und sie schüttelt im Winde den Bart,
Jhr schwellend Haupt senkt nieder die Blume
Und wogt zu Zeiten im Lufthauch.

Ossian.

Note: impl. Werk:???
Hör ', es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste.

Goethe, Faust.

Note:
The sunbeows rays still arch
The torrent with the many hues of heaven,
And roll the sheeted silvers waving column
O' er the crag's headlong perpendicular.

Byron, Manfred.

Note: George Byron: Manfredhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / ktsm_0
Neigt sich herüber das Mondgesicht,
Lieblich, ein schlafendes Sonnenlicht.

Lingg.

Note: impl. Werk:???
Horch, von den Zweigen träuft der Vögel Sang.

Anastasius Grün.

Note: implizites Werk:Anastasius Grün: Die Muse vor Gerichthttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / p0xz_0

Hierher gehören jene metaphorischen Spielereien der spanischen Dichter, in denen Erd 'und Himmel, Erd' und Wasser, Blumen und Wellen, Sterne und Blumen mit einander verglichen und vertauscht werden, wie z. B. in Calderon's standhaftem Prinzen. Note: spanische Dichter als Personen aufgeführt

Die zweite Art der Metapher vergeistigt das Sinnliche, indem sie der Natur menschliche Empfindungen, Affekte, Thätigkeit und Zwecke unterschiebt,Note: z. B. der Sturmwind zürnt. Note: Diese Metapher ist die einfachste und koncentrirteste Art der Personifikation. Note: Parallelkategorie für diese Form der MetapherUeberreich an ihr sind die orientalischen Dichter, die Sänger der Bibel, OssianNote: Personen: oriental. Dichter, Sänger der Bibel, Ossianund viele moderne Dichter, z. B. Lenau und Grün. Note: Personen: moderne Dichter, Lenau, GrünDer Aufschwung der Hymne und Ode braucht diese Metapher ebenso, wie das stimmungsvolle Gedicht, das in das Naturbild die Seele des Dichters hineinzaubert! Note: Werke: Hymne, Ode, stimmungsvolles GedichtWie beseelen die hebräischen Poeten die Welt mit ihrem Hymnenschwung! Note: Personengruppe: hebräische Poeten - Werkgruppe: HymnenDie Erde freut sich; die Menge der Jnseln ist fröhlich! Note: Personengr. : hebräische Dichter - Werkgruppe: HymnenJesaias läßt die Wüste, die Einöde, die Anger sich freuen, die Tiefe herbeirufen160 die Tiefe mit dem Schall ihrer Fluthen. Note: Person und Werk: Jesaia Die Pest ging vor ihm her; die Wasser sahen dich und erschraken; die Berge sahen dich und zitterten. Note: Person / Werk: JesaiaHierher gehören Wendungen, wie der fundus mendax des Horaz und zahlreiche von uns im vorigen Kapitel angeführte Adjectiva:Note: impl. Werk von Horaz?

Das sterbende Feuer erlosch!

Ossian, Karrikthura.

Note: Person: Ossian - Werk: Karrikthura
Jch sah '
Auf den blaugeschlängelten Atha herab
Von seinem wandernden Nebel.

Ossian, Temora.

Note: Ossian: Temora
Sieh die Bäume hinter Bäumen,
Wie sie schnell vorüberrücken,
Und die Klippen, die sich bücken,
Und die langen Felsennasen,
Wie sie schnarchen, wie sie blasen!

Goethe, Faust.

Note:
Es schweigt der Wind, es flieht der Stern.

Goethe, Faust.

Note:
Und zitternd flieht des Tages letzter Strahl
Der Nacht schon aus dem Wege

Lenau.

Note: Lenau - impl. Werk:???
Scheu floh der Pfad die ungeweihten Tritte
Entschlüpfend in des Dickichts wirre Nacht.

Lenau.

Note: Lenau:???
Where the slumbering earthquake
Lies pillowd on fire

Byron, Manfred.

Note: George Byron: Manfredhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / ktsm_0
Die Thäler singen und die Höhen schweigen,
Die Tannen schauern in der Felsenkluft.

Meißner.

Note: Meißner:???
O tiefe, schwarze Schlucht!
Darin ein Silberfaden!
Ein kleiner Bach versucht
Dein nackt Gestein zu baden.

Gottschall.

Note: Gottschall:???

Die dritte Art der Metapher versinnlicht das Geistige, indem sie den Affekt, die Leidenschaft, die Empfindung, den Gedanken in ein sinnliches Bild kleidet,Note: z. B. der Glanz des Ruhms, die Säule des Staates. Note: Diese Metapher wird vorzugsweise in der Gedankenpoesie und161 im Drama ihren Platz finden, indem sowohl der tiefere Gedanke im Bestreben sich anschaulich zu machen, als auch die Sprache der Leidenschaft zu ihr greifen wird:Note: Werke: Gedankenpoesie, Drama

Der Lichtstrahl der Freude stieg auf in der Brust mir.

Ossian, Temora.

Note: Ossian: Temora
Gram füllt die Stelle des entseelten Kindes,
Legt in sein Bett sich, geht mit mir umher.
Nimmt seine allerliebsten Blicke an,
Spricht seine Worte nach, erinnert mich
An alle seine holden Gaben, füllt
Die leeren Kleider aus mit seiner Bildung.
Drum hab 'ich Ursach' meinen Gram zu lieben.

Shakespeare, König Johann.

Note: William Shakespeare: König Johannhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vnjn_0
Nun ward der Winter uns'res Mißvergnügens
Glorreicher Sommer durch die Sonne York.

Shakespeare, Richard III.

Note: William Shakespeare: König Richard III. https: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vnfd_0
Es nagt der Wurm des Frühlings Kinder an
Zu oft noch, eh 'die Knospe sich erschließt,
Und in der Früh' und frischem Thau der Jugend
Jst gift'ger Anhauch am gefährlichsten.

Shakespeare, Hamlet.

Note: WIlliam Shakespeare: Hamlethttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / vncw_0
Der Morgenthau der Jdeale hat sich zum grauen kalten
Landregen entfärbt.

Jean Paul, Titan.

Note: Jean Paul: Titanhttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / qmqq_0
Was die Ameise Vernunft in Jahren zu Haufen schleppt, jagt in einem
Hui der Wind des Zufalls zusammen.

Schiller, Fiesco.

Note: Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genuahttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / tzgk_0
Dir selbst hast du die größte Gunst erzeigt.
Jetzt schimmerst du in segenvollem Licht,
Der du vorhin in blutroth düsterm Schein
Ein Schreckensmond an diesem Himmel hingst.

Schiller, Jungfrau von Orleans.

Note: Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleanshttps: / / textgridrep. org / browse / - / browse / tz9d_0
Ein Tropfen Haß, der in dem Freudenbecher
Zurückbleibt, macht den Segenstrank zum Gift.

Schiller, Jungfrau von Orleans.

Note: s. o.
Jm großen, ungeheuren Oceane
Willst du der Tropfe dich in dich verschließen?
So wirst du nie zur Perl 'zusammenschießen,
Wie dich auch Fluthen schütteln und Orkane.

Hebbel.

Note: Hebbel - impl. Werk:???
162

Die vierte Art der Metapher setzt ein geistiges Bild für das andere. Jndem sie die Sphären des geistigen Lebens vertauscht, eröffnet sie freiere Perspektiven und ist daher vorzugsweise geistreich zu nennen. Da es ihr indeß an Anschaulichkeit gebricht, so findet sie in der Poesie nur selten Anwendung:Note:

Noch war mein Namen nicht der Welt zur Beute,
Die selten fühlt und oft so lieblos richtet.

Platen.

Note: Platen:???
Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.

Goethe, Faust.

Note:

Jn diesen Beispielen sind Bilder aus der Sphäre des Krieges auf andere geistige Kreise übertragen. Note: Bezug zu: Platen / Goethe -??? / Faust

3. Die Personifikation.

Die Personifikation (Prosopopöia) ist dasjenige Bild, welches dem menschlichen Gemüth am nächsten liegt, und dessen sich schon die Wilden und Kinder bedienen. Ein Kind, das den Tisch, an dem es sich gestoßen, anredet und schlägt, personificirt das todte Meuble, indem es dasselbe wie ein lebendes Wesen behandelt. Durch die Personifikation legen wir also abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen Eigenschaften, Thätigkeit und Sprache bei, wie sie nur der bestimmten menschlichen Jndividualität zukommen. Von diesem Bilde darf man nicht gering denken; denn es ist die Formel der Phantasie, aus welcher die meisten Religionen hervorgegangen. Da es den höchsten Grad anschaulicher Belebung enthält, so hat man es mit Unrecht, dem Beispiele der alten Rhetoriker folgend, zu den Figuren gerechnet; doch diese rechneten zur Personifikation auch schon das Verfahren des Redners, Historikers, Dramatikers und Epikers, welcher andern Personen durch die Rede, die er ihnen in den Mund legt, persönliches Leben und Charakterbestimmtheit giebt.

Wir können drei Arten der Personifikation unterscheiden: die metaphorische, die allegorische und die mythologische.

Die metaphorische ist im Keim schon in der zweiten Art der Metapher enthalten und Nichts, als ihre weitere Ausführung. Sie haucht Dingen der Sinnenwelt und Erscheinungen der Natur ein persönliches Leben ein. 163Wie jedes weiter ausgeführte Bild, hat man auch sie eine Allegorie genannt. Die einfachste Art, das Beilegen einer persönlichen Eigenschaft: der brüllende Sturm, der schweigende Strahl der Sonne, (Ossian), die Erde dürstet nach Regen, haben wir schon oben berührt. Die weitere Ausführung legt dem sinnlichen Ding eine menschliche Thätigkeit bei, welche durch mehrere Momente hindurchgehen und ein an Zügen reicheres Bild entrollen kann. So personificirt Moerike die Nacht:

Bedächtig stieg die Nacht an's Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Jhr Auge sieht die gold'ne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn u. s. f.

und den Fluß:

O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl,
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange!
Er fühlt mir schon herauf die Brust,
Er kühlt mit Liebesschauerlust
Und jauchzendem Gesange.

So geht es mehrere Strophen durch; lebendig ist besonders noch die folgende:

Du murmelst so, mein Fluß, warum?
Du trägst seit alten Tagen
Ein seltsam Märchen mit dir um,
Und mühst dich, es zu sagen;
Du eilst so sehr und läufst so sehr
Als müßtest du im Land umher
Jch weiß nicht wen drum fragen.

Meißner singt:

Jn der Schlucht der Bergstrom tost,
Winkt, als wie mit weißen Händen:
Komm ', o komm, und trinke Trost!

Der höchste Grad der metaphorischen Personifikation ist derjenige, wo der personificirten Erscheinung nicht blos menschliche Thätigkeit beigelegt, sondern wo sie selbst redend eingeführt wird, wie z. B. die Pest in jenem düsterkräftigen Gedicht von Hermann Lingg: der schwarze Tod:

164
Erzittre, Welt, ich bin die Pest,
Jch komm 'in alle Lande
Und richte mir ein großes Fest,
Mein Blick ist Fieber, feuerfest
Und schwarz ist mein Gewande.
Jch komme von Aegyptenland
Jn rothen Nebelschleiern,
Am Nilusstrand im gelben Sand
Entsog ich Gift dem Wüstenbrand
Und Gift aus Dracheneiern.

Diese Art der Personifikation verleiht dem Bilde und dem Ausdrucke die höchste Lebendigkeit und ist echt dichterisch. Von den beiden folgenden Arten läßt sich dies nur mit Einschränkung behaupten.

Die allegorische Personifikation, die eigentliche Allegorie, verwandelt abstrakte Begriffe in Personen und gehört wesentlich der Skulptur und Malerei an. Der Begriff z. B. die Tugend, die Hoffnung, der Glauben, die Sünde wird zur Gestalt, und zwar zur menschlichen Gestalt. Diese Gestalt aber ist an und für sich unfähig, jenen Begriff auszudrücken; die Bedeutung flüchtet daher in das Attribut, in irgend eine beigegebene Aeußerlichkeit, durch deren Andeutung die Phantasie erst auf den rechten Weg geführt wird, was sie sich bei dem Ganzen zu denken hat. Die Gerechtigkeit erhält eine Wage und Binde, der Tod ein Stundenglas und eine Sense. Diese Hilfsmittel der bildenden Kunst hat aber die Poesie nicht nöthig, da sie auf andern Wegen Gestalt und Bedeutung gleich setzen kann. Die Allegorie, die zu solchen äußerlichen Attributen greift, wird daher in der Poesie immer nüchtern und ärmlich erscheinen, während sie bei den bildenden und zeichnenden Künsten der Deutlichkeit wegen unerläßlich ist. Die Allegorie des Horaz in seiner Ode an die Fortuna zu Antium ist von dieser leblosen Art:

Dir bahnt den Weg die harte Nothwendigkeit,
Geschärfte Keil 'und Nägel in eh'rner Hand,
Auch fehlt ihr nicht der Todeshaken,
Noch des geschmolzenen Bleies Marter.

Der Maler darf die Hoffnung mit einem Schiffsanker darstellen oder mit einer Lilie in der Hand, der Dichter niemals! Die Allegorie muß klar sein, in einem durchsichtigen Palaste wohnen, wie ein sinnreicher Poet165 sagt, und vor Allem der Gestalt keine todte und ruhende, sondern eine lebensvolle und bewegte Bedeutung beilegen. Die Furcht, die Hoffnung, die Sorge male der Dichter durch ihre Wirkungen, und ihr persönliches Bild deute er durch einen bezeichnenden Zug an. So führt Goethe im zweiten Theil des Faust den Mangel, die Schuld, die Sorge, die Noth als vier graue Weiber ein. Mangel, Schuld und Noth finden die Thüre verschlossen, weil ein Reicher drinnen wohnt. Die Sorge aber spricht:

Jhr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein,
Die Sorge, sie schleicht sich durch's Schlüsselloch ein!

Das ist geistreich und anschaulich zugleich, ebenso glücklich wie jene atrox cura des Horaz, die sich hinter dem Reiter auf das Pferd setzt. Auch in der Rede, welche die Sorge an Faust richtet, herrscht dichterische Lebendigkeit vor, da sie sich durch ihre Wirkungen malt:

Wen ich einmal nur besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ew'ges Düst're steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter.
Bei vollkomm'nen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle.
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schiebt er's zu dem andern Tage,
Jst der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

Ebenso glücklich ist in jenem Maskenscherz am Hofe des Kaisers die Furcht dargestellt:

Dunst'ge Fackeln, Lampen, Lichter
Dämmern durch's verworrne Fest,
Zwischen diese Truggesichter
Bannt mich ach! die Kette fest!
Fort, ihr lächerlichen Lacher!
Euer Grinsen giebt Verdacht!
Alle meine Widersacher
Drängen mich in dieser Nacht. u. s. f.
166

Dennoch wird durch die Ueberladung mit selbst glücklichen Allegorieen, wie sie in Goethe's späteren Werken herrscht, die Phantasie ermüdet! Sie vergißt nicht, daß sie die Gestalt niemals selbstständig festhalten darf, sondern immer nach dem Schatten des darüber schwebenden Begriffes greifen muß. Denn halt 'ich die Gestalt fest, mach' ich aus der Furcht einen Furchtsamen, so erscheint die Darstellung augenblicklich als Karrikatur! Verfehlt aber ist's, mit Goethe im zweiten Theile des Faust, die Gestalt bald als wirklichen, individuellen Menschen, bald mit einer allegorischen Bezeichnung figuriren zu lassen; sodaß uns der Held selbst auf einmal die romantische Kunst bedeuten soll! Das gehört in die Hexenküche des altgewordenen Goethe, der wohl verstand, seinen Auslegern ein allegorisches Hexeneinmaleins vorzudeklamiren! Dante war mit seinen scholastischen Allegorieen freilich mit schlimmem Beispiele vorangegangen, indem er das herrliche Weib seiner vita nuova in die Theologie verhimmelte! Nicht viel glücklicher war Milton mit seinen Allegorieen z. B. von Tod und Sünde, und Voltaire setzte gar den seinigen in der Henriade ein hölzernes Flugwerk an. Auch in Jordan's Demiurgos herrscht zum Theil eine nach den großen Mustern geordnete, allegorische Verwirrung, und nur die utopische Jdylle des Nirgendheim macht einen erheiternden Eindruck.

Die dritte, die mythologische Personifikation, verwandelt die sinnliche Erscheinung und die Jdee in eine göttliche Persönlichkeit von individueller Lebenskraft, in welcher das Bild nicht, wie in der Allegorie, auf die Bedeutung hinweist, sondern dieselbe unmittelbar enthält. Nachdem die Religionen aus dem Kreise der gährenden Natursymbolik herausgetreten, in welcher Bild und Bedeutung sich nicht deckten, traten sie in das Stadium der Personen bildenden Mythe, welches vor allen durch die griechische Kunstreligion repräsentirt wird. Die Phantasie der Künstler wurde religiösschöpferisch; Homer und Hesiod schufen den Griechen ihre Götter. Jene lebendige Beseelung der Welt durch diese höchste Art der Personifikation hat Schiller in den Göttern Griechenlands zugleich geschildert und angewandt:

Diese Höhen füllten Oreaden,
Eine Dryas lebt 'in jenem Baum,
Aus den Urnen lieblicher Najaden
Sprang der Ströme Silberschaum.
167
Jener Lorber wand sich einst um Hülfe,
Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein,
Syrinx 'Klage tönt aus jenem Schilfe,
Philomela's Schmerz aus diesem Hain.
Jener Bach empfing Demeter's Zähre,
Die sie um Persephonen geweint,
Und von diesem Hügel rief Cythere
Ach! umsonst dem schönen Freund!

Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im Faust, so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern personificirte Natur - und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die Königin Mab des Mercutio. Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen Lebens. Alles, was die Theologie Anthropomorphismen nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die Naturerscheinungen als Thaten des persönlichen Gottes dargestellt werden:

Da bebte die Erde,
Die erschütterte Erde,
Es wankten die Füße der Berge,
Sie erzitterten seinem Zorn.
Er schnaubete Dampf empor,
Verzehrende Gluth
Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag.
Er neigete die Himmel
Und fuhr herab,
Und Dunkel war
Unter seinen Füßen.
Er schwebete auf Cherubim!
Er flog einher
Auf Fittigen des Sturmes u. s. f.

(17ter Psalm nach Stolberg.)

168
4. Die Hyperbel.

Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken zu erheben und zu verstärken. Die Neigung zum Hyperbolischen ist der menschlichen Natur angeboren; es liegt ebenso vielen gewöhnlichen Höflichkeitsformen zu Grunde, wie es einer lebhaften Empfindung, einer glühenden Leidenschaft, jedem von seinem Gegenstand durchdrungenen Gemüth stets zu Gebote steht. Die Hyperbel setzt allerdings eine Versündigung gegen die sinnliche Wahrheit voraus, welche eine Bedingung der künstlerischen Schönheit ist; aber mit der erregten Seele wachsen auch die Dimensionen ihrer Bilder, und der Vergrößerungsspiegel der Begeisterung und der Leidenschaft zeigt Jedem, der hineinsieht, dasselbe Bild. Diese subjective Wahrheit hat in der Poesie dasselbe Recht, wie die objektive. Je heftiger die Leidenschaft, desto grandioser werden ihre Hyperbeln.

Wir unterscheiden zunächst die naive Hyperbel von der Hyperbel der Reflexion. Jn der naiven Hyperbel glaubt die Phantasie selbst an das Uebermaaß der Erscheinung und stellt dies ohne jeden Zusatz als selbstverständlich hin. Diese Hyperbel finden wir in der Symbolik der orientalischen Religionen, besonders der Jndischen, welche durch diese Uebertreibungen des Bildes das Göttliche würdig darzustellen glaubten. Hierher gehören jene hyperbolischen Zahlen der indischen Mythologie. Hundert Jahre lang liegt Sivas mit Umâ in ehelicher Umarmung; Sagaras hat 60000 Söhne, die in einem Kürbiß zur Welt kommen; Ansumao unterzieht sich 32000 Jahre lang den strengsten Büßungen auf dem Gipfel des Himavàn. Jn ähnlicher naiver Weise rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:

Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogen
Des Meers von Tschin wirft einen Pfeil sein Bogen.
Das Krokodil im tiefsten Wasserschlunde,
Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.

Firdusi.

Jhn ergötzte die blutige Schlacht,
Sein Arm war ein Donner des Himmels.

Ossian.

169
Da stürmte heran so dunkel und tief
Mit allen Rossen des Karos Heer,
Vor seinem Laufe versiegen die Bäche,
Die Erde dröhnt und zittert umher.

Ossian.

Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern bedingungsweise hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei Shakespeare. Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:

Ein Paar der schönsten Stern 'am ganzen Himmel
Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen
Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.
Doch wären ihre Augen dort, die Sterne
Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz
Von ihren Wangen jene so beschämen,
Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug '
Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,
Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?

Julie bleibt in ihrem späteren Monolog die hyperbolische Antistrophe nicht schuldig:

Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gieb
Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,
Nimm 'ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn.
Er wird des Himmels Antlitz so verschönen
Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt
Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.

Diese Hyperbeln, zu denen Calderon und die orientalische Lyrik zahlreiche Zusätze geben kann, gehören der zergliedernden Sophistik der Leidenschaft an, dem Scholasticismus der Liebe, der Empfindung, die ihr Uebermaaß in ein freies Spiel der Phantasie ergießt.

Die stumme Kritik des Unmöglichen spricht sich in jenen zahlreichen170 Hyperbeln aus, in denen ein wenn und eh das übertriebene Bild einführt. So wenn Richard II. sagt:

Die Erde fühlt und diese Steine werden
Bewehrte Krieger, eh 'ihr echter König
Des Aufruhrs schnöden Waffen unterliegt.

Mortimer in der Maria Stuart sagt:

Mag der Welten Band
Sich lösen, eine zweite Wasserfluth
Herwogend alles Athmende verschlingen
Jch achte Nichts mehr eh 'ich dir entsage,
Eh' nahe sich das Ende aller Tage.

Jn Massinger's Herzog von Mailand sagt Sforza, indem er eine bekannte Hyperbel des Horaz weiter ausführt:

Und mag der Erde Grund zusammenstürzen,
Und mag des Himmels glanzvoll Aug 'erblinden,
So unterstützt, werd' ich auf den Ruinen stehn
Und rings ein neues Leben suchen.

Und wie Sforza die Liebe zu seiner Gattin, auf die er sich stützt, in dieser Hyperbel ausdrückt, so Dunois die Hoheit der Jungfrau:

Denn alle Fürstenthrone, aufeinander
Gestellt, bis zu den Sternen fortgebaut,
Erreichten nicht die Höhe, wo sie steht
Jn ihrer Engelsmajestät!

Eine ähnliche Wendung der Reflexionshyperbel ist: mir ist, als ob:

Denn mir ist
Als ob der Wüste unmitleid'ge Schaaren,
Des Meeres Ungeheuer mich umständen.

Braut von Messina.

oder die Form des Wunsches:

Daß er noch lebte!
Jch gäb 'ein Jndien dafür

Don Carlos.

O ich möchte den Ocean vergiften, daß sie den Tod aus allen
Quellen saufen! o daß ich durch die ganze Natur das Horn
des Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider
das Hyänengezücht in das Treffen zu führen!

Räuber.

171

Aus allen diesen Beispielen ersehen wir sowohl, daß die Reflexions - Hyperbel ungezwungen aus dem Pathos der Leidenschaft, der Liebe, des Schmerzes, des Zornes hervorgeht, als auch, daß sie stets ein stilles Bewußtsein der Uebertreibung beibehält, indem sie dieselbe in die Form einer unmöglichen Bedingung, eines unmöglichen Wunsches kleidet.

Naive Hyperbeln sind bei den neuen Dichtern seltener; doch kommen sie u. a. bei Grabbe vor, welcher oft in ein einziges Wort eine grandiose Hyperbel legt, z. B.:

Die Windsbraut hat
Den Ocean entwurzelt.

Herzog von Gothland.

Der pathetische Styl ist an Hyperbeln reicher, als der plastische, die Ode reicher, als das Lied, die Tragödie reicher, als das Epos! Am häufigsten finden wir sie bei allen orientalischen Poeten, bei den begeisterten Sängern der Bibel, bei Calderon, Shakespeare, Schiller, Victor Hugo, den neueren Vertretern der originellen Kraftdramatik, besonders Grabbe und Hebbel. Goethe ist arm daran, da der plastische Styl der Schönheit diese gewaltsame Expansion des Bildes nicht verträgt. Darum sind auch die antiken Schriftsteller und Dichter mit Hyperbeln sparsam, und der römische Dichter, bei welchem sie sich am häufigsten finden, Lucan, gehört nicht zu den glänzendsten Vertretern seiner Literatur. Ebenso wie dem Erhabenen wird die Hyperbel auch dem Komischen unentbehrlich sein, ja auch die Hyperbel der Erhabenheit schlägt in's Komische um, wenn das vergrößerte sinnliche Bild die Jdee nicht mit vergrößert. Eine Schreibart, in welcher das Hyperbolische überwiegt und unglückliche Hyperbeln sich mit glücklichen vermischen, wird daher schwülstig erscheinen müssen. Doch gerade jeder mißlungene Sprung des Erhabenen wird das Komische mit einem Beispiele und mit einer Lehre bereichern. Shakespeare und Jean Paul geben zahlreiche Beispiele komischer Hyperbeln:

Er machte schon Komplimente mit der Brust
seiner Mutter, eh 'er sog.

Hamlet.

Jch will das Zauberwort einer günstigen Recension einem knirschenden Wehrwolfe vorhalten: sofort steht er als ein leckendes Lamm mit quirlendem Schwänzchen vor mir. Titan.

172
5. Die Metonymie.

Die Metonymie, ein bei weitem farbloserer und unbedeutenderer Tropus, als die vorhergehenden, ist von den alten Rhetorikern mit einer erschreckenden Ausführlichkeit behandelt worden; ja sie haben, damit nicht zufrieden, einzelne Unterarten der Metonymie, wie z. B. die Synekdoche, wieder zu selbstständigen Tropen gestempelt, um ihrer unerschöpflichen Kasuistik das Vergnügen zu gönnen, mit neuen Aufzählungen wieder von vorn anzufangen.

Die Metonymie setzt einen Gegenstand für den anderen nicht wegen der Aehnlichkeit, wie die Metapher, sondern wegen der Nähe der Beziehungen, in denen sie zu einander stehen. Sie setzt daher eine geistige oder sinnliche Nähe voraus, während die Metapher das entlegenste Bild für ihren Gegenstand setzen kann. Die Metonymie steht dicht an der Grenze, wo das Bild zur grammatischen Figur erblaßt. Sie kann daher niemals die Eigenthümlichkeit einer besonderen Dichtart, eines besonderen Dichters bilden; sie findet sich zerstreut in den verschiedensten Werken der Dichter, Redner und Historiker und ist zum Theile selbst in der gewöhnlichen Umgangssprache im Schwang. Wer z. B. sagt: ich lese Schiller, statt Schiller's Werke, oder: Napoleon gewann die Schlacht, statt sein Heer oder seine Soldaten, oder den Beistand des Himmels anrufen statt den Beistand Gottes hat sich einer Metonymie im Sinne der alten Rhetoriker schuldig gemacht. Sie nannten Metonymie den Tropus, welcher die Ursache für die Wirkung und umgekehrt, das Zeichen für die bezeichnete Sache, den Ort für die Sache, welche darin enthalten ist, das Werkzeug für den Träger des Werkzeuges, den Besitzer für die besessene Sache, den Feldherrn für die Soldaten u. s. f. setzt, Synekdoche dagegen den Tropus, der das Ganze für einen Theil oder einen Theil für das Ganze, die Gattung für die Art oder die Art für die Gattung, das Abstraktum für das Konkretum oder das Konkretum für das Abstraktum, die Einzahl für die Mehrzahl oder umgekehrt anwendet. Man sieht, daß die Unterscheidung ganz willkürlich ist und daß beide Tropen unter einen gemeinsamen Begriff fallen.

Die Lebendigkeit, die dieser Tropus der Beziehungen gewährt,173 beruht nicht blos auf der größeren Anschaulichkeit; denn sonst würde er nicht auch die Gattung für die Art und das Abstraktum für das Konkretum setzen; sondern sie geht aus der erhöhten Thätigkeit der Phantasie hervor, welche, indem sie zwei Bestimmungen für einander setzt, beide zugleich schaut und dadurch sowohl den Gedanken, als auch das Bild bereichert. Wenn ich die Wirkung für die Ursache setze und z. B. sage: Schatten um ein Landhaus pflanzen, für Bäume, so sieht meine Phantasie in den Schatten zugleich die Bäume mit, die sie verbreiten. Sag 'ich tausend Säbel für tausend Soldaten, so seh' ich die Soldaten gleichzeitig mit, habe aber an den Säbeln alsbald einen lebendigeren sinnlichen Halt. Die erhöhte Wärme der Jdeeen-Association, welche durch die Vertauschung der Beziehungen hervorgeht, giebt diesem Tropus sein dichterisches Recht.

Da indeß die Beziehungen unter den Dingen so zahlreich sind, daß sie sich nicht klassificiren lassen, so ist auch die Klassification dieser bildlichen Wendungen eine müßige Arbeit. Man kann nur zwei große Klassen bilden:

1) Die eigentliche Metonymie, welche sinnliche Beziehungen vertauscht, indem sie für einen Gegenstand den anderen setzt, der durch ihn, neben ihm, in ihm, vor ihm u. s. f. existirt. Pindar spricht in der neunten nemäischen Ode von der kühnen Rede bei'm Weinkrug, wo das Gefäß für den in ihm enthaltenen Wein gebraucht wird;

Aus der Ströme blauem Spiegel
Lacht der unbewölkte Zeus

Schiller.

Ehe das dritte Morgenroth scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint.

Schiller.

Zeus ist hier für Himmel, Morgenroth für Tag gebraucht.

2) Die Synekdoche als Vertauschung logischer und grammatischer Beziehungen, wobei die oben angeführten Bestimmungen der Rhetoriker gelten können. Hierher gehört auch die Wendung, welche das Adjectivum in ein Substantivum verwandelt:

Flüchtet aus der Sinne Schranken
Jn die Freiheit der Gedanken.

Schiller.

174
Zu Aachen in seiner Kaiserpracht
Jm alterthümlichen Saale
Saß König Rudolph's heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.

Schiller.

Jn des Waldes Geheimniß entflieht mir auf einmal die Landschaft.

Schiller.

Das Setzen des Abstraktums für das Konkretum geht leicht in die Personifikation über:

Dürrer Mord
Schreitet gespenstisch!

Shakespeare, Macbeth.

Die Vertauschung des Singular und Plural, die ebenfalls als eine Synekdoche bezeichnet wird, bildet ungezwungen den Uebergang zu den Figuren. Sie gehört eigentlich zu den poetischen Licenzen, welche die Sprache mit neuen Wendungen bereichern, die aus einer in der Prosa nicht verstatteten Vertauschung grammatischer Formen hervorgehen. Jhre Anwendung ist sehr häufig in der neuen Lyrik:

Wie heiß auch meine Sonnen lohten,
Sie weckten späte Rosen nur.

(Meißner.)

Weihrauch wagt nur leise Hauche.

(Sallet.)

Die eh'rnen Hengste, die durch salz'ge Schäume
Dahergeschleppt auf jener Kirche ragen.

(Platen.)

Jm Osten starb der große Chan
Auf Jndien's Zimmetinseln,
Starb Negerfürst und Muselmann.

(Lingg.)

B. Figuren.

Die Figuren sind bestimmte Schemata der Rede, in denen sich ein Gefühl, eine Stimmung, ein Gedanke krystallisirt. Sie erhöhen nicht, wie die Bilder, die Anschaulichkeit; es sind nur Wort - und Gedankenstellungen, welche den Ausdruck lebhafter und schärfer machen. Die175 Bilder gehören der Phantasie an; die Figuren dem Gemüth oder Verstand. Die alten Rhetoriker sind unerschöpflich in der Aufstellung und Definition von Figuren, indem sie jede Abweichung von dem herkömmlichen Geleis der Grammatik und Syntax mit einem stolzklingenden Namen taufen. Wir greifen aus dem reichhaltigen Schatze nur diejenigen heraus, welche für die Dichtkunst von besonderer Wichtigkeit sind:

1) Die Ausrufung, die in den alten Sturm - und Drangtragödieen z. B. Klinger's das ganze Pathos der Leidenschaft naturwüchsig ersetzen sollte! Höchst frostig ertönt in den modern-antiken Schauspielen das: ihr Götter! bei'm Zeus! u. s. f., weil uns diese Ausrufungen an eine ganz andere Weltanschauung gemahnen. Shakespeare ist in seinen pathetischen Scenen reich an Ausrufungen, die oft der grelle Ausschrei der inneren Leidenschaft, des inneren Kampfes sind:

Lear.

Pest, Rache, Tod, Vernichtung!
Was feurig? was Gemüth? Ha Gloster, Gloster!

und später:

Weh 'mir, mein Herz, mein schwellend Herz, hinunter!

2) Die Frage, als Ausbruch des Affektes:

Jch frage, giebt es einen Gott? Was dürfen
Jn seiner Schöpfung Könige so hausen?

Schiller.

3) Die Anrede, Apostrophe, in welcher der Keim und erste Ansatz zur dichterischen Personifikation verborgen liegt:

Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Thäler!

Schiller.

O Morgenduft auf dunklen Wäldern,
O Maienwonne, Sommerlust!
O Lerchensang auf grünen Feldern,
Wie sehnt nach euch sich meine Brust!

Prutz.

O Meer im Abendstrahl,
An deiner stillen Fluth,
Fühl 'ich nach langer Qual
Mich wieder fromm und gut.

Meißner.

176

4) Die Wiederholung, durch welche der Ausdruck an Kraft gewinnt, besonders die Anaphora, die Wiederholung der Worte am Anfange. Die Epistrophe, die Wiederholung der Worte am Ende der Rede, bildete sich in der Lyrik zum Refrain aus. Die Grammatiker haben, je nach der Stelle, an der sich die wiederholten Worte befinden, in gelehrter Spielerei eine Menge von Figuren unterschieden*)Anaphora, Epistrophe, Symploke, Epanalepsis, Epanodos u. s. f..

Die Anaphora darf nicht zu häufig sein, sonst wirkt sie komisch z. B.

Ja ich bin's, du Unglücksel'ge,
Ja ich bin's, den du genannt!
Bin's, den alle Wälder kennen,
Bin's, den Mörder Bruder nennen,
Bin der Räuber Jaromir.

Grillparzer.

Feurigen Drang der Seele drückt diese Wiederholung sehr oft in den Schiller'schen Dramen aus:

Jetzt oder nie! Wir sind allein.
Der Etikette bange Scheidewand
Jst zwischen Sohn und Vater eingesunken.
Jetzt oder nie! Ein Sonnenstrahl der Hoffnung
Glänzt in mir auf.

Don Carlos.

Jch habe Niemand Niemand
Auf dieser großen weiten Erde Niemand!
Soweit das Scepter meines Vaters reicht,
Soweit die Schifffahrt uns're Flaggen sendet
Jst keine Stelle, keine, keine, wo
Jch meiner Thränen mich entlasten darf,
Als diese.

Don Carlos.

Ueberhaupt verweisen wir auf dies Stück, dessen charakteristischer Styl gerade in dieser Emphase des Gemüthes besteht und von leidenschaftlichen Fragen, Ausrufungen, Anaphoren und Epistrophen wimmelt.

5) Die Steigerung (Klimax), eine Figur, welche den überzeugenden Gedanken oder den wachsenden Affekt durch immer neue, stufenmäßige Verstärkung des Wortes und des Bildes ausdrückt und in der Regel hyperbolisch schließt. Die korrekte Steigerung verlangt, daß niemals der schwächere Gedanke oder das schwächere Bild hinter das stärkere177 gesetzt werde, sondern daß die Seele auf einer logisch angestuften Leiter in die Höhe steige.

O lieber als dem Grafen mich vermählen
Heiß 'von den Zinnen jenes Thurms mich springen,
Da gehn, wo Räuber streifen, Schlangen lauern,
Und kette mich an wilde Bären fest;
Birg bei der Nacht mich in ein Todtenhaus
Voll rasselnder Gebeine, Moderknochen,
Und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern,
Heiß' in ein frischgemachtes Grab mich gehn,
Und in das Leichentuch des Todten hüllen.

Shakespeare, Romeo und Julie.

Vollendet! Jhr habt freie Macht! Gehorcht
Dem Dämon, der euch sinnlos wüthend treibt!
Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar!
Laßt diese Halle selbst, die euch geboren,
Den Schauplatz werden eures Wechselmords.
Vor eurer Mutter Aug 'zerstöret euch
Mit euren eig'nen, nicht durch fremde Hände.
Leib gegen Leib, wie das theban'sche Paar,
Rückt auf einander an, und muthvoll ringend
Umfanget euch mit eherner Umarmung!
Leben um Leben tauschend siege Jeder,
Den Dolch einbohrend in des andern Brust,
Daß selbst der Tod nicht eure Zwietracht heile,
Die Flamme selbst, des Feuers rothe Säule,
Die sich von eurem Scheiterhaufen hebt,
Sich zweigespalten von einander theile,
Ein schaudernd Bild, wie ihr gestorben und gelebt.

Schiller, Braut von Messina.

6) Der Gegensatz (Antithese), eine Redefigur, welche Bestimmungen, die sich logisch gegenüberstehn, auch in den entsprechenden Satzgliedern gegenüberstellt. So erfreut bei dieser Figur zunächst das Redeschema durch seinen Parallelismus, dann aber auch der vollständige Ausdruck des Gedankens. Solche entgegengesetzte Bestimmungen nämlich ergänzen sich mit Nothwendigkeit, da sie unter die höhere Einheit eines und desselben Begriffes fallen; man kann den Begriff gut nicht denken, ohne daß auch bös gleichzeitig, wenn auch nur in dämmernden Umrissen, über die Schwelle des Bewußtseins tritt. Gerade das klare Aussprechen des entgegengesetzten,178 aber nothwendig ergänzenden Begriffes, wie es in der Antithese geschieht, giebt dem Ausdruck Fülle und Schärfe, dem Verstande und der Phantasie Befriedigung. Die Antithese ist nicht blos logisch, indem sie Begriffsbestimmungen gegenüberstellt; sie gehört ebenso gut der Sprache der Leidenschaft an, indem sie kontrastirende Bilder entgegensetzt. Die Antithese ist eine schlagende Form für die Sentenz. Darum sind sentenzenreiche Schriftsteller und Dichter, wie Seneca und Schiller, sehr reich an ihnen; aber auch scharfe, analytische Denker, wie Lessing, Boerne, Feuerbach sind glücklich in ihren Antithesen.

Die einfache Antithese stellt nur zwei Bestimmungen gegenüber; die zusammengesetzte mehrere. Zwei einfache Antithesen enthält der Vers Schiller's:

Jn das wilde Fest der Freuden
Mischten sie den Wehgesang,
Klagend um das eig'ne Leiden
Jn des Reiches Untergang.

eine zusammengesetzte dagegen die bekannte Sentenz im Wallenstein :

Leicht bei einander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Dinge.

Die zusammengesetzte Antithese erfordert eine symmetrische Anordnung der entgegenstehenden Bestimmungen, sodaß der Gedanke wie ein elektrischer Blitz durch eine Voltaische Säule regelmäßig gepaarter, polarer Bestimmungen hindurchzuckt. Auf dieser Symmetrie beruht die Eleganz, Präcision und schlagende Schärfe des Styles.

Es ist noch nicht hinlänglich beachtet worden, wie der Styl Schiller's aus lauter Antithesen zusammengeschichtet ist. Eine galvanische Kette blitzender Gegensätze geht durch alle seine Werke, und auf ihnen vorzugsweise beruht die elektrisirende Wirkung seiner Sprache. Es bleibt bewundernswerth, daß die stereotype Anwendung einer und derselben Redefigur keine größere Ermüdung hervorruft und den Fluß der Begeisterung nicht öfter in's Stocken bringt. Gerade wie Cuvier aus dem aufgefundenen Knochen eines vorsündfluthlichen Thieres den ganzen Organismus desselben nach der Nothwendigkeit des Naturgesetzes aufzubauen verstand: so kann der Aesthetiker aus einer einzelnen äußerlichen Figur179 die lehrreichsten Schlüsse auf den Charakter des Dichters selbst, auf seine ganze geistige Bedeutung machen. Ein Dichter, der in Antithesen dichtet, wird ebenso glänzend, wie scharf, ebenso feurig, wie schlagend erscheinen; aber er wird nicht zur plastischen Harmonie durchdringen; er wird sich nie mit voller Ruhe in die einzelne Erscheinung versenken; er wird immer reflektirend ihre gegenseitigen Beziehungen in's Auge fassen; er wird mehr ein Poet des Gedankens, als ein Poet der Anschauung, mehr ein dramatischer und lyrischer, als epischer Dichter, und in der Lyrik selbst wieder mehr Elegiker, als Liederschöpfer sein. So können wir aus der kleinen Antithese heraus uns das ganze, großartige und unruhige Gedankenpathos unseres größten Dramatikers konstruiren.

Daß aber die thatsächliche Voraussetzung richtig ist, das beweist jeder Blick in Schiller's Dramen und Gedichte. Schlagen wir sie auf, wo wir wollen wir stoßen überall auf Antithesen z. B.

Doch dieser große Menschenkenner sinke
Vor Scham dahin, daß seine graue Weisheit
Der Scharfsinn eines Jünglings überlistet.
Ja, Sire, wir waren Brüder! Brüder durch
Ein edler Band, als die Natur es schmiedet.
Sein schöner Lebenslauf war Liebe Liebe
Für mich sein großer schöner Tod. Mein war er,
Als Sie mit seiner Achtung groß gethan,
Als seine scherzende Beredtsamkeit
Mit Jhrem stolzen Riesengeiste spielte.
Jhn zu beherrschen wähnten Sie und waren
Ein folgsam Werkzeug seiner höhern Pläne u. s. f.

Der ganze dramatische Styl Schiller's ist mit Antithesen, die bald leiser angedeutet, bald kräftiger ausgeführt sind, getränkt.

Der antithetische Gang liegt auch jener Figur des dramatischen Dialogs, der sogenannten Stichiometrie zu Grunde, der schlagenden Rede und Gegenrede in aufeinanderfolgenden Verszeilen. Sie findet sich bei den antiken Tragikern und ist von Schiller mit Vorliebe adoptirt worden z. B.

Hermione.

Was will Dein Stolzsein? Was bezweckt das Wortgefecht,
Als wärst nur du verständig und ich wär 'es nicht?
180

Andromache.

Bei dem gewiß nicht, was Du jetzt gesprochen hast.

Hermione.

Der Geist, der Dir ward, wohnt mir nicht ein, o Frau!

Andromache.

Du bist so jung noch, und Du sprachst so maßlos schlecht!

Hermione.

Du aber sprichst nicht, nein, Du thust nur, was Du kannst.

Andromache.

O traure lieber schweigend, wenn Dich Kypris floh.

Hermione.

Wie? gilt den Fraun nicht Lieben als das Höchste stets?

Andromache.

Ja.
Wenn würdig sie es nützen, sonst entehrt es sie!

Hermione.

Nicht mit Barbarensitten wohnt man hier im Land.

Andromache.

Wie dort das Schlechte, so gebiert auch hier es Schmach!

Euripides, Andromache (nach Fritze).

Leicester.

Junger Mann, ihr seid zu rasch
Jn so gefährlich dornenvoller Sache.

Mortimer.

Jhr sehr bedacht in solchem Fall der Ehre.

Leicester.

Jch seh die Netze, die uns rings umgeben.

Mortimer.

Jch fühle Muth, sie alle zu durchreißen.

Leicester.

Tollkühnheit, Raserei ist dieser Muth.

Mortimer.

Nicht Tapferkeit ist diese Klugheit, Lord.

Leicester.

Euch lüstet's wohl, wie Babington zu enden?

Mortimer.

Euch nicht, des Norfolks Großmuth nachzuahmen.

Leicester.

Norfolk hat seine Braut nicht heimgeführt.

Mortimer.

Er hat's bewiesen, daß er's würdig war.
181

Leicester.

Wenn wir verderben, reißen wir sie nach.

Mortimer.

Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet.

Schiller, Maria Stuart.

7) Das Paradoxon, eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung in Händen hat.

Das Paradoxon ist entweder blos logisch z. B.

Du übersinnlich sinnlicher Freier.

Goethe, Faust.

Regular confusion.

Addison, Cato.

oder es ist metaphorisch z. B.

Mond meiner Tage, meiner Nächte Sonne,
Hoch über mir geh 'Deinen Strahlenlauf.

Dingelstedt.

Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen, deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den paradoxen Styl, der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht. So ist Hebbel paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik, während Arthur Schopenhauer ein paradoxer Denker ist.

6) Die Jronie ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von dem sagt, was sie meint*)Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.. Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im Paradoxon, sondern zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut. Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt:

182
Wunder, wie ist er behende, der Mann! Wie leicht er hinabtaucht!
Uebt er die Kunst einmal in des Meers fischreichen Gewässern;
Viele ja sättigte wahrlich der Mann mit gefangenen Austern,
Hurtig vom Bord abspringend, wie hohl auch stürme die Brandung:
Sowie jetzt im Gefild 'er behend aus dem Wagen hinabtaucht!
Traun, auch im troischen Volk sind unvergleichbare Taucher.

Homer, Jlias 16, 744 50 (Voß).

So sagt Juno zur Venus bei Virgil:

Egregiam vero laudem et spolia ampla refertis,
Tuque puerque tuus: magnum et memorabile nomen,
Una dolo divûm si foemina victa duorum est.

Aen. 4.

Und bei Terenz heißt es im Eunuchen :

Heus, bone vir, curasti probe.

eine Stelle, in der jedes Wort in einem seiner ursprünglichen Bedeutung entgegengesetzten Sinne genommen wird. Durch den Reiz des Kontrastes, der ihr zu Grunde liegt, ist die Jronie von hoher Bedeutung für die Komik und findet hier ihren weitesten und angemessensten Spielraum. Der größte ironische Schriftsteller ist Swift; aber auch in Shakespeare, Jean Paul, Hippel, Platen, Prutz und Gutzkow finden sich vortreffliche ironische Stellen z. B.

Endlich schwenkte sich als Voressen oder Vorbericht der Suppe die rosabackige Physikussin in die Stube herein mit 3 oder 4 Esprits oder Federstutzen, mit einer scheckigen Hals-Schürze, in einem rothen Ballkleide, dem die Walzer die Farbe ausgezogen, die sie ihr aufgelegt und mit einem durchbroch'nen Putzfächer. Wenn ich wollte, könnt 'ich mich ihrer annehmen; denn anlangend die Esprits (da oft der Esprit, wie bei den Embryonen das Gehirn sich auf die Gehirnschale heraussetzt und da sonnet), so dachte sie, Weiber und Rebhühner werden am besten mit Federn auf dem Kopfe an der Tafel servirt anlangend den Fächer, so gab sie vor, sie komme von einem Morgenbesuche (wobei sie recht deutlich voraussetzte, daß Damen so wenig ohne Fächerstäbe als Tischler ohne Maßstab durch die Gasse dürfen) anlangend den Rest, so wußte sie, der Gast sei ein Graf. Jean Paul, Titan.

Chor.

Was hältst du, Freund! von diesem neuen Trauerspiel?

Publicum.

O zum Entsetzen meisterhaft, zum Fressen schön!

Chor.

Wie antisophokleïsch er's behandelt hat!
183

Publicum.

Anachronismen eingestreut zu tausenden!

Chor.

So ganz unendlich tragisch! Alle sterben fast.

Platen, Romantischer Oedipus.

Hierher gehört auch die Litotes, die ironische Verkleinerung. So sagt Mercutio:

Romeo!
Was? Grillen! Toller! Leidenschaft! Verliebter!
Erscheine du, gestaltet wie ein Seufzer,
Sprich nur ein Reimchen, so genügt mir's schon,
Ein Ach nur jamm're, paare Lieb 'und Triebe u. s. f.

Shakespeare, Romeo und Julie.

Was die Romantiker aus dieser einfachen Figur gemacht, wie sie dieselbe zum Grundgesetz aller dichterischen Produktion und zum Princip der Lebensauffassung erhoben, das haben wir schon an einer andern Stelle erwähnt. Ohne uns hier bei den grammatischen und syntaktischen Figuren, der Jnversion, dem Anokalouthon, der Aposiopese und Ellipse aufzuhalten, von denen die erstere durch kühnere Stellung der Worte den Nachdruck verstärkt, während die andern durch Abkürzungen, Auslassungen, Errathenlassen die Aufmerksamkeit herausfordern, erwähnen wir noch

9) die Onamotopöie, eine sprachliche Tonmalerei, welche das natürliche Geräusch durch den Klang der Worte nachzuahmen sucht. Bekannt ist der Vers der Homerisch-Vossischen Odyssee:

Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.

Auch Goethe's Faust enthält einige schöne onomatopöiische Stellen:

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihren Fall dumpf hohl der Hügel donnert.

oder:

Horch, es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste
Girren und Brechen der Aeste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen,
Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
184
Jm fürchterlich verworrenen Falle
Ueber einander krachen sie alle,
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte.

Diese Figur artet, ähnlich wie die Tonmalereien der Musik, leicht in eine Künstelei und Spielerei aus und kann daher nur selten in Anwendung gebracht werden.

Dritter Abschnitt. Ueber den Gebrauch des bildlichen Ausdruckes.

Die meisten Rhetoriker, auch die englischen, ein Home, Priestley und Hugo Blair nicht ausgenommen, haben das Bild zu sehr als eine eingelegte Zierde der Rede betrachtet, nicht als einen organischen Theil der Dichtung, nicht in seinem tieferen Zusammenhange mit dem Genius des Dichters und seines Jahrhunderts. Aus dieser äußerlichen Betrachtungsweise hat sich ein langes Register von Regeln ergeben, das von Pedanten nachgebetet, von einer schulmeisterlichen Kritik auf die Erscheinungen der Gegenwart angewendet wird, wobei ganz unbeachtet bleibt, daß dasselbe Verfahren den Flügelstaub von den Schwingen der größten Genien aller Zeiten abstreifen würde! Doch die moderne Literatur ist einmal der Sündenbock für die kritischen Exercitien jener schwachen Köpfe, die durch Arroganz, anscheinende Sicherheit der Behauptungen und eine dem oberflächlichen Verstande der Menge schmeichelnde Verständigkeit ersetzen, was ihnen an Phantasie, Geschmack und tieferer ästhetischer Bildung fehlt.

Der bildliche Ausdruck ist die organische Eigenthümlichkeit einiger großen Dichtergenien, z. B. eines Shakespeare, Calderon, Jean Paul, ganz abgesehen von den orientalischen Poeten, von Dichtern der Neuzeit, wie Lenau, Grün u. A. Schon diese Thatsache wird uns gegen den Vorwurf einer Ueberladung mit Bildern vorsichtig machen müssen, ein Vorwurf, der aus jener oberflächlichen Theorie hervorgeht, nach welcher die Bilder in einer so äußerlichen Weise der Dichtung angehängt werden, wie sich die Wilden metallene Zierrathen an Ohren, Nasen185 anhängen oder sich den Leib mit bunten Farben tätowiren. Ein phantasiearmer Dichter oder Kritiker, dem nur selten die Gunst der Musen ein Bildchen schenkt, mag sich besinnen, an welcher Stelle er es wohl am vortheilhaftesten anbringt; aber große Dichter, die gewohnt sind in Bildern zu denken, wobei der dichterische Gedanke keineswegs an Schärfe und Klarheit verliert, können nicht als Zierrath und Schmuck vertheilen, was aus dem unerschöpften Born ihres Genius mit innerer Nothwendigkeit hervorquillt. Deshalb wird auch der strenge Maaßstab nüchterner Korrektheit sich nicht mit Erfolg an eine Ausdrucksweise anlegen lassen, dessen eingeborene Bildlichkeit allen Bewegungen und Flügen der dichterischen Gestaltungskraft folgen muß! Oder sollte man ein Recht haben, es an Shakespeare zu tadeln, wenn in der Sprache der Leidenschaft seine Bilder oft in sonst unerlaubten Katachresen zusammenschmelzen, wenn eine düst're Rembrandt'sche Beleuchtung den Bildern zwar die plastische Klarheit und Bestimmtheit nimmt, aber sie wunderbar in das Stimmungselement des Charakters und der Situation versetzt? Sollte man es tadeln, wenn er, nach objektiver Wahrheit strebend, albernen Charakteren alberne, bombastischen, wie z. B. dem Laertes im Hamlet, bombastische in den Mund legt? Man wird für den Geschmack der Gegenwart allerdings die Grenzen schärfer ziehen müssen, als sie Shakespeare gezogen; man wird hier nicht nur die einzelnen Dichtgattungen, sondern selbst den Unterschied des realistischen und idealistischen Styles berücksichtigen müssen; aber man wird bei der Beurtheilung jenes großen Genius nicht seine einzelnen Bilder nach Art der engherzigen englischen Kritiker, besonders eines Home, zerfasern dürfen, ohne gegen höhere Gesichtspunkte ungerecht zu werden. Noch weniger darf man freilich vergessen, daß die Bildlichkeit des Styles nicht blos dem Genius Shakespeare's, sondern auch seiner ganzen Zeit angehörte, daß seine Zeitgenossen Beaumont und Fletcher, Massinger u. A. sich derselben bildlichen Ausdrucksweise, wenn auch minder großartig und charakteristisch, bedienten, daß ebenso Calderon sich in jenen mehr blendenden, als schlagenden Metaphern bewegte, welche die ganze spanische Poesie vom Orient geerbt, und die ein geistiger Niederschlag der maurischen Eroberung blieben. Und wie weit die orientalische Bildlichkeit selbst davon entfernt ist, äußerlicher Zierrath der Dichtung zu sein; wie sie im Gegentheil die organische Blüthe der religiösen186 Weltanschauung des Orients ist und mit dem ganzen Volksgeiste auf's Jnnigste zusammenhängt: das ist allzubekannt, als daß man es den einseitigen Kritikern vorzuhalten brauchte, die mit ihrem aufdringlichen Verstand alle Zeitalter und Dichtergenien hofmeistern. Die Folge einer tieferen Einsicht in das Wesen des bildlichen Ausdruckes wird dann auch mit Nothwendigkeit eine größere Liberalität bei der Beurtheilung der Dichtungen der Neuzeit zur Folge haben. Denn auch die Neuzeit hat Dichter von reicher Phantasie aufzuweisen, die zu den talentvollsten und genialsten gehören, wie z. B. Lenau, und es ist ein schlechter Kunstgriff einer blasirten Kritik, diese Dichter auf Grund ihres Bilderreichthums, wegen dessen sie mit Shakespeare und Calderon in einer Linie stehen, mit Lohenstein und Hoffmannswaldau in eine Linie zu stellen. Dieser Kunstgriff beruht auf einer wohlfeilen Erschleichung, indem der Kritiker sich nur an die Quantität der Bilder hält und dabei ihre Qualität unberücksichtigt läßt. Doch nicht blos die Anlage des einzelnen Dichters, auch die Kultur unserer gegenwärtigen Epoche rechtfertigt unmittelbar einen bilderreichen Styl. Nicht blos die Natursymbolik des Orientes, nicht blos die maurisch-spanische Phantasie mit ihrer südlichen Farbengluth: auch der erwachende freie Protestantismus, die junge Nationalkraft Alt-Englands zu Shakespeare's Zeit schwelgte im Bilderreichthum der Diktion, der erst im englischen Drama wieder verschwand, als die Korrektheit und Armuth der französischen Muster die Tragödieen eines Addison, Rowe, Congreve u. A. zu beherrschen anfing. Der beginnende Weltverkehr der brittischen Nation hatte den Geistern nach außen große Perspektiven geöffnet; die protestantische Gewissensfreiheit ihnen die Welt der Seele in einem neuen Lichte gezeigt, das ihre verborgensten Tiefen erhellte dieser erschlossene Reichthum äußerer und innerer Anschauungen befruchtete die Bildlichkeit des Ausdruckes; und die Kühnheit einer jugendfrischen Phantasie zögerte nicht, sich dieser offengelegten Schätze zu bemächtigen. Ohne Frage wird die Sprache der Dichter bilderreicher werden, je reicher die Stoffwelt ist, aus der sie ihre Anschauungen entnehmen, und die Bilderarmuth der alten Volksepen hängt, abgesehen von der Eigenthümlichkeit des epischen Styles, gewiß auch mit der Armuth der Kulturverhältnisse zusammen, aus denen heraus sie gedichtet sind. Die religiöse Phantasie aber, die im Orient hängende187 Gärten voll Bilderpracht zwischen Himmel und Erde trieb, schuf bei den alten Griechen plastische Göttergestalten, so daß der Ueberschuß an Bildlichkeit ein geringer blieb, da die religiöse Phantasie fast ganz in diesen festen, menschgewordenen Bildern aufging!

Welche Zeit ist aber reicher an großartigen Weltperspektiven, an einer stets neue Bilder aus dem großen und kleinen Kosmos heraufzaubernden Kenntniß, als die unsrige? Welche Zeit hat größere Krisen menschheitlicher Entwickelung hinter sich? Welche Zeit hat die Seele des Menschen tiefer durchforscht? Die dichterische Stoffwelt hat außerordentlich an Fülle gewonnen, und ein reicher Genius braucht sich nicht in den ausgefahrenen Gleisen der hergebrachten Bildlichkeit zu bewegen; ihm ist eine neue Welt erschlossen, die ihm bereitwillig zu neuen Vertauschungen und Bildern ihre Schätze hergiebt. Wir sind indeß weit davon entfernt zu behaupten, daß die Bildlichkeit des Ausdruckes eine unerläßliche Forderung für die Schönheit des dichterischen Styles sei. Der einfache Lyriker, der plastische Epiker kann sich ebenso mit den eigentlichen Ausdrücken begnügen; ja es giebt dichterische Talente, welche die Klarheit der Anschauung und Jnnigkeit der Empfindung angemessen nur ohne alle Bildlichkeit auszudrücken vermögen. Der Dramatiker kann ebensogut in gedankenvollen Antithesen, wie Schiller, als in schlagenden Metaphern, wie Shakespeare, den angemessenen Ausdruck seines Pathos finden.

Doch für ein vorzugsweise phantasiereiches Talent müssen aus dem Receptenbuch der alten Rhetorik einzelne Vorschriften ausgezogen werden, um den Gebrauch der Bilder zu regeln, freilich nicht ohne das Bekenntniß vorauszuschicken, daß diese gültigen Normen des Ausdrucks den höheren Gesetzen der dichterischen Charakteristik im Kollisionsfalle nachstehen müssen. Auch im Uebrigen muß diese Menge von Recepten verringert werden; es sind Regeln aufgestellt, wie z. B. die sinnliche Anschaulichkeit des Bildes, die für die stimmungsvollen Bilder des Gemüthes nicht passen, und denen man die schönsten Vergleichungen Ossian's als fehlerhaft opfern müßte. Wir betrachten zuerst das Bild an und für sich, dann das Bild in Bezug zu anderen Bildern und zuletzt das Bild in Bezug auf seine Angemessenheit zu den einzelnen Dichtarten.

1) Zu den Fehlern des einzelnen Bildes rechnen wir:

188

a. Die Unrichtigkeit, ein Verstoß gegen die natürliche Wahrheit der Dinge.

Den Honig irdischer Weisheit sammeln wir nicht aus Blumen ein, sondern aus Dornen. Bulwer.

b. Die Unangemessenheit, wenn das Bild zu groß oder zu klein ist für den verglichenen Gegenstand. Solche Bilder finden sich häufig bei Jean Paul, z. B.:

Natur, du ruhest vor dem nassen Auge, wie ein grünendes, abendrothes Gebirge. Titan.

Die Natur, die gestern ein flammender Sonnenball gewesen, war heute ein Abendstern voll Dämmerlicht. Titan.

c. Die Mattigkeit, wenn der Vergleichungspunkt nicht schlagend genug hervortritt. Dies ist der größte Fehler des bildlichen Ausdruckes, indem er nicht nur dem Styl einen frostigen Charakter giebt, sondern überhaupt das Bild als einen überflüssigen Luxus erscheinen läßt. Die Metapher besonders muß den Ausdruck abkürzen, nicht schleppend machen; sie muß aus dem Gedanken organisch herauswachsen, nicht beiläufig neben ihm herleuchten.

Die Metapher darf zwar ebenso das Sinnliche vergeistigen, wie das Geistige versinnlichen. Lenau ist ein Meister in der Kunst dieser träumerischen Naturbeseelung. Solche Metaphern aber werden leicht frostig und matt, wenn der Vergleichungspunkt nicht schlagend genug das Gemüth erfaßt. Noch mehr gilt dies von ausgeführten Vergleichungen, in denen das geistige Bild zu abstrakt angedeutet oder ausgeführt wird, z. B.

Gleich dem ewigen Frieden schimmert
Ruhig, klar und grün das Meer.

Anastasius Grün.

Wie ein großer Gedanke sich losreißt
Aus dem Haupte eines Genius,
Also springt aus des Kasbek steinernem Haus
Der brausende Terekfluß.

Bodenstedt.

Matt wird auch die schlagende Metapher, wenn sie weiter ausgesponnen wird, als der Fonds ihrer Aehnlichkeit verstattet, der für eine Metapher, aber nicht für eine Allegorie ausreicht, z. B.

189
Was sagst du? Wie gefällt dir dieser Mann?
Heut Abend sahst du ihn bei uns'rem Fest.
Dann lies im Buche seines Angesichts,
Jn das der Schönheit Griffel Wonne schrieb.
Betrachte seiner Züge Lieblichkeit,
Wie jeglicher dem andern Zierde leiht.
Was dunkel in dem holden Buch geblieben,
Das lies in seinem Aug 'am Rand geschrieben,
Und dieses Freiers ungebund'ner Stand,
Dies Buch der Liebe braucht nur einen Band.
Der Fisch lebt in der See und doppelt theuer
Wird äuß'res Schön, als inn'rer Schönheit Schleier.
Das Buch glänzt allermeist im Aug' der Welt,
Das gold'ne Lehr 'in gold'nen Spangen hält.

Shakespeare, Romeo und Julie.

Wer fühlt nicht heraus, wie diese breitgeschlagene Metapher durch ihre Ausführung mit jeder Wendung matter und gezwungener wird, abgesehen davon, daß ein eingeschobenes fremdes Bild die Allegorie unterbricht. Shakespeare verspottet oft selbst diese ungebührlich breite Ausführung des Bildes, die er ein Gleichniß zu Tode hetzen nennt, ist aber selbst am wenigsten frei davon.

d. Die Geschmacklosigkeit, wenn das Bild an und für sich unziemlich und abstoßend, oder ungereimt und unsinnig (schwülstig, bombastisch) oder zu weit hergeholt ist, oder wenn, trotz des zutreffenden Vergleichungspunktes, die verglichenen Gegenstände in allen anderen Beziehungen so heterogen sind, daß die Unähnlichkeiten von selbst störend hervortreten. Alle diese Fehler der Bildlichkeit im ernsten Style können ebenso große Vorzüge im komischen sein. Selbst das anscheinend zu weit hergeholte und gelehrte Bild, das eines Kommentars bedarf, kann diesen Kommentar ungezwungen im komischen Style finden, wie dies z. B. bei Jean Paul der Fall ist. An geschmacklosen Bildern sind nicht nur Lohenstein und Hoffmannswaldau, sondern auch Shakespeare und seine Zeitgenossen, die Erstlingswerke Schiller's, die alten und neuen Kraftdramatiker, selbst Anastasius Grün und Karl Beck reich zu nennen. Unziemlich ist z. B. folgendes Bild:

190
When You, great duke, shrunk trembling in Your palace,
And saw Your wife, the Adriatic, ploughed
Like a lewd whore, by bolder prows than Yours.

Otway, Venice preserved.

Unziemlich und ungereimt zugleich das folgende:

Unglückselige Schwungsucht! uralte Buhlerin! Engel küßten an deinem Halse den Himmel hinweg und der Tod sprang aus deinem kreißenden Bauche.

Schiller, Fiesco.

Gelehrte und weit hergeholte Bilder finden sich zahlreich bei Lohenstein; doch sind auch Schiller und Goethe, der Richtung unserer klassischen Literaturepoche gemäß, nicht davon freigeblieben. Beispiele für die letzte Art der Geschmacklosigkeit sind nicht selten. Man weiß sich oft zunächst nicht Rechenschaft zu geben von dem unbefriedigenden Eindruck, den ein solches Bild hervorruft, bis man sich davon überzeugt, daß die Unähnlichkeiten der verglichenen Gegenstände so auffallend sind, daß sie sich der Phantasie, der zum Dichter betonten Aehnlichkeit zum Trotz, aufdrängen. Wenn Gruen Gott eine graue, todte Pyramide in der einsamen Wüste eines Priesterherzens nennt: so ist die Vergleichung des höchsten geistigen Wesens mit einem leblosen Mauerwerk gewiß störend, wird aber zunächst durch die stimmungsvollen Beiwörter gemildert, und dann durch das geistvolle tertium comparationis, indem Gott von diesem Priester nur als eine abstrakte todte Spitze aufgefaßt wird, wie die Pyramiden spitze am Saume der einsamen Wüste auftaucht. Wenn aber Betty Paoli dies Bild für ihre eigene Liebesempfindung benutzt:

So wird fortan in allen künft'gen Tagen
Hoch über allem Schmerz und aller Lust
Dein Bild als ew'ge Pyramide ragen
Jn der Sahara meiner tiefsten Brust

so wird es im höchsten Grade geschmacklos. Die Aehnlichkeit, das Monumentale und deshalb Unvergeßliche des Bildes im traurig einsamen Herzen, verschwindet gegen die auffallende Unähnlichkeit der verglichenen Gegenstände, indem der Begriff einer Pyramide, eines todten, grauen, steinernen, spitz zulaufenden Bauwerkes, in allen seinen Bestimmungen dem lebensvollen Bilde des Geliebten so heterogen ist, daß der Kontrast in's Komische hinüberspielt.

191

e. Die Trivialität, wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen, die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit wer kennt nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn. Dasselbe Bild wird bei Shakespeare, Schiller und Goethe eine durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen wird. Dieser über dem Ganzen schwebende Duft des Talentes entzieht sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben, daß die Neuheit des scheinbar abgenützten Bildes durch die Zuthat charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung, durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern erzeugt wird.

2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die Fehler, welche man Katachresen zu nennen pflegt, deren Theorie indeß einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen unseres Werkes gestatten.

Die eigentliche Häufung der Bilder findet Statt, wenn mehrere Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in der That machen die Dramatiker aller Zeiten, Aeschylos, Calderon192 und Shakespeare nicht selten von ihr Gebrauch. Die hebräische Poesie, bei welcher der Parallelismus des Ausdruckes zur starren Eigenheit des Styles geworden, häuft in der Regel zwei oder drei Bilder, schon dieser formalen Symmetrie wegen, in welcher zugleich ihr musikalischer Rhythmus besteht. Ebenso huldigt die indische, persische, arabische und nach ihr die spanische Poesie diesem Luxus der Phantasie, welcher den einen Gedanken gleichsam unter einer Bilderfülle verschüttet. Hier liegt aber die Gefahr nahe, den Gedanken zu verwässern, statt ihn zu verstärken, und in der That macht die spanische Lyrik und Dramatik gerade durch die Häufung der Bilder oft einen schwächlichen Eindruck, denn die Phantasie wird ermüdet durch den immer neuen Anlauf, der sie nicht weiter bringt. Wenn Calderon den raschen Wechsel des Glückes und die Vergänglichkeit des irdischen Lebens schildert und folgende Bilder häuft:

Nicht erwägend, wie so oft
Sich des Glückes Wirkung ändert,
Wie das Leben gleicht dem Flor
Einer Blume, die sich aufzehrt,
Gift'ger Wurm im eig'nen Schooß,
Einem Mandelbaum voll Blüthen,
Der, auf seine Schönheit stolz,
Bei der Mittagswinde Säuseln
Pracht und Eitelkeit verlor;
Einem Bau, der schier ein Atlas
War der Sphärenregion,
Und im Staub, vom Blitz zerschmettert,
Auflöst seinen eiteln Pomp;
Einer Flamme, die durch's Dunkel
Strahlt ein leuchtend Meteor,
Aber Licht und Schimmer einbüßt
Bei des Windes leisem Stoß.

Calderon, die große Zenobia nach Gries.

so hat er selbst das naive Bewußtsein von der Wirkung, welche diese Bilderfülle hervorbringen muß; denn er läßt seinen Helden Decius den Vers hinzufügen:

Doch warum dich so ermüden?

Hiermit ist eine andere Häufung von Bildern nicht zu verwechseln, welches keineswegs nur einen Gedanken in blumiger Wiederholung193 umschreibt, sondern einen und denselben Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet und jede seiner Eigenschaften durch ein neues Bild verherrlicht. Diese Häufung ist prägnanter und nicht so ermüdend, im Gegentheil für eine warme und farbenreiche Schilderung geeignet. Wir erinnern an die Bilder, mit denen der Sänger des Hohen Liedes jede Schönheit seiner gefeierten Braut preist, oder mit denen Lord Byron den schlummernden Don Juan schildert, über den sich seine liebende Haidee neigt. So sagt auch Ossian in seiner Darthula:

Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens,
Dein Haar dem Fittig des Raben!
Deine Seele war so edel und mild,
Wie die Stunde der sinkenden Sonne!
Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf,
Gleich dem flüsternden Strome von Lora.
Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob,
Warst du wie ein stürmisches Meer.

Unter Katachresen versteht man Verstöße gegen die Einheit des Bildes, indem der Dichter entweder aus einem Bild in den eigentlichen Ausdruck oder aus einem Bild in das andere verfällt; ja man hat sogar die Anhäufung ungleichartiger Bilder, die von einem Gegenstand in einem oder in mehreren zusammenhängenden Sätzen gebraucht werden, für einen solchen Verstoß erklärt. Die Katachresen sind Sünden gegen die Korrektheit des bildlichen Ausdruckes, gegen eine Forderung der Kunst, welche stets höheren Forderungen nachstehen muß. Einer faden und nüchternen Verstandeskritik bieten sie die willkommensten Handhaben, besonders um sich den Versuchen der Gegenwart gegenüber eine säuberliche Autorität anzueignen. Jn der That beruhen die meisten Katachresen nur auf einer kühneren Jdeeenassociation, welcher die erregte Phantasie mit Freuden folgt; sie sind Elisionen der Phantasie, und wie die grammatischen und syntaktischen dem kühneren Style der Dichtung unentbehrlich. Gerade der höhere, bewegte Odenschwung, der Ausdruck einer großen Leidenschaft in der Tragödie, kann durch solche Katachresen eine hinreißende Wirkung erzielen! Oder sollte es ein Zufall sein, daß die großen Dichter aller Zeiten an ihnen so reich sind? Sollten sie nur einer mäkelnden Kritik in die Hände gearbeitet haben? Und waren die Kritiker des humanistischen Zeitalters nicht weiser, als ihre194 modernen Nachtreter, indem sie die Katachrese nicht zu einem Fehler der tropischen Darstellung, sondern selbst zu einem Tropus machten?

Zunächst ist die Anhäufung ungleichartiger Bilder in Bezug auf einen und denselben Gegenstand nicht für einen Fehler zu halten. Wie arm müßte eine Phantasie sein, welche dem Schiller'schen Schwung in jener oft als unrichtig angeführten Stelle der Jdeale nicht folgen könnte:

Kann nichts dich, Fliehende, verweilen,
O meines Lebens gold'ne Zeit?
Vergebens, deine Wellen eilen
Hinab in's Meer der Ewigkeit.
Erloschen sind die heitern Sonnen,
Die meiner Jugend Pfad erhellt;
Die Jdeale sind zerronnen,
Die einst das trunk'ne Herz geschwellt! u. s. f.

Die eigentliche Katachrese, wenn der Dichter aus einem Bild in das andere fällt, ist, wie wir schon gesagt, eine Elision der Phantasie. Sie beruht auf der Auslassung eines Mittelgliedes, ohne dessen verständige Verbindung zwei Bilder ineinander geschmolzen sind. So z. B.:

Ob's edler im Gemüth, die Pfeil 'und Schleudern
Des wüthenden Geschicks ertragen, oder
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Durch Widerstand sie enden?

Shakespeare, Hamlet.

Sich gegen einen See von Plagen waffnen ist eine Katachrese, welche der Verurtheilung von Seiten der Verstandeskritik anheimfällt. Nur eine ärmliche Phantasie denkt bei sich waffnen an Speer und Pfeil es ist nur der lebendigere Ausdruck für die Wehr, die man einer überschäumenden See entgegensetzt. Hier könnte man eher den Parallelismus in den beiden Gliedern des bildlichen Gegensatzes vermissen. Eine einfache Katachrese ist z. B.

Der Kugel Saat pfeift!

Doch ist dies kühner, als jede Metonymie oder Synekdoche? Bezieh 'ich nicht unmittelbar das Pfeifen als zweites Bild auf das Subjekt zurück und nicht auf das erste Bild, auf die Saat? Darf ich diese Vermischung der Tropen nicht selbst zu den Figuren rechnen? Wie viele abgeblaßte Metaphern hat die Sprache in ihren Adjectiven und Verben195 bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig macht!

Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir möchten zunächst zwischen tropischen Wendungen und ausgeführten Bildern unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen sein. Bei kurz hingeworfenen tropischen Wendungen halten wir die Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar. Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das weiter ausgeführte Bild den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in Goethe's Tasso für eine fehlerhafte Katachrese:

O edler Mann, Du stehest fest und still,
Jch schaue nur die sturmbewegte Welle,
Allein bedenk 'und überhebe nicht
Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur,
Die diesen Felsen gründete, hat auch
Der Welle die Beweglichkeit gegeben.
Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht
Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über.
Jn dieser Woge spiegelte so schön
Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne
An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,
196
Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe
Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr,
Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.
Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht
Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt
Der Boden unter meinen Füßen auf.
Jch fasse Dich mit beiden Armen an.
So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.

Tasso vergleicht sich anfangs mit den sturmbewegten Wellen, und nachdem die Phantasie sich diesem herrlich ausgemalten Bilde mit Wohlgefallen hingegeben, verwandelt sich die Welle plötzlich in den scheiternden Schiffer. Diese Katachrese ist um so empfindlicher, als die andern Elemente des Bildes unverändert bleiben, denn die Phantasie verträgt eher einen kühnen Sprung in einen andern Kreis der Stoffwelt, als eine Metamorphose, während sie in dem Rahmen desselben Bildes verharren muß. Solche Katachresen sind die härtesten z. B.

Du kannst nicht klagen, daß ich Dich vergessen,
Sieh 'her, in meines Herzens off'ne Wunden
So viele Stunden, als ich dich besessen,
So viele Narben werden drin gefunden.

Dingelstedt.

Der Dichter, der auf die off'nen Wunden seines Herzens zeigt und dieselben in einem Augenblick in Narben verwandelt, muthet der Phantasie zuviel zu, die einer solchen Eskamotage nicht folgen kann.

Unmöglich kann man indeß von Katachresen sprechen, wenn viele selbstständige bildliche Appositionen neben dem Hauptwort stehn:

Der Königsthron hier, dies gekrönte Eiland,
Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars,
Dies zweite Eden, halbe Paradies u. s. f.

Shakespeare.

oder wenn in einem Relativsatze ein neues Bild angeknüpft wird, da dies einen selbstständigen grammatischen Rahmen hat: z. B.

Jn diesem Jahrhundert durfte der Mensch nicht bei sich selbst
den Keim eines Talentes suchen, dessen Quelle sinnlich ist.

Noch wird die Vermischung des bildlichen und eigentlichen Ausdruckes197 zu den Katachresen gerechnet. Solche Katachresen sind oft eine leicht zu vermeidende Jnkorrektheit. Wenn ich z. B. sage: die Säule des Staates nimmt Abschied, so ist dies eine Katachrese. Setz 'ich aber das Bild als Apposition, sag' ich: dieser Held, die Säule des Staates, nimmt Abschied, so ist die Katachrese vermieden. Schon aus diesem einen Beispiel sieht man, das diese Katachresen meistens nur grammatische Licenzen sind, welche durch eine kleine Ergänzung der Phantasie gerechtfertigt werden.

3) Wichtiger, als diese Vermischungen der Bilder, scheint uns der Fehler in ihrer Anwendung, der gegen die bestimmten dichterischen Gattungen verstößt. Eine kurze Metapher im Epos, ein ausgeführtes Gleichniß, eine breit ausgesprochene Allegorie im Drama, ein allzuschwunghaftes Bild im Liede, eine triviale Vergleichung in der Ode scheinen uns Verstöße, welche bei häufiger Wiederkehr den ganzen Organismus des Kunstwerkes gefährden. So sind die Bilder in Goethe's Dramen meistens episch ausgeführt und legen mehr als alles Andere für Goethe's vorzugsweise epischen Styl und seine geringere Befähigung für das Drama Zeugniß ab. Man braucht sie nur mit Shakespeare's Metaphern zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Wir haben schon oben das episch ausgeführte Schlußbild aus Tasso angeführt, wir könnten noch mehrere Gleichnisse aus der Jphigenie zum Beleg citiren. Der Dichter kann es nicht unterlassen, Nebenbestimmungen, die episch hemmend sind, und bei denen die dramatisch schlagende Vergleichung aufhört, mit in das Bild aufzunehmen z. B.

Denn wie die Fluth, mit schnellem Strome wachsend,
Die Felsen überspült, die in dem Sand
Am Ufer liegen: so bedeckte ganz
Ein Freudenstrom mein Jnnerstes.

Wie charakteristisch ist nicht der Zusatz, aber wie undramatisch die homerische Vergleichungsweise! Umgekehrt geben Ossian's oft kurze und stimmungsvolle Metaphern seinen epischen Gedichten einen lyrischen Beigeschmack, obgleich es ihm nicht an zahlreichen ausgeführten Gleichnissen fehlt.

198

Vierter Abschnitt. Vers und Reim.

Die Dichtkunst hat die selbstständige Musik der Sprache in ihren Dienst genommen und ausgebildet. Jm Rhythmus trägt sie auf die Sprache, durch die Wiederkehr derselben Momente, ein ideales Zeitverhältniß über und entbindet, unter diesem Taktschema, die Stärke und Schwäche der Sprach-Elemente zu einem musikalischen Gange; im Reime aber läßt sie die Klangfähigkeit der Sprache zu ihrem Rechte kommen und erzeugt, durch die Wiederholung derselben Klänge, einen sprachlichen Akkord, der sowohl die Grenze des einzelnen Verses schärfer markirt, als auch das Gefühl koncentriren hilft.

Der Rhythmus wird also zunächst wie ein abstraktes Schema über die Sprache ausgebreitet; er ist eine auf die Sprache angewendete Zeit - Eintheilung. Es kommt nun darauf an, welche Elemente der Sprache er zu ihrer Belebung gebrauchen kann, und in der That unterscheiden sich hiernach die beiden Hauptsysteme der Rhythmik das altklassische und das romanisch-germanische. Die regelmäßige Wiederkehr der Längen und Kürzen, welche den Rhythmus hervorruft, macht es zunächst nothwendig, die Längen und Kürzen zu bestimmen. Die Plastik der Griechen und Römer gab auch gleichsam der Sprache einen schönen Leib; sie maß die Sylben nach ihrer Quantität mit aller Strenge und bestimmte ihre Länge und Kürze nach feststehenden Grundsätzen der Messung für die Poesie, abweichend von der Aussprache des gewöhnlichen Lebens. Jede Sylbe hatte ihre kanonische Bedeutung in der Prosodie, und nur durch die Stellung, die Position, durch welche kurze Sylben lang werden konnten, kam eine etwas freiere Bewegung in diese stereotype Welt des strengen Maaßes. Dabei kam es auf die Bedeutung der Sylben im Worte oder als Wörter nicht an: die kleine Partikel konnte lang sein, während das zweisilbige Adjectivum aus zwei Kürzen bestand; die Stammsylbe kurz, während eine der abgeleiteten Flexionssylben als Länge gemessen wurde. Es war, als ob die Sprache sich einer besondern Leiblichkeit erfreute und dieser Leib, wie der plastische Leib der olympischen Ringer und der meerentsteigenden Phrynen, seine eigene Seele habe.

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Gegenüber dieser strengmessenden, quantitirenden Rhythmik steht die altdeutsche accentuirende, welche die Längen nur nach dem Accent, d. h. nach der Bedeutung der Sylbe im Worte oder als Wort bestimmt. Jn diesem System der Hebung und Senkung wurden die bedeutungslosen Sylben, die Kürzen, ihrer Zahl nach nicht einmal beachtet; es kam in dem Verse nicht einmal auf ihre Stellung vor oder nach der Länge an, sondern die Zahl der Längen, der Hebungen, bestimmte den Vers, der dadurch, auf Kosten der rhythmischen Freiheit, eine freie und charakteristische Beweglichkeit gewann. Gerade die schwankende, hin und her wogende Rhythmik machte für diesen Vers den Reim zu einer Nothwendigkeit, der sowohl seine Grenze fixirte, als auch die mangelhafte Musik des Rhythmus durch seinen volltönenden Schlußakkord ergänzte.

Mit der selbstständigen Nachbildung der antiken Metren, durch welche sich Voß und Klopstock große Verdienste um die Entwickelung unserer Literatur erworben, wurde indeß auch die Fähigkeit der deutschen Sprache zu einer strengeren rhythmischen Behandlung nachgewiesen, und es kam darauf an, eine Mitte zwischen den beiden Systemen zu suchen, welche dem Geiste der fortentwickelten Sprache angemessen war. Voß legte in seiner Zeitmessung der deutschen Sprache die Grundlagen unserer modernen Metrik, indem er zwar die Längen und Kürzen der deutschen Sylben maß, aber nicht nach den Regeln der Griechen und Römer. Die germanistische Reaktion gegen diese Zeitmessung, die Rückkehr zum Princip der bloßen Betonung, der Hebungen und Senkungen, kann nur für beschränkte Versformen Anerkennung finden und würde bei konsequenter Durchführung unser musikalischgebildetes Ohr wieder an eine rohere Rhythmik gewöhnen, welche der Fortschritt der Literatur selbst beseitigt hat. Das einzige Ueberbleibsel dieser älteren rhythmischen Praxis ist die Nibelungenstrophe, in deren Anwendung indeß auch das allzu Unregelmäßige in der Aufeinanderfolge der Längen und Kürzen heutzutage beseitigt wird. Wo sonst dies System der Hebungen und Senkungen zur Anwendung kommt, wie z. B. in Schiller's Bürgschaft, Heine's Liedern, Waldau's Cordula, beschränkt es sich mit Recht darauf, daß die Zahl der Kürzen freigegeben ist, daß es gleichgiltig ist, ob und an welcher Stelle ich eine oder zwei Kürzen in die Senkung setze,200 während die Aufeinanderfolge der Kürzen und Längen, der entweder jambische oder trochäische Charakter, regelmäßig festgehalten wird. Auf der andern Seite würde das Bestreben, die deutschen Sylben nach griechischen Regeln zu messen, eine Sylbe wegen des gedehnten Vokals, des Doppellautes, des Begegnens mehrerer Konsonanten als lang bestimmen zu wollen, nur eine lächerliche Pedanterie sein, die mit dem Charakter unserer Sprache in offenbarem Widerspruch stünde.

Da wir hier keine ausführliche Prosodie und Metrik geben können*)Wir verweisen in Bezug auf die antike Metrik auf zwei gründlich eingehende Werke: Munck, die Metrik der Griechen und Römer (1834); Freese, griechischrömische Metrik (1842); in Bezug auf die altdeutsche besonders: Lachmann, über althochdeutsche Betonung und Verskunst (Abhandl. der Königl. Akademie 1834); über neue Metrik: Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache, 2te Ausgabe 1831; besonders Minckwitz: Lehrbuch der deutschen Prosodie und Metrik, Leipzig 1844., so wird es genügen, einige Hauptbestimmungen anzuführen. Die Sylben der deutschen Wörter sind entweder lang, kurz oder mittelzeitig (schwebend). Wie schon Lachmann bemerkt, ruht der Hauptton im Deutschen in der Regel auf der ersten Sylbe.

Lang sind alle einsylbigen Haupt - und Stammsylben, Substantive und Adjective, alle einsylbigen Zeitwörter, Zahlwörter u. s. f.

Lang sind alle Stammsylben auch in Zusammensetzungen, selbst wenn sie den Accent verloren haben; ferner die Endungen aller Substantive, Adjective und Adverbien, welche von veralteten Stämmen abgeleitet werden.

Kurz ist der bestimmte Artikel, es, er, du, sie, zu vor den Jnfinitiven, so vor dem Nachsatz, die Präpositionen in, an, zu, die Vorsylben, die ein e haben, die Veränderungssylben, die ein tonloses e haben, in der Deklination und Konjugation, die Ableitungssylben, die ein e haben.

Mittelzeitig sind kurze Sylben, die durch ihre Stellung im Verse lang werden können z. B. ein, und, ich, du, er, sie, bis, nach, nie, die Vorsylben mit, voll, un, die Endungen ung, niß, lig, lich, icht, ei und lei, die Envokale a, o, e.

Die weitere Ausführung mag man in den in der Note bezeichneten Werken nachlesen! Diese Bestimmungen sind nicht willkürlich, und durch ihre strenge Beobachtung, wie wir sie besonders bei Platen finden,201 gewinnt die Architektonik des Versbaues eine der antiken Plastik sich nähernde Grundlage, ohne den freieren Schwung der deutschen Gedankenlinien einzubüßen. Es ist für die Bildung der Gegenwart unmöglich, wie Platen's Dichter Kind im romantischen Oedipus, Holzklotzpflock als Daktylus zu benutzen; und ähnliche Daktylen bei Schiller berühren das Ohr auf das Unangenehmste.

Durch Vereinigung mehrerer Längen und Kürzen entsteht der Versfuß, durch Verbindung mehrerer Versfüße die Versreihe, welche entweder allein oder in Verbindung mit einer andern den Vers bildet. Die Versfüße sind entweder gleichmäßig und bestehn nur aus Längen oder Kürzen, oder ungleichmäßig, indem sich Längen und Kürzen vermischen. Der einzelne Vers selbst wird sichtlich gegen den nächstfolgenden abgegrenzt, eine Grenze, die im Hexameter der im sechsten Fuß allein gültige Spondäus bezeichnet, während sie am schärfsten in der neuern Dichtung durch den Reim bestimmt wird.

Das Geheimniß der Rhythmik besteht in dem Wechsel von Hebung und Senkung, Arsis und Thesis; in der Hebung dürfen im Deutschen nur Längen stehn; ein Lesen mit Beachtung der rhythmischen Bewegung nennt man Skandiren. Jeder Einschnitt des Wortfußes in den Versfuß ist eine Cäsur im weitern Sinne; Cäsur im engern Sinne ist der Hauptabschnitt in der Mitte der größern Verse, der die Abtheilung in zwei ganz gleiche Hälften verhindert. Häufige Cäsuren im weitern Sinne, Verschlingungen der Wort - und Versfüße, geben dem Vers größere Beweglichkeit und rhythmische Kraft, während das häufige Zusammenfallen Beider dem Vers eine einschläfernde Monotonie giebt z. B.

Deine Blumen kehren wieder
Deine Tochter kehret nicht!

Jndem der Ab - und Aufschwung des rhythmischen Taktes die Seele in eine freiere Stimmung versetzt und den dichterischen Gedanken nicht hemmt, sondern trägt, gewährt er zugleich das Recht zu Freiheiten der Sprache, welche das erhöhte Bewußtsein dieser Stimmung geben. Hierher gehören zunächst die syntaktischen Licenzen, welche dem Dichter erlauben, zu den naiven Konstruktionen der werdenden Sprache zurückzukehren. Er darf das Zeitwort im Deutschen vor das von ihm regierte202 Object, das Adjectivum nach das Substantivum setzen, den Genitiv durch Einschiebung von unbedeutenden Wörtern von seinem Subject trennen u. s. f. Eine zweite Licenz, deren Mißbrauch allerdings verderblich werden kann, ist die Elision, die Ausstoßung von Vokalen. Jn der Regel findet sie statt, um den Hiatus, das Zusammentreffen zweier Vokale, zu vermeiden; seltener darf sie vor Konsonanten eintreten. Sie ist erlaubt

1) Bei dem e des Genitivs und Dativs, wo sich auch die Prosa ihrer bedient, z. B. des Freunds, dem Freund statt des Freundes, dem Freunde.

2) Bei dem e im Präsens und Jmperativ, mag nun ein Vokal oder Konsonant folgen; ich seh 'ihn, ich seh' die Stadt.

3) Bei dem e des Jmperfektums, wenn ein Vokal folgt: stellt 'ich, nur nicht wenn es dann für das Ohr mit dem Präsens zusammenfällt; wie: stellt' er.

4) Bei dem e und i in der Mitte der Adjektive und Participien z. B. errung'ner Sieg, ros'ge Wange.

Dagegen ist die Elision störend

1) Bei dem e des Jmperfektums, wenn ein Konsonant darauf folgt z. B. jagt 'jener, macht' seine Rechnung er.

2) Bei dem e des Nominativ im Singular z. B. die Erd 'ist rund, eher schon erlaubt im Plural: die Stern' am Horizont. Oeftere Elisionen dieser Art geben dem Style große Härte und lassen die einzelnen Wortstämme gleichsam kahl und ihrer schützenden Aeste beraubt dastehen. Ebenso unmöglich ist eine Elision wie süß 'Empfindungen obwohl der Hiatus hier ebenso unerträglich ist. Was diesen selbst betrifft: so läßt er sich in der deutschen Sprache nicht immer vermeiden, und seine Härte ist oft geringer, als die einer gewaltsamen Elision. Am härtesten ist der Zusammenstoß zweier e: z. B. seine Ehe, liebte er, dann der des e und i: z. B. liebe ich, hoffe ich und zweier u und o: z. B. du Unsel'ge. Doch ist selbst Platen hiervon nicht ganz frei, z. B.:

und so oft in erneuendem Umschwung
Jn verjüngter Gestalt aufstrebte die Welt.

Romantischer Oedipus.

Bei solchen Wendungen und Partikeln, wie: die er, die ihr, wie ich, so oft ist er in der That, da sie sich nicht umgehen lassen, im Deutschen203 zu dulden, um so mehr, als das Ohr hier leichter über die einsylbigen Wörter hinweggleitet. Doch ist Achtsamkeit auf den Hiatus unerläßlich, da ein mit seinen Mißklängen und außerdem mit harten Elisionen ausgestattetes Gedicht einen durchaus unkorrekten und schülerhaften Eindruck macht.

Was nun die einzelnen Versfüße betrifft, so wollen wir nur diejenigen herausheben, welche für die moderne deutsche Dichtung wesentlich sind.

Einfache Versfüße.

1) Der Trochäus, aus einer Länge und einer Kürze bestehend: _

Vater, Mutter, ging er.

2) Der Jambus, aus einer Kürze und einer Länge bestehend: _

geliebt, Gebet.

3) Der Daktylus, aus einer Länge und zwei Kürzen bestehend: _

z. B. selige, süßere.

4) Der Anapästus, aus zwei Kürzen und einer Länge bestehend: _

in der Nacht, er entkam, und es traf.

5) Der Spondäus, zwei Längen: _ _

Meerschiff, urbar.

    • 6) Der Pyrrhychius, zwei Kürzen
    • 7) Der Tribrachys, drei Kürzen
    kommen in einzelnen Wörtern im Deutschen nicht vor.

8) Der Kretikus, _ _, eine Länge, eine Kürze, eine Länge:

heißgeliebt, Vaterland.

9) Der Molossus, drei Längen: _ _ _

schwermuthsvoll, Urweltsnacht.

10) Der Amphibrachys, eine Kürze, eine Länge, eine Kürze: _

geliebte, du kennst mich. Mehrtheilige Versfüße.

1) Der Choriambus, eine Länge, zwei Kürzen, eine Länge: _ _

wonnebeseelt, müde der Ruh, seliges Herz.

2) Der Antispastus, eine kurze, zwei lange und noch eine kurze Sylbe umfassend: _ _

Triumphzüge, des Herrn Wille.

204

3) Der erste Jonikus _ _

4) Der zweite Jonikus _ _

Die vier Epitrite, aus drei Längen und einer Kürze bestehend und je nach der Stellung der Kürze an der ersten, zweiten, dritten oder vierten Stelle in vier Klassen getheilt, sowie die vier Päone, aus drei Kürzen und einer Länge bestehend und ebenfalls nach dem Platz, den die Länge nimmt, unterschieden, mögen hier nur flüchtig erwähnt werden.

Wird der Jambus und Trochäus verdoppelt, so entsteht die jambische und trochäische Reihe, Dipodie:

_ _ | _ _ |

Ueberhaupt sind im Deutschen selbstständig Versbildend von diesen Versfüßen nur die vier ersten, der Trochäus und Jambus, Daktylus und Anapästus, und außerdem etwa noch der Choriambus. Wir werden den Charakter der durch sie gebildeten Versmaaße im nächsten Kapitel näher untersuchen. Die übrigen Versfüße dienen nur als Ersatz zur Bereicherung des Rhythmus oder finden in den verwickelteren Zusammensetzungen der heroischen Odenstrophe und den deutschen Nachahmungen eine Stelle. Wenn auch die deutsche Metrik exakt, die deutsche Rhythmik ausdrucksvoll genug ist, den reimlosen Versen ein charakteristisches Gepräge zu geben: so erschließt doch in allen germanischen Zungen erst der Reim den vollen Zauber des sprachlichen Wohlklangs. Der Reim ist keineswegs die Erfindung eines besonderen Volkes, der Araber oder irgend eines andern; er ist eine innere Nothwendigkeit der accentuirenden Poesie, denn er hebt den Accent hervor und kräftigt dadurch den Rhythmus. Schon die ältesten poetischen Denkmäler in den romanischen Sprachen, im Provençalischen, Alt - und Nordfranzösischen sind gereimt. Jm Althochdeutschen gelangte der Endreim in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts zur ausschließlichen Herrschaft, und auch in der altnordischen z. B. der isländischen Poesie herrschte der Reim im eigentlichen Volksliede (rùnhuda). Der Endreim ging aus der Alliteration, der Wiederholung von gleich oder ähnlich klingenden Konsonanten am Anfang der einzelnen Wörter und Sylben, noch mehr aber aus der Assonanz, dem Anklange der Vokale in mehreren aufeinander folgenden Wörtern oder in den Schlußwörtern der Verse hervor. Diese historischen Vorklänge205 des Reimes haben für unsere Zeit keine andere Bedeutung, als daß sie mit Glück zu onomatopöischer Malerei angewendet werden können.

Der Reim, als der volle Gleichklang der Sylben und Wörter bei verschiedenen Anfangsbuchstaben, behauptet seine Bedeutung für die deutsche Poesie auch, seit dieselbe in ihrer Weise die antiken Versmaaße nachgeahmt und dem eigenen Sylbenmaaß ein festes Gesetz gegeben. Da sie dadurch nicht zu einer quantitirenden im alten, plastischen Sinne des Wortes geworden, sondern eine accentuirende geblieben ist: so ist der Reim nicht zu einem luxuriösen Klange herabgesetzt, sondern der nothwendige musikalische Schlußstein des Rhythmus geblieben. Auch ist es eine irrige Ansicht vieler Philosophen und Aesthetiker, daß der kunstvollere Rhythmus und der Reim sich ausschließen, daß z. B. die Architektonik der antiken Strophe den Reim unter keiner Bedingung ertrage. Sie vergessen dabei ganz, daß der deutsche Rhythmus vom antiken wesentlich verschieden ist, indem bei ihm nicht die Guantität, sondern der geistige Accent entscheidet, und daß der Reim wesentlich dazu beiträgt, ihn hervorzuheben. So sagt Guest in seiner history of English Rhythmus (London, 1838, I., 116.): Der Reim ist nicht, wie man gewöhnlich glaubt, eine bloße Zierde; er markirt den Accent und hebt ihn hervor und trägt und kräftigt dadurch den Rhythmus*)It marks and defines the accent and thereby strengthens and supports the rhythm.. Seine Bedeutung für die Strophenbildung werden wir später kennen lernen. Deshalb hab 'ich in meinen Neuen Gedichten gewagt, die antiken Horazischen Strophen zu reimen, indem ich überzeugt bin, daß gerade ihr rhythmischer Gehalt, statt dadurch abgeschwächt zu werden, weit lebhafter hervorgehoben wird und sich dem deutschen Ohr melodischer einschmeichelt. Die Strophen selbst sondern sich klarer; unnöthige enjambements, Worthäufungen, pedantische Konstruktionen werden vermieden, indem der Reim selbst auf größere Lichtung des Ausdrucks hinwirkt; der rhythmische Gang aber prägt sich durch den volltönenden Abschluß der Zeile um so lebhafter dem Ohre ein. Sollte es mir nicht gelungen sein, die Vorzüge dieser Neuerung zur Geltung zu bringen: so liegt der Fehler nur an der Schwäche meines Talentes, keineswegs an dem Princip selbst, das ein206 glücklicher begabter Dichter nach mir gewiß mit Erfolg in Anwendung bringen wird.

Der Reim als ein sinnlicher Vollklang ist nur dann schön, wenn dieser Klang mit voller Harmonie ausgeprägt ist; daher ist die Reinheit des Reimes eines der wesentlichsten Erfordernisse gereimter Dichtung. Jede Verkürzung seiner Schönheit macht ihn eigentlich überflüssig oder verwandelt ihn in eine Assonanz. Das Beispiel unserer klassischen Dichter ist hierin nicht maaßgebend; wir haben in Platen einen Klassiker der Form, welchem die jüngere Generation nachstreben soll; denn der Fortschritt der Sprache selbst erleichtert die Erfüllung der Forderungen, welche die strenge Technik an den Dichter stellt.

Die Reinheit des Reimes wird erreicht:

1) Durch die vollkommene Gleichartigkeit der Vokale und Konsonanten. Hiergegen wird besonders bei den Diphthongen gefehlt. Reime, wie höhlt und fehlt, dräun und Reihn u. dgl. m., sind fehlerhaft, wenn sie sich auch bei Schiller finden. Höchstens kann man den Reim eines e und eines leicht betonten ä gestatten. Ebenso müssen die Konsonanten sowohl in ihrer Aufeinanderfolge als in ihrem harten oder weichen Charakter entsprechend sein. Reich und Zweig, eigen und Leichen sind unreine und fehlerhafte Reime. Auch darf man nicht einen langen und einen kurzen Vokal aufeinanderreimen z. B. Straßen und lassen, Bahn und heran.

2) Durch die Gleichartigkeit in Bezug auf den Accent. Man darf nur Sylben reimen, auf denen der gleiche Accent ruht z. B. nicht: Gĕbēt und lēbĕt, vĕrblīch und ērblĭch.

Man theilt die Reime in Bezug auf die Sylbenzahl in männliche (einsilbige) z. B. Reim, Keim, weibliche (zweisylbige) z. B. Wasser, Prasser, gleitende (dreisylbige) z. B. gleitende, schreitende. Außerdem erwähnt man noch den zweisylbigen schwebenden Reim, der, wie der gleitende aus Daktylen, so aus Spondäen besteht z. B. ehrlos, wehrlos. Der sogenannte reiche Reim d. h. die vollständige Wiederholung desselben Wortes in einer anderen oder gar in derselben Bedeutung, ein Reim, der von der französischen Poesie in erste Reihe gestellt wird, ist im Deutschen wohl ganz zu verwerfen und verdient in unserer Sprache eher ein armer genannt zu werden; denn der207 Reim verlangt außer dem Reiz der Wiederholung auch den leise angedeuteten Reiz des Kontrastes, der durch die Verschiedenheit der Anfangs - Konsonanten erzeugt wird.

Die eben angeführte Eintheilung der Reime ist keineswegs blos von formalem Werth. Abgesehn davon, daß sie bei der Bildung der Strophen durch den Wechsel längerer und kürzerer Verszeilen in's Gewicht fällt, hat jeder dieser Reime seinen bestimmten Charakter. Der männliche giebt dem Vers Ernst, Würde, Festigkeit, Energie; der weibliche Weichheit, Milde, sanftes Hinschmelzen; der gleitende höchste Beweglichkeit und Munterkeit, der schwebende eine gewichtvolle Hemmung und Besinnung. Die beiden letzten werden indeß nur ausnahmsweise gebraucht, sowie sich auch in den deutschen Gaselen hin und wieder ein gereimter Kretikus findet. Wenn die Reinheit des Reimes für seine sinnliche Schönheit unumgänglich ist: so kann seine geistige nur durch die volle Bedeutung des Wortes gewahrt werden, das sein Träger ist. Der Reim ist der volltönende Schlußaccent des Verses setzt man ein bedeutungsloses Nebenwort an diese doppelt hervorgehobene Stelle, so erhält der ganze Vers einen matten und nichtssagenden Charakter. Gereimte Partikeln und beiläufige Bezeichnungen jeder Art sind in der That unleidlich. Wenn dagegen der Reim das geistig entscheidende Wort des Verses trägt, wenn die beiden gereimten Verszeilen mit ihrer geistigen Quintessenz sich im Reim begegnen: so erhalten die Verse jenen Zauber und jene Energie, welche das echte Gepräge des dichterischen Genius sind.

Ebenso wie die Bedeutungslosigkeit der Reime ist ihre Trivialität zu vermeiden, die stereotype Wiederkehr beliebter Klänge, besonders der Minnelyrik. Nichts giebt einer Dichtung einen so blassen und fadenscheinigen Charakter, als dieses Schaugepränge abgetragener Reime, wie Herzen, Schmerzen, Liebe, Triebe. Jn neuer Zeit hat man hierin Fortschritte gemacht und dem Reim mehr Neuheit und Arom zu geben verstanden, wenn auch vielleicht Freiligrath mit seinen exotischen Reimen und gereimten Fremdwörtern zu weit gegangen ist. Ein Beispiel von ebenso gedankenkräftigen, wie neuen und aromatischen, den Charakter der Dichtung selbst spiegelnden Reimen giebt folgende Stelle aus Hermann Lingg's Spartakus.

208
Versammelt hielt sein Sclavenheer
Der Tracier Spartacus am Meer,
Und auf zum rauchenden Vesuv
Erklang der wilde Freiheitsruf:
Von nun an Männer, nicht mehr Sclaven,
Erheben wir das Schwert und strafen
Der Unterdrücker Uebermuth.
Du Berg dort blitz 'in uns're Rache,
Der Menschheit ganzes Herz erwache
Jn uns, um ihr verlornes Gut.
Germanen, Skythen, Perser, Parther,
Jllyrier, Gallier, Dacier, Sparter,
Jetzt treffet, daß die Wunde klafft.
Wir waren lang genug die Schlächter
Für dieses Volkes Blutge lächter,
Genug die Mörder uns'rer Kraft.
Ein Tiger lauert in der Schlucht,
Auf, Nubier, jagt ihn in die Flucht.
Ein Wolf ist's, Cimbern, der euch droht,
Schwingt eure Keulen, schlagt ihn todt!
Beweist die Kraft der erz'nen Sehnen,
Die ihr so oft in den Arenen
Beim lauten Beifallruf erprobt;
Doch diesmal, wenn der Sand zerstoben,
Soll euch der todte Römer loben,
Wie lebend er euch nie gelobt.
Erhebt die Schwerter, schwingt die Sensen.
Gebt ihnen Feste, gebt Circensen,
Gebt einen Gladiatorenkampf!
Kämpft! Kämpft, bis über Leichen wogen
Das Roß der Ritter Purpurtogen
Jn Staub und Fetzen niederstampf'.

Mit Ausnahme der letzten etwas harten Elision, die im Reim zu vermeiden ist, und der nicht ganz reinen Reime: Vesuv und Ruf, Sclaven und Strafen, die indeß für das Ohr erträglich sind und mehr das Auge beleidigen, haben wir hier eine Reihenfolge reiner, gedankenkräftiger und neuer Reime, welche die Energie des ganzen Gedichtes außerordentlich stützen. Durch die in den Reim gestellten Wörter: Circensen, Arenen, Togen wird das römische Kolorit des Gedichtes und209 selbst der Charakter des Sclavenaufstandes kräftig hervorgehoben, während diese Reime dabei durch ihre ungesuchte Neuheit einen frischlebendigen Eindruck machen.

Fünfter Abschnitt. Die vorzüglichsten Versmaaße.

Jedes Versmaaß hat seine rhythmische Bedeutung, seinen bestimmten Charakter. Dieser Charakter erleidet wesentliche Modifikationen durch die Zahl der Füße, welche den einzelnen Vers bilden, durch die volle Beendigung der rhythmischen Reihe oder den Abbruch mitten im Takte (Katalexis), durch die Art und Weise, wie katalektische und akatalektische Verse verknüpft werden, und durch die Bildung der Verse zu Strophen, welche meistens durch den Reim bestimmt wird.

1. Das trochäische Versmaaß.

Man nimmt als kleinste Einheit in der Regel die trochäische Dipodie (_ _ an, in welcher sich schon kleinere Gedichte bilden lassen. Wie das Vorausgehn der Kürze vor der Länge in der Regel dem Vers einen andringenden, hinausstürmenden, thatkräftigen Charakter giebt: so erhält der Vers durch die Stellung der Länge vor der Kürze einen mehr nach innen gewandten, reflektirenden Zug. Der Vers beginnt gleichsam mit dem vollen, beruhigten, selbstgewissen Klang und breitet sich aus in einem gemäßigten Hin - und Herwogen! Die Emphase der Seele geht voraus und trägt den Vers; sie nimmt die äußere Welt in sich hinein, wie die Kürze während des ganzen Verses bis zum Schluß zwischen den Längen steht. Besteht der trochäische Vers aus sehr wenigen oder aus sehr vielen Füßen: so erhält dieser Zug der Betrachtung einen mehr heitern und schwunghaften Charakter, während die mittlere Zahl der Füße ihn für das Elegische und Sentenziöse geeignet macht.

Der längere trochäische Vers kann durch Daktylen, nur nicht im ersten und letzten Fuße, weil dadurch im An - und Austönen der Charakter des Trochäus überhört werden würde, lebendiger, durch Spondäen im zweiten Fuße jeder Dipodie gewichtiger gemacht werden. Doch ist besonders210 der Daktylus nur sehr selten und mit großer Vorsicht anzuwenden, weil der aufdringliche Tonfall dieses Versfußes leicht dem Ganzen einen hüpfenden Charakter verleiht. Die deutsche Sprache ist sehr reich an Trochäen; aber indem selbstständige Wörter sehr oft diesen Versfuß bilden, ist hier das Zusammenfallen des Vers - und Wortfußes eine schwer zu vermeidende Gefahr.

a. Die trochäische Dipodie.

_ _ |

Der einzelne Doppelfuß bildet schon eine Verszeile, abwechselnd mit dem Kretikus, der eben eine katalektische, trochäische Dipodie ist. Doch werden beide am besten nicht regelmäßig wechselnd neben einandergestellt, sondern der Kretikus erst nach mehreren Dipodieen als Ruhepunkt.

Dieser Vers eignet sich für die leichtere Betrachtung:

Was ich thue
Und vollbringe,
Jch erringe
Nie die Ruhe.

Platen.

oder für das anmuthige Naturbild:

Jn die Blüthen,
Jn die Blätter
Rauscht das erste
Frühlingswetter,
Ruft die erste
Nachtigall,
Aller Blumen
Kelche füllend,
Himmlisch, himmlisch
Zu den Wolken
Aus dem Thal.

Leopold Schefer.

b. Dreifüßige Trochäen.

_ _ _ _ _ _

Dies Versmaß, in welchem der katalektische und akatalektische Vers, der männliche und weibliche Reim mannichfach wechseln können, hat einen211 ernsteren Charakter. Lauter katalektische Dreifüßler eignen sich für eine scharf abgerissene, blitzartig hingeworfene Schilderung:

Sonnenuntergang,
Schwarze Wolken ziehn,
O wie schwül und bang
Alle Winde fliehn!
Durch den Himmel wild
Jagen Blitze bleich;
Jhr vergänglich Bild
Wandelt durch den Teich.

Lenau.

c. Vierfüßige Trochäen.

_ _ _ _ _ _ _ _

Sie können auch mit dreifüßigen wechseln nach folgendem Schema:

_ _ _ _ _ _ _

Dein gedenkend irr 'ich einsam
Diesen Strom entlang,
Könnten lauschen wir gemeinsam
Seinem Wogenklang.

Lenau.

Am gebräuchlichsten ist die folgende Strophenbildung:

Wenn des Gottes letzter milder
Schimmer sich vom See verlor,
Steigen mir Gedächtnißbilder
Aus der Welle Nacht empor.

Platen.

Die vierfüßigen Trochäen prägen den Charakter dieses Versmaßes am reinsten aus und werden daher auch vorzugsweise angewendet. Dieser Vers hat einen ernst beschaulichen Charakter; er eignet sich für Sentenzen, für Antithesen, für ein träumerisches und glänzendes Gedankenspiel. Er hat gerade das Maaß zu einer knappen, scharfzugespitzten Sentenz, welche der nächste Vierfüßler antistrophisch ausführen oder erwiedern kann. Dabei ladet er zu Parallelismen der Bilder und zu Anaphoren ein, z. B.

Träumet, wer beginnt zu steigen;
Träumet, wer da sorgt und rennt;
212
Träumet, wer von Haß entbrennt,
Kurz, auf diesem Erdenballe
Träumen, was sie leben, alle,
Ob es Keiner gleich erkennt.

Calderon (nach Gries).

Das folgende Beispiel zeigt dagegen seinen für die Sentenzenfülle geeigneten Charakter:

Was ist Leben? Raserei!
Was ist Leben? Hohler Schaum!
Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben,
Denn ein Traum ist alles Leben,
Und die Träume selbst sind Traum.

Calderon (nach Gries).

Jn der That ist dies die Art und Weise, in welcher die spanischen Dramatiker diesen Vers behandelt haben. Jhre Eigenthümlichkeit, das blendende und schlagende Phantasiespiel, die Dialektik der Begriffe, der Pomp der Schilderung, die Häufung der Sentenzen und Bilder, hängt wesentlich mit dem Gebrauche dieses Verses zusammen. Doch da gerade diese Eigenschaften keine Vorzüge des dramatischen Styles sind, der im Gegentheile Energie des Ausdrucks und die Vermeidung alles überflüssigen Pompes in weithingezogenen Schilderungen und Betrachtungen verlangt: so kann die Anwendung des vierfüßigen Trochäus im deutschen Drama nicht gebilligt und anempfohlen werden. Nach dem Vorgang der Romantiker haben die deutschen Schicksalstragöden Müllner in der Schuld, Grillparzer in der Ahnfrau, Houwald im Leuchtthurm, außerdem Schenk im Belisar, Beer im Paria, Auffenberg in der Alhambra, Raupach, Zedlitz u. A. in einigen Dramen den vierfüßigen Trochäus in Anwendung gebracht; aber nicht ohne damit ein ebenso spitzfindiges wie weitschweifiges Pathos, eine an Wiederholungen reiche Redseligkeit zu verbinden und die lyrische Reflexion über die dramatisch-straffe Motivirung überwiegen zu lassen, Fehler, zu denen dieser reflektirende Vers von selbst verführt. Auch die spanische Romanze hat ihn für ihre epische Lyrik gebraucht; der Cid von Herder giebt uns ihre Klänge anmuthig wieder. Für die Epik sind die Anaphoren und Epistrophen dieses Vierfüßlers emphatische Mittelglieder zur Fortführung der Erzählung, z. B.

213
Jn dem Dome zu Korduva
Stehen Säulen dreizehnhundert,
Dreizehnhundert Riesensäulen
Tragen die gewalt'ge Kuppel.

Heine.

oder:

Jn dem Schloß zu Alkolea
Tanzen zwölf geschmückte Damen,
Tanzen zwölf geschmückte Ritter,
Doch am schönsten tanzt Alonzo.

Heine.

Jm letzten Gesange meines Carlo Zeno hab 'ich den vierfüßigen Trochäus gebraucht, weil er mir zum elegisch reflektirenden Charakter, den hier die Dichtung annimmt, zu stimmen schien.

d. Fünffüßige Trochäen.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Schwermuthsvoll und dumpfig hallt Geläute
Vom bemoosten Kirchenthurm herab.

Hölty.

Schweigend in der Abenddämm'rung Schleier
Ruht die Flur, das Lied der Haine stirbt;
Nur daß hier im alternden Gemäuer
Melancholisch noch ein Heimchen zirpt.

Matthisson.

Man hat, wie diese Beispiele zeigen, den Vers früher zum vollen und schweren Austönen einer melancholischen Stimmung, zu Elegieen im engeren Sinne des Wortes benutzt, und in der That eignet er sich hierzu, besonders wenn Spondäen noch seinen hinsterbenden Tonfall schwerer und schmerzlicher machen. Jn neuer Zeit dagegen hat man, erregt durch die serbische Volksepik, den Fünffüßler zum Träger von Balladen, Sagen, Märchen gemacht, ihm aber durch hineinverwebte Daktylen mehr Abwechslung und Lebendigkeit gegeben. Dies Versmaß finden wir in Platen's Abassiden. Ohne solchen daktylischen Wechsel ist die weiße Schlange von Geibel gedichtet, der dafür mit Vorliebe Spondäen anwendet:

Auf der Burg in reichgeschmückter Halle
Schweigsam brütend sitzt der greise Stojan,
Sitzt bei'm vollen Silberkrug und trinkt nicht,
214
Starrt empor bei'm Balkenwerk der Decke,
Das von gold'nen Drachenköpfen funkelt;
Hell in's Fenster lacht die Spätherbstsonne.
e. Sechs - und siebenfüßige Trochäen.

α) _ _ _ _ _ _ β) _ _ _ _ _ _ _

Diese Verse haben einen etwas schwerfälligen und schleppenden Gang und werden daher nur bei Nachdichtungen und ausnahmsweise in Anwendung gebracht. Rückert hat seine Frühlingshymne in trochäischen Siebenfüßlern gedichtet.

f. Der trochäische Tetrameter

_ _ | _ _ _ _ | _ _ |

oder katalektisch _ _ | _ _ _ _ | _ _ |

Dieser trochäische Achtfüßler entsteht dadurch, daß vier trochäische Dipodieen nebeneinander gestellt werden, und zwar trennt eine Cäsur nach dem Schlusse der zweiten Dipodie den Vers in zwei Abschnitte.

Dieser Vers hat einen lebendigen, aber doch dabei würdigen Gang. Er eignet sich daher für eine lebendig gedankenvolle Poesie. Wie die Vierfüßler hat auch der Achtfüßler einen antithetischen Charakter und ist eine passende rhythmische Waffe für scharfen Spott. Nach dem Vorgange des Aristophanes hat sie Platen in den Parabasen, auch im Dialog seiner Lustspiele benutzt:

Weltgeheimniß ist die Schönheit, das uns lockt in Bild und Wort,
Wollt ihr sie dem Leben rauben, zieht mit ihr die Liebe fort:
Was noch athmet, zuckt und schaudert, Alles sinkt in Nacht und Graus,
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus.

Antithetisch spottend sind folgende Tetrameter Platen's:

Mittelmäß'gem klatscht ihr Beifall, duldet das Erhab'ne blos,
Und verbanntet fast schon alles, was nicht ganz gedankenlos.
Ja in einer Stadt des Nordens, die so manches Uebels Quell,
Preist man Clauren's Albernheiten und verbietet Schiller's Tell.
2. Das jambische Versmaaß.

Der Jambus ( _, ein Versfuß, bei welchem die kurze Sylbe der langen vorausgeht, hat, im Gegensatz zum Trochäus, einen energischen,215 anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver, der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange, der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens, des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's, denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt, ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen gegliedert.

Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B. Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen der Wort - und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des Verses noch mehr zugute kommt.

Der Jambus kann mit dem Spondäus und Anapästus wechseln, welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen. 216Doch da z. B. der fünffüßige Jambus nicht nach antiken Dipodieen zu messen ist, so kann auch der Spondäus in ihm seine Stelle wechseln und ist nur im fünften Fuß zu vermeiden, weil er dort dem Vers einen hinkenden, choliambischen Charakter geben würde. Jm ersten Fuß wird er stets am wirksamsten stehen.

a. Die jambische Dipodie.

_ _

Sie wechselt in der Regel mit einem hyperkatalektischen Jambus _ _ . Sie eignet sich zu leichten, anmuthigen, tändelnden Gedichten:

Jch lobe mir
Mein Dörfchen hier.
Denn schön're Auen
Als rings umher
Die Blicke schauen
Sind nirgends mehr.

Bürger.

b. Der drei - und vierfüßige Jambus

_ _ _ | _ _ _ _ _ _ _ | _ _ _ _

oder beide vereinigt

_ _ _ _ _ _ _

z. B.:

O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange.

Mörike.

Der dreifüßige Jambus, wenn er ganz rein gehalten ist, hat einen sanften Charakter; er bezeichnet ein nicht weitgreifendes Streben, das sich rasch beruhigt:

Das heiße Herz vergißt,
Woran sich's müd 'gekämpft,
Und jeder Wehruf ist
Zur Melodie gedämpft.

Meißner.

Der drei - und vierfüßige Jambus, mit abwechselndem männlichen und weiblichen Reim und strophischen Verschlingungen, welche durch die217 Stellung der Reime bedingt sind, eignet sich zu mannichfachen Ergüssen des Gefühles und Gedankens, welche indeß eine gewisse Mitte gedämpfter Stimmung nicht überschreiten dürfen. Denn das Streben dieser Jamben ist nicht weit hinausgreifend, der Anprall nicht stark genug, um eine größere Energie wirksam auszudrücken. Das Naturbild, die einfache innige Empfindung, der Jnhalt des sangbaren Liedes, besonders in künstlerisch geadelter Form, lassen sich in diesen Drei - und Vierfüßlern, in den mannichfachen Kombinationen ihrer Vereinigung angemessen darstellen. Ebenso eignen sie sich zu Trägern einer ruhigen Reflexion, einer beschaulichen Lebensweisheit Schiller hat die meisten Parabeln und Räthsel, Hebbel, Feuchtersleben, Kinkel, Bodenstedt, Rückert mancherlei Sinngedichte voll abend - und morgenländischer Lebensweisheit in diesen Jamben gedichtet. Z. B.:

Von Perlen baut sich eine Brücke
Hoch über einen grauen See;
Sie baut sich auf im Augenblicke
Und schwindelnd steigt sie in die Höh '.

Schiller.

Schilt nimmermehr die Stunde hart,
Die fort von dir was theures reißt.
Sie schreitet durch die Gegenwart
Als ferner Zukunft dunkler Geist.

Hebbel.

Auch hat Schiller in mehreren seiner Balladen, z. B. die Kraniche des Jbykus und der Kampf mit dem Drachen, sich der vierfüßigen Jamben bedient, deren Ernst und Würde er dadurch zu erhöhen suchte, daß er sie in große Strophen vereinigte.

Verse mit drei und vier Hebungen und Senkungen waren im Altdeutschen bräuchlich, und in der That ist der drei - und vierfüßige Jambus vaterländischen und nicht antik-klassischen Ursprunges. Er verträgt daher auch eine freiere Behandlung und erhält durch die Beimischung zahlreicher Anapäste einen bewegteren und malerischen Charakter. Diesen Vers hat Goethe vorzugsweise in den Monologen und im Dialog seines Faust angewendet, indem er freilich seine Energie durch zahlreiche Fünffüßler verstärkte. Den Vers mit drei Hebungen und Senkungen finden wir in Heine's reizenden Liedern wieder.

218
Die Geisterinsel, die schöne,
Lag dämmernd im Mondenglanz,
Dort klangen liebe Töne
Und wogte der Nebeltanz.

Nach dem Vorgange mittelalterlicher Muster, welche für die epische Erzählung diesen Vers gewählt, wie Gottfried von Straßburg in Tristan und Jsolde, hat man auch in neuer Zeit seine Anwendbarkeit für größere epische Dichtungen versucht, so z. B. Max Waldau in seiner Cordula :

Graubündtner Land, du Netzgestrick
Von Kamm und Thal, von Grat und Schlucht,
Sehtrunken bestaunt des Pilgers Blick
Der Matten Frische, der Felsen Wucht,
Der Wasser Blitz in der Klemmen Spalt
Und greiser Arven Riesengestalt.

Natürlich würde er für ein Epos mit großen Kulturperspektiven und ernstem Völkerkampfe unangemessen sein, weil dazu seine tragende Kraft nicht ausreicht, während die poetische Erzählung, die nur ein persönliches Lebensschicksal behandelt, an diesem beweglichen Rhythmus eine genügende Stütze findet.

c. Der fünffüßige Jambus.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Die Verehrer der antiken Metrik sind sehr geneigt, diesem Vers jede Berechtigung abzusprechen, während die dichterische Praxis der Neuzeit ihn zu ihrem Liebling erwählt hat. Jn der That tritt das Charakteristische des jambischen Metrums in ihm am schlagendsten hervor. Für das lyrische Empfindungselement hat er nicht genug Koncentration dagegen ist er für das Drama, das Epos und das didaktische Gedicht gleichmäßig geeignet. Er hat Lebendigkeit, Spannung und Energie und ist geräumig genug, um größere objektive Ausführungen in sich aufzunehmen, jene bestimmter eingehenden Motivirungen, die für Tragödie und Epos unerläßlich sind. Dabei besitzt er eine hinlängliche Elasticität und Frische, um durch seinen immer neuen Anlauf nicht zu ermüden. Freilich hat man sich nicht mit Unrecht über die Monotonie seines Tonfalls, den sogenannten Jambentrab, besonders in den zahlreichen deklamatorischen219 Tragödieen der Neuzeit beklagt. Diese Monotonie wird aber nur durch eine einförmige Behandlung des Verses hervorgerufen und liegt nicht in seinem Wesen. Der dramatische Jambus verträgt nicht nur häufige Einschnitte, enjambements, die Abwechslung mit Anapästen und Spondäen, sondern er erfordert sie, und wenn der Dichter diese Belebung seines Rhythmus nicht aus Nothbehelf, sondern mit künstlerischem Takt in einer dem Sinne der Verse entsprechenden Weise ausführt, so gewinnt der Vers dadurch einen malerischen Charakter, der ihn zum Ausdrucke des dramatischen Affektes, zur Begleitung der ruhigen Motivirung, der energischen Spannung, der bewegteren Leidenschaft vorzugsweise befähigt. Es ist nicht zu leugnen, daß die fünffüßigen Jamben sich fast nie einer solchen künstlerischen Behandlung erfreut haben, indem theils ihre Korrektheit in Einförmigkeit ausartete, theils ihre freiere Bewegung nur aus Unkorrektheit und Nachlässigkeit hervorging. Shakespeare hat oft mit genialem Jnstinkt den Jambus in einer dem Pathos, das er ausdrücken soll, entsprechenden Weise behandelt, während er ebenso oft ohne Grund ihm einen lässigen und unregelmäßigen Gang gab. Malerisch sind z. B. die Jamben in König Lear's Monolog auf der wetterdurchtobten Haide:

Blow, wind and crack your cheeks! rage! blew!

Diesem Jambus fehlt ein Fuß, aber er tönt gleichsam in kräftigen Donnerschlägen aus. Den Zickzack der Blitze zu schildern wählen die Verse eine geflügeltere Gangart: You sulphurous and thought-executing fires u. s. f. Schiller hat den Jambus am dramatisch lebendigsten in seinem ersten und in seinem letzten jambischen Trauerspiele, im Don Carlos und Wilhelm Tell behandelt. Jm Carlos ist der Dialog durch die Ausbrüche des Affektes mannichfach durchschnitten; die Satzenden fallen nicht mit den Enden der Verse zusammen, was dem Ganzen einen minder getragenen, aber für die Konversation, wie z. B. in der Scene zwischen Carlos und der Eboli, ausdrucksvolleren Charakter giebt; im Tell aber verleiht die volksthümliche Lebendigkeit, die überall eingreifende Thätigkeit der Massen dem Jambus größere Beweglichkeit.

Der fünffüßige Jambus läßt sich sowohl reimlos anwenden, als auch er gerade die volltönendsten und am häufigsten wiederkehrenden220 Reime verträgt und den mannichfachen italienischen Strophenbildungen zu Grunde liegt.

Den reimlosen Fünffüßler (blanc-vers) haben wir von den englischen Epikern und Dramatikern überkommen. Milton's verlorenes Paradies, Glover's Leonidas sind in derselben Form gedichtet, in welcher Shakespeare, Massinger, Beaumont und Fletcher, Otway, mit größerer Elasticität, Addison, Rowe, Congreve u. A. mit stereotyper Korrektheit ihre Tragödieen abfaßten. Der fünffüßige, reimlose Jambus verdrängte in Deutschland den Alexandriner. Nach Schiller's und Goethe's Vorbild haben ihn fast alle Dramatiker der Neuzeit: Körner, Kleist, Grillparzer in den meisten Dramen, Raupach, Uhland, Grabbe und zwar mit den kühnsten Licenzen, Jmmermann, Hebbel, Gutzkow, Prutz, Mosen, ich selbst angewendet. Für das Epos dagegen ist der reimlose Jambus in Deutschland nicht gebräuchlich geworden, und der gereimte nur in bestimmten Strophen. Jn der That erscheint der reimlose Jambus für die epische Dichtung zu kahl und nüchtern. Den gereimten Fünffüßler hab 'ich in der zweiten Abtheilung meines Carlo Zeno für die epische Darstellung in Anwendung gebracht.

Der fünffüßige Jambus bildet die Grundlage für die kunstvoll verschlungenen italienischen Strophen, welche die deutsche Dichtkunst mit ebenso wohllautenden wie zu anmuthiger Gedankenverkettung geeigneten Formen bereichert haben.

α) Das Sonett.

Das Sonett besteht aus vierzehn fünffüßigen Jamben, von denen die je vier ersten und die je drei letzten eine Strophe bilden. Die erste, vierte, fünfte und achte Zeile, die zweite, dritte, sechste und siebente reimen mit einander, während die Reimverknüpfung der sechs letzten Zeilen eine beliebige ist. Das Sonett ist eine ebenso kunstvolle wie schöne Form für die reflektirende Lyrik. Wie das antike Distichon im Hexameter den Gedanken episch ausbreitet, im Pentameter innerlich zusammenfaßt: so liegt derselbe Formgedanke der strophischen Architektonik des Sonetts zu Grunde. Das Sonett ist das in ein romanisches Reimgebäude verwandelte antike Distichon. Jn den beiden ersten Strophen breitet221 sich das Gefühl melodisch aus, diese Ausbreitung ist voll und ungehemmt; sie braucht nicht bei dem zweiten Reim in der vierten Zeile zu stocken; sie geht mit einem, sich in den Klängen wiegenden Behagen bis zur fünften Zeile weiter und ruht erst in der achten aus, wo sie den vierten wiederkehrenden Reim der ersten Zeile als willkommenen Schlußstein begrüßt.

Dann beginnt aber die Rückkehr des Gefühles und des Gedankens zu einem melodischen Abschluß, wie ihn der Pentameter des Distichon's ausdrückt, und sowie dieser Fünffüßler einen Fuß weniger hat, als der Sechsfüßler, so hat die zweite Abtheilung des Sonettes einen Reim weniger, als die erste, wodurch die Form als solche befähigt wird, diesen melodischen Fall des springquellartig aufsteigenden Gedankens auszudrücken. Das Sonett giebt dem Ausdruck der Empfindung nicht blos Vollklang, sondern auch Präcision, den Gedanken Ebenmaaß und Symmetrie und bedeutsamen Abschluß. Denn erst dann wird es einen wahrhaft künstlerischen Eindruck machen, wenn der Schlußgedanke nicht äußerlich angehängt ist, sondern alle Fäden des Ganzen in schöner Einheit zusammenfaßt.

Der Hauptabschnitt des Sonetts ist, seiner ganzen Architektonik nach, ein so scharfer, daß alle Herüberziehungen der Sätze aus der achten in die neunte Zeile, als den Bau und Sinn des Ganzen umwerfende Fehler zu verdammen sind. Auch Hinüberziehungen aus der ersten in die zweite Strophe sind nicht zu billigen, indem sie den strophischen Charakter umwerfen und die klare Sonderung des Ganzen unterbrechen. Selbst von Enjambements aus der ersten dreizeiligen Strophe in die zweite halten sich die besseren Sonettendichter frei, wenn hier auch der nach dem Schluß hindrängende Fall eher eine kleine Ueberstürzung entschuldigt.

Das Sonett ist ein Prokrustesbett des Gedankens für den Stümper, für den Meister ein himmlisches Grahamsbett voll Leben weckenden Zaubers. Wie überall die Form den Künstler trägt und nicht hemmt: so trägt auch das Sonett den Dichter, indem es dem Strom seiner Empfindung von Hause aus ein bestimmtes Bett anweist, dem Gedanken eine feste und maaßvolle Gliederung giebt und zugleich ein volles Austönen und einen prägnanten Abschluß gewährt. Es ist die geeignete Form für die Liebesempfindung, welche sich immer neuen Beziehungen der Liebe in hin - und herrollendem Gedankenspiele hingiebt, für die Sätze222 einer harmonischen Lebensweisheit, die sich nicht epigrammatisch zusammenfaßt, sondern die wärmer und voller austönt, für harmonische Lebensbilder, ästhetische Reflexionen u. s. f. Einen kriegerischen Klang hat Rückert in seinen geharnischten Sonetten dieser Form gegeben. Da dieser Jnhalt aber mit ihr in offenbarem Widerspruch steht, so haben Rückert's patriotische Sonette einen paradoxen Charakter. Petrarca und Camoëns sind von den ältern romanischen, Platen, Herwegh, Geibel, Strachwitz von den neuen Sonettendichtern die besten, während die romantischen Sonette zu vielen Klingklang, zu wenig geistige Bedeutung hatten. Wir nehmen das folgende aus, das zugleich die Form des Sonettes trefflich charakterisirt:

Zwei Reime heiß 'ich viermal kehren wieder,
Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen,
Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien
Jm Doppelchore schweben auf und nieder.
Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.
Jn solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen
Die zartesten und stolzesten der Lieder.
Den werd 'ich nie mit meinen Zeilen kränzen,
Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket,
Und Eigensinn die künstlichen Gesetze;
Doch wem in mir geheimer Zauber winket,
Dem leih 'ich Hoheit, Füll' in engen Grenzen,
Und reines Ebenmaaß der Gegensätze.

A. W. Schlegel.

β. Die Stanzen, die ottave rime.

Die ottave rime bilden eine achtzeilige Strophe, in welcher der erste, dritte und fünfte, der zweite, vierte und sechste Vers reimen und zum Schlusse der siebente und achte ein Reimpaar bilden:

Jhr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch 'ich wohl euch diesmal festzuhalten?
Find' ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Jhr drängt euch zu nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt.
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.

Goethe.

223

Diese Strophe hat, durch die sich suchenden und fliehenden Reime einen anmuthigen Wogenschlag, der sich durch den zusammentönenden Akkord der letzten Verse beruhigt. Der voll heraus blühende Reimstrauß hat etwas Luxuriöses, das sie im Deutschen wohl zu Widmungsversen, Prologen, gedankenvollen Apostrophen, aber nicht zu größeren epischen Gedichten geeignet macht. Anders verhält es sich in den romanischen Sprachen, wo die Reimfülle der Sprache selbst in diesen Strophen ausschäumt. Hier liegt ihr epischer Charakter darin, daß die sechs ersten Zeilen mit den verschlungenen Reimen eine hinundhergehende, behagliche Schilderung gestatten, welche durch die beiden letzten wieder in dem strophischen Rahmen festgehalten wird. Bekanntlich hat Tasso sein befreites Jerusalem, Ariosto seinen rasenden Roland, Camoëns seine Lusiade in diesen Strophen gedichtet; von neueren deutschen Dichtern Ernst Schulze sein kleines, zartes, aber auch phantastisch verschwimmendes Epos: die bezauberte Rose. Die Ueberzeugung, daß die ottave rime der deutschen Originaldichtung bei längerer epischer Ausdehnung eine allzugroße Monotonie geben würden, hat Wieland zum Bau einer Strophe angeregt, welche wir, nach seinem Oberon, in dem sie angewendet ist, wohl die Oberonsstrophe nennen dürfen. Sie besteht ebenfalls aus acht jambischen Zeilen, aber die Zahl der Versfüße schwankt beliebig zwischen vier, fünf und sechs, die Reime können einmal oder zweimal wiederkehren und dabei willkürlich verschlungen sein. Die strengen ottave rime sind daher nur eine mögliche Form ihrer zahlreichen Kombinationen, welche in der That unter der Hand eines großen Talentes einen außerordentlichen malerischen Reichthum entfalten können. Diese Strophe scheint uns in der neuern Zeit mit Unrecht mißachtet zu sein. Sie ist für eine größere epische Dichtung durch ihre anschmiegende Vielseitigkeit sehr angemessen. Außer Wieland hat sie von unsern großen Dichtern auch Schiller bei seiner Uebersetzung des Virgil benützt:

Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde,
Der also anhub vom erhab'nen Pfühl:
O Königin, du weckst der alten Wunde
Unnennbar schmerzliches Gefühl!
Von Trojas kläglichem Geschick verlangst du Kunde,
Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel.
224
Die Drangsal 'alle soll ich offenbaren,
Die ich gesehn und meistens selbst erfahren.
γ. Die Terzine.

Die Terzine besteht aus drei immer wiederkehrenden Zeilen mit je drei sich kreuzenden Reimen. Jede Terzine weist durch den einen oder die beiden ihr fehlenden Reime über sich hinaus in die nächste. Es fehlt ihr der sichere Abschluß des Sonettes und der Stanze; sie bildet eine in's Unendliche fortgehende Kette:

Durch Trümmer drang ich in des Traums Bethörung,
Bang ringend, unbewußt nach welchem Ziele;
Ringsum zu Bergen thürmte sich Zerstörung.
Denn stolze Riesenbauten sah ich viele
Zu Staub zermorscht, die manch Jahrhundert ragten,
Gesunken, wie die Blume fällt vom Stiele.
Und stumme Säulen sahn mich an und klagten,
Jnschriften dran, verlöscht, mühvoller Lesung,
Die halbes Wort verscholl'ner That mir sagten.

Sallet.

Die Terzine ist eine vorzugsweise epische Form, indem sie sich gleichsam ohne bestimmten Damm in die Weltweite ergießt. Auch eignet sie sich für Reflexionen, für weit ausgesponnene Gedanken, die ohne scharfe Einschnitte dem freien Zuge der Jdeeenassociation folgen. Dante hat bekanntlich seine divina commedia in Terzinen geschrieben, und in der That passen sie zur Darstellung einer Wanderung durch die drei Reiche der Ewigkeit, indem sie sowohl in den drei zusammentönenden Reimen für ein schilderndes und grübelndes Verweilen einen Halt geben, als auch, da jede Strophe durch den fehlenden Reim unfertig über sich hinausweist, die immer weiter eilende Wanderschaft treffend charakterisiren. Einen Ahasver muß man in Terzinen schreiben. Für größere epische Gedichte eignen sie sich im Deutschen nicht, ihres allzu üppigen Reimes und schleppenden Ganges wegen. Rückert hat ein mehr reflektirendes, als episches Gedicht in diesen Versen geschrieben. Außerdem haben Platen, Herwegh und Sallet einige wohltönende Terzinen verfaßt.

Der Raum unsers Werkes erlaubt uns nicht, auf andere italienische Strophenformen, die Ritornelle, in denen zwei gereimte Jamben225 einen assonirenden einschließen, auf die Kanzone, eine größere, mit freier Architektonik gebaute Strophe, welche in zwei Hälften zerfällt, in welcher mit den fünffüßigen Jamben dreifüßige wechseln können, die Reimverschlingung und Verszahl indeß freigegeben ist, aber die zweite Kanzone der ersten so treu nachgebildet sein muß, wie die Antistrophe der griechischen Tragiker der Strophe, näher einzugehn*)Die Kanzone stammt von den provençalischen Troubadours her. Zur Mustergültigkeit haben sie Dante und Petrarca ausgebildet; doch verkünstelte man später in Jtalien wieder das überlieferte Schema. Abgesehen von den Kanzonen der Romantiker hat in neuester Zeit Max Waldau einige vortreffliche Kanzonen gedichtet.. Wir erwähnen nur noch, daß in Sonett und Stanze der deutsche Vers mit männlichem oder weiblichem Reim schließen kann, in der Terzine indeß der nur weibliche Reim besser beibehalten wird.

d. Der sechsfüßige Jambus.

_ _ _ _ _ _

Er besteht aus drei Doppeljamben, welche mit Anapästen und Spondäen wechseln können. Spondäen dürfen in den ersten Fuß jeder Dipodie gestellt werden, während der zweite rein austönen muß, um den jambischen Charakter nicht zu verwischen. Anapäste können an jede Stelle dieses Sechsfüßlers gesetzt werden, nur nicht an die sechste; denn der Anlauf zweier Kürzen gegen die letzte Länge würde ebenfalls den jambischen Charakter des Verses aufheben. Je nach der Cäsur zerfällt der Sechsfüßler (senavius) in zwei verschiedene Verse: den griechischen Sechsfüßler (Trimeter) und den französischen Sechsfüßler (Alexandriner).

α. Der Trimeter.

Bei dem Trimeter liegt die Cäsur so, daß sie den Vers nicht in zwei gleiche Hälften theilt. Da der griechische Trimeter sich aus Trochäen mit einer Vorschlagssylbe gebildet, so fällt sie hinter das Ende der ersten trochäischen Dipodie, wo also jedesmal das Wort zu Ende sein muß:

| _ _ _ _ _ _

Bewundert viel und viel gescholten Helena,
Vom Strande komm 'ich, wo wir erst gelandet sind.
Noch immer trunken von des Gewoges regsamen
226
Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her
Auf sträubig hohem Rücken durch Poseidon's Gunst
Und Euros Kraft in vaterländische Buchten trug.

Goethe, Faust.

Die Anapäste in der dritten und vierten Zeile geben dem Vers einen malerischen, das Gewoge des Meeres nachahmenden Charakter. Sonst wird er vorzugsweise dann angewendet, wenn der Vers als Lustspielvers einen leichteren hüpfenden Charakter annehmen soll, wie bei Aristophanes und Platen:

Der langen Weile nie versiechender Quell entspringt,
Wo nur den Boden stampfen mag dein Pegasus.

Romantischer Oedipus.

Der Trimeter ist bekanntlich der Vers der griechischen Tragiker. Er hat Ernst, Würde, feierlichen Gang, welcher durch die erlaubten Spondäen noch würdevoller gemacht wird. Jn neuerer Zeit haben ihn Goethe in der Helena, Schiller in einigen Scenen der Jungfrau angewendet. Die Versuche von Minckwitz, Märker u. A., ihn für größere Tragödieen in Anwendung zu bringen, müssen indeß für mißlungen gelten. Denn der Vers gehört zum Kothurn und zur Maske der alten Tragödie; er paßt zu ihrer feierlichen Plastik; aber ihm fehlt alle individualisirende Kraft. Der charaktervolle Dialog des modernen Drama's würde sein sprühendes Arom verlieren, wenn man ihn in die spanischen Stiefel des alten Trimeters einschnüren wollte.

β. Der Alexandriner.

Der Alexandriner ist ein jambischer gereimter Sechsfüßler, dessen Cäsur den Vers in zwei gleiche Hälften abtheilt, und der am Schlusse den Wechsel männlicher und weiblicher Reime verträgt.

_ _ | _ _ | _ _ | ()

Die du mit ew'ger Gluth mich Tag und Nacht begleitest,
Mir die Gedanken füllst und meine Schritte leitest,
O Rache, wende nicht im letzten Augenblick
Die Hand von deinem Knecht! Es wägt sich mein Geschick.

Goethe.

Die Cäsur des Trimeters ist trochäisch; die des Alexandriners, dessen Schema nicht nach trochäischen Dipodieen entworfen werden darf, jambisch. Da sie aber den Vers gleichmäßig abtheilt, so erhält er dadurch227 etwas Einförmiges und Klapperndes. Der Alexandriner ist der Vers der französischen Tragödie und des französischen Lustspieles; von ihnen hat ihn das deutsche Trauer - und Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts überkommen. Auch die didaktischen und satyrischen Gedichte jener Zeit bedienten sich dieses eben so korrekten, wie monotonen Sechsfüßlers. Jn unserer klassischen Epoche galt er für eine Reminiscenz des Zopfstyles und wurde gänzlich mißachtet. Erst in neuer Zeit haben Freiligrath, Geibel und einige andere Dichter ihn wieder zu Ehren gebracht, indem sie ihm eine freiere Behandlung angedeihn ließen. Sie suchten seine Einförmigkeit zu umgehen, theils indem sie neben der Hauptcäsur noch andere ebenso scharfe Verseinschnitte, die ihre einschläfernde Wirkung neutralisirten, anbrachten, und Spondäen und Daktylen wechselvoll einstreuten, theils indem sie alexandrinische Strophen bildeten, in denen der Alexandriner mit dem vierfüßigen Jambus wechselt, wie es schon Uz in einigen seiner trefflichsten Gedichte, Ramler in einigen Oden versucht. Jn dieser Gestalt hat der Vers einen malerischen und beweglichen Charakter, der ihn zu lebendiger Schilderung überaus tauglich macht:

Spring an, mein Wüstenroß aus Alexandria!
Mein Wildling! solch ein Thier bewältiget kein Schah,
Kein Emir, und was sonst in jenen
Oestlichen Ländern sich in Fürstensätteln wiegt;
Wo donnert durch den Sand ein solcher Huf? wo fliegt
Ein solcher Schweif? wo solche Mähnen?
Wie es geschrieben steht, so ist dein Wiehern: Ha!
Ausschlagend, das Gebiß verachtend stehst du da;
Mit deinem losen Stirnhaar buhlet
Der Wind; dein Auge blitzt, und deine Flanke schäumt
Das ist der Renner nicht, den Boileau gezäumt
Und mit Franzosenwitz geschulet!

Freiligrath.

e. Der achtfüßige Jambus. (Tetrameter).

_ | _ | _ | _ _ | _ | _ | _ ()

Sonst wird noch eure Poesie so frei, so burschikos und flott,
Bis endlich ganz Europa ruft: Jhr Deutschen seid ein Kinderspott.

Platen.

228
Sie reiten in gedrängtem Troß, wo sich vermengen Sand und Luft.
Sieh da, verschlungen hat sie schon der Ferne schwefelfarb'ner Duft.

Freiligrath.

3. Das daktylische Versmaaß.

Der Daktylus (_ ) hat einen geflügelten, hüpfenden Charakter, der sich am schärfsten im gleitenden Reim ausprägt. Es ist durchaus erforderlich, daß seine beiden Kürzen rein gehalten und nicht Längen statt ihrer gesetzt werden; sonst erlahmt der beschwingte Gang des Verses augenblicklich. Selbstständig und rein kann er nur in kleineren Gedichten benutzt werden. Jm Wechsel mit dem Spondäus bildet er das größere epische und elegische Versmaaß.

α. Zwei - und mehrfüßige Daktylen.

_ _ (_ )

Christ ist erstanden!
Freude den Sterblichen,
Den die verderblichen,
Schleichenden, erblichen
Mängel umwanden.

Goethe.

_ | _ | _ | _

Ehret die Frauen, sie flechten und weben
Himmlische Rosen in's irdische Leben.

Schiller.

Jn der Regel werden Strophen gebildet, in denen Verse von verschiedener Länge sich ablösen. Die reinen Daktylen eignen sich zur Schilderung eines bewegten Naturlebens, einer jubelnden Freude, wie in jenem Engelschor des Goethischen Faust. Das Lüfteleben schildert Rückert malerisch in Daktylen:

Wär 'ich die Luft, um die Flügel zu schlagen,
Wolken zu jagen,
Ueber die Gipfel der Berge zu streben,
Das wär' ein Leben!
Tannen zu wiegen und Eichen zu schaukeln,
Weiter zu gaukeln,
Seele den flüsternden Schatten zu geben,
Das wär 'ein Leben!
229

Ebenso ertönt Platen's Matrosenchor auf dem von Fluthen gewiegten Schiffe:

Löst mir in Eile,
Brüder, die Seile,
Weil wir nach langer, nach drückender Weile
Wieder der prächtigen
Aber verdächtigen
Fluth uns bemächtigen,
Spannt mir die Segel und löst mir die Seile!

Oft bilden die reinen Daktylen mit Trochäen Strophe und Antistrophe, wie in Schiller's Frauenwürde, oft bilden sie bei trochäischen Versen eine Art zweizeiligen Refrains.

β. Der Hexameter.

_ | _ | _ | _ | _ | _ _

Der Hexameter bestand ursprünglich aus sechs Daktylen:

_ | _ | _ | _ | _ | _

ein in's Weite ergossenes Schema, aus welchem er sich zu künstlerischer Gliederung emporraffte. Zunächst vertauschte er den letzten Daktylus, der in's Unbegrenzte fortzuhüpfen drohte, mit einem Spondäus, um einen festen Schlußstein für die Verszeile zu gewinnen. Dann stellte er überhaupt diese Spondäen als Hemmsteine dem herunterrollenden Taumel der Daktylen entgegen, und zwar an allen Stellen, nur nicht an der vorletzten, wo der Charakter des Verses am schärfsten hervortritt, um nicht seine freie Bewegung ganz zu lähmen. Ausnahmen sind nur zu Gunsten der rhythmischen Malerei gestattet; z. B.

Wie oft | Seefahrt | kaum vor|rückt, müh|volleres | Rudern
Fortar|beitet das | Schiff, wenn | plötzlich der | Wōg 'Āb|gründe
Sturm auf|wühlt und den Kiel | in den | Wallungen | schaukelnd da hinreißt.

Schlegel.

Hier steht der Spondäus: Wōg 'Āb an der fünften Stelle; aber dieser und der vorhergehende Hexameter malen durch schwergehäufte Spondäen den mühevoll arbeitenden Gang des Schiffes, eine Malerei, welche durch den ausnahmsweisen Spondäus des fünften Fußes am ausdrucksvollsten hervortritt.

Der letzte Schritt, die sechsfüßigen Daktylen künstlerisch zu gliedern,230 war die Cäsur, welche männlich heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe des dritten Daktylus und Spondäus eintritt:

Stolberg über der Stadt am besegelten Busen der Ostsee.

Voß.

weiblich dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus steht:

Horcht 'ich der lockenden Wachtel im grünlichen Rauche der Aehren.

Voß.

Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder Spondäus stehn:

Ob er zum Kampf des heroischen Lieds unermüdlich sich gürtet.

Klopstock, Goethe, Schiller haben im Deutschen die Spondäen mit Trochäen vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden.

Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden, majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks - und Kunstepos, des Homer und Virgil, wurde von Klopstock zuerst in Deutschland eingebürgert, obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur mit Widerstreben sich fügte. Goethe in Hermann und Dorothea, dem Reineke Fuchs und der Achillëis, Schiller in einzelnen Distichen brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt ihn in seiner Louise und seinen epischen Uebersetzungen der griechischen und römischen Epiker Voß, der Luther der Homerischen Bibel, dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am reinsten haben Schlegel und Platen den Hexameter durchgeführt; und in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen, wie das idyllische Epos von Moritz Hartmann Adam und Eva, sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus231 nicht die Bedeutung, die er für die streng quantitirende Sprache der Griechen und Römer hatte, gereimt würde er monoton und klappernd klingen das moderne Epos aber verlangt die Strophe und den Reim. Die rhythmische Malerei des Hexameters, die vorzugsweise im Wechsel der Spondäen und Daktylen besteht, läßt sich auch in anderen Versmaaßen erreichen. So bleibt sein Wirkungskreis heut zu Tage auf die kürzere Jdylle und vorzugsweise auf das Distichon beschränkt.

γ. Der Pentameter.

_ | _ | _ _ | _ | _

Der Pentameter ist ein um einen Fuß verkürzter Hexameter, der gegenüber dem expansiven Charakter des hinausstrebenden Sechsfüßlers einen mehr koncentrirten Charakter hat. Der Hexameter ist centrifugal, der Pentameter centripetal. Zwei Daktylen prallen gegen eine Länge an und prallen wieder von ihr zurück. Hinter dieser Länge ruht die streng zu beobachtende Cäsur. Da der Pentameter indeß durch die einsame Länge der Cäsur und des Schlusses einen verstümmelten Charakter hat: so wird er nie allein, sondern immer mit dem Hexameter zusammen gebraucht, mit welchem er das antike Distichon bildet:

Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
Jm Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

Für die beiden ersten Daktylen des Pentameters können Spondäen stehn; für die beiden letzten aber nicht, indem sie an dieser Stelle den melodischen Fall des Verses hemmen würden.

Das Distichon, das elegische Versmaaß der Griechen, bildete sich aus dem Hexameter und bezeichnete den Uebergang der Epik in eine Lyrik, welche noch epische Elemente in sich enthält. Aus der Breite der äußern Welt kehrte das sinnige Gemüth in sich selbst zurück. Wegen dieser künstlerischen Bedeutung verdient das Distichon, in welchem Mimnermos, Tyrtäos, Theognis, Ovid, Tibull, Properz, Goethe die römischen Elegieen, Schiller den Spaziergang, beide zusammen die Xenien gedichtet, für das größere und kleinere Sinngedicht, die Elegie und das Epigramm, beibehalten zu werden. Es eignet sich vortrefflich für die epigrammatische Antithese. Jn neuer Zeit hat besonders Hebbel scharfe und schlagende Xenien in dieser Form gedichtet.

232
4. Das anapästische Versmaaß.

Der Anapästus ( _) ist gleichsam der beschleunigte Jambus; der einfache Anprall des Jambus wird hier ein verdoppelter, und dadurch der Vers lebhaft und stürmisch bewegt. Jm Auftakt kann statt des Anapästus ein Jambus stehn, doch nicht durchweg, in einzelnen Zeilen muß der strengere Rhythmus immer angedeutet sein. Ebenso kann statt des letzten Anapästus ein Jambus stehn, wodurch der heftige Anlauf etwas beruhigter austönt. Auch der Spondäus, dessen zweite Sylbe einen höhern Ton erhalten muß, kann statt des Anapästus gesetzt werden. Jn kleineren anapästischen Strophen wird man Zwei -, Drei - und Vierfüßler wechseln lassen und dadurch die verschiedenste Struktur des Verses erreichen. Am gebräuchlichsten ist der Zwei -, Vier - und Achtfüßler.

a. Die anapästische Dipodie.

_ _

Dieser Vers hat Kraft, kurz abgestoßene Energie:

Er keuche dem Stier
Dem verachteten gleich:
Jhr pflanzt das Panier
Jn der Freiheit Reich.

Platen.

b. Der vierfüßige Anapästus.

_ _ _ _

Ein rhythmisch bewegter Vers, der wie der vorige auch mit weiblichen Endungen austönen, gereimt und reimlos angewendet werden kann. Platen hat ihn zu den Chorstrophen in seinen Lustspielen benutzt und ihm dadurch einen strophischen Charakter gegeben, daß er auf fünf Verszeilen eine sechste folgen läßt, die aus drei Versfüßen mit weiblicher Endung besteht.

Auf, auf, o Genossen! Er wandelt heran
Lichtschön wie Apoll, der Köcher und Pfeil
Jm Gebüsch ablegt, und die Leier bezieht
Mit Saiten! Es spühlt der kastalische Quell
An die Knöchel des Gotts und es schleicht Sehnsucht
Jn die liebliche Seele der Musen!

Romantischer Oedipus.

233

Ebenso läßt er einen zwei - oder dreifüßigen in der zweiten und vierten Zeile mit dem fünffüßigen wechseln.

c. Der achtfüßige Anapästus (Tetrameter).

_ _ _ _ _ _ _ _ ()

Dieser Vers des Aristophanes, den nach seinem Vorbilde Platen und Prutz für die Chorstrophen ihrer satyrischen Komödieen angewendet, hat einen prächtig wogenden Gang, der ihn nicht blos für behaglich ausgeführte Gemälde der komischen Muse, sondern auch für die Bilder üppiger Schilderung und Empfindung, selbst für einen majestätischen Ernst geeignet macht. Er verlangt nach jeder Dipodie einen scharfen Einschnitt; die Hauptcäsur des Verses aber fällt nach der zweiten Dipodie. Der Spondäus macht seinen Gang würdevoller. Dieser Vers kann ebenfalls eine weibliche Endung haben und reimlos, wie gereimt angewendet werden: z. B.

Keusch lehnt Klopstock an den Lilienstab, und um Goethe's erleuchtete Stirne
Glüh'n Rosen im Kranz! Kühn wäre der Wunsch zu ersingen verwandte Belohnung!

Platen.

Und gereimt:

Sein Abschiedswort thut euch durch mich der Komödienschreiber zu wissen,
Der oftmals schon, im Laufe des Stücks, vortrat aus seinen Coulissen!

Platen.

Jch habe in meinem Carlo Zeno die dritte Abtheilung, die Darstellung einer südlich glühenden Liebe, die zugleich mit siegender Heiterkeit die klösterliche Beschränkung durchbricht, in gereimten anapästischen Tetrametern gedichtet:

Wie duftet da rings ein gefangener Lenz aus Vasen, von Nischen, Konsolen
So würzigen Hauch! Der Abend blickt durch schwere Gardinen verstohlen.
Es hängt an der Wand im Blumengewind die Harfe mit schlummernden Liedern;
Der Papagei im Käfig frägt und die Nachtigallen erwiedern.
Das Pergament auf dem zierlichen Schrein das ist die Hölle des Dante,
Die alles Gezücht, Jtaliens Schmach, in den ewigen Rhythmen verbrannte!
234

Sechster Abschnitt.

Altdeutsche, antike, orientalische Strophen.

Außer den erwähnten, gebräuchlichsten Versmaaßen haben wir noch theils durch den Rhythmus, theils durch den Reim bedingte Strophenbildungen zu besprechen, welche, ererbt von dem deutschen und griechischrömischen Alterthum, für unsere neue Dichtung Bedeutung gewonnen haben.

1. Die Nibelungenstrophe.

Wie der Hexameter hat der Vers der Nibelungenstrophe sechs Füße, wenn man auf die sechs Hebungen und Senkungen einen Begriff der antiken Metrik anwenden will. Die Strophe selbst besteht aus vier paarweise gereimten Verszeilen, von denen jede wieder in zwei ungleichartige Hälften zerfällt, indem die erste Hälfte einen weiblichen (klingenden), die zweite einen männlichen (stumpfen) Schluß hat. Der zweite Halbvers der vierten Zeile markirt das Ende der Strophe durch ein volleres Austönen, indem er statt drei Hebungen vier, ja in der Gudrunstrophe sogar fünf Hebungen hat.

Jm Auftakt können zwei Kürzen stehn ebenso kann aber die Senkung ganz fehlen, wodurch zwei Hebungen nebeneinander einen spondäischen Charakter annehmen. Jn dieser Strophe ist bekanntlich das Nibelungenlied und mit wenigen Modifikationen die Gudrun gedichtet. Außer den schon erwähnten fünf Hebungen hat die Gudrunstrophe noch in den beiden letzten Verszeilen weibliche Endungen.

Demnach ist das Schema der Nibelungenstrophe:

_ _ _ | _ _ _ _ _ _ | _ _ _ _ _ _ | _ _ _ _ _ _ _ | _ _ _

Zwischen diesen Vershälften sind die mannichfachsten Kombinationen möglich:

Da klangen seine Saiten, daß all' das Haus ertost,
Seine Kunst und seine Stärke, die waren beide groß.
Süßer immer süßer zu geigen er begann;
Da spielet er in den Schlummer so manchen sorgenden Mann.
235

Die Gudrunstrophe dagegen lautet:

Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt,
Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt,
Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden,
Jn Schnee und im Eise wurden die armen Waisen gefunden.

Ohne Frage hat die Nibelungenstrophe sowohl die nöthige epische Geräumigkeit, als auch eine malerische Mannichfaltigkeit des Rhythmus. Sie kann trochäisch, jambisch, anapästisch erklingen; sie kann durch das Fortlassen der Senkung, durch das Zusammenprallen zweier Längen scharf und charakteristisch markiren! Dennoch entspricht ihre Anwendung in der alten Gestalt nicht mehr den Gesetzen des modernen deutschen Versbaues, seit er sich nach antikem Vorbilde fortentwickelt. Ein Ohr, das blos an Hebungen und Senkungen gewöhnt ist, wird in der Nibelungenstrophe jene Gleichmäßigkeit des Rhythmus heraushören, welche ein feiner gebildetes Ohr vermißt, das an den jambischen oder trochäischen Tonfall gewöhnt ist. Die Mannichfaltigkeit der alten Nibelungenstrophe hat etwas zu Buntscheckiges, wenn sie nicht am rhythmischen Spalier der Neuzeit in die Höhe gerankt wird.

Zunächst wird der neue Nibelungenvers den jambischen Charakter festhalten müssen, indem er erst durch ihn ein einheitliches Gepräge erhält. Der Jambus darf aber auch mit dem Anapäst wechseln. Die weibliche Cäsur der Mitte unterscheidet die moderne Nibelungenstrophe hinlänglich vom Alexandriner.

Es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt 'es über die Lande bis an das blaue Meer,
Und rings von duft'gen Gärten ein blüthenreicher Kranz,
Drin sprangen frische Bronnen im Regenbogenglanz.

Uhland.

Eine größere Beweglichkeit erhält die Strophe, wenn man nach ihrem altgermanischen Vorbilde der zweiten Hälfte der vierten Verszeile vier Füße giebt. So hat sie Strachwitz meisterhaft in: Hie Welf behandelt:

Fürwahr, ihr Longobarden, das war ein schwerer Tritt,
Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt,
Licht war das Roß des Kaisers, ein Schimmel von Geburt,
Das war mit welschem Blute gescheckt bis über den Sattelgurt.
236
2. Antike Strophen.

Mit dem Hexameter sind auch die antiken Odenstrophen der Griechen und des Horaz in Deutschland eingeführt worden, Strophen, deren schöne rhythmische Gliederung voll melodischen Wohllautes ihre Aneignung zu einem Gewinn für die deutsche Dichtkunst macht. Ramler, Klopstock, Platen u. A. haben diese Strophen nur reimlos angewendet; ich habe in meinen Neuen Gedichten sie zu reimen versucht und glaube jene Neuerung, ganz abgesehen davon, wie ihre Ausführung mir gelungen, gegenüber der bisherigen kritischen Ansicht vollkommen rechtfertigen zu können.

Hegel erklärt in seiner Aesthetik (Bd. 3 S. 318) die Anwendung des Reimes bei den alcäischen und sapphischen Strophen für einen unaufgelösten Widerspruch. Denn beide Systeme beruhen auf entgegengesetzten Principien, und der Versuch, sie in der angeführten Weise zu vereinigen, könnte sie nur in dieser Entgegensetzung selbst verbinden, was Nichts als einen unaufgehobenen und deshalb unstatthaften Widerspruch hervorbringen würde. Diese Ansicht Hegel's beruht auf irrthümlichen Voraussetzungen. Der Reim mag einer nach dem Sylbengewicht quantitirenden Sprache überflüssig und entgegengesetzt sein die deutsche Sprache aber ist und bleibt accentuirend, wenn auch ihre Zeitmessung jetzt schärfer bestimmt ist. Eine quantitirende Sprache verträgt den Reim nicht, weil ihre Längen oft auf bedeutungslose Flexionssylben fallen; dagegen ist er für eine nach dem logischen Sinne messende Sprache ein Hauptregulator des Rhythmus. Und da die deutsche Sprache ihrer Rhythmik niemals das streng plastische Gepräge der griechischen und römischen geben kann, selbst wo sie die metrischen Formen derselben nachahmt, so kann auch der Reim, der gewöhnliche Begleiter der accentuirenden Rhythmik, sich nicht im Gegensatze gegen diese Formen befinden. Wenn er nun bei einem Versmaaß, das aus einer stets wiederkehrenden Zeile besteht, wie der Hexameter, einen monotonen und klappernden Eindruck machen würde: so scheint dagegen die Strophe nach den Gesetzen des modernen Versbaues den Reim zu fordern mindestens würde sich weder für das äußere Gehör noch für den inneren Sinn der Reim als eine störende oder nur üppige Zuthat erweisen. Dies scheint Carrière anzunehmen, wenn er sagt: (Das Wesen und die Formen der Poesie237 S. 118.) Jn der gereimten Strophe muß das Versmaaß einfach sein, sonst wird unsere Aufmerksamkeit getheilt und hin - und hergezerrt, sonst wird entweder der Reim überhört oder das Metrum kommt nicht zur Anerkennung. Jm Gegentheil, wie wir schon oben nachwiesen, es gehört nur eine aufmerksame Beobachtung dazu, um sich zu überzeugen, daß der Reim den Rhythmus nicht verdeckt, sondern schärfer hervorhebt, daß der Rhythmus durch den Reim den schlagendsten Accent erhält. Jeder Reim zwingt zu einem klareren, sprachlichen Ausdruck, zur Vermeidung der verwickelten Syntax, der scholastischen Pedanterie, die sich durch gesuchte Worthäufungen und Wortfügungen gerade in den reimlosen antiken Strophen ein möglichst unvolksthümliches Ansehn zu geben suchte. Die vollkommene Melodie der antiken Strophen tritt im Deutschen erst hervor, wenn sie gereimt sind. Und wenn Minckwitz in seinem Lehrbuch der deutschen Prosodie und Metrik behauptet, daß eine Anzahl Versmaaße, die ihren ersten Ursprung den Alten verdanken, wegen ihres besonderen Klanges nicht wohl gereimt werden dürfen, so bleibt er doch die nähere Begründung dieser Behauptung schuldig. Wir aber glauben, daß gerade das Ziel, das er selbst aufstellt, die Vereinigung einer strengen Rhythmik und des eingewohnten Reimes durch die gereimten antiken Strophen zuerst erreicht werden dürfte, und stimmen ihm vollkommen bei, wenn er in Bezug auf diese Vereinigung fortfährt: Und zwar in dem Grade, daß nicht mehr, wie so lange Zeit geschehn, an eine mangelhafte Reihe von Sylben endlich als deutsche Ohrenweide ein Gleichklang gehängt werde, sondern daß der Vers durch richtig abgewogene Füße zu einem Ziel hinlaufe, welches der Reim gleichsam wie durch eine Krone verziere. Den Anfang hat Graf Platen gemacht: Künftige Dichter werden auf der Stufe fortfahren, wo Platen stehen geblieben ist. Es kann nicht fehlen, daß jedes deutsche Ohr durch Kunstwerke, die aus solcher Verbindung hervorwachsen, angezogen und hingerissen wird.

Wir können hier nur die hauptsächlichsten antiken Odenstrophen berücksichtigen. Platen, Klopstock u. A. haben eine Menge neuer metrischer Reihen und Strophen gebildet. Reimt man die antiken Strophen, so giebt der Reim neben dem Rhythmus für neue Bildungen einen festen Halt. So hab 'ich auf alcäischer und sapphischer Grundlage einige neue gereimte antike Strophen zu bilden gesucht.

238
a. Die alcäische Strophe.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Diese Strophe, von dem Griechen Alkäos erfunden, hat in ihrem Auf - und Abwogen einen majestätischen Gang. Die beiden ersten Zeilen bestehn aus zwei Jamben mit einer Nachschlagsylbe und zwei Daktylen, von denen sich der zweite in der Regel in einen Kretikus verwandelt, um dem Vers durch die letzte Länge einen festen Halt zu geben. Der dritte und vierte Vers sind gleichsam eine weitere Ausführung der beiden Vershälften des ersten: der dritte ein vierfüßiger Jambus mit einer Nachschlagsylbe, der vierte aus zwei Daktylen und einer trochäischen Dipodie bestehend. So tritt die schöne Symmetrie dieses Verses zu Tage. Wir haben in den beiden ersten Zeilen einen kühn vordringenden zweifüßigen Jambus, der dann in Daktylen zurückwogt. Voller, mächtiger strömt er in der dritten Zeile noch einmal an, um dann in der vierten in zwei Daktylen zurückzuwogen und in zwei Trochäen beruhigter auszutönen. Die Cäsur nach der Nachschlagsylbe der jambischen Dipodie in den ersten Zeilen ist unerläßlich, weil auf ihr die Symmetrie der ganzen Strophe beruht. Die alcäische Strophe eignet sich für schwunghafte Gedankendichtung über die höchsten Probleme des Lebens, die der Dichter mit mächtiger Begeisterung erfaßt. Schon ihr Erfinder hat in ihr den gewaltigen Umschwung des Staatslebens gefeiert, Horaz Lehren ernster Lebensweisheit und den Preis des Jmperators, Klopstock einige religiöse Hymnen und seine politischen Revolutionsoden, Platen ebenfalls manche politische Ode gedichtet. Auch ich habe die gereimte Strophe in den Neuen Gedichten zur Darstellung ernster und schwunghafter Gedanken angewendet.

Beispiele:

Rinn 'unterdeß, o Leben! Sie kommt gewiß,
Die Stunde, die uns nach der Cypresse ruft!
Jhr andern seid der schwermuthsvollen
Liebe geweiht, und umweht uns dunkel.

Klopstock.

239

Gereimt:

Und sinken Völker in des Verderbens Schlund,
Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund,
So oft ihn auch im Strafgerichte
Schmettert in Scherben die Weltgeschichte.

Gottschall.

b. Die sapphische Strophe.

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich. Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein; der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus.

Horaz hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen, zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird, als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen gewendet, in der letzten Zeile, dem adonischen Vers, mit anmuthigem Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe240 zu schwermüthig oder zu schwerfällig. Außer Sappho und Alkäos haben Horaz, Klopstock, Hölty, Salis und Platen sapphische Oden gedichtet:

Beispiel: (gereimt)

Hier im stillen Thal an der Bergeshalde,
Friedlich rings umkränzt vom verschwieg'nen Walde,
Wo der Schilf im Teich, wenn der Abend düstert,
Träumerisch flüstert.

Gottschall.

c. Die asklepiadäischen Verse.

_ _ _ | _ _

Dieser kleinere asklepiadäische Vers besteht aus zwei, durch eine scharfe Cäsur geschiedene Choriamben, denen ein Spondäus oder Trochäus vorausgeht und ein Jambus folgt. Dieser Vers wird entweder einfach wiederholt, wie in der bekannten Ode des Horaz:

Maecenas, atavis edite regibus,

oder es wird ihm ein glykonischer Vers (_ _ _ _) vorgesetzt:

_ _ _ _ _ _ _ | _ _

Jsis, Mutter Natur allein,
Darf die schöpf'rische Gunst ihrem Gebieter weihn.

Gottschall.

oder es folgt auf drei asklepiadäische Verse ein glykonischer:

_ _ _ | _ _ _ _ _ | _ _ _ _ _ | _ _ _ _ _ _

Welchen König der Gott über die Könige
Mit einweihendem Blick, als er geboren ward,
Sah vom hohen Olymp, dieser wird Menschenfreund
Sein und Vater des Vaterlands,

oder drei asklepiadäische Verse werden durch den pherekratischen (_ _ _ ) unterbrochen:

241

_ _ _ | _ _ _ _ _ | _ _ _ _ _ _ _ _ _

Schön ist Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gemüth,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

Klopstock.

Die choriambische Grundlage giebt allen diesen Strophen einen geflügelten Gang, der aber bedeutend durch die vorn und hinten angehängten Gewichte ermäßigt wird. Nur die glykonischen Verse, einzeln gebraucht, eignen sich zum leichthinhüpfenden Ausdruck eines heitern Jnhaltes. Durch die zwei Choriamben wird der Gedanke immer wieder mit einem gewissen Schwung auf sich selbst zurückgeworfen, so daß sich die asklepiadäischen Verse eben so für einen schwunghaften, ernsten, ja melancholischen Jnhalt eignen. Jch habe auch diese Verse in ihrer verschiedenen Form zu reimen versucht, zugleich auf ihrer Grundlage neue Strophen aufgebaut, für deren Architektonik der Reim ein willkommener Schlußstein ist. Das Festhalten des choriambischen Grundtones ist bei dieser Strophenbildung wesentlich:

Um die Wipfel des Parks dämmert des Mondes Strahl,
Tief in Schweigen gehüllt schlummert das Schattenthal.
Längst ist mit Blüthen und Liedern der Lenz entflohn,
Gelbliche Blätter verstreuen die Winde schon,
Saat der Vergänglichkeit, welkes Laub
Raschelt im Staub.

Gottschall.

Der größere asklepiadäische Vers erhält einen ernsteren Charakter durch das Hinzukommen eines Choriambus:

_ _ _ _ _ _ _ _

d. Die großen Odenstrophen.

Pindar und die chorische Lyrik der attischen Tragödie bildeten die Plastik des griechischen Rhythmus zu langen und wechselnden Reihen aus, deren Gang eine höchst kunstvolle Zusammensetzung der Versfüße enthält. Der daktylische und choriambische Gang wird durch Spondäen242 gehemmt oder tönt durch Trochäen und den Kretikus in leichterem Schwung aus. Für eine streng quantitirende Sprache waren diese großen Versmaaße der schönste Gipfel rhythmischer Entwickelung, der Triumph des Dichters und des Hörers, der diesen verwickelten Sätzen der metrischen Komposition mit geübtem Ohr folgte. Jedem Schwung des Gedankens konnte sich diese freie Pindarische Rhythmik anschmiegen. Anders verhält es sich in unserer Sprache, welche keine so ausgeprägte, schöne Leiblichkeit hat, welche durch vier aufeinander folgende Längen bereits einen schwerfälligen Anstrich gewinnt und schon bei drei Kürzen auffordert, den Ton auf eine derselben zu legen und sie dadurch in eine Länge zu verwandeln. Einem verwickelten Schema metrischer Komposition wird das Ohr nicht folgen können, ohne zu ermüden und den Faden zu verlieren, und so können wir auch die Platen'schen Versuche, trotz aller Kunst und Sprachgewandtheit, nicht für gelungen halten, sondern für vergebliche Bemühungen, eine todte Form zu galvanisiren. Es sind metrische Zuckungen, aber kein metrisches Leben.

Für die größere strophische Architektonik ist der Reim im Deutschen unentbehrlich; er ist der Karyatide unserer deutschen Rhythmik. Oden, Hymnen, Dithyramben erfordern einen freien Schwung er hat im Deutschen am Reime den besten Halt!

Entweder mögen daher unsere Dichter gereimte Jamben, Trochäen, Daktylen von verschiedenen Füßen, in diesen größeren Gedichten abwechseln lassen, wodurch sie, bei richtigem Takte und Formensinn, eine stets angemessene, malerische Drapirung des Gedankens erzielen;

Oder sie mögen der chorischen Lyrik der Griechen darin folgen, daß sie ein solches Gedicht in Strophe, Antistrophe und Schlußstrophe gliedern, indem die Antistrophe das Schema der Strophe auf's Strengste wiederholt, die Schlußstrophe aber beide in einer höheren Einheit zusammenfaßt. Dabei mögen sie die verwickelteren und für das deutsche Ohr immer unverständlichen chorischen Vers - und Strophenbildungen aufgeben und was ihnen dadurch entgeht, durch den Reim ersetzen, der die einfachere, aber korrekte Rhythmik melodisch gliedern hilft. Schon Carrière bemerkt mit Recht, was Pindar und die Tragiker in dem Gebäude von Strophe, Antistrophe und Epode erreichen, die Verbindung zweier gleichen und eines dritten, ihnen ungleichen Bestandstückes, das erzielen243 Alkäos so gut wie Walther von der Vogelweide, deutsche Volkslieder so gut wie Petrarkische Kanzonen innerhalb einer Strophe, die dann regelmäßig wiederkehrt. Die gleichen Theile heißen in Deutschland Stollen, der ungleiche Abgesang. Ein solcher großartiger, dreigliedriger strophischer Organismus mit reimendem Versabschluß erscheint uns für die höchste Gattung der Lyrik im Deutschen als die angemessenste Form, die bis jetzt noch nicht versucht ist, die aber unfehlbar wird versucht werden, wenn der Sinn für die höhere Lyrik wieder lebendiger zum Durchbruch kommt.

3. Brientalische Versarten.
a. Die Gaselen.

Die Gaselen (Lobgedichte) sind eine persische Dichtform, welche Rückert und Platen in die deutsche Literatur eingeführt haben. Jhre charakteristische Eigenthümlichkeit besteht in der Wiederkehr desselben Endreimes, der in zwei ersten auf einander folgenden Zeilen sich ankündigt, dessen spätere Wiederholungen aber durch eine reimlose Zeile zur Vermeidung der Monotonie unterbrochen werden. Dabei ist es gleichgültig, ob das Metrum ein jambisches, daktylisches und trochäisches und wie groß die Zahl der Füße ist nur muß derselbe Rhythmus streng durch das Ganze durchgeführt werden. Außer dem Reime selbst wird, in den entsprechenden Zeilen, noch ein einzelnes oder mehrere einzelne Wörter wiederholt, oder vielmehr die Gaselen lieben es, einen Kretikus zu reimen:

Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde Nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde Nichts!
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,
So gäb's Beklagenswertheres auf diesem weiten Runde Nichts.

Platen.

Die Form der Gasele hat etwas Kindliches und Unreifes; sie eignet sich nur als Band für an einander gereihte Spruchperlen, für Parallelismen des Gedankens und des Bildes. Bei größeren Gaselen wirkt der immer wiederkehrende Reim ermüdend und hält die Seele in dem gleichen Gedankenbann. Eine Anwendung der Gaselen für andere, als kleine sententiöse Gedichte, muß in der deutschen Poesie als unangemessen erscheinen.

244
b. Die Makâmen.

Die Form der arabischen Makâme (Unterhaltungsaal, Salon, Gespräch) ist noch kindlicher. Diese gereimten Gespräche, die Rückert dem Hariri zuerst nachgedichtet, machen von den Licenzen des gesprächlichen Tones einen ausgedehnten Gebrauch, bei welchem alles Kunstmäßige des Rhythmus verloren geht. Die Zeilen sind bald kurz, bald zu großer Länge ausgedehnt; Jamben, Trochäen, Anapäste wechseln; die Reime klappen oft zwei - und dreifach auf einander und lösen sich mit Alliterationen ab. Gaselen wechseln mit den Makâmen ab, wie Arien mit Recitativen:

Als der Kadhi das angehört,
Ward er ganz verstört,
Und als wie bethört,
Warf er ihnen hin einen Denar,
Den schnappte der Alte wie ein Aar.

Rückert.

Diese Verse werden nicht wie hier gesondert, sondern wie die Jean Paul'schen Streckverse hinter einander fortgeschrieben, so daß der Eindruck eines rhythmischen Urbreies, aus dem der Reim irrlichterartig aufzuckt, ein vollkommener wird. Die Einführung der orientalischen Knittelverse ist für die deutsche Poesie nur ein geringer Gewinn. Wir könnten hier noch die gaselenartigen Vierzeilen, das Metrum der indischen Slokas

| ─́ ─́ | _ _

des Heldenverses, in welchem die erste Dipodie jeder Hälfte beliebig zwischen langen und kurzen Sylben wählen kann, während die zweite Dipodie feststeht, so daß der Vers zugleich Wechsel und Halt gewinnt und im jambischen Doppelfuß ruhiger austönt; wir könnten das schwunghafte Metrum des Firdusi:

_ _ _ _ _ _ _

in welchem das große persische Schahnameh gedichtet ist, hier noch ausführlicher besprechen; aber diese Versarten haben bis jetzt in Deutschland wenig Anklang gefunden und werden auch ihrem ganzen Charakter nach, der mit dem Genius unserer Sprache nicht harmonirt, kaum eine größere Geltung gewinnen können.

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Zweite Abtheilung. Die Formen der Dichtkunst.

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Eintheilung.

Der Dichter geht entweder von der gegenwärtigen Empfindung aus, die er zum Centrum der Welt macht, in die er die Welt hineinnimmt; er läßt diese Empfindung in der ganzen Musik der Sprache austönen und dichtet so wieder für die Empfindung das ist die musikalische Poesie, die Poesie der Empfindung, die Lyrik;

Oder der Dichter läßt der äußern Welt ihr volles Recht, indem er die Bilder vergangener Thaten und Ereignisse und den ganzen Hintergrund der Weltbühne für die Anschauung auferweckt und alle Gestalten, Gruppen, Scenen, Bilder mit plastischer Bestimmtheit ausprägt das ist die plastische Poesie, die Poesie der Anschauung, die Epik;

Oder er vereinigt das subjektive Element der Lyrik und das objektive der Epik in einer höheren Einheit, indem er eine Handlung darstellt, welche sich unmittelbar gegenwärtig vor unsern Augen mit wachsender Spannung nach der Zukunft hin entwickelt, die Poesie der Anschauung und Empfindung die Dramatik.

Man hat noch als vierten Zweig der Dichtkunst die lehrhafte, die Didaktik, unterschieden! Doch diese ist entweder eine mißlungene Gedankenlyrik, oder sie läßt sich, als nur halb entwickelter Nebenschößling, in der Epik unterbringen.

Man kann zwar nachweisen, daß historisch die Epik der Lyrik vorausgegangen, mindestens in ihrer entwickelten Form; denn selbst die einzelnen Gesänge der Rhapsoden, welche in den alten Heldengedichten erwähnt werden, hatten meistens einen epischen Jnhalt und waren daher ein noch unentfalteter episch-lyrischer Keim aber die eigene Empfindung ist doch der Urquell aller Poesie, selbst wo sie nur wie ein unsichtbarer Aether um die plastische Gestaltung zittert; die Lyrik ist die einfachste Dichtgattung, die Jedem unmittelbar am nächsten liegt; wir glauben daher, besonders in Berücksichtigung der praktischen Zwecke unseres Werkes, mit der Lyrik beginnen zu müssen.

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Erstes Hauptstück. Die Lyrik.

Erster Abschnitt. Wesen der Lyrik.

Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.

Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte. 249Wo sie sich indeß zur Herrschaft erheben, Bild und Bedeutung in den Hintergrund drängen will: da erhalten wir entweder der Dichtkunst unwürdige musikalische Trällereien, wie sie sich häufig in der Volkspoesie finden, oder die Musik der Sprache, die sich selbst Zweck geworden, verführt zu gekünstelten Tongemälden, zu koketten und spielerischen Reimereien, von denen die italienischen Strophenbildungen in den Händen der deutschen Romantiker schlagende Proben geben.

Da das Wort stets der Träger der Vorstellung ist: so malt auch die Lyrik, wie die Poesie überhaupt, für das innere Auge der Seele. Doch hierin darf sie sich nicht dem epischen Behagen überlassen, nicht das beschreibende Element in den Vordergrund drängen, sondern bei der Schilderung nie vergessen, daß die äußere Welt ihr nur als Spiegel der innern gilt. Die beschreibende Poesie als solche ist ein losgelöster Bestandtheil der epischen; ihre Selbstständigkeit hat nur eine zweifelhafte Berechtigung; aber aus dem Bereich der Lyrik fällt sie gänzlich heraus. Auch würde sie dadurch nicht lyrisch werden, daß sie Zustände des Seelenlebens selbst in den Kreis ihrer Darstellung zu ziehn versuchte; denn das Verhalten des beschreibenden Dichters zu seinem Objekt ist ein äußerliches, wie es dem stimmungsvollen Charakter der Lyrik nicht entspricht. Das Bild des Lyrikers hat keinen festen plastischen Halt; es schwebt gleichsam nur auf den Wogen der Empfindung; und selbst in denjenigen Gattungen der Lyrik, in denen ein reicheres mehr verweilendes Ausmalen gestattet ist, müssen die Farben des Kolorits der Stimmung der Seele entsprechen, aus der das Bild geboren ist, in die es wieder zurückgenommen wird. Aehnlich verhält es sich mit dem Gedanken. Es ist thöricht, die Lyrik auf das Element der Stimmung, das sich nicht geist - und lebensvoll bewegt und ausbreitet, beschränken zu wollen eine Ansicht, die von den großen Lyrikern aller Nationen thatsächlich widerlegt, dennoch ihre Vertreter findet. Jm Gegentheil, gerade eine gedankenvolle Lyrik nimmt den höchsten Rang ein; ihr verdanken wir die hervorragendsten Schöpfungen auf diesem Gebiete. Doch ihre nothwendige Voraussetzung ist eine dichterische Kraft, welche diesem Stoffe gewachsen, Adel, Würde und Größe der Seele, welche sich nicht nur in jede Gedankenwelt hineinzuempfinden vermag, sondern von Hause aus so in ihr lebt und webt, daß ihre eigenste Stimmung gleichsam nur ein250 Erzittern dieser erhabenen Welt ist. So finden wir es z. B. bei Klopstock und Schiller. Ohne diese Energie geistiger Begabung wird freilich der Gedanke oder die Reflexion nur äußerlich angeeignet erscheinen; die Dichtung erhält einen lehrhaften Charakter oder wird künstlerisch ganz verfehlt, indem der ästhetische Proceß einen Niederschlag lebloser Abstraktionen zurückläßt.

Von der Epik und Dramatik unterscheidet sich die Lyrik wesentlich durch die Bestimmung der unmittelbaren Gegenwart, die ihren Schöpfungen unentbehrlich ist. Die Epik erzählt die Vergangenheit als solche, die Dramatik führt uns eine gegenwärtige Handlung vor, die sich aber vor unsern Augen nach der Zukunft hin entwickelt und gestaltet; nur die Lyrik sucht den gegenwärtigen Augenblick festzubannen und seinen Gehalt zu erschöpfen. Sie mag wehmüthig der Vergangenheit, sehnsüchtig der Zukunft gedenken; aber nicht Vergangenheit und Zukunft gelten hier, sondern nur die gegenwärtige Wehmuth und Sehnsucht der Seele; ja man kann sagen, erst der Lyriker schafft eine Gegenwart. Die Dialektik der Zeit läßt den Augenblick schon im Entstehen verschwinden; das Jetzt wird ein unfaßbares, undenkbares Atom der Dichter aber hebt aus dem abstrakten Fluß der Zeit ein konkretes Moment heraus und drückt ihm den Stempel der Gegenwart, der eigenen und einer ewigen, auf. Das Jetzt wird ein empfundenes, ein beseeltes! Der Lyriker sagt nicht nur zum Augenblicke: Verweile doch, du bist so schön! sondern er verleiht ihm die Schönheit der eigenen Seele und hebt ihn so aus den verschwebenden Stimmungen der Zeit heraus. Man hat in der Lyrik eine thatkräftige Wendung nach der Zukunft hin getadelt; man hat sie als rhetorisch, tendenziös verworfen und doch trifft die lyrische Muse, wenn sie wie Trompetenruf im Morgengrau'n ertönt, den Ton einer durchaus poetischen Seelenstimmung. Der muthige Thatendrang hat sein gutes Recht in der Lyrik; Tyrtäos, Körner und Herwegh sind echte Dichter. Die Lyrik ist aus dem Bedürfniß des Gemüths hervorgegangen, sich selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Die Musik, die geschichtlich der Dichtkunst vorausging, konnte dies, ohne das lösende Wort, nur unvollkommen erreichen, da sie wohl den dunkeln Grund des Gemüthes erregt und in einen Wechsel von Stimmungen hineinzieht, aber in ihrem unbestimmten Element die Seele nicht von der251 Dumpfheit befreien kann, die auf ihr lastet. Erst als sich zur Lyra, Cither und Flöte das melodische Wort gesellte, wurde der Zauber der Stimmung gelöst; denn erst die ausgesprochene Stimmung befreit die Seele. Jst dies schon bei der einfachen Aussprache der Fall, um wievielmehr bei der künstlerischen, in welcher wir uns einer Stimmung nicht blos entäußern, sondern sie in ein ideales Gebiet, in das der Schönheit, versetzen, wo sie sich in einer höheren Harmonie auflöst. Das menschliche Gemüth hat seine dunkeln, unergründlichen Regionen; es steht in unleugbarem Zusammenhang mit den Zuständen des Körpers. Oft ist seine Stimmung nur ein krankhaftes Vibriren der Nervensaiten, und die Rembrandtschen Schatten, die über die Erde fallen, kommen oft nur von Stockungen des Blutumlaufs. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Alten die Melancholie von der schwarzen Galle herleiteten und den Herd der dichterischen Begeisterung, des Vaticiniums, in der Leber suchten. Die Stimmung des Gemüthes als solche wurzelt daher in verhüllten Naturtiefen, sie ist an und für sich unfrei und ungeläutert, und auch da, wo sie von den Höhen kommt, und nicht aus der Tiefe, wo sie sich an einer Berührung der geistigen Welt, der Natur, des Herzens entzündet, noch allen Zufälligkeiten und wechselnden Einflüssen der Körperwelt unterworfen. Erst wenn sie künstlerische Gestalt gewonnen, wenn gleichsam die Nabelschnur der Materie gelöst ist, und sie freien Pulsschlag, freien Athemzug, eigenthümliches Leben im Reiche der Dichtung erlangt: dann ist das Gemüth nicht nur von ihr befreit, steht ihr nicht nur als einer fremden gegenüber, sondern es findet sich selbst in ungeahnter Verklärung wieder, sieht seine Empfindungen der Erdschwere entnommen und in einen freieren Aether gebannt, und dem flüchtigen Spiel eine schöne Dauer gegeben. Das ist die Bedeutung der Lyrik überhaupt nicht nur für den Dichter, sondern auch für den Hörer, der diese Befreiung der Seele mitempfindet. Die innere Gemüthswelt wird mit ihren Störungen und Trübungen in ein ideales Licht gerückt, in welchem selbst ihre Schatten zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So reich nun der Jnhalt der Empfindung ist, so reich ist der Jnhalt der Lyrik. Je vielseitiger gebildet der Geist, je zarter besaitet das Gemüth: desto reicher wird die Welt sein, die in der dichterischen Empfindung aufgeht. Von den Naturlauten der Volkspoesie bis zu den gedankenvollen Rhythmen eines auf252 der Höhe seiner Zeit stehenden modernen Dichters erstreckt sich eine ausgedehnte Skala von Stoffen, welche die Empfindung erfassen, die Lyrik sich aneignen kann. Die höchsten metaphysischen Gedanken, Religion und Philosophie, sind keinesweges ausgeschlossen, wenn sie auch oft durch die Wucht ihres Jnhaltes die Poesie zu formlosen Gedankendichtungen zwingen, in denen die Grenzen der Lyrik, Epik und Dramatik zerfließen. Die Einwände, die man einer dichterischen Philosophie, welche nur die Fühlfäden der Empfindung in das Universum ausstreckt, entgegenstellt, können die philosophische Dichtung nur dann treffen, wenn sie die Vermittelungen und Wendungen der Spekulation unverarbeitet in sich aufnimmt, eine Prosa des Ausdruckes, die sich häufig bei Sallet findet, und von der auch Schefer und Rückert nicht freizusprechen sind. Vom Philosophen erwarten wir in Bezug auf die höchsten Probleme logische und systematische Entwickelungen, vom Dichter aber Jntuition, jenen unsagbaren Tiefblick, der gleichsam in's Herz der Dinge schaut, und welcher Denken und Empfinden unmittelbar verschwistert. Nächst diesen höchsten Gedanken des Lebens sind es Staat und Gesellschaft, die Entwickelung der Menschheit überhaupt, welche die Phantasie des Lyrikers anregen und befruchten können. Es versteht sich von selbst, daß hierbei nicht vom Vortrage bestimmter Theorieen, von staatsrechtlichen Allgemeinheiten die Rede sein kann, daß nicht todte, ruhende Begriffe, sondern nur bewegte, lebensvolle Kräfte die Stimmung des Dichters beherrschen können. Er verherrlicht die Persönlichkeiten, in denen das Staatsleben in Frieden und Krieg sich verkörpert und eine markirte Physiognomie erhält, die Fürsten, Staatsmänner und Feldherrn, wie Horaz, Victor Hugo u. A.; er feiert die Märtyrer der Jdee, die unterliegenden oder siegenden Helden der Freiheit; er stimmt seine Trauerklage am Grabe untergegangener Nationen an, wie Platen und Lenau in ihren Polenliedern; er begleitet mit seinen Akkorden große Umwälzungen der Staaten, wie Klopstock, der die französische Revolution anfangs mit begeistertem Jubel begrüßt, bis er sich später mit Abscheu von ihren Gräueln abwendete. Er läßt Kriegslieder, ermuthigende Schlachtgesänge ertönen, wie Tyrtäos und Körner; er giebt der dumpfen Stimmung jugendlichen Thatendrangs einen begeisterten Ausdruck, wie Herwegh; er wendet sich gegen bestehende Einrichtungen des Staates und der253 Gesellschaft, nicht mit abstraktem Pathos, sondern mit warmer Empfindung, wie Freiligrath, Prutz, Béranger. Er klagt mit den Armen, mit den Enterbten, wie Beck und Meißner; ja er kann die äußersten Grenzen des socialen Elends berühren, das Reich der verlornen Seelen, wenn auch nicht mit jener wüsten Verherrlichung, wie Alfred de Musset. Das alles kann die Seele des Dichters in ihrer innerlichen Gluth zu Momenten der eigenen Stimmung umschmelzen. Noch näher liegen der Empfindung freilich die Vorgänge des umgebenden bürgerlichen Lebens und die eigenen Vorgänge des Gemüthes selbst. Die Geselligkeit mit ihren Freuden, die Begebnisse der Familie und ihre Feier geben bequemen Stoff, der aber allzu leicht von der trivialen heitern oder rührenden Seite aufgefaßt wird. Den reichsten Stoff für die Lyrik bietet das Gemüth selbst mit seinen Stimmungen, Leidenschaften, all' seinen inneren Begebenheiten. Der Wechsel der Tages - und Jahreszeiten, die Beleuchtung, Färbung und Stimmung der Natur rufen im empfänglichen Gemüth eine verwandte Stimmung der Seele hervor, die sich im lyrischen Naturbild ausprägt. Doch ist diese landschaftliche Empfindung dem klassischen Alterthum fremd, das wohl Sinn für die idyllische Beschränkung des Daseins, für die Thätigkeit und die Freuden des Landlebens hatte, aber den Zusammenklang der Natur und der Seele nicht mit jener Jnnigkeit empfand, welche zum vollströmenden Quell der Liederpoesie wird. Selbst bei unsern klassischen Dichtern tönte die antike Weltanschauung hierin in maaßgebender Weise nach. Klopstock läßt sich zwar durch den Züricher See zu Betrachtungen über die Schönheit der Mutter Natur und ihrer Erfindung Pracht begeistern; Schiller malt wohl in seinen Balladen die Tiefe des Meeres und ihre Ungeheuer, die in der Sonne Gold leuchtenden Dardanellen und besonders im Spaziergang manches anmuthige Landschaftsbild; aber es fehlt diesen Bildern der Hauch der Stimmung, der eigenthümliche Duft der Seele. Mehr verschmilzt schon bei Matthisson und verwandten sentimentalen Dichtern das Naturbild mit der Seelenstimmung. Dagegen bietet die moderne Lyrik zahlreiche und schöne Beispiele ihrer innigen Vermählung. Jn Victor Hugo's Dämmerungsliedern ist das Dämmerlicht der Natur träumerisch über das Seelenleben und das geschichtliche Bild ausgebreitet; Ludwig Uhland feiert in den mildbesonnten Tagen254 des Lenzes die kindlich spielende Heiterkeit, in denen des Herbstes die wehmüthige, sich nach dem Grab sehnende Erinnerung; Emanuel Geibel sucht für den feuchten Frühlingsabend nach einem verwandten, dunkeln, milden und weichen Klang; Nicolaus Lenau wandert voll Todessehnsucht durch die Wetternacht oder empfindet den trennungsschaurigen Hauch des Herbstes; Heinrich Heine läßt die vom Mond geküßte Lotosblume im Liebesweh erzittern. Auch die unberühmte Tageslyrik beutet das Naturleben für die Empfindung unermüdlich aus; doch nur ein origineller Dichtergenius vermag auf diesem Gebiete neue und tiefe Beziehungen zu entdecken. Die Blumenlyrik, welche in jede Blume eine beliebige Seele hineinzwängt, um die zierlichen Sträußchen für die modischen Toilettentische der Damen zu Stande zu bringen, ist einer grenzenlosen Verwässerung anheimgefallen. Statt Natur und Seele mit dichterischem Tiefblicke in Eins zu schauen, heftet sie ein Verslein gleichsam als Etiquette an die Pflanzen. Diese lyrische Botanik wird von einzelnen Dichterfirmen geradezu handwerksmäßig betrieben.

Die Liebe, als die bewegende Macht des Gemüthes, spiegelt sich in einer Fülle von Stimmungen, welche für die Lyrik außerordentlich ergiebig sind. Jn der That ist dies in der Lyrik aller Zeiten der vorwiegende Stoff, der durch die wechselnde Sitte der Völker, durch die verschiedenen Persönlichkeiten der Dichter und die immer neue Behandlungsweise vor ermüdender Einförmigkeit geschützt bleibt. Doch ist den Dichtern der Gegenwart anzurathen, nicht in allen diesen geschichtlich verbrauchten Formen, bald antik, bald persisch und türkisch, bald minniglich oder petrarchisch, Gott Amor fesseln zu wollen, sondern ihr Streben darauf zu richten, daß sie einen Ton treffen, welcher den Sitten und der Bildung unserer Zeit entspricht. Die Liebeslyrik, die sich in ausgetretenen Gleisen bewegt, wird unerträglich, und nirgends mehr als hier verlangen wir eine scharf ausgeprägte und bedeutende Persönlichkeit, die uns für ihre Neigung und Leidenschaft zu interessiren vermag. Von Anakreon's erotischen Genrebildchen bis zu Hafisen's polemischer, trunkener Lebens - und Liebeslust, von Sappho's leidenschaftlicher Gluth bis zu Properzen's kühnerem Feuer, von den ritterlichen Huldigungen der Troubadours und Minnesänger bis zur gelehrt schmachtenden Weise des Petrarca und der ihm nachfolgenden Sonettisten welch 'eine Fülle von Tönen,255 welch' ein Wechsel der Behandlungsweise, welch 'eine Unerschöpflichkeit des einen großen Themas der Liebe! Nehmen wir noch hierzu Klopstock's theils erhabene, theils familiaire Liebesoden, Goethe's einfache, gefällig innige Lieder, Byron's stolz leidenschaftliche Gesänge, Geibel's blonde, keusche, ätherische Minne, Lenau's nach düstern Bildern haschende Gluth, Heine's blasirte, schalkhafte, aromatisch duftige Erotik, Dingelstedt's schönempfundene, von geistigen Kontrasten tiefbewegte Liebeselegieen so gewinnen wir die Ueberzeugung, daß jeder wahrhafte Dichter einen neuen Ton trifft, um die Liebe zu feiern, daß diese Skala nicht erschöpft ist und nie erschöpft werden kann. Schon die Liebes - und Naturlyrik konnte die leiseste Anregung, die flüchtigste Stimmung verwerthen, und in der That kann die Lyrik überhaupt noch dort ihre Stoffe suchen und finden, wo ein die Dinge messender und wägender Verstand nur imponderable Größen erblickt. Wie die Stimmung des Gemüths oft aus unerkennbaren Atomen zusammengeweht wird: so auch das Gedicht, das aus ihr hervorgeht. Kleinigkeiten, Tändeleien, Nichtigkeiten des Daseins sind vollkommen am Platz, sobald die Seele ihre Regungen an sie anzuknüpfen vermag. Eine reiche Seele schaut im Kleinsten das All und lebt mit gleicher Gedankentiefe und Fülle im mikroskopischen, wie im teleskopischen Universum. Doch darf die Harmlosigkeit des Stoffs nie die künstlerische Form, die eben das Kleinste adeln soll, ankränkeln ein bloßes Austrällern der Gefühle findet sich wohl in der Volkspoesie, doch bleibt es künstlerisch verwerflich. Auf der andern Seite soll das Gemüth des Dichters, wenn es auch berechtigt ist, die vergänglichste Stimmung festzuhalten, nie unklaren Launen oder tollen Marotten die Ehre dichterischer Verherrlichung angedeihn lassen, sondern stets im Auge behalten, daß es sich in der Poesie um ein Aussingen der Seele handelt, welches allgemeinen Anklang erweckt, nicht um ein Aushusten oder Ausniesen, das nur zur persönlichen Erleichterung dient.

Wir haben den Kreis des Jnhaltes durchmessen, über den die Lyrik verfügen kann; es gilt jetzt die Kunstform der Lyrik in's Auge zu fassen. Da das lyrische Gedicht aus der Stimmung des Augenblickes hervorgeht: so kann es nicht so langathmig sein, wie das epische oder dramatische, welche eine gestaltenvolle Welt spiegeln; es ist schon dadurch auf die Kürze hingewiesen. Eine umfangreichere lyrische Dichtung wird sich256 daher nur in der Weise eines Cyklus zusammensetzen können, in welchem sich an einen Grundton eine ganze Skala von Stimmungen anreiht, in denen jeder Ton wieder der Grundton einer neuen Skala werden kann. Man kann lyrische Blumen zum Kranz winden, aber jede Blume hat ihr eigenes Recht, und der Accent ruht weniger auf dem Kranz, als auf der einzelnen Blume. Diese Vereinzelung gehört zum Wesen der Lyrik. Platen feiert Venedig in einem Sonettenkranz; der Grundton der Stimmung geht durch alle; aber es ist bald dieses, bald jenes Bild der Lagunenstadt, an das er seine dichterischen Reflexionen knüpft. Grün hat im Schutt vier Cyklen zu einem großen Cyklus vereint; aber in jedem ist es eine Reihenfolge einzelner Stimmungen und Bilder, die alle wieder eine selbstständige Bedeutung haben. Ein lyrischer Cyklus ist kein Organismus, den man seiner einzelnen Glieder nicht ohne Gefahr für das Ganze berauben könnte; im Gegentheil, gleich den niederen Klassen der Natur, hat jedes losgetrennte Glied des Ganzen sein eigenes Leben.

Die Einheit des lyrischen Gedichts ist von der des epischen und dramatischen wesentlich verschieden; der Begriff der Episode findet hier keinen Platz. Die Einheit ist nur eine Einheit der Stimmung und des Tons, welche die verschiedenartigsten Vorstellungen beherrschen kann. Ein Herausfallen aus dem Grundton wäre nicht episodisch, sondern ein Fehler, während auf der anderen Seite auch die entlegenste Kette von Vorstellungen keinen episodischen Charakter annimmt, wenn sie mit der Grundstimmung des Dichters zusammenhängt und auf sie zurückgeführt werden kann. Um das Räthsel der lyrischen Produktion zu lösen, muß man sich auf den psychologischen Standpunkt stellen. Man beobachte das eigene Gemüth, wenn es von einer Empfindung erregt und beherrscht wird! Welchen Träumereien giebt es sich hin! Welche Reihen von Vorstellungen gaukeln an ihm vorüber! Wie zufällig ist der Uebergang von der einen zur andern, wie locker ihre Verknüpfung! Wie verweilt es bei der einen mit ausmalender Geschäftigkeit, während es über die andere im Fluge hinwegeilt! Je reicher und lebendiger die Phantasie, desto glänzender, unerschöpflicher wird die Menge der Vorstellungen sein, welche sie der Empfindung zuführt; doch diese Empfindung selbst bleibt immer der Kern, an den die krystallinischen Gebilde der Phantasie anschießen. Jn diesen Träumereien des erregten Gemüthes finden wir das Vorbild des257 lyrischen Schaffens, wie überhaupt den Quell der lyrischen Dichtung. Ganz entgegengesetzt dieser willkürlichen Verknüpfung der Vorstellungen ist der logische Gedankengang, die Methode des entwickelnden Denkens, das aus bestimmten Prämissen mit Nothwendigkeit bestimmte Schlüsse zieht. Auf dem künstlerischen Gebiet offenbart sich diese logische Präcision als Besonnenheit, welche mit Bewußtsein auf innere Folgerichtigkeit und harmonische Gestaltung des Ganzen hinarbeitet. Ein lyrisches Gedicht, welches die logische Anordnung nach Art einer homiletischen Disposition offen zur Schau trüge, würde durch seine Nüchternheit aus aller Poesie herausfallen, während auf der andern Seite ein Gedicht, welches das willkürliche Spiel der Vorstellungen in's Unbegrenzte ausdehnt, zuletzt auch von der Grundstimmung abirren und in's Phantastische und Bodenlose verfallen müßte. Denn für die Träumereien der unkünstlerischen Phantasie giebt es keinen Anfang und kein Ende, keine Grenze, wo die eine Stimmung in die andere umschlägt! Hier beherrschen die Vorstellungen die Seele; in der Lyrik soll die Seele die Vorstellungen beherrschen! Das Geheimniß der lyrischen Komposition besteht nun eben darin, jenes willkürliche Spiel der träumenden Seele im reichsten Wechsel der Vorstellungen nachzuahmen, aber so, daß in allen diesen kühnen und täuschenden Verschlingungen doch eine innere, mit Bewußtsein angestrebte Harmonie waltet. Der elektrische Funke der Empfindung, der an der Kette der Vorstellungen hinläuft, muß am Schlusse, Allen sichtbar, wieder aus ihr herausspringen. Je labyrinthischer die Komposition, je mehr wir den Faden zu verlieren glauben: desto größer unsere Freude ihn wiederzufinden, desto größer die Kunst des Dichters, die sich freilich nur in den höheren lyrischen Gattungen bewähren kann. Von den Dichtern des Alterthums ist Pindar wegen der Kühnheit seiner Komposition gefeiert. Er verschlingt die Gedankenreihen so künstlich, daß erst am Schlusse in überraschender Weise ihre innere Einheit und Harmonie hervortritt. So feiert er in seiner ersten pythischen Siegeshymne den Hieron, den Gründer und Bürger der Stadt Aetna. Er beginnt mit einem Preise der Musik, welche die Götter im Olymp erfreue und beselige und nur die Qual des unter dem Aetna gefesselten Giganten Typhon vermehre. Dann springt er plötzlich zur neugegründeten Stadt Aetna über, die Hieron im Kriege beschützt, und der er eine weise258 Verfassung gegeben. Er wünscht ihr eine Fortdauer dieses friedlichen, glücklichen Zustandes. Jetzt erst wendet sich der Sänger an Hieron selbst und wünscht ihm eine von den Künsten des Friedens, der Musik und Poesie verschönte Ruhe und Heiterkeit des Gemüthes. So verknüpft er künstlerisch die beiden disparaten Vorstellungsreihen, deren Zusammenhang sich vorher nicht überschauen läßt. Die Grundstimmung des Dichters ist eben hier eine innere Harmonie der Seele, welche nach entsprechenden Vorstellungen greift, sich in der Harmonie der Kunst und des Staatslebens spiegelt und dem gefeierten Helden des Tages das Glück ihrer eigenen Beruhigung zu erstreben anräth. Das Bild des Typhon hat dem Dichter überdies der lokale Zusammenhang eingegeben. Von ähnlicher Kühnheit in der Verknüpfung der dichterischen Bilder ist der römische Elegiker Tibull. Bei Horaz wiegt schon die Absichtlichkeit im kunstvollen Zusammenrücken des Entlegenen vor, ebenso bei Ramler und oft bei Klopstock. Doch auch in jenen Arten der Lyrik, in denen die kühneren Sprünge schwunghafter Begeisterung fehlen, kann die Komposition durch eine Reihe von Bildern hindurchgehn, ohne die innere Einheit vermissen zu lassen. Jn Lenau's Gedicht: der schwarze See ist es der tiefe, finst're Ernst der Weltanschauung, der, an das Naturbild anknüpfend, sich durch das Ganze hindurch bewegt. Auf diesem Rembrandt'schen Grunde der Seele spielen dann wechselnde Vorstellungen, die durch die wechselnden Vorgänge der umgebenden Natur bedingt werden. Jn den tiefen schwarzen See versenkt der Dichter anfangs seine Liebe und seine Hoffnungen. Da stürzt sich ein stürmisches Wetter in die düst're Fluth; das schnellverzitternde Bild wilder Blitze durchglüht sie, wie Erinnerungen aus beglückten Tagen sein verfinstert Herz:

Sie rufen mir: o Thor! Was hat dein Wahn beschlossen!
Die Hoffnung kannst und sollst du in das Grab hier stoßen.
Doch willst in diesem See die Liebe du ertränken,
So mußt du selber dich in seine Fluth versenken.

Hier ist ein Fortgang der inneren Bewegung bis zur Einschränkung der früheren Empfindung; doch bleibt dadurch die Grundstimmung unverändert. Das Gefühl des Dichters, daß die Liebe mit seinem innersten Leben untrennbar verwachsen ist, löst sich, wie auch die Schlußwendung zeigt, nicht von jenem tiefdunklen Hintergrunde der Seele los.

259

Die Entfaltung der lyrischen Komposition ist nach den Gattungen wesentlich verschieden. Es giebt Lieder, die wie unerschlossene Knospen sind, deren Duft und Reiz gerade in der halbverhüllten, ahnungsvoll durchbrechenden Seele, im Mangel der Entfaltung besteht, wogegen andere wieder weitreichende Ketten von Vorstellungen und Empfindungen bilden. Der Lyriker muß uns noch mehr als der Epiker gleich am Anfang in medias res führen; den Mittelpunkt der Empfindung darf er nie verlassen. Wenn Pindar in der erwähnten Ode mit der die Olympier beseligenden Musik beginnt, so sind wir vollkommen im Mittelpunkte des Gedichtes, denn dort ist der vollste, göttliche Akkord der Harmonie, den er feiert. Der Lyriker kann entweder gleich am Anfang die Stimmung aussprechen, die ihn beseelt, wie Goethe:

Herz, mein Herz, was soll es geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch 'ein reges, neues Leben,
Jch erkenne dich nicht mehr.

oder er verschleiert diese Stimmung zunächst in der Schilderung eines Naturbildes, das sie spiegelt, einer Situation, an die er anknüpft; doch muß er in Ton und Färbung des Gemäldes bereits die Färbung des Gemüthes durchschimmern lassen. Die Sehnsucht des Dichters malt sich trefflich in Lenau's Gedicht: meine Braut in der ersten Strophe:

An der duftverlornen Grenze
Jener Berge tanzen hold
Abendwolken ihre Tänze,
Leichtgeschürzt im Strahlengold.

ebenso die Unruhe und Spannung des Gemüths in Schiller's Erwartung:

Hör 'ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geklirrt?
Nein, es ist des Windes Wehen,
Der durch diese Pappeln schwirrt.

Ebenso kann der Anfang in einer Anrede bestehn, welche uns den besungenen Gegenstand lebensvoll näher rückt, wie z. B. Schiller in den Jdealen die gold'ne Zeit seines Lebens anruft:

So willst du ewig von mir scheiden
Mit deinen holden Phantasie'n,
Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden,
Mit Allem unerbittlich fliehn?
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Für alle ansingenden Formen der Lyrik wird sich dieser Eingang als unentbehrlich erweisen. Auch kann der Anfang bereits im Keime den ganzen Jnhalt des Gedichtes enthalten, das nur in einer Evolution der bereits ganz enthüllten Stimmung besteht, wie Lenau's nächtige Wanderung:

Die Nacht ist finster, schwül und bang,
Der Wind im Walde tost;
Jch wandre fort die Nacht entlang
Und finde keinen Trost.

oder Meißner's Einsamkeit:

Daß ich dein auf ewig bliebe,
Tiefes, felsumschloss'nes Thal,
Traurig schön wie uns'rer Liebe
Tiefe hoffnungsvolle Qual.

Aehnlich Schiller in den Göttern Griechenlands, wo der Dichter in der ersten Strophe bereits den ganzen Jnhalt des Gedichtes angiebt. Es ist indeß nicht empfehlenswerth, alle Trümpfe der Empfindung am Anfang auszuspielen; ihr allmähliches Anschwellen und Durchbrechen ist künstlerischer. Die Entfaltung des Gedichtes bildet nun seine Mitte; hier ist der Empfindung und Phantasie der weiteste Spielraum gegeben. Sie kann in innig koncentrirten Klängen fast unausgeprägt vom Anfang zum Schlusse hinüberleiten, sie kann von Bild zu Bild, von Vorstellung zu Vorstellung in kühnen Sprüngen eilen oder ein Gewebe von Bildern und Reflexionen ausbreiten, in welchen der rothe durchgehende Faden sichtbar ist, der Anfang und Schluß verknüpft. Sie kann im Refrain immer wieder den Grundton der Stimmung wiederholen, in dem wiederkehrenden Verse gleichsam äußerlich, plastisch die innere Einheit des Gedichtes andeuten. Solche Wiederholungen finden sich besonders im Volksliede, welches noch ein äußerliches Hilfsmittel braucht, um nicht über den Kreis der Empfindung, den es beschreiben will, hinauszufliegen. Der Refrain kann in der Wiederholung derselben Worte bestehn, oder nur dieselbe Figuration des Verses und der Wortstellung wiederholen, sonst aber der veränderten Situation durch den veränderten Ausdruck Rechnung tragen.

Der Schluß des lyrischen Gedichtes soll nicht blos ein harmonisches Austönen der Stimmung sein; er soll sie noch einmal prägnant zusammenfassen;261 gleichsam bereichert durch das freie Spiel, durch die Auslassungen der Mitte zum Anfange zurückkehren. Diese dreigliedrige Rhythmik der Komposition wird sich nicht immer wie Satz, Gegensatz und Schlußsatz verhalten, der Schluß nicht immer, wie Vischer will, eine Beruhigung des Gefühls enthalten. Die Prägnanz des Schlusses kann zur lyrischen Pointe führen, deren allzufeine Zuspitzung in's Epigrammatische hinübergleitet. Jn der modernen deutschen Poesie ist seit Heine die forcirte Schlußpointirung Mode geworden. Ein Dichter, der wie Heine mit weichen, elegischen Klängen beginnt und mit ihrer oft cynischen Verspottung abbricht, scheint überhaupt die Einheit und Harmonie des Kunstwerkes aufzuheben. Doch ist in Heine's meisten Gedichten die Grundstimmung eine schalkhafte oder blasirte, die sich nur anfangs vermummt und erst am Schluß mit kicherndem Lachen ihre Vermummung abwirft. Heine's eigenthümliche Genialität schafft auch in diesen widerspruchsvollen, kecken, pikanten Liederchen aus dem Ganzen. Daß sich bei seinen meisten Nachahmern diese lyrische Pointensucht höchst unkünstlerisch und albern ausnimmt, ist nicht seine Schuld. Die lyrische Ausdrucksweise gebietet über den ganzen dichterischen Schmuck der Tropen, aber sie kann ihn auch verschmähn und muß ihn verschmähn, wo es sich um den innigen koncentrirten Ausdruck der Empfindung handelt. Ueberhaupt besteht der Hauptreiz der Lyrik im Halbverhüllten, im Duft der Stimmung; selbst wo sie in's Einzelne malt, muß sie die Verbindungsglieder zwischen den Bildern mehr herausfühlen, der empfangenden Phantasie und Empfindung durch den Reiz des Unausgesprochenen eine Ergänzung übrig lassen. Daher ist jede Ausdrucksweise verfehlt, welche den logischen Zusammenhang nackt an den Tag legt. Alle Wendungen der Sprache, welche das grammatische oder syntaktische Gerippe bloßlegen, müssen vermieden werden. Die Lyrik kann sich nicht zu kunstvollen Perioden ausbreiten; sie liebt die kurzen Sätze, die naturwüchsigen Verbindungen, das Asyndeton und Polysyndeton, die träumerischen Lakonismen des Ausdrucks; sie drängt immer hinweg zum Subjekt und Prädikat und ihren schmückenden Beiwörtern, um rasch ein festes Bild zu gewinnen. Vor Allem sind ihr ausgeführte Relativsätze, Satzverbindungen, in denen das Zeitverhältniß sich durch ein als, nachdem als Neben - oder Zwischensatz weitschweifig ausdrückt, oder jener abhängige, von daß,262 damit u. s. w. regierte Schweif von Sätzen ein Gräuel. Dagegen wählt sie mit Vorliebe die Apostrophe, die Ausrufung, die Frage und alle stylistischen Verkürzungen. Freilich kann man auch hierin zu weit gehn; die Jnversionen, Stylverrenkungen, die seltsam gebildeten dichtgehäuften Wortkomposita z. B. in den antikisirenden Oden sind nur eine Art grammatischen und syntaktischen Schwulstes, der den erhabenen Ausdruck, den er erreichen will, vollkommen verfehlt. Schon aus Rücksicht auf diese gedrängte Syntax der Lyrik kann die epische Vergleichung, welche in ihrer Ausführung ein weitverzweigtes Satzsystem erfordert, hier nicht Platz finden. Dagegen ist der Metapher mit allen ihren Unterarten der weiteste Spielraum gegeben. Die Magie des lyrischen Styls beruht auf der Metapher. Natürlich darf sie nicht locker angeheftet werden, nicht neben der Empfindung herleuchten; sie muß mit ihr verschmelzen, ihr schlagendster Ausdruck sein; sie verwebt erst Bild und Stimmung in Eins. Die Naturanschauung in Lenau's Mondlicht wird erst dann beseelt, als der Dichter sein Mädchen das süße Mondlicht seiner Nächte nennt und allen Zauber der Natur metaphorisch auf seine Liebe überträgt. Wenn Hermann Lingg im Mondaufgang den Mondschein ein schlafendes Sonnenlicht nennt, so ergießt diese eine Metapher über die ganze weltgeschichtliche Elegie den träumerischen Reiz der Stimmung. Jn den gedankenvollen Gattungen der Lyrik wächst ihre Bedeutung, da hier nur die kühne, schlagende Metapher dem Ausdrucke eine Kraft giebt, welche ihn über das Gebiet der Prosa erhebt. Dagegen ist sie im Lied entbehrlich, da der Zauber des Liedes auch schon durch den Klang der Sprache, durch den eigenthümlichen Duft, der über sinnig gewählten Worten schwebt, hervorgerufen werden kann. An die Metapher anstreifende Ausdrücke bringen hier die genügende Wirkung hervor z. B. die stimmungsvollen Verba in Goethe's Lied an den Mond:

Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.

die stimmungsvollen Adjectiva in vielen Heine'schen Gedichten, z. B.:

Jch stand in dunkeln Träumen,
Und starrte ihr Bildniß an,
263
Und das geliebte Antlitz
Heimlich zu leben begann.

Auch kann der Lyriker ein Bild allegorisch ausspinnen und den Vergleichungspunkt unausgesprochen nur durch die Stimmung ausdrücken. Meisterhaft ist in dieser Weise Heine's kleine Elegie vom Fichtenbaum und der Palme, ein lyrischer Rebus! Weiter ausgeführt hat dieser Dichter das Bild des Sarges, in welchem er seine alten Lieder und Träume begraben will, und der so schwer wird durch seinen Schmerz und seine Liebe. Gottfried Kinkel personificirt die Windsbraut, Geibel den Dampf beide Allegorieen sind sogar weit ausgesponnen, aber es sind lebensvolle, bewegte Bilder, nicht nüchterne Gestalten mit hölzernen Attributen. Für die schwunghaftere Gattung der Lyrik wird die Hyperbel in ihre vollen Rechte treten, natürlich ohne in das geschmacklos Schwülstige überzugehen. Jm Allgemeinen trägt der lyrische Styl das Gepräge der bestimmten dichterischen Eigenthümlichkeit. Jeder Poet von Gottes Gnaden bringt seinen Styl mit auf die Welt und an diesem Styl erkennt man ihn mit derselben Leichtigkeit im kleinsten Fragment, mit welcher ein Cuvier aus einzelnen Knochen das ganze Gerippe eines vorsündfluthlichen Thieres erkennt. Diese Blume des individuellen Styles entzieht sich der Analyse. An der Blume erkennt man den Wein; aber sie selbst ist unbestimmbar. Bei jeder Zergliederung würde sich der Goethe'sche Spruch bewähren:

Behalten die Theile in ihrer Hand,
Fehlt leider! nur das geistige Band.

Goethe's Lyrik ist klarer echter Rheinwein in geschliffener Flasche, kredenzt in den grünlichen Römern; Schiller's Lyrik feuriger, schwerer Burgunder in reichen Pokalen; die Lenau's heißblütiger Tokaier, die Herwegh's moussirender Champagner. Platen's Lyrik erinnert an den Falerner des Horaz und die Heine's an den Chier des Anakreon. Jn der That, wer fühlte nicht den weichen, milden, wohligen Klang der Goethe'schen Lieder, den fortwährend durch die Schleussen der Antithese brausenden Gedankenstrom Schiller's, Lenau's in düstern Bildern schwelgende Gluth, Herwegh's sprudelnde, Bahn brechende Rhythmen, Platen's kunstvolle Gemessenheit, Heine's schalkhaft schäkernden Ton aus jedem einzelnen Verse dieser Dichter heraus? Der Styl des echten Lyrikers ist264 einzig und, weil er einzig ist, unerklärbar. Hier beginnt das Jrrationale, das sich in keine Formel bringen läßt das Geheimniß des Genius.

Da die Lyrik das Austönen der Empfindung ist: so braucht sie die ganze Musik der Sprache, ihre Melodie, den Rhythmus und ihre Harmonie, den Reim. Trochäische, jambische, daktylische, anapästische Versmaaße, von unendlicher Verschiedenheit durch die Zahl der Füße, durch die Anordnung längerer und kürzerer Verszeilen stehn ihr zu Gebote; sie eignet sich die antiken Strophen, die orientalischen Gaselen und Kassiden an. Die Kunst des Lyrikers besteht in der passenden Wahl des Metrums eine Wahl, die in den meisten Fällen Sache der Jnspiration ist. Der Lyriker muß den Geist jedes Metrums kennen hierin wird das Talent schon vom Jnstinkt geleitet. Es wird keine leidenschaftliche steeple-chase auf einem schwerfälligen Alexandriner veranstalten oder auf einem adonischen Pony; es wird keinen muntern Spazierritt auf einem harttrabigen, feierlichen Trimeter machen; es wird keinen heroischen Buccephalus, keine Nibelungenstrophe, in die elegische Schwemme reiten! Die deutsche Lyrik gebietet über den größten Reichthum an metrischen Formen; aber da ihr trotz dessen die metrische Plastik fehlt, so verlangt sie den Reim als nothwendige Ergänzung. Wir stellen diese Behauptung unbedingt hin als eine Einsicht der Neuzeit, die sich von den einseitigen klassischen Studien und Traditionen emancipirt hat. Als einzige Ausnahme für die Lyrik würden wir das elegische Distichon gelten lassen. Alle die kunstvollen Reimformen und Strophenbildungen, Sonett, Sestine, Kanzone können in der Lyrik verwerthet werden. Die Stanze schwebt in der Mitte zwischen Lyrik und Epik; die Terzine hat einen entschieden epischen Charakter.

Nachdem wir so das Gewebe des lyrischen Kunstwerkes ausgebreitet und in Stoff und Form untersucht, wollen wir noch einen Blick auf den lyrischen Dichter werfen, dessen Seele es aus ihren eigensten Fäden spinnt. Die Lyrik ist die Seele aller Poesie, das Auge der Dichtung; denn die Begeisterung, die in der epischen und dramatischen Poesie durch mancherlei Kanäle geleitet wird, quillt in der Lyrik frisch und unmittelbar hervor. Ein epischer oder dramatischer Dichter ohne eine lyrische Ader wird stets an einer bedenklichen Nüchternheit leiden. 265Dante hat seine vita nuova gedichtet, und wie lyrisch sind Shakespeare und Schiller! Dagegen kann es einem sehr begabten Lyriker nicht gelingen, der epischen Plastik Herr zu werden oder den straffen Bogen der dramatischen Form zu spannen man denke z. B. an Byron, Uhland, Rückert. Die Begabung des Lyrikers besteht nun in der Lebendigkeit der phantasievollen Anschauung, der Jnnigkeit und Wärme des Gefühles und dem Sinn für die Melodie der Sprache, vor Allem aber in der Begeisterung, welche diese drei Momente in Eins setzt. Die Lebendigkeit der Phantasie erfaßt jeden Stoff sogleich von der Seite, wo er ein lebensvolles Bild gewährt; die Jnnigkeit des Gefühles versetzt ihn sogleich auf den Boden der Stimmung, deren inneres Erzittern sich in der rhythmischen Melodie der Sprache spiegelt. Je weniger der Stoff selbst im Kreise des alltäglichen Empfindens liegt, desto größer ist die Energie des Lyrikers, der ihn zu beherrschen, in das Fleisch und Blut der eigenen Stimmung zu verwandeln weiß. Es ist dies ein chemischer Proceß, der durch das elektrische Fluidum der Begeisterung blitzartig vollzogen wird. Darum sind nicht diejenigen Lyriker, welche Freud 'und Leid des eigenen Herzens, die Jnteressen eines beschränkten Lebenskreises aussingen, die Begabtesten, sondern die, welche die Angelegenheiten der Menschheit so zu ihren eigenen gemacht haben, daß bei ihrer begeisterten Feier das eigene Gemüth in seinen Tiefen ertönt. Der Flug hoher lyrischer Begabungen geht weit über den Dichterwald hinaus, in welchem es von allen Zweigen tönt. Das Aussingen der eigenen trivialen Stimmung ist das gute Recht eines Jeden, das man ihm nicht verleiden soll, wenn es nur nicht Anspruch auf künstlerische Geltung macht. Gerade in der Lyrik ist bei den ausgeprägten Formen einer Sprache, die für uns dichtet und denkt, die Grenze zwischen Talent und Dilettantismus schwer zu ziehn. Eine Kritik, welche mit abstrakten Maaßstäben an die Gedichte geht, wird hierin meistens fehlgreifen; nur die freie Empfindung für Duft und Blume der Poesie kann hier das Richtige treffen. Das Talent hat ein unbeschreibliches Arom, das auch dem glattesten und korrektesten Dilettantismus fehlt. Das Talent kann große Fehler machen, der Dilettantismus fehlerfreie Werke erzeugen und doch ist die Kluft zwischen beiden unübersteiglich. Es giebt dilettantische Richtungen, welche im Gefühl ihrer Ohnmacht von einem wahren Hasse gegen das Talent266 beseelt sind und es sind die traurigsten Epochen der Literatur, wo es ihnen gelingt, einen tonangebenden Einfluß zu gewinnen. Auch unsere Epoche ist von jener akademischen Lyrik nicht verschont geblieben, welche ihre Studienmappe gern für ein Nationalmuseum ausgeben möchte.

Die Gefahr lyrischer Begabungen ist nicht gering. Jndem sie die höchsten Formen und Aufgaben nicht nur zu ihren eigenen machen, sondern sie mit der ganzen Gluth der Empfindung durchdringen, indem sie sich fortwährend auf den hochgehenden Wogen des Seelenlebens schaukeln, können sie leicht die Harmonie der Seele und des Geistes verlieren. Nur Wenigen war es vergönnt, wie Goethe, alle Saiten der Lyra bis in das späteste Alter zu ungetrübtem Vollklang zu stimmen, die Welt der Seele ebenso zu beherrschen, wie die Welt der Erscheinungen, die eigene Stimmung zu belauschen und sie in das harmonische Gebiet des Schönen zu transponiren. Wie anders schon Schiller's unruhige, fieberhafte Lyrik, seine oft krankhaft nach Jdealen ringende Seele; wie anders Byron's leidenschaftlicher, skeptischer Dichtergenius! Bei Hoelderlin und Lenau zerriß das Band vollständig, welches den schönen Wahnsinn des Dichters von dem wirklichen trennt! Die gesteigerte Stimmung des Poeten, die von Bild zu Bild schweift, unterscheidet sich nur dadurch von derselben unstäten Thätigkeit des Wahnsinnes, daß dort das Selbstbewußtsein als die bindende und lösende Macht den Ergüssen der Phantasie die innere Einheit giebt, während hier der Taumel der Vorstellungen, wie an kein Subjekt mehr gebunden, ohne Anfang und Ende fortgeht. Man lese die Gedichte, die Hölderlin in seinem Wahnsinn geschrieben man erkennt noch immer darin seine von den Bildern Hellas trunkene Seele, aber die Seele hat die Macht über die Vorstellungen verloren, die, ihrer eigenen Gewalt überlassen, chaotisch durcheinanderstürmen. Trotz der außerordentlichen Reizbarkeit des dichterischen Gemüthes, trotz seiner gewaltigen Erregungen und seiner fortwährenden Versenkung in die Tiefen des Lebens kann man es nur als eine Verirrung der Neuzeit hinstellen, wenn selbst begabte Dichter das Mal der Dichtung als ein Kainszeichen erklärten, statt die Gabe des harmonischen Gesanges nach Gebühr zu feiern. Den Alten galt der Dichter als Prophet und in der That befindet sich das dichterische Gemüth recht im Mittelpunkt des Denkens und Empfindens, und das ist die delphische Stätte, von wo aus das267 Orakel für alles Geschehen ertönen kann. Nicht nur die Propheten des alten Testamentes waren großartige Dichter, vor deren energischem Tiefblick der Schleier der Zukunft zerriß, weil die innere Nothwendigkeit der geschichtlichen Entwickelung in ihrer Seele lebendig war; auch in jüngster Zeit hat die politische Lyrik unleugbare visionaire Anwandlungen gehabt. Jm Heute spiegelt sich immer das Morgen, wenn eine große Seele es in seiner ganzen Tiefe erfaßt.

Was nun die Art und Weise des lyrischen Schaffens betrifft, so ist es keinesweges erforderlich, ja nur wünschenswerth, daß der Lyriker im unmittelbaren Drang und Sturm der Empfindung dichte. Es ist mit Recht behauptet worden, daß die Hand, die vom Fieber zittre, es nicht schildern könne. Der Affekt hat eine ungeläuterte Natürlichkeit, die ihrer eigenen Schwere folgt. Die Leidenschaft muß erst durch das Sieb geschüttelt werden, eh 'sie poetisch verwendet werden kann. Alles Dichten setzt eine geistige Reproduktion voraus. Unähnlich dem physikalischen Gesetz, nach welchem mehrfache Spiegelung das Bild verrückt, sind die Spiegelungen der Empfindung für die Klarheit und Harmonie des dichterischen Bildes vortheilhaft. Der Dichter muß immer die Empfindung in die Vorstellung umsetzen. Es genügt für ihn, eine Stimmung einmal durchempfunden zu haben um sie, vielleicht nach langer Zeit, dichterisch wiederzugeben. Die Erinnerung hat etwas von jener Jdealität, welche aller Kunst eigen ist. Ja, es giebt Stimmungen und Empfindungen, deren trüber Most sich erst nach Jahren in den edlen Wein der Dichtung verwandeln kann. Solche unausgegohrenen Seelenzustände gleich dichterisch zu verpichen und zu verschicken, kann der Firma verderblich werden. Aehnlich verhält es sich mit dem eigenen Erlebniß, das oft erst nach jahrelangem Verlaufe für den Dichter einen Schimmer der Verklärung gewinnt. Dann aber hat das Thatsächliche längst seine Bestimmtheit eingebüßt; was damals wirklich oder nur möglich, was äußerer Vorgang oder Vorgang in der Seele des Dichters war, ist für diesen selbst gleichgültig geworden, da er sich nur in die Stimmung jener Zeit zurückversetzt und aus ihrem dunkeln Schacht seine Juwelen gräbt. Ueberhaupt duldet die Lyrik keine Prosa der Thatsachen! Selbst wo sie die nächste Gegenwart erfaßt, verwandelt sich Alles unter ihren Händen; sie respektirt kein Signalement, keine besondern Kennzeichen der Personen und Dinge. 268Schon hieraus geht hervor, wie müßig viele mit dem größten Aufwande von Gelehrsamkeit geführte Untersuchungen über diesen oder jenen Lebensumstand, diese oder jene Geliebte eines Lyrikers, die Sulpicia des Tibull und die Lili Goethe's sind. Wie bei dem Maler, ist es auch bei dem Dichter gleichgültig, woher er seine Studienköpfe nimmt! Das Erlebniß gewinnt unter seinen Händen eine andere Gestalt; es handelt sich nicht um die äußere, nur um die innere Treue. Nicht der Gegenstand, sondern wie er mir in dieser Stimmung erschien das ist in der Lyrik das Wesentliche. Goethe sagt irgendwo, jedes echte Gedicht sei ein Gelegenheits gedicht; das kann nur heißen, es ist immer aus einer bestimmten Situation oder Stimmung hervorgegangen; aus einem äußern oder innern Anlaß. Das Erlebniß kann aber längst vergangen sein und nur zufällig in der Seele erweckt werden. Wie verhält es sich aber mit dem Gelegenheitsgedichte in der engeren Bedeutung des Wortes? Hier hilft uns ein anderer Spruch Goethe's: Seid ihr Poeten, so kommandirt die Poesie! Es gehört ein außerordentlich reiches und vielseitiges Gemüth dazu, um jeden ganz von außen gegebenen Stoff in einen Aether der Stimmung zu erheben, wo er dichterische Flügel gewinnt. Jmmer wird es dabei auf die Verwandtschaft des Stoffes mit der Gemüthslage und Weltanschauung des Dichters ankommen. Man führt oft Pindar's Epinikien als großartige Gelegenheitsgedichte an doch hatte dieser Stoff auch seine nationale Seite, welche in der Stimmung eines hellenischen Dichters stets eine entgegenkommende Begeisterung fand. Jedenfalls bleibt Pindar's Verfahren, der den einzelnen Fall und die Zufälligkeit seiner Daten alsbald in den großartigen Fugen seiner gedankenreichen Hymnik verschwinden ließ, für alle Gelegenheitspoesie mustergültig. Daß indeß auch großen Geistern das Kommandowort über die Poesie nicht immer zu Gebote steht, beweist wohl Goethe's hoffestliche Gelegenheitslyrik, deren strohernes Allegorisiren meistens unerträglich ist. Die äußerliche Nöthigung oder Bestellung wird der Poesie immer nur eine Anregung von sehr zweifelhaftem Werthe bieten. Jst indeß der Lyriker einmal angeregt, so wird er dem Strom der Empfindungen mit Begeisterung, doch zugleich mit Besonnenheit folgen. Die äußerliche Methode des Schaffens wird nur eine individuelle bleiben. Doch scheint uns die Art und Weise des Tibull sehr empfehlenswerth,269 wie sie Gruppe aus dem nicht durchgearbeiteten Buche Nemesis zu entziffern bemüht ist. Er folgt zuerst der Begeisterung und wirft die Hauptpartieen mit gleicher Wärme in einem Gusse hin. Die Verbindungsglieder dagegen, die Uebergänge, die leiseren Schattirungen, die größere Feile des Ganzen überläßt er einer zweiten Arbeit, welche mit Besonnenheit und künstlerischer Ueberlegung den Entwurf ausführt. Kleinere lyrische Gedichte mögen in einem Gusse gelingen; größere bedürfen ebenso des ununterbrochenen Schwunges im Ganzen, wie der nachhelfenden Ausfüllung und Ausfeilung im Einzelnen.

Jeder Dichter, auch der lyrische, ist der Sohn seiner Zeit; er steht auf ihrem Kulturstandpunkte, er wird sich von ihrer Empfindungsweise nicht freimachen können. Ein bedeutendes Talent mag wohl selbst auf die Schattirungen der Empfindung bestimmend einwirken; aber der Grund und Boden der Weltanschauung ist ihm doch immer durch das Jahrhundert gegeben. Man kann dem konservativsten aller Denker, Herbart, gewiß nicht darin beistimmen, daß Nichts oder wenig Neues unter der Sonne geschehe, und daß im Alten, Gleichförmigen das Wesen der Menschheit und die Mitgabe der Gottheit zu suchen seien, denn das Neue liegt nicht in den Dingen an sich, sondern in der Auffassungsweise, und hier quillt eine unerschöpfliche Fülle geistigen Lebens der Einzelnen, der Völker und Zeiten; hier beginnt erst die Weltgeschichte, deren tieferes Verständniß jener nüchternen Einsicht verschlossen ist; hier beginnt erst die Poesie und ihr glänzender Reichthum. Jede Zeit, jedes Volk, jeder Einzelne hat dies Arom einer unsagbaren Eigenheit; mit jedem Einzelnen wird eine neue Welt geboren! Wie kleinlich und falsch wäre die Behauptung des Anatomen, der aus der Gleichheit des Skeletts auf die Gleichheit der Menschen schlösse! Und ebenso unfruchtbar für jedes Gebiet, besonders für das der Poesie, ist eine Weltanschauung, die nur das Alte und Gleichförmige im Auge behält! Die Poesie ist keine Domaine des Goethe'schen Palaeophron, sondern sie gehört der jugendlichen Neoterpe. Obgleich man glauben sollte, daß, trotz der wechselnden geistigen Strömungen und Entwickelungen, die Magnetnadel der Empfindung in allen Jahrhunderten nach denselben unwandelbaren Polen vibriren müsse: so steht die Poesie der Empfindung, die Lyrik, doch in einem bestimmten und deshalb wechselnden Verhältniß zur Kultur und270 zum Bewußtsein der Zeit. Tibull empfand anders, als Walther von der Vogelweide, und dieser anders, als Schiller und Goethe. Dies leugnen wollen heißt die Empfindung auf ihre rohesten Aeußerungen beschränken. Der Lyriker soll auf der Höhe seiner Zeit stehn erst dann wird seine Lyrik einen wahrhaft großartigen und bedeutenden Charakter annehmen, seine Empfindung einen allseitigen Anklang bei den Zeitgenossen und bei der Nachwelt finden. Diese Wahrheit, die durch alle großen Muster bestätigt wird, findet eine eifrige Gegnerschaft und wird ebenso oft angegriffen, wie nicht beachtet. Daher diese Masse Unkraut, die der Teufel des Dilettantismus unter den poetischen Weizen sät! Es mag jedem unbenommen bleiben, den Horaz und Properz, den Dante und Baki und Motenebbi in Geist und Formen nachzudichten diese Exercitien haben gewiß ihren formellen Werth; nur mögen sie nicht mit der Prätension auftreten, lyrische Muster des 19. Jahrhunderts zu sein! Es ist segenbringend für den Poeten, die großen Vorbilder aller Zeiten zu studiren, aber traurig, wenn ihm von den Trauben ihres Feuerweins nur die Kerne im Halse stecken bleiben oder sein Chylus und Chymus zu schwach sind, um sich vollkommen den Göttertrank anzueignen, der nur als dilettantisches Vomitiv wieder zum Vorschein kommt. Darum stellen wir die Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts hoch über die Lyrik des achtzehnten, weil sie sich in ihren Hauptvertretern ganz auf den Boden der Gegenwart stellt und all' das mythologische Beiwerk abgestreift hat, das dem Fluge des Schiller'schen und Goethe'schen Genius noch als unverdauter Ueberrest klassischer Studien anhaftete. Wohl hat Uhland oft Töne angeschlagen, die allzu minniglich und ritterlich für die Gegenwart klingen und seine Bilder hin und wieder mit meerblauer Romantik gemalt; wohl hat Rückert sich in das Formennetz des Orientes bis zur Unkenntlichkeit seiner eigenen dichterischen Chrysalide eingesponnen; wohl hat ihr Vorbild zahlreiche germanistische und orientalische Nachdichtungen hervorgerufen aber die Heroen der modernen Lyrik, Heine, Lenau, Grün, Freiligrath, Geibel, Dingelstedt und ihre Nachtreter haben in ihren Gedichten den Geist der Gegenwart, ihre vergänglichsten Stimmungen, aber auch ihre erhabensten Anwandlungen verewigt. Selbst Platen hat in oft gekünstelten Formen stets Stoffe der Zeit gefeiert und so ungenießbar seine antikisirenden Odenstrophen sein271 mögen, so ist ihr Jnhalt doch kein fremdartiger und gesuchter, sondern es sind meistens hervorragende Zeitgenossen, deren Bild er in diesen antiken Rahmen spannt. Wir brauchen blos an Byron und Shelley, an Béranger und Victor Hugo, an Puschkin und Mickiewitz zu erinnern, um zu zeigen, daß der richtige Jnstinkt die Dichter der andern Nationen auf die Bahn der modernen Lyrik geleitet. Wir verbinden mit dem Begriffe des Modernen durchaus keine jungdeutsche, an das Modische anstreifende Nebenbedeutung, sondern wir verstehn unter moderner Lyrik nur eine solche, die aus dem Bewußtsein, aus den Jnteressen, aus dem Gefühl der Gegenwart heraus und gerade deshalb für die Zukunft dichtet, eine Lyrik, die für unsere Zeit ganz dieselbe Bedeutung hat, wie die antike für das Alterthum, wie der Troubadour - und Minnegesang für das Mittelalter. Der Vorwurf der Tendenz kann nur solche lyrische Gedichte treffen, in denen ein äußerlicher Zweck nackt, ohne künstlerische Verhüllung, zu Tage liegt. Ein Dichter, der sich im Leben der Gegenwart umgesehn, ihre bewegenden Jdeen und materiellen Mächte kennen gelernt: der wird sein ursprüngliches Talent frisch in den Strom der Zeit untertauchen, in ihrem Geiste, mit ihr, durch sie und für sie dichten. Denn der dichterische Funke entzündet sich vorzugsweise an den Berührungen des Lebens das individuelle Leben aber ist in das große Netz der Kultur unlöslich eingefangen. Der Dilettantismus, der dies leugnet, geräth auch noch auf andere Abwege. Er verläßt den Standpunkt der Bildung, den er einnimmt, um, wie er sagt, zum Volk herabzusteigen; er dichtet in volksthümlicher Weise mit Nachahmung aller unartikulirten Naturlaute; er trällert Volkslieder heraus, die nur als Jmprovisationen des Volksgeistes einen kulturgeschichtlichen Werth haben. Dies Volk ist meistens eine Abstraktion der Studirstuben; der Dichter kennt kein anderes Volk als die Nation. Nicht Arnim und Brentano, sondern Schiller und Körner sind echte Volksdichter der Deutschen.

Eintheilung der Lyrik.

Wenn wir die Lyrik in ihre einzelnen Gattungen verfolgen wollen: so bietet sich uns folgende Eintheilung dar, die wir aus dem Verhalten des dichtenden Subjektes zu seinem Objekte herleiten. Entweder bleibt der Dichter ganz auf dem Boden der Empfindung stehn, in deren koncentrirte272 Tiefe das Objekt gleichsam nur wie ein Schatten in einen Brunnen fällt die eigentliche Lyrik der Empfindung, das Lied; oder ein äußeres Objekt regt durch seine Bedeutung die Empfindung des Dichters zu einem hinreißenden Schwunge an, der in freier und kühner Entfaltung des erhabenen Gegenstandes Herr zu werden, ihn künstlerisch zu bewältigen strebt die Lyrik der Begeisterung, die Ode; oder der Dichter geht zwischen dem Gegenstande und seinen Empfindungen, zwischen Beschreibung und Betrachtung hin und her die Lyrik der Reflexion, die Elegie. Alle Unterarten fügen sich ungezwungen der einen oder andern dieser Gattungen ein.

Zweiter Abschnitt. Die Lyrik der Empfindung: das Lied.

Das Lied ist der dichterische Erguß der Empfindung, die ganz in ihren eigenen Tiefen verweilt, der Stimmung, die bei sich selbst bleibt, in einfacher, leichter und doch prägnanter Form. Seit den ersten Nouwi des Terpander hat es die musikalische Begleitung geliebt, welche das Austönen der Stimmung verstärkt. Das Lied soll gesungen werden können. Ein Bündniß zwischen Dichtkunst und Musik ist aber nur dann möglich, wenn die erstere nicht ihre ganze Fülle entfaltet, sondern sich nur mit dem träumerischen Aufknospen der Stimmung begnügt, jenem innern Vibriren, das sich im Wogen der Tonwelt fortsetzen kann. Nicht schwerwuchtige Worte können sich auf den Wellen der Töne schaukeln; nicht scharfbestimmte Bilder in diesem unbestimmten Element zur Geltung kommen. Das Lied gleicht der Pflanze, welche nur Luft und Wasserwurzeln hat und in keine Berührung mit der lastenden Scholle kommt. Leicht und frisch muß es aus der Seele fließen oder sich halbverschämt in ihren Tiefen verbergen dann kann sich der Gesang mit ihm verschwistern, der ihm eine tiefere Jnnigkeit verleiht. Das Lied ist die schüchternste Blüthe der Lyrik, die sich noch am Spalier der Töne in die Höhe rankt; es ist ihre ärmste Form, deren Ueberschätzung selbst große Aesthetiker zu Ungerechtigkeiten gegen die reicheren und höheren Gattungen der Lyrik verleitet hat. Goethe ist ein größerer Liederdichter als Schiller;273 aber ihn deshalb mit Vischer*)Aesthetik Bd. 3 p. 1352. überhaupt einen größeren Lyriker zu nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz es wäre, Anakreon als Lyriker über Pindar, Catull über Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung seine gebührende Stelle einräumt**)Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141..

Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel gleich in seine Stimmung zu versetzen.

Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.

Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar gefangen nehmen.

Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende Blumenflur 274genannt. Jn der That ist in sangeslustigen Zeiten ihr Auftreten ein massenhaftes wir erinnern nur an die Zeit der Troubadours und Trouvères, der Minne - und Meistersänger. Von der Liederdichtung gelten die Uhland'schen Verse:

Singe, wem Gesang gegeben
Jn dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
Wenn's von allen Zweigen schallt.
Nicht an wenig stolze Namen
Jst die Liederkunst gebannt
Ausgestreuet ist der Samen
Ueber alles deutsche Land.

Jn der That kann auch der naturwüchsigen Empfindung des Volkes, wie dem gebildeten Dilettantismus der Ausdruck der Stimmung in einem kurzathmigen Liede so trefflich gelingen, daß dem echten Dichtertalente der Preis streitig gemacht wird. Auch hierin finden wir wieder einen Beweis dafür, daß man die Liederdichtung nicht überschätzen darf. Wir haben es z. B. an Niklas Becker's Rheinlied gesehn, daß in dieser dichterischen Atomistik auch denen bisweilen ein Wurf glückt, denen die Pforten der Poesie sonst verschlossen sind. Ueber die meisten Menschen kommt eine Epoche der Poesie, wo das eigene Leben gleich einer sich nur einmal erschließenden Blume aufblüht. Die Empfindung krystallisirt sich zum Gedichte und zwar zum Liede, weil das die einfachste und leichteste Form ist. Solche Liederchen spielen zahllos wie die Mücken im Sonnenschein. Wie jede Persönlichkeit die Welt anders abspiegelt, wie jeder Mensch seinen eigenen Styl und seine eigene Handschrift hat: so könnte auch in diesen leichthinflatternden Liederchen die Eigenthümlichkeit des Autors zur Geltung kommen, wenn nicht der Mangel an Formbeherrschung und echter Begabung alle diese Dilettanten unwillkürlich in die ausgefahrenen Gleise einer für sie denkenden und dichtenden Sprache führte. Der Sprache das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit aufzudrücken, gelingt nur dem Genius, dessen Liedergaben sich dadurch von der Lyrik der Masse unterscheiden. Jedes Atom der Empfindung läßt sich im Liede dichterisch verwerthen. Jedes nächste Ereigniß des geselligen und Familienlebens kann eine Stimmung entzünden, die sich im Liede aussingt;275 vor Allem aber ist Wein und Liebe sein unerschöpfliches Thema. Ein Lyriker, der kein Trink - oder Liebeslied gedichtet, gehörte in ein Kuriositätenkabinet. Selbst der idealgesinnte Schiller hat drei Mal seine Lyra zum Preis des edeln Getränkes gestimmt, freilich charakteristisch genug, einmal in einer antikisirenden Dithyrambe, in welcher nur göttlicher Nektar herumgereicht wird, und zwei Mal zum Preise des Punsches, indem er dem künstlich bereiteten Getränke den Vorzug vor den natürlichen Gaben des Bacchus zu geben scheint, weil sich in ihm der Willen und die Kraft des Menschen offenbart. Dagegen hat Goethe die gehobene Stimmung des Trinkenden meisterhaft ausgedrückt: Mich ergreift ich weiß nicht wie wonniges Behagen. Dem Liebenden wird jeder Lichtreflex, jeder vorüberfliehende Schatten der Natur, jedes kleinste Ereigniß des Lebens von Bedeutung für seine Stimmung. Der Hauch der Liebe verstreut daher überallhin den Samen, aus welchem die Blumen des Liedes wachsen. Auch die Empfindung hat ihren Witz in sinnigen Vergleichen, innigem oder schalkhaftem Deuten. Dieser Witz der Empfindung ist ein reicher Quell für das Liebeslied von Anakreon und Hafis bis zu Schefer, Wilhelm Müller und Heine, ganz abgesehen von jenen aus der Liederpoesie herausfallenden Reflexionen, die sich in Petrarca's verschnörkelten Sonetten finden. Doch auch alle andern Empfindungen kommen im Liede zur Geltung. Wir erinnern nur an den köstlichen Ausdruck des Naturgefühls, des elementarischen Lebens in Goethe's Fischer und Mörike's mein Fluß, der Sehnsucht im Mignonlied Kennst du das Land, in Brentano's Nach Sevilla, nach Sevilla, in Eichendorff's Mondnacht, der Wehmuth in Lenau's Schilfliedern und in Kinkel's Trost der Nacht. Jedes Naturbild erweckt eine Stimmung oder spiegelt eine Empfindung, die im Liede ihren Ausdruck finden kann. Dagegen mag es fraglich erscheinen, ob das Lied auch fähig sei, einen Jnhalt aus dem Kreise der Religion und Politik in sich aufzunehmen, ohne daß seine Form gesprengt wird. Jn der That gehört die dichterisch gestaltete Jdee in das Gebiet der Ode und Elegie. Anders verhält es sich mit der religiösen und politischen Stimmung. Die Gottergebenheit, die Rührung durch die Güte des Allmächtigen und ähnliche Empfindungen der Andacht haben im geistlichen Lied eine angemessene Form gefunden, während sowohl die patriotische276 Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig ausströmten.

Jn der Form muß das Lied aus einem Gusse sein und dabei keine Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano:

Hör ', es klagt die Flöte wieder
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder
Stille, stille, laß uns lauschen!
Holdes Bitten, mild 'Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.

oder die Bitte von Lenau:

Weil 'auf mir, du dunkles Auge,
Uebe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht.
Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Daß du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.

oder vom Verfasser:

Versunk'ner Glocken Klang
Ertönt aus Meerestiefen;
Mir ist, als ob mich bang
Viel tausend Stimmen riefen.
O endlos Menschenweh,
Wo flieh 'ich deine Kunde?
So tief ist nicht die See,
Du rufst von ihrem Grunde.

Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht, das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß277 verallgemeinert ihn. Die Magie der Tonwelt, die Einsamkeit eines ganzen Lebens, das unergründliche Menschenweh breiten die Stimmung des Augenblickes aus und vertiefen sie. Zugleich fehlt in allen dreien die lyrische Pointe nicht, welche sich im ersten und dritten Liedchen als Antithese, im zweiten als Hyperbel zeigt. Die drei Glieder der Komposition sind aber auf's Jnnigste verschmolzen und dabei mit der größten Prägnanz der Anschauung und Empfindung ausgeführt. Aehnlich wird die Anordnung und Zusammenstellung in größeren Liedern sein, nur daß hier jedes einzelne Glied weiter ausgeführt wird. Der Gang der Komposition verträgt sogar Wiederholungen. Drei oder vier anregende Bilder wirken gleichzeitig auf das Gemüth. So z. B. in folgendem Gedichte Heine's, dessen Magie hauptsächlich darin besteht, daß die Empfindung des Dichters nicht unmittelbar ausgesprochen, sondern in die Bilder selbst verwebt ist:

Es fällt ein Stern herunter
Aus seiner funkelnden Höh '!
Das ist der Stern der Liebe,
Den ich dort fallen seh'.
Es fallen vom Apfelbaume
Der Blüthen und Blätter viel!
Es kommen die neckenden Lüfte
Und treiben damit ihr Spiel.
Es singt der Schwan im Weiher
Und rudert auf und ab,
Und immer leiser singend
Taucht er in's Fluthengrab.
Es ist so still und dunkel!
Verweht ist Blatt und Blüth ',
Der Stern ist knisternd zerstoben,
Verklungen das Schwanenlied.

Diese im Bilde selbst latente Empfindung macht im Liede einen wirksamen Eindruck.

Die Ausdrucksweise muß im Liede von größter Unmittelbarkeit und Einfachheit sein. Die Phantasie ist hier an die Empfindung des Augenblicks gebunden und darf nicht frei umherschweifen. Sie muß alles vom geraden Wege des Gefühls Abgelegene vermeiden. Schildert sie ein278 Naturbild: so muß, wie in obigem Beispiel Heine's, die Schilderung selbst gleichsam untergetaucht sein in den Strom der Empfindung. Es frägt sich nur, durch welche Stylmittel sich die lyrische Prägnanz am besten erreichen läßt? Hier bietet sich zunächst das dichterische Wort dar, das sinnig gewählte oder vielmehr getroffene Adjektivum und Verbum. Der eigenthümliche Duft der Stimmung läßt sich durch das einfache Wort mit der größten Magie über ein Gedicht hinzaubern. Goethe, Heine und Lenau sind hierin Meister! Wie prägnant ist das Verbum tragen von Goethe in dem bekannten Liede angewandt:

Jhr verblühet, süße Rosen,
Meine Liebe trug euch nicht!

das Adjektivum dunkel bei Heine:

Es leuchtet meine Liebe
Jn ihrer dunkeln Pracht.

Lenau singt von den rohen Winden, die nicht singen, vom trennungsschaurigen Herbst, von der duftverlornen Grenze der Berge,

Da unten braust der wilde Bach,
Führt reichen, frischen Tod

vom schnellverzitternden und vom vergänglichen Bilde der Blitze im Teich. Ebenso bezeichnend, wie diese stimmungsvollen Adjektiva, sind Lenau's Verba:

Nie soll weiter sich in's Land
Lieb 'von Liebe wagen,
Als sich blühend in der Hand
Läßt die Rose tragen,
Oder als die Nachtigall
Halmen bringt zum Neste,
Oder als ihr süßer Schall
Wandert mit dem Weste.

Mit Metaphern darf das Lied keinesfalls überladen sein sonst verliert die Empfindung ihre Unmittelbarkeit. Die Metapher muß kurz, schlagend und stimmungsvoll sein, wie bei Heine:

Wie dunkle Träume stehen
Die Häuser in langer Reih!
279

Die orientalische Lyrik erhält durch die Ueberfülle der Metaphern einen dem Charakter des Liedes fremden reflektirenden Beigeschmack. Eine durchgängige, mit Bildern spielende Symbolik verwischt diesen Charakter, wie z. B. in Geibel's Gedicht: ich bin die Rose auf der Au, wo der Dichter sich selbst mit der Rose, dem Edelstein, einem krystallnen Becher, einer trüben Wolkenwand, dem Memnon in der Wüste, und die Liebe mit dem Thau, dem Sonnenschein, dem Wein, dem Regenbogen, dem Morgenroth, der Reihe nach vergleicht. So verdirbt sich Anastasius Grün in den Blättern der Liebe fortwährend durch spielende Spitzfindigkeiten des Bilderwitzes den Charakter des Liedes. Auch Schiller hat seinen Ton nie getroffen. Darin störte ihn zwar nicht allzureicher Bilderschmuck, wohl aber eine etwas nackte Logik, die da, wo er Einfaches einfach besingen wollte, hervortrat. Man achte nur in seinem Punschlied auf die vielen aber, doch, d'rum, welche die Strophen logisch-nüchtern verbinden und dem Ganzen eine breite und unwillkommene Deutlichkeit geben. Da traf Goethe das Richtige, der nicht nur diese doktrinairen Partikeln in Liede beseitigte, sondern auch durch Fortlassung der Pronomina bei der Anrede den traulichen, unmittelbaren Ton der Empfindung verstärkte: Füllest wieder Busch und Thal, und: Blüthet ach! dem Hoffnungslosen. Das Lied verträgt sogar vollkommen naive Wendungen, wie z. B. mich ergreift ich weiß nicht wie (Goethe) oder: du feuchter Frühlingsabend, wie hab 'ich dich so gern (Geibel). Wohl kann es Lieder geben, die ganz in einer Metapher ruhn, wie die Perle in der Muschel, wie z. B. das Heine'sche: Sag' wo ist dein schönes Liebchen? dann darf aber kein neues Bild die Einheit stören. Am verfehltesten sind im Liede ausgeführte Gleichnisse, welche sich ganz von der Gemüthswelt und ihrer träumerischen Beleuchtung loslösen. Ein recht schlagendes Beispiel dafür giebt unser dichterischer Altmeister Martin Opitz, der ein Trauerlied auf den Tod eines Kindes mit folgender Homerischen Vergleichung beginnt:

So wie ein edler Leue
Sich mit gerechter Reue
Sehnt nach der jungen Zucht,
Die man ihm aufgefangen,
Jndem er ist gegangen
Und Speise hat gesucht.
280
Sein 'Augen stehn voll Thränen,
Der Schaum läuft von den Zähnen,
Die Mähne steigt empor.
Er sucht, er ruft, er brüllet,
Daß Lybien erschüllet,
Und sich entsetzt davor:
So rühren sich die Schmerzen
Jn Deinem Vater-Herzen
Jngleichen, mein Clandrin!

Abgesehen von der Geschmacklosigkeit des Bildes, das an dieser Stelle ebenso passend ist, wie ein marmorner Löwe als Grabdenkmal eines Kindes, zerstört die epische Ausführung, welche die Phantasie bei einer Fülle von einzelnen Merkmalen haften läßt und sie von der Leiche eines Kindes bis in die lybische Wüste versetzt, vollkommen die Einheit der lyrischen Stimmung.

Was die metrische Form des Liedes betrifft, so waltet auch hier der Charakter größter Einfachheit. Kurzathmige Rhythmen von wenig Füßen, kurze Strophen, am liebsten vierzeilig, keine kunstvoll verschlungenen, aber durch die Kürze der Zeilen rasch sich folgende Reime bestimmen ihn. Lieder ohne Reim sind in deutscher Sprache wirklich ungereimt zu nennen. Schon Anakreon ließ seine leichtgeflügelten Amoretten sich nach dem Takte des jambischen Dimeters bewegen:

_ _ | _ _ |

einen kurzathmigen, hastigen Rhythmus, dessen heftigen Anprall er dadurch mäßigte, daß er die letzte Länge des ersten Jonikus in eine Kürze, die erste Kürze des zweiten in eine Länge verwandelte:

_ | _ _ _ |

Durch diese Umbiegung (Anaklase) erhielt der kurze Vers einen weicheren Gang, der ihn zum Träger der Liebesempfindung geschickt machte. Ueber das Maaß einer trochäischen und jambischen Dipodie:

_ _ | _ _ oder: _ _ | _ _

sollte das Metrum des Liedes nicht hinausgehn. Jn der That sind die meisten Lieder Goethe's, Uhland's, Geibel's, Lenau's, Wilhelm Müller's, Eichendorff's, Hoffmann's von Fallersleben in diesen Dipodien geschrieben, welche freilich durch den Wechsel281 männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit des Liedes.

Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen Volks - und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, unter ihnen auch Hillebrand in seiner: Literar-Aesthetik das Sonett als eine Unterart des Liedes betrachten konnten. Eher dürfte das lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones Vers - und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben näher in's Auge fassen.

1. Das Volkslied und Kunstlied.

Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit282 der Stimmung fest. Der Refrain bildete sich aus dem Kehrreim, wie er z. B. in den altschwedischen Liedern und Balladen zu finden ist, der Wiederholung einer oder zweier Zeilen nach jeder Verszeile des Liedes, mochte sie dazu wohl oder übel passen. Der Zweck war auch hier, den Hintergrund einer düstern oder freudigen, ruhigen oder erregten Stimmung im Auf - und Abwogen der Empfindungen und dem Fortgang der Begebenheiten festzuhalten, das Mittel aber war äußerlich und gewaltsam und konnte nur ausnahmsweise, durch ein zufälliges Zusammentönen des Kehrreimes mit den Klängen des forteilenden Liedes, einen rührenden Eindruck machen. Der Kehrreim bildete sich weiter fort zum Refrain, welcher, die einzelnen Strophen abschließend, als kunstvolleres Band der Stimmung das Lied zusammenhielt.

Die Bedeutung des Volksliedes ist in unserer Zeit vorzugsweise eine kultur - und literarhistorische. Die Ueberschätzung desselben, die zu den Moden des Tages gehört, hängt theils mit dem verdienstlichen Eifer zusammen, mit welchem die Wissenschaft alle seine vergrabenen Schätze zu Tage förderte, theils geht sie aus einer mehr raffinirten, als naturwüchsigen Opposition gegen die Fortentwickelung unserer Kunstpoesie hervor. Wenn das Volkslied selbst auf die Kunstpoesie einen bedeutenden Einfluß gehabt; wenn besonders der Schatz der altspanischen Romanzen und altschottischen Balladen auf Bürger, Herder, Goethe u. A. einen unleugbar erfrischenden und zu Nachdichtungen anspornenden Eindruck gemacht, wenn Goethe selbst die Weise manches italienischen Volksliedes in einen reineren, künstlerischen Aether gehoben: so darf man doch nicht vergessen, daß heutzutage umgekehrt die Kunstlyrik wieder die Volkslyrik befruchtet, daß die Klänge der Bildung bis in die verlorensten Gebirgsthäler und Wälder dringen und manches neue Volkslied Nichts ist, als ein verstümmeltes Lied von den Höhen des deutschen Parnaß. Die Ursprünglichkeit des Volksliedes verlangt eine völlige Abgeschlossenheit von allen Bedingungen der Kultur wo aber wäre in unserer Zeit der Eisenbahnen diese noch zu finden? Oder entsprechen die Lieder eines Hebel, Holtei, Claus Groth, den Bedingungen der eigentlichen Volkspoesie? Sind sie nicht in ein Volksidiom hineingedichtete Kunstpoesie? Die Sammlungen der Volkslieder haben sich in neuester Zeit außerordentlich vermehrt, und so schätzbar sie als Ausbeute literarhistorischer283 Studien sind, so droht doch die Ueberfüllung des Marktes mit dieser Blüthenflora den Bestrebungen der Gegenwart Gefahr, wenn der geschichtliche Standpunkt verrückt wird und der eines bewundernden Dilettantismus an seine Stelle tritt. Herder's Stimmen der Völker ist eine Mustersammlung, die aus jener Auffassung hervorging, während Arnim's und Brentano's des Knaben Wunderhorn den zweiten Standpunkt vertritt. Der sinnige Literaturforscher reihte die Liederblüthen aller Völker, besonders der germanischen und slavischen Stämme, deren Gemüthsinnigkeit am reichsten und fruchtbarsten hervortritt, zum Kranz; er zeigte damit, wie mannichfach sich der nationale Genius in diesen dichterischen Hervorbringungen spiegelte, und gab eine willkommene Ergänzung zur Kulturgeschichte der Völker. Arnim und Brentano dagegen sammelten ihre oft rohen, oft süßlichen, meistens dilettantisch überzuckerten Volkslieder als Dichtungen von höchstem poetischem Werth, als ein Wunderhorn für den deutschen Knaben, als eine Bildungsschule der Nation. Und nach dem Vorgange der Romantiker erhielten wir nicht nur serbische und baskische, wallachische, litthauische und dalmatische, sondern auch finnische, esthische, lappische Volkslieder, kurz, ein ganzes lyrisches Kuriositätenkabinet, das wohl kein größeres Jnteresse in Anspruch nehmen darf, als eine große Waffensammlung, in welcher neben dem altdeutschen Ritterschwert der Kupferspieß des Eskimo nicht fehlt. Andere Sänger eilten im Harz und in allen deutschen Gebirgen alte und frische Liederspuren aufzusuchen; noch andere streiften mit Rousseau's Hast die ganze moderne Kultur ab, um in den Urwäldern des Volksliedes auf allen Vieren zu kriechen. Hiergegen läßt sich erinnern, daß kein Dichter, der Dauerndes schaffen will, seine Bildung verleugnen soll, um in den Tiefen etwas Höheres zu suchen. Die verkehrte Volksthümlichkeit ist auf allen Gebieten eine Reaktion gegen den Fortschritt der Literatur. Oder welcher Dichter des Augusteischen Zeitalters hätte seinen Ruhm darin gesucht, die Kunstbildung zu verleugnen, die Ennius, der römische Opitz, seinem Volk geschaffen, um nach dem Gesetz einer rohen, unplastischen Rhythmik die alten saturninischen Verse wieder aufzuwecken? Alle Ehre den naiven Sängern oder dem dichtenden Volksgeiste selbst, der seine Empfindungen in urwüchsigen Liedern ausströmt aber die Wiedererweckung eines rohern Styls und knittelversartiger284 Rhythmen geht dieser Ehre verlustig! Kann doch die Kunstlyrik heutzutage wahrhaft volksthümliche Lieder aufweisen, so daß jener höhere Standpunkt der hellenischen Kultur, der die unwahre Trennung zwischen Volks - und Kunstpoesie nicht kennt, wenigstens im Einzelnen erreicht ist. Anakreon mit seinen leicht flatternden Liederchen, den reizenden Devisen Amors, wie sie in Deutschland am besten Leopold Schefer und Wilhelm Müller nachgeahmt, war gewiß ein griechischer Volkspoet, nicht minder Catull im liederarmen Rom. Rouget de Lisle mit seiner Revolutionshymne hat die Heere der Republik und des Kaiserreiches elektrisirt, während Schiller durch sein Reiterlied, Körner, Arndt den Ausdruck der nationalen Stimmung wunderbar trafen und in allen Bivouaks der Befreiungskriege mit Begeisterung gesungen wurden. Ja steht nicht in neuer Zeit Béranger als der echt französische Volkspoet da, der alle Seiten der Nation von der leichtfertigsten Lebenslust bis zum höchsten Aufschwung des aufbrausenden Enthusiasmus in in seinen Chansons spiegelt? Alle seine Lieder sind echt französischer Champagner! Und solch 'ein einzelner Dichter, welcher die Verkörperung seiner Nation ist, der ihre Eigenthümlichkeiten in seinem Talent koncentrirt, vertritt das Volkslied besser, als alle aufgespeicherten Schätze namenloser Volksdichtung!

Wir verkennen nicht, daß das höhere Lied aus dem Volksliede hervorgegangen, daß es eigentlich dem Alterthum und dem Orient unbekannt, ein Ausfluß christlich-germanischer Jnnigkeit ist. Die Griechen und Römer waren in ihrer Lyrik theils zu plastisch, theils zu reflektirend; die Orientalen zu bilderprunkend, lehr - und spruchreich. Dagegen spricht in den anglo-normannischen, altfranzösischen und mittelenglischen Laïs*)Vgl.: Ueber die Laïs, Seqenzen und Leiche von Ferdinand Wolf. Heidelberg. 1841. sich bereits jener innige sangbare Charakter aus, der noch mehr im deutschen Volksliede hervortrat. Die Lieder der Minnesänger und Troubadours enthielten ebensoviel Süßliches, wie Zartes, Spielendes, wie Sinniges; die Liederkost des Meistersanges war roh, derb und für das Handwerkerthum schmackhaft. Seit Opitz und Flemming die deutsche285 Poesie an den klassischen Mustern heranbildeten, gelangte auch das Lied der Kunstpoesie zur Ausbildung, welche durch den Bilderschwulst der zweiten schlesischen Dichterschule indeß wieder erstickt wurde. Erst mit den deutschen Anakreontikern Gleim, Uz und Hagedorn beginnt eine neue Aera des deutschen Liedes, deren höchsten Gipfelpunkt Goethe bezeichnet. Mit proteusartiger Verwandlungskunst schmiegte sein Genius sich auch in die Formen des Volksliedes und gab ihnen seltene harmonische Weihe, tiefste Jnnigkeit, einen unsagbaren Reiz. Die Lieder Mignon's, das Lied an den Mond, Schlafe, was willst du mehr schlugen die verschiedensten Töne des Volksliedes an, aber sie beseitigten seine rohen Auswüchse und hoben es in einen geläuterten Aether. Die sanften, weichen Liederklänge Uhland's, Heine's oft leichte und kecke, oft tiefgefühlte Liederchen, Eichendorff's romantisch träumerische, Hoffmann's von Fallersleben altdeutsch schlichte und einfache, Geibel's harmonisch ansprechende, Lenau's melancholische, Roquette's jugendfrische Klänge bezeichnen die weitere Entwickelung des deutschen Liedes. Alle Empfindungen der Seele, das Naturbild, die wechselnden Liebesgefühle fanden hier ihre Stätte. Die Liederpoesie des Salons wucherte mit Gesang und Klavierbegleitung viel Nichtssagendes und Krankhaftes wurde in Musik gesetzt und dadurch populair. Eine Reaktion gegen die Trivialität der Wald - und Mondscheinlieder versuchte die politische Lyrik.

Die Ballade.

Die Ballade ist das epische Lied, ein Lied, in welchem der Ton der Stimmung und die sangbare Form vorwaltet, und welches daher das Ereigniß ganz in Empfindung auflöst. Nur wenn wir diese Begriffsbestimmung in aller Schärfe festhalten, lassen sich die Grenzstreitigkeiten zwischen Ballade und Romanze, deren Verwirrung durch den schwankenden Gebrauch dieser Ausdrücke von Seiten unserer großen Dichter noch vermehrt ist, ein für allemal grundrechtlich reguliren. Die Romanze ist dann eine episch-lyrische Mischgattung, eine kleinere poetische Erzählung, in welcher das Jnteresse des Kolorits und der Schilderung überwiegt und die lyrischen Andeutungen und Sprünge das Element der musikalischen Stimmung, die Sangbarkeit und Kürze,286 gänzlich verdrängt. Die Romanze als poetische Erzählung ist daher gar nicht an dieser Stelle, sondern in der Lehre von der epischen Dichtung zu behandeln.

Die historische Entwickelung der Ballade und Romanze giebt uns für diese Unterscheidungen freilich nur einen schwachen Anhalt. Romance, romanzo hieß in den romanischen Sprachen anfänglich jedes Gedicht der Volkssprache im Gegensatze zu den lateinischen Gedichten. Jm Spanischen wurde diese Bezeichnung dann auf episch lyrische, volksthümliche Gedichte übertragen, deren Rhythmus, der drei - und vierfüßige Trochäus, ebenfalls diesen Namen erhielt. Die ältesten spanischen Romanzen, wie die vom Cid, waren historisch-episch. Jhnen schlossen sich die Ritterromanzen der wandernden Sänger, die maurischen und Schäferromanzen an. Größere Sammlungen, Romanceros, wurden seit der Mitte des 16. Jahrhunderts herausgegeben. Der vorwiegend epische Charakter und das farbengesättigte Kolorit der Romanze giebt uns ein Recht, sie auch nach ihrer historischen Entwickelung als poetische Erzählung in das epische Gedicht zu verweisen. Anders verhält es sich mit der Ballade, ein Namen, der allerdings auch südlichen Ursprungs ist, indem das italienische ballata im 12. Jahrhundert sonett - und madrigalartige kleinere Gedichte bezeichnet. Für das epische Volkslied wurde der Namen im 14. Jahrhundert zuerst in England und dann in Schottland angewendet. Aus solchen Volksliedern sind nicht blos in Deutschland, sondern auch in Rußland die großen Volksepopöen entstanden, doch wandte man die Bezeichnung: Ballade in Deutschland erst an, als die englisch-schottischen Vorbilder bei uns eingebürgert wurden. Der nordische Charakter gab dem epischen Volksliede etwas Schroffes, Springendes, Phantastisches, aber auch jene Lakonismen der Empfindung, welche sich, durch den Gesang hervorgehoben, an die musikalische Begleitung anlehnen konnten. Das Gespensterhafte, Unheimliche der alten nordischen Sage war eine mehr zufällige Zuthat, und es muß ungeeignet erscheinen, den Unterschied der Ballade von der Romanze auf dies Hereinragen einer dämonischen oder spuk - und märchenhaften Welt in die Begebenheiten des Lebens zu begründen. Die Ballade ist ein Lied, die Romanze eine Erzählung; die Ballade sangbar, die Romanze nicht; die Ballade hebt die Handlung in der Stimmung auf, die Romanze die Stimmung287 in der Handlung; die Ballade ist von seelenvoller Kürze, die Romanze von farbenreicher Ausführung; die Ballade skizzirt das Epische nur in traumhaften Umrissen, die Romanze giebt ihm den vollen Glanz der Schilderung; die Ballade ist wesentlich lyrisch, die Romanze vorwiegend episch. Diese Bestimmungen, die aus dem Wesen der Dichtungen hervorgehn, scheinen geeignet, die Grenzen zwischen beiden Gedichten so scharf zu ziehen, daß eine Vermischung und Verwechslung derselben nicht mehr möglich ist.

Eine Revision des uns überlieferten Balladen - und Romanzenschatzes nach den eben aufgestellten Grundsätzen würde ergeben, daß von den Schiller'schen episch-lyrischen Gedichten nur der Ritter Toggenburg wegen seines sangbaren Charakters hierher gehört, während Goethe's vom Hauch der Stimmung wunderbar durchzitterter Erlkönig ein durchgreifendes Musterbild der modernen Ballade ist. Der echte moderne Balladendichter ist Heinrich Heine im Buch der Lieder, während im Romancero die Romanze, die ausgeführte Erzählung, überwiegt. Jn seinen Balladen: die Grenadiere, die Heimführung, die Botschaft, Belsazer, die Fensterschau, in seinen unübertroffenen Gedichten von der Lorelei und vom Hirtenknaben in vielen, einzelnen kleinen Liedern, in denen das Epische gleichsam im lyrischen Aether verzittert, ist der liederartige Charakter, das stimmungsvolle Element in mustergiltiger Weise vorherrschend. Dies sanfte Verschweben des Epischen charakterisirt auch einzelne Balladen von Uhland z. B. das Schloß am Meer, der Traum, Abschied u. a., während des Sängers Fluch zu den farbenreichen Romanzen gehört. Ebenso traumhaft sind einzelne Balladen Brentano's und Eichendorff's, neuerdings hat Theodor Fontane den Balladenton mit Glück getroffen, wenn er auch von den altenglischen und schottischen Volksballaden her den düster schauerlichen Charakter festhielt. Es ist in der That keine Nothwendigkeit für die Ballade der Neuzeit, aus Dr. Percy's altem Balladenbuch die phantastischen Naturmächte, elementarischen Geister, Feeen, Hexen und sonstigen Gespenster zu opernhafter Ausschmückung mithinüberzunehmen; ebenso wenig wie ein mittelalterlich ritterliches Kostüm zu ihrer unabweislichen Bedingung gehört. Die Riesen der Edda hatten ihre Zeit, die tapfern Degen der Nibelungen die ihrige; die Vertiefung in eine288 Welt untergegangener Sagen hat einen literarischen und wissenschaftlichen Reiz; aber dieser Reiz ist unfruchtbar für die echte Volkspoesie der Gegenwart. Solch 'eine Haudegen-Ballade, wie: des Deutschritters Ave von Geibel kann in unserer Zeit keine Sympathieen erwecken. Dichter, wie Burns und Thomas Moore, schöpfen zwar aus dem schottischen und irischen Volksleben; aber sie wissen doch der Sage eine echt menschliche und dauernde Bedeutung zu geben und sie ganz in die Empfindung des Herzens aufzulösen. Jndeß finden wir bei Letzterem schon die Ansätze zu einer modernen Ballade! Béranger in einzelnen episch gefärbten Chansons, Heine in seinen meisterhaften Grenadieren, Zedlitz in der nächtigen Heerschau haben mit Glück die Bahn betreten, die zu einer Verjüngung der Ballade führt. Das jüngste Zeitalter ist reich genug an großartigen Reminiscenzen, welche ein begabter Dichter in stimmungsvollen und sangbaren Balladen verwerthen kann und so wenig ein französischer Grenadier der großen Armee unsere nationalen Sympathieen besitzt, so versetzt er uns doch eher in eine dichterisch sympathetische Stimmung, als ein alter Deutschritter, der einem Litthauer - Häuptling den Schädel spaltet. Jene düstern schottischen Balladendichter haben aus der Stimmung ihrer Zeit herausgedichtet dichten wir so aus der unsrigen heraus! Haben wir den Muth, alle akademischen Exercitien zu vermeiden, ob sie in Nachdichtungen der Römer und Griechen oder der eigenen durch die germanistischen Studien galvanisirten Volkspoesie bestehen. Nur aus der Stimmung unseres Jahrhunderts heraus wird die echte Ballade gesungen, mag sie, wie oft bei Heine, das eigene Erlebniß liederartig gestalten oder irgend eine Begebenheit des socialen und politischen Lebens, aus der Fülle des eigenen Herzens wiedergeboren, in frischem Liederquell hervorsprudeln lassen!

3. Das erhabene und komische Lied.

Obgleich sich das Lied meistens in der reinen Mitte des einfach Schönen bewegt, so kann es sich doch auch den erhabenen und komischen Stoff aneignen. Das religiöse Lied unterscheidet sich von der Hymne dadurch, daß es den erhabenen Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit feiert, sondern die hingebende, andachtsvolle Stimmung des eigenen Gemüthes, das Gefühl der Getragenheit durch eine höhere Macht, in289 warme innige Klänge haucht. Unsere geistlichen Lieder, wie z. B. wie groß ist des Allmächt'gen Güte und wach 'auf, mein Herz, und singe, athmen diese ganze Jnnigkeit und Festigkeit einer gottergebenen Gesinnung. Luther, Simon Dach, Flemming, Paul Gerhard, Gellert, Lavater u. A. haben den geistlichen Liederschatz unserer Nation mit den werthvollsten Spenden bereichert. Auf der andern Seite geht das komische Lied aus der Stimmung des frischesten Wohlseins und Wohlbehagens hervor. Jch hab' mein 'Sach' auf Nichts gestellt, das ist der von Goethe angeschlagene Grundton dieser Liederpoesie, ihr Wesen eine die Welt in die Schranken fordernde Jovialität. Ein großer Theil der geselligen Lieder, der Studenten -, Trink - und Hochzeitlieder, hat diesen heitern Charakter, der durch den allgemeinen Chorgesang sich zu lauter Fröhlichkeit steigert. Auch das scherzhafte Ereigniß kann für ein solches fröhliches Lied willkommenen Stoff hergeben. Opitz und Goethe, Holtei, Kopisch und Reinick haben hier oft den richtigen Ton getroffen. Das bekannte Lied von Kopisch: Als Noah aus dem Kasten war zeigt uns, wie diese unbefangene Heiterkeit selbst die ehrwürdigen biblischen Gestalten in ihre Kreise zieht, ohne gerade in das Burleske zu verfallen. Ueberhaupt bedarf das komische Lied eines geschmackvollen Haltes, in seiner ausgelassenen Stimmung einer sittlichen Hemmung, wenn es nicht in eine plebeje Zotenpoesie ausarten oder jenen dilettantischen Reimschmieden und Versmachern anheimfallen soll, welche in die Saiten greifen, wie des Silen's Maulesel in die Saiten Apoll's.

Dritter Abschnitt. Die Lyrik der Begeisterung: die Ode.

Wenn das Gefühl des Dichters sich jenen ewigen Objekten zuwendet, wie Gott, Natur, Menschheit: so wird es mit begeistertem Aufschwung zu ihnen hinanstreben; es wird sie zu erreichen trachten und, nachdem es sie voll in die Seele aufgenommen, mit vollen und mächtigen Klängen feiern. Auch die großen Gestalten der Fürsten und Helden, die Thaten des Krieges, die Siege des Gedankens stimmen die Seele zu diesem begeisterten Anstreben; selbst die Empfindungen des Herzens, die Liebe,290 die Freundschaft fallen in den Kreis dieser höheren Lyrik, nur muß dann der Dichter seiner Empfindung eine größere Tragweite geben, seine eigne Lust, sein eigenes Leid zu Lust und Leid der ganzen Menschheit erweitern.

So hat die Ode einen bedeutsameren Jnhalt, als das Lied. Jhre Geburtsstätte ist ein von den großen Mächten des Lebens und den Phänomenen der Geschichte und Natur erregtes Gemüth, das im Bestreben, sie zu erfassen und sich anzueignen, seine ganze eigene Kraft und Tiefe entwickelt. Während das Lied etwas Knospenartiges und nur halb Erschlossenes hat, ist die Ode eine vollentfaltete Blüthe der Lyrik. Einzelne Oden, wie die der Sappho und überhaupt der melischen Lyrik der Griechen, stehn an der Grenze des Liedes; aber sie unterscheiden sich doch von ihm durch eine freiere und kunstvollere Haltung. Die Gluth der Leidenschaft sprengt die einfach innige Form des Liedes; sie überstürzt sich in bewegteren Rhythmen; sie erhebt den Gegenstand, der sie erfüllt, mit kühnerem Schwung über das Maaß und die Schranke des Gewöhnlichen. Das einfache Gefühl geht in seine eigene Tiefen zurück; das Lied ist wie eine Mimose! Jhm genügt eine Berührung von Außen, und es faltet sich zusammen. Die Begeisterung jauchzt in alle Welt hinaus, was sie erfüllt: sie feiert sich selbst in der Feier ihres Gegenstandes; sie sucht in der Welt umher nach Farben zu seinem Schmuck, nach Klängen zu seinem Ruhm! Die Ode erscheint daher objektiver, als das Lied; sie erschließt größere Perspektiven der Anschauung und des Gedankens; aber immer ist hr das überströmende Gefühl, der hinreißende Schwung der Seele das ἑν και παν, das alles Andere, Aeußere in sich verzehrt. Darum hat die Welt der Erscheinung kein selbstständiges Recht; ihre Bilder werden aus dem Zusammenhang gerissen; die Trunkenheit des Dichters irrt von dem einen zum andern, erhascht sie im Flug und schlingt sie um ihren Thyrsus. Deshalb ist auch der Charakter der Ode in Bezug auf Komposition, sprachlichen Ausdruck und Rhythmus wesentlich vom Charakter des Liedes verschieden.

Die Komposition der Ode verstattet kühne Sprünge der Phantasie, welche die Bilder ohne alles behagliche Verweilen nur in lyrischen Fresken malt. Die Erregung des Odendichters ist allen großen Erregungen der Seele verwandt; sie hat etwas Visionaires, Prophetisches, Verzücktes. Doch auch da, wo sie minder gewaltig auftritt, läßt ihre291 Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht, die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem Kampfe mit den Fluthen und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem292 sich die Meerfahrt des Freundes zu einem großen Bilde der rastlos strebenden Menschheit erweitert. Jn der Frühlingsfeier besingt Klopstock den Lenz, aber nicht, wie der Liederdichter, der einzelne anmuthige Bilder wie Blumen zum Kranze reiht. Der Odensänger entrollt ein großes kosmisches Gemälde wir sehn die Siebengestirne aus Strahlen zusammenströmen, aber auch das grünlich goldene Frühlingswürmchen neben dem Dichter spielen. Diese Malerei, entgegengesetzt einer harmonischen und ruhigen Schilderung, springt vom Größten auf das Kleinste; aber die erhabene Begeisterung des Dichters schlägt die Brücke zwischen Himmel und Erde.

Wie die Komposition, wird auch der sprachliche Ausdruck der Ode von großer Kühnheit und oft stürmischer Bewegtheit sein. Die großartige Metapher und die Hyperbel treten hier an die Stelle der episch malenden Vergleichung. Das Roß mit seinem Donner im Halse schnaubet Entsetzen durch seine Nüstern! Sein Huf stampfet die Erde auf; es erkühnet sich in seiner Macht und eilt entgegen den Gerüsteten! Es spottet der Furcht, weichet nicht dem Schwerdt! Mag entgegen ihm rasseln der Köcher, der Wurfspieß schimmern und Speer es verschlingt die Erde in brausender Wuth und harret der Drommete nicht! So schildert einer der kühnsten Odensänger, der Dichter des Buches Hiob, das Schlachtroß wie ganz anders malt der Epiker Homer. Der geschmetterte Wald dampft singt Klopstock vom Gewitter. Das ist echter Lapidarstyl der Ode! Stolberg feiert in seiner Hymne auf die Erde den Rheinstrom:

Dich seh 'ich als Knabe,
Wo mit umwölkter Hand die Natur an gängelndem Bande
Ueber Nebel und stürmenden Winden und zuckenden Blitzen
Deinen wankenden Tritt auf zackiger Felsenbahn leitet!

Nur Pindar zeigt in seinen Gesängen noch ein vorwiegend epischplastisches Element. Das Beiwort muß in der Ode von schlagender Kraft sein hier sind neue und kühne Bildungen und Zusammensetzungen erlaubt, wenn auch ihr Uebermaaß der Ode ein gekünsteltes Aussehen giebt. Schon die Beiwörter Pindar's sind nicht stereotyp wie die Beiwörter Homer's; sie sind nicht blos malend, darstellend, sondern auch gedankenvoll. Pindar singt vom bezähmenden Golde 293(δαμασιφρονα χρὺσον), vom männerbeglückenden Reichthum (μεγανορος πλουτον), von erdeschleichender Rede (χαμαιπετέων λόγων)! Jn diesen stolzklingenden, oft metaphorischen und kühn personificirenden Beiwörtern liegt vorzugsweise die schwungvolle Kraft des Thebanischen Sängers, dessen Vorbild die deutschen Odendichter nacheiferten, die Bildsamkeit der Muttersprache zu kühnen Neubildungen benutzend. Freilich stand bei ihnen nicht immer der gute Geschmack zu Pathen. Auch im Gebrauch der Jnversionen dürfte größeres Maaß anzurathen sein, da allzu häufige syntaktische Verrückungen dem Ganzen ein unnöthigerweise verschnörkeltes Aussehn geben. Die stürmisch bewegte Begeisterung Klopstock's wird auch bisweilen gesucht, offenbart aber in einzelnen Oden alle Schönheiten, welche ihre Sprachbändigende Kraft hervorzubringen vermag. Welche hinundherflackernde Gluth der Sprache in seiner Frühlingsfeier! Mit einem hyperbolischen Optativ und einer Jnversion beginnt das Gedicht:

Nicht in den Ocean der Welten alle
Will ich mich stürzen schweben nicht u. s. f.

Dann drängen sich Wiederholungen einzelner Worte, Ausrufungen, ganzer Sätze aus der Fülle des Herzens heraus; Fragen wechseln mit erhabenen Lakonismen des Ausdruckes; wie Blitze des Herrn im geschilderten Gewittersturm eilen beflügelte Sätze:

Und die Gewitterwinde? Sie tragen den Donner!
Wie sie rauschen, wie sie die Wälder durchrauschen!
Und nun schweigen sie. Langsam wandelt
Die schwarze Wolke.
Seht ihr den neuen Zeichen des Nahen, den fliegenden Strahl?
Hört ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn?
Er ruft: Jehova! Jehova! Jehova!
Und der geschmetterte Wald dampft!

Kleinere Sätze nimmt diese wogende Sprachfluth mit syntaktischer Licenz in sich auf:

Nun ist, wie dürstete sie, die Erd 'erquickt!

Oden, die nicht solchen hohen Aufschwung haben, sondern mehr an der Grenze des Liedes stehn, können eine minder zerspaltene Architektonik und mehr harmonische Getragenheit auch in ihrem sprachlichen Bau zur Schau stellen.

Die Rhythmik der Ode bedient sich, im Einklang mit ihrer Komposition294 und sprachlichen Einkleidung, der kühnsten metrischen Maaße. Der Bau der Strophe, Gegenstrophe und Schlußstrophe, wie ihn Pindar gefugt, ist aus jenen Marmorquadern der plastischen Sprache Griechenlands aufgebaut, deren Gewicht in unumstößlicher Weise bestimmt war. Die regelrechteren Strophen der melischen Lyrik, des Alkäus und Sappho, eignete Horaz dem lateinischen Jdiom an, und Klopstock, Voß, Platen machten sie in Deutschland heimisch.

Die Ode ist eine so prächtige, lyrische Form, so geeignet für große Bilder und Gedanken, für einen Genius, der das Ewige aus dem fliehenden Strom der Zeit herauszuheben sucht, daß man bedauern muß, sie, trotz des lyrischen Aufschwunges der neuesten Zeit, fast in Vergessenheit gerathen zu sehn. Frägt man nach den Gründen ihrer täglich wachsenden Verschollenheit: so tritt uns zunächst die absichtlich gelehrte und unvolksthümliche Haltung entgegen, welche von Klopstock ab bis auf Platen und Minckwitz von den Odendichtern angenommen wird.

Odi profanum vulgus et arceo!

Und diese Unvolksthümlichkeit wird nicht durch die Stoffe der neuen Ode, sondern durch ihre Behandlungsweise hervorgerufen. Eine kunstvoll verwickelte Metrik hemmte sowohl den Schwung der Dichter selbst und zwang sie zu Künsteleien, als sie auch mit ihrem studirten Wohllaut nicht auf die Empfänglichkeit des deutschen Volkes rechnen durfte.

Jch habe in meinen Neuen Gedichten eine volksthümliche Wiedergeburt der Ode durch den Reim anzubahnen versucht, nach welchem einmal der sehnsüchtige und unüberwindliche Zug unserer Lyrik geht. Daß dieser Reim unseren antiken Strophen nicht widerspricht, hab 'ich schon oben dargethan. Sie erhalten erst durch ihn volle rhythmische Klarheit und ansprechenden Zauber. Allen Mitstrebenden aber, denen die herrliche Ode, welche für jeden großen Jnhalt des Jahrhunderts eine willig tragende Form ist, am Herzen liegt, schlag' ich folgende Formen zu ihrer Wiederbelebung vor:

1) Die gereimten Horazischen Strophen, die alcäischen, sapphischen und asklepiadäischen und gereimte rhythmische Neubildungen auf ihrer Grundlage.

2) Gereimte, freie, wechselnde Verse in der Art, wie sie reimlos von295 Stolberg, Kosegarten, Goethe, Heine in seinen Nordseebildern, gereimt von mir in meiner Hymne an den Tod angewendet wurden.

3) Gereimte Pindarische Strophen, Gegenstrophen und Schlußstrophen von metrischer Strenge, aber Einfachheit, sodaß die Gegenstrophe ein bis in's Kleinste entsprechendes Gegenbild der Hauptstrophe, die Schlußstrophe ihre taktvolle Vereinigung ist*)Solche pindarische Oden haben einzelne Engländer zu dichten versucht z. B. Gray: The progress of poesy, West: institution of the garter u. A..

4) Gereimte jambische Strophen von abwechselnder Länge der Verszeilen, wie sie mit großem Geschick Uz besonders in seiner Theodicee und Ramler in einigen Oden gebildet. Z. B.

Mit sonnenrothem Angesichte
Flieg 'ich zur Gottheit auf! Ein Strahl von ihrem Lichte
Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhab'ner klang.
Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen
Sich strömend fort, und braust von meinen Lippen.

Uz.

oder:

Dein König, o Berlin, durch den du weiser
Als alle deine Schwestern bist,
Voll Künste deine Thore, Felsen deine Häuser,
Die Flur ein Garten ist.

Ramler.

Die zweite und dritte Form eignet sich mehr für hymnenartige Gesänge; die erste und vierte für einfachere, dem Liede näherstehende Oden.

Je nachdem die Begeisterung des Dichters die höchsten unerreichbaren Mächte der Welt und des Lebens ansingt, oder das menschlich Nahe und Verwandte feiert, oder im Taumel des irdischen Lebens eine göttliche Beseligung findet, kann man die Ode in die Hymne, die eigentliche Ode und die Dithyrambe eintheilen.

1. Die Hymne.

Die Hymne ist in freiester und kühnster rhythmischer Form ein Hinansingen zur Gottheit, zu den ewigen Mächten, von denen der Mensch sich abhängig fühlt. So ist sie religiös im weitesten Sinne des Wortes, und296 selbst die Verzweiflungspsalmen der Skepsis, wie Shelley in seiner Queen Mab sie anstimmt, gehören in ihren Kreis, weil das Gemüth selbst in gebrochenster Sehnsucht nach dem Höchsten aufringt.

Die schönsten Hymnen enthält die Hebräische Poesie. Jehova, der Höchste, der Allmächtige, der zürnende Gott wird gefeiert in seiner erhabenen Majestät als Schöpfer der Welt. Alle großen Phänomene der Natur sind seine Thaten! Er fliegt einher auf den Fittigen des Sturmes; er neigt die Himmel und fährt herab; seinem Mund entströmt verzehrende Gluth in der Wetter Schlag. Zugleich ist er der Gott seines Volkes; alle diese religiösen Hymnen sind die höchsten patriotischen Weihegesänge. Das Wesen dieser hebräischen Poesie hat Herder mit unvergleichlicher Feinfühligkeit für das charakteristisch Schöne und mit meisterhafter Reproduktion der großen Muster ein für allemal auseinandergesetzt. Der alttestamentliche Prometheus Hiob ist der Urahn jener modernen Shelley'schen Skepsis; im Buche Hiob sind die kühnsten, gedankenvollsten Hymnen der Hebräer enthalten, deren reiche und glänzende Bildlichkeit oft einen grandiösen Schwung nimmt. Die Fackel eines majestätischen Geistes erleuchtet das All bis in seine tiefsten Abgründe und erlischt zuletzt vor der größeren Glorie und Majestät des Jehova. Von den Propheten ist Jesaias der Erhabenste; er schreibt den Lapidarstyl der Hymne mit großen und ewigen Zügen. Gewitterhaft ist sein Zorn, zermalmend sein Hohn, z. B. wenn er Jehova's Strafgericht über die Babylonier und Assyrer schildert (14. Kapitel).

Hinabgebeugt zu den Todten ist dein Stolz,
Hinunter deiner Harfe Siegeston;
Der Moder deine Decke.
Dein Bett ist unter dir der Wurm,
Wie bist du gefallen vom Himmel, du Morgenstern!

(Nach Herder.)

Diese Parallelismen des Jesaias haben eine zerschmetternde Kraft! Sanfter tönen die Psalmen Davids, sie sind subjektiver, aus dem persönlichen Geschick herausgeboren, Gebete um Errettung, Trostlieder im Leiden, Dankeshymnen, Preisgesänge auf den Schöpfer der Natur und auf jenes Glück, das zu Antium keinen Tempel hatte, auf das Glück der Tugendhaften. Bei allen milden, weichen Klängen der Ergebung und manchen höchst anmuthigen und lieblichen Schilderungen, an denen297 die Psalmen reich sind, fehlt es ihnen doch keineswegs an energischem Hymnen-Schwung, wir erinnern an jene Stellen voll großartigster dichterischer Jntuition und Schlagkraft, wie: Er schauet die Erde an, so lebt sie; er rühret die Berge an, so rauchen sie.

Die griechischen Hymnen von Orpheus, Homer und Kallimachos, zu denen noch einzelne Chorgesänge des Aeschylos und Sophokles zu rechnen sind, wie z. B. im König Oedipus der Gesang an die Götter um Abwendung der über Theben verhängten Seuche, erreichen die hebräischen nicht in Bezug auf erhabenen Schwung und haben einen vorzugsweise epischen Charakter. So enthält die Homerische Hymne auf Dionysos eigentlich eine Ovidische Metamorphose, indem sie eine That und Verwandlung des Gottes in anmuthig anekdotischer Form erzählt. Die Siegeshymnen Pindar's, des thebanischen Sängers, welche den Preis der Sieger doch immer in den Preis der Götter verweben, lassen sich an Schwung und Kühnheit noch am ersten mit den biblischen Hymnen vergleichen. Doch sind sie ihnen in Bezug auf die Behandlungsweise entgegengesetzt. Die feurige Begeisterung der Propheten verzehrte gleichsam in sich alle irdische Bildlichkeit; ihre Phantasie schwelgte in den Parallelismen der Bilder, die alle den einen, großen, unaussingbaren Gedanken spiegelten. Die Komposition ihrer Hymnen und Psalmen war daher von durchsichtiger Einfachheit. Dagegen ist gerade die Komposition von Pindar labyrinthisch verschlungen, und das Geheimniß seiner Kühnheit besteht in den scheinbar immer abgerissenen Gedankenfäden, welche doch zuletzt ein kunstvolles Gewebe bilden. Die Hymnen Pindar's sind plastisch, eine Reliefdarstellung der Thaten der Helden und Götter wechselt darin mit Weisheitssprüchen, die mit energischen Zügen in den Marmor gegraben sind. Auch diese Hymnen liefern den Beweis dafür, daß die Lyrik der Griechen sich nie ganz von der Epik losgerungen hat. Man vergleiche im vierten pythischen Gesange die Schilderung des Argonautenzuges, im dritten die Geschichte des Asklepios, im neunten die der Nymphe Kyrena. Kein Gesang entbehrt eines epischen Schmuckes, keiner gnomischer Weisheitslehren, die allerdings in den stolzen Rhythmen und der typischen Fassung wie erhabene Offenbarungen eines Orakel spendenden Gottes ertönen.

Von den Römern kann nur Horaz im würdig-feierlichen carmen298 seculare als Hymnendichter erscheinen, dagegen hat die neulateinische Poesie in ihren Hymnen z. B. auf die Jungfrau Maria, die mittelhochdeutsche Dichtkunst in den Hymnen Gottfried's von Straßburg einen innigen, von Andacht trunkenen Aufschwung genommen. Die Hymnendichter der letzten Jahrhunderte, der italienische Bernardo Tasso, der die Einheit des Kolorits durch mythologische Anspielungen unterbricht, die Franzosen Jean Baptiste Rousseau, Louis Racine, le Franc, die Engländer Cowley, Prior, Thomson (in der Schlußhymne seiner Jahreszeiten), Gray, Watts und selbst Wieland in seinen Jugendgedichten, von Kleist, Cramer, Herder (in dem Geist der Hebräischen Poesie) und Klopstock haben eigentlich nur Nachahmungen und Nachdichtungen der biblischen Hymnensänger geschrieben. Dagegen sind Hölderlin's Hymne an den Aether, die Goethe'schen Hymnen Prometheus, Gesang Mahomets, und einzelne schwunghafte Gedichte, Mörike's An die Nacht, mein Fluß, in echt modernem Sinn ewigen Mächten der Natur und des Geistes gewidmet. Auch in Shelley's Queen Mab, in Byron's Manfred und Himmel und Erde sind titanische Hymnen des ringenden Menschengeistes zerstreut. Jch selbst habe in meiner Hymne an den Tod in den Neuen Gedichten schwunghaft wechselnde, gereimte Rhythmen für diese erhabene Dichtform gewählt.

2. Die eigentliche Ode.

Die Ode feiert in kunstvolleren Rhythmen und erregterem Gang, als das Lied, hervorragende Helden, Staatsmänner, Dichter oder allgemeingültige Empfindungen des menschlichen Herzens. Das Gefühl der Liebe, der Freundschaft, Sehnsucht, Wehmuth, läßt sich in die Form der Ode bringen, wenn ihm der Dichter einen tieferen, ewigen Gehalt zu verleihn vermag oder die Gluth der Leidenschaft eine den Rahmen des Liedes sprengende Gewalt erreicht. Darum darf man jene Oden der lesbischen Sängerin, in denen die Allgewalt der Liebe bis zu todesartigen Schauern geschildert wird, wohl nicht zu den Liedern rechnen. Der Kreis, den die Horazische Ode umschrieben, bestimmt noch heute die Grenzen ihres Gebietes. Man hat zwischen heroischen, didaktischen oder philosophischen Oden u. s. f. unterschieden, aber diese Unterscheidung ist weder nothwendig noch erschöpfend.

299

Liebe hat, außer der leidenschaftlichen Sappho, schon Horaz in seinen Oden verherrlicht, die komfortable, sinnliche Liebe bei'm Mischkrug, selbst häßliche und widerwärtige Entartungen der Sinnlichkeit. Jnnige Herzensliebe durchdringt einzelne Oden Klopstock's, der auch, nach dem Vorbilde des Venusiners, seinen Freunden schöne lyrische Denkmäler setzte. Der günstigste Stoff für die Ode ist das geschichtliche Leben der Menschheit, am günstigsten, wenn es in frischer Gegenwart ergriffen wird. Schon Alkäos besingt das auf den hochgehenden Wogen der Revolution hin und her geschaukelte Staatsschiff, und in den meisten Oden des Horaz, besonders in denen an den großen Augustus, spiegelt sich die ganze Glorie der weltbeherrschenden Roma. Es ist ein ethnographischer Kosmos, den der Dichter in seinen alcäischen und sapphischen Strophen ausmalt. Von dem nahen Sabinergebirge und dem schneeschimmernden Sorakte wendet der Dichter den Blick auf den Kaukasus, auf die Syrtenstrudel, singt von Persern und Brittannern, Jberern und Medern, vom schweifenden Scythen und von Sabäa's niebezwungenen Königen! Ebenso wendet er rückwärts den Blick in die Geschichte seines Volkes, zu Romulus und Numa, Kurius und Kamillus bei aller Nachahmung der griechischen Vorbilder läßt er den stolzen Römergeist in ihren Formen walten. Als die Deutschen in Friedrich dem Großen wieder einen volksthümlichen Helden hatten, folgten Ramler und Klopstock dem Vorgang des Horaz und feierten seinen Ruhm. Auch die wechselnden Ereignisse der französischen Revolution von ihrem verheißungsvollen Anfang bis zu den späteren Gräueln begleitete Klopstock mit einem Odenschwung, der feurig seine Sympathieen und Antipathieen aussprach. Platen verherrlicht ebenfalls große Fürsten und Zeitgenossen in seinen Oden, in denen die antirussische Gesinnung oft einen haßglühenden Ausdruck findet. Auch Hölderlin weiht den Deutschen zwei bedeutsame Strophen. Byron's Ode auf Napoleon athmet den echten brittischen Freiheitsstolz, während in Victor Hugo's Oden die Begeisterung für die Bourbon's mit stolzen imperialistischen Reminiscenzen wechselt. Die Ode als glänzender Spiegel der Zeitgeschichte und der nächsten Vergangenheit, als eine Dichtung, in welcher große geschichtliche und Welt-Perspektiven entrollt und bedeutende Zeitgenossen gefeiert werden, empfiehlt sich den Dichtern der Gegenwart,300 welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen bestrebt sind.

Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die Ode eine treffliche Form, nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist Klopstock nachahmenswerthes Vorbild, während Hölty sanftere Ergüsse edler Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die eigentliche Ode eignen sich die antiken Strophen, besonders in der gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren, stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten rhythmischen Wechsel verlangen.

3. Die Dithyrambe.

Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit, in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn Herder dabei an jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie Willamov seiner Zeit versucht oder die Jtaliener Redi, Baruffaldi, Chiabrera, Magalotti u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn der indische Bacchuszug, das monotone Evoëgeschrei, das Schwenken eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden - und Satyrchöre mit einem gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht mehr in unsere Zeit. Anders bei Pindar und Bacchylides, seinem301 Zeitgenossen, anders bei Horaz, der dem weinlaubbekränzten Gott in seine süßen Gefahren folgt! Diese Dichter sangen aus dem Glauben und den Sitten ihres Volkes, aus seinem unmittelbaren Leben heraus! Doch gerade die Dithyrambe ist solch 'einer Wiedergeburt aus dem Geiste unserer Zeit fähig. Der aufjauchzende Vollgenuß irdischer Wonne ist ein unsterbliches Erbtheil der Menschen und übt eine befreiende Kraft auf alle stumpfen, sorgengedrückten Gemüther. Es ist freilich ein großer Schritt von der gedankenlosen Bestialität in Auerbach's Keller zu Heinse's schönheittrunkenen römischen Orgien. Die Trunkenheit eines großen Gemüthes ist niemals gedankenleer; der von Bacchus gewaltsam fortgerissene Horaz sinnt ein unsterbliches Lied auf Cäsar's Ruhm, das nichts Gemeines, Sterbliches, das bisher nie Gesungenes enthalte! Stumpfe Gemüther, deren Sinnlichkeit sich brutal vordrängt, sind überhaupt von der Schwelle der Dichtkunst zurückzuweisen. Sind nicht Goethe's Wanderer's Sturmlied und Harzreise im Winter Dithyramben? Hat Heine nicht in seinem Bremer Rathskeller eine humoristische Dithyrambe gedichtet? Jch selbst habe in meiner Dithyrambe eine gedankenvolle Trunkenheit in freiwogenden Rhythmen durch den wachsenden Rausch begleitet. Wir meinen, das dithyrambische Thema lasse für unsere Zeit die größten Variationen zu, und wenn schon Schiller in seiner antikisirenden Dithyrambe singt:

Nimmer, das glaubt mir,
Erscheinen die Götter,
Nimmer allein.
Kaum daß ich Bachus, den Lustigen habe,
Kömmt auch schon Amor, der lächelnde Knabe,
Phöbus der Herrliche findet sich ein;

so brauchen wir blos diesen Götterkreis in den Kreis der modernen Lebensmächte zu verwandeln, um den reichen Jnhalt zu erkennen, dessen die Dithyrambe fähig ist. Von der übermüthigen Stimmung jener Ungebundenheit, welche ihre Sache auf Nichts gestellt hat, durch alle heiß lodernde Begeisterung des Weines und der Liebe hindurch bis zu jenem geistvollen Taumel, in dessen Gährung höhere Blitze der Offenbarung herniederleuchten welch 'eine Skala von Stimmungen, Empfindungen, Gedanken für ein reiches Dichtergemüth, das sich ja schon anundfürsich302 in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn.

Vierter Abschnitt. Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.

Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Lied einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im Flug der Ode erhaschen er kann auch sein Denken und Empfinden in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegie in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.

Das griechische Wort: Elegos (ἔλεγος) bedeutet allerdings zunächst303 ein Klagelied und stammt wahrscheinlich aus Kleinasien, wo die Karer und Lyder gerade in Todtenklagen und überhaupt in melancholischer Sangesweise ausgezeichnet waren*)Ottfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur, zweite Ausgabe. Bd. I. p. 187 u. folgde.. Diese Klagelieder Kleinasiens wurden vom Flötenspiel begleitet, und auch in Griechenland war die Flöte, und nicht die Kithar oder Lyra, die musikalische Genossin der Elegie und begleitete sowohl die kriegerischen Gesänge des Tyrtäos, wie die dichterischen Vorträge, welche die zweite Hälfte der Gastmähler, der Symposien, belebten. Hier war die eigentliche Stätte der griechischen Elegie, welche die engen Grenzen des Klageliedes bereits überschritten und sich zu einer vielumfassenden Gattung ausgebreitet hatte. Die Griechen bestimmten die Gattungen der Dichtung nach der metrischen Form, welche mit dem Jnhalte zu einem plastischen Gusse verschmolz. So bedeutete das Wort Elegeion bei ihnen eine metrische Gestaltung, die Verbindung des Hexameters und des Pentameters, und Elegie war ihnen ein in dieser metrischen Form abgefaßtes Gedicht. Der Charakter des Distichons, in welchem der epische Hexameter, der beflügelt in's Weite strebt, im Pentameter zur Rückkehr, zur Einkehr in sich selbst eingeladen wird, gab allen diesen Gedichten einen reflektirenden Zug, und man darf mit Recht behaupten, daß die ganze Reflexionspoesie der Hellenen der elegischen Gattung angehört! Wie mannichfach war der Jnhalt der griechischen Elegie! Kriegerisch und politisch bei Kallinos und Tyrtäos, zwischen Politik und Liebe schwankend bei Mimnermos, zwischen Politik und Philosophie bei Solon und Theognis, behielt sie in einzelnen Dichtungen des Archilochos und Simonides ihren ursprünglichen nänienartigen Charakter in der Trauer um die Todten bei, während sie in andern sich im Lobe des Weines und der Hetären erging und ein heiteres Behagen zu erwecken suchte, ja hinundwieder, wie in den Versen des jonischen Sängers Asios, selbst einen humoristischen, die epische Würde parodirenden Charakter annahm. Die Fülle der von den griechischen Elegikern angeschlagenen Töne ist so mannichfach, daß man fast das einheitliche Band zu vermissen glaubt, wenn es nicht eben in jener durch das Versmaaß bestimmten reflektirenden Dichtweise304 gegeben wäre. Jn Rom, wo der Nationalcharakter diese Richtung des Gemüthes begünstigte, hat die Elegie von allen Dichtarten die größte Vollkommenheit erreicht. Auch hier zog sie eine Fülle von Empfindungen und Gegenständen in ihren Kreis, obwohl das erotische Element vorwiegt. Auch trat hier ihr Grundcharakter, das Hin - und Herwogen der Gefühle, die an einer Reihe von Bildern hinundhergehende Reflexion, noch entschiedener und kunstmäßiger als bei den Griechen hervor.

Der Blick auf die antike Elegie zeigt hinlänglich, mit welchem Unrecht sich diejenigen auf die Alten berufen, welche den Begriff der Elegie in der gewohnten engen Weise beschränken.

Doch nachdem wir die Einseitigkeit dieser Begriffsbestimmungen nachgewiesen, wird uns der tiefere Zusammenhang zwischen der elegischen Dichtung in unserer weiten Auffassung und der Urbedeutung des Wortes nicht entgehn. Die Stimmung des reflektirenden Dichters, ja das Wesen der dichterischen Reflexion selbst wird stets einen elegischen Zug behalten, der als ein weiches Element der Stimmung solchen Dichtungen zu Grunde liegt. Die Reflexion dringt nicht in die Tiefe der Dinge ein; sie geht nur zwischen ihren Beziehungen hinundher. So bleibt ihr, bei allem Wechsel der Anschauung und Empfindung, eine Unbefriedigung zurück, die sich selbst in der Freude als stille Wehmuth niederschlägt, den kriegerischen Akkorden das düstere Vorgefühl des Todes beimischt, einem für den Aufschwung des Staates und der Nation begeisterten Gemüth bei aller vorwärts drängenden Begeisterung doch die Klage über die verkommene Gegenwart einhaucht und über den wechselnden Situationen der Liebe gerade durch das Bewußtsein dieses Wechsels einen wehmüthigen Schleier legt. Die Vergänglichkeit alles Jrdischen ist der durchklingende Grundton aller Reflexionen. Es genügt, wenn dieser Ton nur hier und dort aus der Elegie heraustönt, ja wenn er nur wie ein leisezitternder Hauch darüber schwebt, nur von dem feineren Gefühl empfunden wird. Er kann auch gleichsam nur ein ausweichender Ton, eine harmonisch wieder aufgelöste Dissonanz sein; der Dichter kann von ihm ausgehn, ohne zu ihm zurückzukehren. Jn der That finden wir bei den großen Reflexionspoeten aller Zeiten diesen elegischen Zug, diese Grundstimmung, aus welcher die ganze Dichtgattung hervorgegangen. Wie tönt die Trauer um den Verfall des Vaterlandes schon aus den Elegieen des305 Theognis! Welch 'wehmüthiger Rückblick auf die Tapferkeit der alten Smyrnäer, welche reizende, aber gerade durch die Ahnungen der Vergänglichkeit anmuthig gefärbte Feier der Jugend und Schönheit findet sich in den Elegieen des Mimnermos! Tibull geht in einer seiner kunstvollsten Dichtungen von den Schrecken des Krieges aus und mischt so in die Schlußfeier des Friedens einen elegischen Hauch*)lib. I. 3. nach Gruppe..

Wer zuerst zu Tage gebracht die schrecklichen Schwerter,
Wild im Busen führwahr schlug ihm ein eisernes Herz.
Da begann den Menschen der Mord und die Schlachten begannen,
Und ein kürzerer Weg wurde geöffnet dem Tod.

Wie mischt sich im Liebesroman seiner Delia mit aller Freude über verbotenen Genuß die leise Klage darüber, daß der volle gesicherte Besitz der Geliebten ihm fehlt. Wie wandelt sich selbst bei dem kühneren Properz die glückliche Liebe in eine unglückliche um! Wir erinnern nicht an Petrarca's Sonette, an viele Kanzonen der Troubadours die ganze reiche Gedankenpoesie der Neuzeit verleugnet jenen Grundzug der Stimmung nicht. Die römischen Elegieen Goethe's sind dem Tibull und Properz nachgedichtet und erhalten dadurch ihren Reiz, daß die Liebe des Dichters, selbst vergänglich und flüchtig, unter den Trümmern einer großen Vergangenheit dahingaukelt. Jn den Göttern Griechenlands von Schiller, den Jdealen und ähnlichen Gedichten unseres größten Reflexionspoeten läßt die Sehnsucht nach einer versunkenen Phantasiewelt oder nach der innigen Vermählung des Gedankens und der Wirklichkeit den Schmerz der nüchternen Gegenwart um so tiefer empfinden. Jm Schutt von Anastasius Grün rankt sich die Wehmuth des Dichters noch um die alten Thürme und Klöster; das europäische Mittelalter singt sein Schwanenlied; aber in seine Ruinen weht der frische Hauch über den Ocean herüber aus der neuen Welt! Nikolaus Lenau klagt um das verlorene Paradies des Glaubens oder um verlorenes Liebesglück; Alfred Meißner in seinen Trümmern um das Weh der Armen, der Enterbten, der ganzen Menschheit! So ist der Grundzug der Reflexionspoeten allerdings durch die Vergänglichkeit des Jrdischen bestimmt. Die Stimmung des elegischen Dichters ist ein den Erscheinungen306 hingegebener Sinn, der gleichsam mit ihnen ebbt und fluthet, von Empfindung zu Empfindung, von Bild zu Bild hinläuft, aber bei seiner Rückkehr aus der Fülle der Welt und ihres wechselnden Spiels in das eigene Gemüth kaum eine andere Ausbeute mitbringt, als die Einsicht in die rasche Flucht der Erscheinungen, die wie ein melancholischer Duft dann über allen Bildern zittert, die er entrollt. Der Jnhalt der Elegie kann so mannichfaltig sein, wie die Erscheinungswelt, wenn er sich auf jene Grundfärbung der Seele auftragen läßt. Wir erwähnten bereits die kriegerischen und sympotischen Elegieen der Griechen, die erotischen der Römer. Die Sirventes der Provençalen, viele Elegieen Paul Flemming's haben einen politischen Zug. Liebe und Freundschaft, Staat und Krieg, das religiöse Gefühl (Lamartine, Lenau), die Weltgeschichte (Schlegel, Schefer), der ringende Gedanke (Schiller, Byron), die gesellschaftlichen Zustände und die Menschheit (Grün, Meißner, Sallet, Beck) geben eine weitreichende Skala der Stoffe für den elegisch reflektirenden Grundton. Die Todtenklage im engern Sinn ist natürlich nicht ausgeschlossen nur darf sie in der Form nicht so kurzathmig sein, wie meistens bei Salis und Hölty, denn dadurch geht sie in die Gattung des Liedes über sondern muß mit sinniger Reflexion, wie in den Kanzonen von Zedlitz, ihre Todtenkränze auf die Gräber legen.

Jn der Komposition unterscheidet sich die Elegie wesentlich von der engen und innigen Einheit des Liedes und von den skizzenhaften Sprüngen der Ode. Sie führt uns eine zusammenhängende Kette von Bildern und Empfindungen vor, gestattet dem Dichter eine freie Umschau über Welt und Leben, selbst die Schaustellung einer vielfach vermittelten Bildung; sie führt mit Behagen eine Fülle von Variationen über das ursprüngliche Thema aus. Doch dürfen die Uebergänge von einer zur andern nicht so schroff und gewagt sein, wie die Sprünge der Ode, sondern leicht, fließend und natürlich. Je mehr sich mit dieser Natürlichkeit ein kunstvoller Fugengang vereinigt, je überraschender bei aller Klarheit die Rückkehr von scheinbaren Abweichungen zum Grundton, ihr Hinüberführen in denselben ist, je glücklicher die Elegie Anfang und Schluß harmonisch zu verweben weiß: desto kunstvoller wird die Gliederung ihres ganzen Organismus, desto gefälliger der Eindruck sein, den sie hervorbringt. Auch der Elegiker geht von einer bestimmten Situa -307 tion aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug, seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen, Schiller's Spaziergang, Meißner's Wanderung in's Gebirg nach einer Zeit der Schmerzen; aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche Elegieen der Neuzeit sind z. B. die Todtenkränze von Zedlitz und der Schutt von Anastasius Grün.

Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von Tibull:

Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth,
Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk!

wird von Otto Gruppe, der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in folgender Weise erläutert*)Die römische Elegie Bd. I. p. 11.: Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des308 Dichters danken soll: überall blickt hier die innigste Liebe wie ein reiner Goldgrund durch die brillanten Farben des Gemäldes durch. Der einfache Wunsch der Heimkehr giebt den schnellen Uebergang zur Ausbreitung jener idyllischen Gemälde, welche Tibull fast in keiner seiner Elegieen fehlen läßt: das Gedicht gewinnt hier einen Ruhepunkt. Sogleich aber wird es wieder durchschnitten, und von Vers zu Vers ändert sich überraschend Sinn und Stimmung. Der Dichter kehrt durch kunstreiche Wendungen auf seinen Tod zurück und setzt seinem Grabe eine Jnschrift. Er hofft auf ein gutes Schicksal in der Unterwelt: hier nimmt das Gedicht wieder einen sanften, verweilenden Charakter an. Aber es erwartet uns ein neuer wirksamer Gegensatz, die Schilderung von dem Sitze der Verdammten, welcher eine schöne Ausführung gegeben ist. Und doch ist dies nur eine Folie zu dem, was folgt, es dient die reizenden Scenen durch den Kontrast zu heben. Der Dichter verwünscht Alle, welche seiner Liebe entgegen sind, an den Ort der Strafen und ist so zugleich mit schnellem Gedankenfluge wieder bei seiner Delia. Nun wird ihre Keuschheit in dem ausgesuchtesten Bilde gemalt, wie die Alte, die Hüterin ihrer Tugend, neben ihr sitzt und ihr Märchen bei'm Schimmer des Lämpchens erzählt. Die spinnende Magd vollendet das Bild bürgerlicher und idyllischer Häuslichkeit; sie schläft über der Erzählung der Märchen ein. Aber so schön dies ist, so ist es doch auch nur die Vorbereitung für das Schönere, das folgt. Unangemeldet von jener Magd, zur Ueberraschung seiner Delia und nicht minder des Lesers stellt der Dichter sich jetzt vor, wie er plötzlich eintritt, wie Delia, die sich's häuslich bequem gemacht unter ihren Frauen, mit gelöstem Haare und nacktem Fuße ihm in die Arme läuft. Der Wunsch, daß dies wahr werde, macht den einfachen Schluß aus. Das Gedicht kehrt hiermit vortrefflich zum Anfange zurück, wo die Trennung von dem Geliebten so rührend geschildert worden. Von der neueren Reflexionslyrik verdient vorzugsweise der Schutt von Anastasius Grün wegen seiner großartigen Komposition Beachtung. Das Gedicht tritt freilich aus dem subjektiven Rahmen heraus; es schließt sich nicht an ein inneres oder äußeres Erlebniß des Dichters an. Die Bilder, die es uns vorführt, sind scheinbar losgelöst von der persönlichen Stimmung des Poeten und mit dem Geschick anderer erfundener Persönlichkeiten verwebt. Doch das Auge des Dichters schaut309 aus ihnen heraus; es ist nur eine rasche und flüchtige Metamorphose, welche die Lebhaftigkeit der Betrachtung und Schilderung erhöht. Jm Schutt von Grün ist es der Dichter selbst, der aus dem venetianischen Kerker den Blick auf das freie Meer wendet, sich in die Geheimnisse des Klosters vertieft und von Pompeji's und Herkulanums Trümmern nach dem freien Nordamerika hinüberschaut und mit visionairer Begeisterung die Weltgeschichte in ihren großen Krisen und ihrer versöhnungsreichen Zukunft erfaßt. Jn der ersten Elegie: der Thurm am Strande sehen wir einen gefangenen venetianischen Freiheitsdichter. Die elegische Poesie des Kerkerlebens mit seiner Sehnsucht in's Freie, die durch die arme Umgebung zu phantasievoller Ausmalung des Kleinsten angeregte Phantasie bietet, ähnlich wie in Saintine's Picciola und Byron's prisoner of Chillon, eine Fülle anziehender Bilder und Empfindungen. Zuletzt wird der Gefangene freigelassen, aber als er im Spiegel einer Quelle sein ergrautes Haupt, sein von der langen Knechtschaft durchfurchtes Antlitz sieht, da kehrt er freiwillig in seine Haft zurück. Die zweite Elegie: eine Fensterscheibe führt uns in das Klosterleben, in den Beichtstuhl des Priesters, läßt manche Gestalten, denen die Ascese einen eigenthümlichen Stempel aufgedrückt, an uns vorüberwandeln und zuletzt zur mitternächtigen Stunde die Mönche aus ihren Särgen steigen und den Erbauer des Klosters selbst einen Klagehymnus über die Gegenwart anstimmen, welche die Zier der stolzen Säulen gebrochen hat. Die dritte Elegie: Cincinnatus führt uns an Bord eines Schiffes, welches nahe bei Pompeji im Golf von Neapel ankert, und verlegt die Betrachtungen des Dichters in die Seele eines freien Nordamerikaners, der sich am Bord dieses Schiffes befindet. Die Situation ist außerordentlich glücklich gewählt, um der Phantasie einen ungezwungenen Flug aus der alten in die neue Welt zu gestatten. Das trümmerreiche Jtalien mit seinen verschütteten Städten, mit seinem in Genuß und Müßiggang versunkenen Volke, wo die Weltgeschichte ihre Rolle ausgespielt zu haben scheint, wird auf's Wirksamste kontrastirt mit dem jugendlich aufstrebenden Lande der Freiheit, der ursprünglichen Natur, des frischen Pflanzerlebens, wohin der Dichter alle diejenigen einladet, denen das Vaterland durch Pfaffenwuth, durch Ketten jeder Art verleidet ist. Die vierte Elegie: Fünf Ostern zeigt uns große weltgeschichtliche Fresken im Kaulbachschen310 Styl, anknüpfend an die Sage, daß Christus jährlich zu Ostern vom Oelberge herab auf die Stätte seines Wirkens schaue. Am ersten Ostern erblickt er das von Titus zerstörte, am zweiten das von den Kreuzfahrern eroberte Jerusalem; am dritten ist es in der Gewalt der Beduinen, nur besucht von dem einsamen olivenfarbenen Wanderer, dem Juden; am vierten wird es von streitsüchtigen Mönchen bewacht unter der Herrschaft der Janitscharen. Einer von ihnen, höheren Sinns, hängt andächtig an Zions Zinnen, voll Sehnsucht, daß das Kreuz wieder auf ihnen erglänze, und grüßt als nahenden Befreier den großen Feldherrn Napoleon, der Gottfried's Söhne an diese Küste geführt. Doch seine Hoffnung wird nicht erfüllt. Das fünfte Ostern erscheint in ahnungsvoller Beleuchtung; eine Vision enthüllt uns die Zukunft. Alles ist Glanz, Fülle, Wonne; Saaten wogen auf altem Schutt; Rosen blühen über Golgatha. Ein glückliches Volk wohnt hier, ernst und heiter, wie die Gestirne, schön wie Rosen, stark wie Cedern; Krieg, Knechtschaft, Lug ist vergessen. Schwert und Kreuz werden aufgefunden, doch von Niemandem mehr erkannt.

Dieser ganze kunstvolle Cyklus von Elegieen spiegelt, trotz der Verschiedenheit der Situationen und des Reichthums der wechselnden Scenen, einen Grundgedanken, der sich in jeder Elegie in anderem Farbenspiele bricht. Dieser Gedanke ist nicht philosophisch klar und läßt sich in keine bestimmte Formel fassen; er gehört jenem träumerischen Gebiete der Reflexion an, welche, aus der Stimmung des Dichters herausgeboren, über eine Fülle von Bildern den eigenthümlichen Hauch dieser Stimmung ausgießt. Die Grundstimmung des Dichters aber ist die Wehmuth über die Trümmer der Weltgeschichte, über das verfallende Europa, und die Sehnsucht aus diesen alternden Zuständen, aus diesem Schutt heraus in eine freie und jugendfrische Welt, deren harmonische Versöhnung, deren volle, der ganzen Welt aufgehende Glorie in den Schlußakkorden des fünften Ostern gefeiert wird. Alle Gestalten der Geschichte hat der Dichter gleichsam in ein elegisches Pantheon versammelt, das verschüttete Alterthum, das versinkende Mittelalter, Kerker und Klöster, den Mönch und den Juden läßt er in seiner magischen Laterne vorübergleiten, und gerade die rasche Flucht der Erscheinung, die besonders in den fünf Ostern einen schattenhaften Eindruck macht, dient dazu, die Vergänglichkeit des Jrdischen um so lebhafter dem Gemüthe vorzuführen. 311So schweift die Reflexion von Bild zu Bild, ja sie weicht scheinbar in in kühnen Fugen aus, aber wir werden immer zum Grundton zurückgeleitet. So können wir, trotz der weiten Ausdehnung des modernen Elegieencyklus, trotz der großen Verschiedenheit des Stoffes und der Weltanschauung, deren Bereicherung und Erweiterung zu verkennen nur einer einseitigen Bildung vorbehalten bleibt, in der Rhythmik der Komposition, ihrem farbenreichen Scenenwechsel, ihrem hinundherwogenden Gange die Aehnlichkeit zwischen der antiken und modernen Elegie nicht vermissen.

Die Mischung, die schon im antiken Distichon, in der Vereinigung des Hexameters und Pentameters angedeutet ist, die Mischung von Beschreibung und Betrachtung bildet das eigentliche Wesen der Elegie, das sich in ihrer Totalität ebenso ausprägt, wie in jedem einzelnen Bilde. Soll diese Mischung einen gesunden und erfrischenden Eindruck machen: so darf keines ihrer Elemente überwiegen. Jm Allgemeinen freilich scheint das erstere mehr dem Alterthum, das zweite mehr der Neuzeit eigen zu sein; aber schon die gnomischen Elegieen der Griechen zeigen, daß auch hier die Betrachtung bis zur Sprengung der abgeschlossenen Kunstgattung und zum Uebergang in das Lehrhafte überwog. Ein Ueberrest der Beschreibung dagegen würde ebenfalls aus der elegischen Gattung herausfallen. Beide müssen überdies sich nicht von der höheren Einheit emancipiren wollen: von der lyrischen Grundstimmung des Dichters. Ein sehr harmonisches Verhältniß zwischen beiden zeigt uns z. B. der Schiller'sche Spaziergang, ebenso das Lied von der Glocke, in welchem letzteren Gedicht die Beschreibung doppelter Art ist, zunächst an das Technische des Glockengusses anknüpft und dann erst die Zustände des bürgerlichen Lebens schildert, welche dem Dichter in ungezwungenster Weise kurze, aber bedeutsame Reflexionen an die Hand geben.

Was die Ausdrucksweise der Elegie betrifft, so ist man noch immer mit Horaz und Gottsched geneigt, von derselben die größte Einfachheit zu verlangen. Eher trifft schon Boileau das Richtige, wenn er von der Elegie einen gehobenern Ton, als von der Jdylle verlangt, dabei aber die Kühnheit ausschließt*)Art poétique de Despréaux II. 38 u. folg. D'un ton un peu plus haut, mais pourtant sans audace.. Die Kühnheit der Ode paßt312 in der That nicht für die Elegie; aber sie darf schwunghafter auftreten, als das Epos und das Lied. Vom Epos, von dem sie bei den Alten ja den Hexameter überkommen, überkam sie auch das Recht, ihre Bilder mit verweilender Schilderung auszumalen; vom Liede aber darf sie den musikalischen Schmelz für die Darstellung der Beschauung und Empfindung in Anspruch nehmen. Schon Tyrtäos malt seine Kriegsbilder mit Homerischer Klarheit:

Dulde denn wohl ausschreitend ein Jeglicher, beide die Füße
Festaufstemmend im Grund, Zähn 'in die Lippen gedrückt,
Hüften sodann und die Schenkel hinab und die Brust und die Schultern
Hinter des räumigen Schilds Bauche nach Wunsche gedeckt;
Und in der Rechten erheb' er zum Schwung den erdröhnenden Schlachtspeer
Und graunregend daher wehe vom Haupte sein Busch
*)Weber, die elegischen Dichter der Hellenen. I. p. 18.
*).

und singt dann erst mit weichtönendem Klang der Gefallenen Ruhm, die Klagen des Volkes, die Ehre der Sieger. Wie lebendig schildert Tibull das Jagdleben, in welches die Leidenschaft der glühenden Sulpicia die Freuden der Liebe hineinzaubern möchte! Wie episch wird von diesem Dichter die Schönheit dieser Sulpicia durch den Reichthum des Schmuckes illustrirt, bei dessen Schilderung der Dichter behaglich in fernen Zonen verweilt:

Sie allein nur ist werth von allen Mädchen, daß Tyrus
Bringt weich wollenes Vließ, doppelt in Purpur getränkt,
Sie besitze die duftige Saat, die der Araber ferne
Jhrem Dienste geweiht pflegt auf den würzigen Au'n,
Und das Edelgestein, das der schwarze Jnder, der Sonne
Nachbar, liest an des Meers rothem Korallengestad.
**)Tibull, Eleg. IV., I. 15; nach Gruppe: die röm. Elegie. I. p. 39.

Solche Ausmalungen entsprechen nicht der niedrigen Schreibart, welche man von der kleinen Elegie verlangt. Wenn dies schon von der antiken Elegie gilt, so noch mehr von der modernen Gedankenpoesie. Das Kolorit der Schilderung kann so glänzend sein, wie es die Phantasie des Dichters nur zu geben vermag; Empfindung und Beschauung so tief und innig, wie es einer reichen Begabung nur immer zu Gebote steht. Die gleichmäßige Wärme Schiller'scher Jdealität, die wohl schwunghaft313 ist, aber in einem harmonischen Fluß und Guß bleibt, ohne zu den kühnen abgerissenen Wendungen und Sätzen der Ode zu greifen, bleibt für die ganze Gattung mustergültig. Ein allzureicher Bilderschmuck, wie wir ihn bei Grün, Lenau und Beck finden, mag überhaupt hin und wieder gegen den geläuterten Geschmack verstoßen; aber in unserer Gattung nicht mehr, als in jeder andern. Jn Bezug auf die geeignete metrische Form haben wir schon bemerkt, daß die Elegie der Alten einem bestimmten Versmaaß ihren Namen verdankt. Dies Versmaaß, das Distichon, stellt zugleich an sich selbst die Emancipation der Lyrik von der Epik dar, indem hier zuerst der stolze, epische Sechsfüßler, eines Fußes beraubt, in der fünffüßigen Zeile gleichsam wehmüthig erlischt. Gleichzeitig sehn wir im Distichon die erste noch schüchterne Form strophischer Bildung. Die ganze klassische Elegie und ihre Nachdichtungen, Goethe's römische Elegieen und Schiller's Spaziergang sind in diesem Versmaaß gedichtet, das in der That für die Vereinigung von Schilderung und Reflexion mustergültig erscheint. Der Genius der deutschen Sprache aber verlangt zum vollen lyrischen Ausdruck den Reim und deshalb möchten wir den Dichtern der Gegenwart das Distichon nicht empfehlen. Gerade durch den Reim und die Strophenbildung, die von seinen Verschlingungen abhängig ist, sind der modernen Lyrik andere Mittel geboten, die Rückkehr des sinnenden Gemüthes in sich selbst auch in der äußeren Dichtform abzuspiegeln. Es kommt nur darauf an, das Charakteristische der elegischen Versform, das Horaz sehr treffend bezeichnet, wenn er von versibus impariter iunctis spricht, auch in der modernen Versbildung auszudrücken. Dies hatte schon der Altmeister unserer neuen Poesie, Martin Opitz, eingesehn und deshalb statt der langen zwölf - und dreizehnsylbigen Verse mit ungetrennten Reimen, welche noch der alte französische Elegiker E. Desportes und nach ihm die französische Elegie überhaupt angewendet, seine Elegieen in Alexandrinern mit weiblicher und männlicher Endung und getrennten Reimen geschrieben und auch in dieser Form die siebzehnte Elegie des ersten Buches von Properz übersetzt:

Auf dieser wüsten Stätt ', in dieser stillen Heide,
Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind,
Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide,
Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind.
314

Flemming, Dach, Tscherning folgten seinem Beispiele, und Emanuel Geibel bewies in seinem Gedicht: Welt und Einsamkeit, daß die moderne Reflexions-Lyrik auch den Alexandriner in dieser Weise wohl verwenden kann:

O rühmet immerhin mir eure lauten Feste,
Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt;
Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste,
Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt,
Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken,
So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt;
Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken,
Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken
Vielfarbig auf in's Dunkel zischt.

Die kunstvollere Gliederung der Strophe, die gegen den Schluß hin im dreifachen weiblichen Reime voller austönt, um dann im vierfüßigen Jambus zu erlöschen, giebt zugleich ein Beispiel, welche mannichfachen Variationen strophischer Bildung der Alexandriner verträgt, und wie dieser von Freiligrath bereits zu kühneren und abwechselnden Sprüngen dressirte Vers ein gefügiger Träger der modernen Reflexion werden kann.

Die aus dem Orient überkommenen Strophen, wie z. B. die Ghaselen, sind zu kindlich und monoton und zwingen den Gedanken unwillkürlich zu rasch wiederkehrenden Parallelismen, so daß sie sich wohl zum Aufreihen einer didaktischen Perlenschnur eignen, aber den freieren Flug der Schilderung und sinnigen Betrachtung lähmen. Anders verhält es sich mit der melodischen Architektonik der italienischen Strophenformen, des Sonettes und der Kanzone. Als Beispiele, wie vortrefflich die moderne Gedankenlyrik diese romanischen Formen verwenden kann, erwähnen wir Platen's Sonette auf Venedig und Max Waldau's Kanzone: O diese Zeit. Jn beiden ist nicht nur die Form meisterhaft gehandhabt, sondern auch der Ausdruck elegischer Reflexion in mustergültiger Weise getroffen. Dennoch können wir diese italienischen Strophenformen für größere Cyklen nicht unbedingt empfehlen, da sie auf die Länge durch ihre üppige Reimfülle ermüden. Der fünffüßige Jambus, in freier Reimverschlingung oder strophisch geschult, wie ihn Schiller in den Göttern Griechenlands, Grün im Schutt, Lenau in Glauben, Wissen, Handeln sogar mit daktylischer Unterbrechung, Leopold Schefer315 im Abschied von Griechenland angewendet, oder auch der fünffüßige Trochäus, den z. B. Matthisson in seiner bekannten Elegie auf den Trümmern eines alten Bergschlosses gebraucht, bieten sich von selbst dem modernen Elegiker dar, wenn sie auch erst durch eine kunstvolle Behandlung, welche dem Wellenschlag reflektirender Empfindung in der Reimpaarung und Strophenbildung gerecht wird, die Wahl des Poeten rechtfertigen.

Die Gattungen der Elegie und ihre Hauptvertreter erfordern zu übersichtlicher Darstellung einen kurzen historischen Ueberblick.

1. Die klassische Elegie*)W. Hertzberg, der Begriff der antiken Elegie in seiner historischen Entwickelung im Literarhistorischen Taschenbuch von Prutz, dritter Jahrgang S. 205 399; Wilhelm Ernst Weber, die elegischen Dichter der Hellenen 2 Bde. ; Otto Gruppe, die römische Elegie, 2 Bde. ; Ottfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur Bd. I. p. 184 228; Bähr, Geschichte der römischen Literatur 3. Aufl. Bd. I. p. 429 461..

Die griechische Elegie entwickelte sich aus dem Epos und bildet die Uebergangsstufe zwischen Epos und Lyrik. Leider sind uns von ihren Meisterwerken nur Bruchstücke übrig geblieben. Der älteste Elegiker, Kallinos von Ephesos, ist ein jonischer Herwegh, der die Jünglinge seines Vaterlandes in unmittelbarer begeisterter Ansprache aus weichlicher Erschlaffung zur That emporruft. Auch Archilochos von Paros, bekannt durch seine beißenden und schmähenden Jamben und von manchen alten Autoren in Bezug auf dichterische Begabung dem Homer an die Seite gestellt, dichtete politisch-kriegerische Elegieen, daneben Klage - und Trostgedichte, z. B. auf den Tod des im Schiffbruch umgekommenen Gatten seiner Schwester. Am vollsten und kräftigsten griff Tyrtäos in die Saiten, Sparta's Körner im messenischen Kriege, mit lyrischem Aufschwung und plastischer Kraft den Tod für's Vaterland feiernd. Auch ein im engern Sinne politisches Gedicht, die Eunomia (Gesetzlichkeit), mit unmittelbarer Beziehung auf Staatsverhältnisse und innere Unruhen und mit der Tendenz die Gemüther zu beschwichtigen, hat er verfaßt. So beginnt die griechische Lyrik geradezu als politische, als eine Gattung, welche nach der Ansicht einiger literarischen Autoritäten der316 Neuzeit ganz aus der Poesie herausfallen soll. Den Uebergang zur erotischen Elegie macht der Kolophonier Mimnermos, der seine geliebte Flötenspielerin Nanno in wehmüthigen Versen besingt und in seine Elegieen, die mit Vorliebe bei der Vergänglichkeit der Jugend und Schönheit verweilen, manchen historischen und politischen Stoff verwebt, der aber mehr im träumerischen Lichte der Vergangenheit, ohne unmittelbaren Bezug auf die Gegenwart dargestellt wird. Bei Solon, bei dem geistvollen Philosophen Xenokrates, welcher bereits den Muth besaß, Weisheit höher zu stellen, als den bei olympischen Spielen errungenen Ruhm, und bei Theognis von Megara, der die zerrütteten Zustände der Vaterstadt, die Herrschaft des Volkes beklagt, seinem Hasse gegen die emporgekommene Geldaristokratie einen beredten Ausdruck giebt, das Thema von Reichthum und Armuth auf das Mannichfachste variirt, nimmt die Elegie einen gnomischen Charakter an, der zum Theil aus der Poesie herausfällt. Nur in einzelnen an Kyrnos gerichteten Distichen des Theognis läßt sich ein darüberschwebender poetischer Hauch nicht verkennen. Tiefe der Empfindung findet sich wieder bei dem Simonides von Keos, dem Zeitgenossen der Perserkriege, bei welchem der klagende und trauernde Charakter der Elegie, wie z. B. in seinem Grabgesang auf die zu Marathon Gefallenen, mehr als bei allen andern Elegikern hervortritt. Zur Zeit des peloponnesischen Krieges blühten Jon der Chier, Dionysios aus Athen, Euenos von Paros, der Terrorist Kritias von Athen, Sänger des heitern Lebensgenusses, hin und wieder mit politischem Anflug, Antimachos von Kolophon, ein einsamer Lyriker, ohne Anklang bei seiner Zeit, der in elegischer Todtenfeier um seine frühverstorbene Lyde klagte. Wenn schon der letztere seine Liebesklagen mit zahlreichen mythologischen Bildern illustrirte, so überwuchert die Gelehrtenpoesie bei den späteren alexandrinischen Elegikern, wo der Ton der Empfindung gänzlich im mythologischen Aufwand erstickte. Schon der Zeitgenosse Alexander's, Hermesianax von Kolophon, besang seine gelehrte Leontion in sehr gelehrten Distichen, deren erhaltenes Fragment uns einen gereimten Abriß griechischer Literaturgeschichte giebt. Kallimachos von Kyrene, ein alexandrinischer Akademiker, der gepriesenste dieser Richtung, verherrlichte das Haar der Berenice in einer pomphaften Hofelegie, die mit Schmeicheleien für die Ptolemäer317 ebenso durchwirkt ist, wie mit astronomischen und sonstigen gelehrten Anspielungen; Philon und Andromachos von Kreta brachten gar Recepte in Distichen, so daß die Elegie bei ihnen einen pharmaceutischen Charakter annahm.

Dennoch entzündete sich an einigen Lyrikern Alexandrien's, wie z. B. an Kallimachos, dessen Elegie auf das Haar der Berenice von Catull übersetzt worden, die Begeisterung der römischen Dichter, welche uns die römische Elegie schuf, die unter den Dichtversuchen der Römer gewiß den ersten Rang einnimmt. Die Trias der großen römischen Elegiker, Tibull, Properz, Ovid, überragt sogar die hellenischen, soweit wir die letzteren aus den erhaltenen Fragmenten beurtheilen können. Jedoch haben die Römer nicht die politische und heroische, sondern nur die erotische und reflektirende Elegie angebaut, wenn auch das großartige Bewußtsein nationaler Bedeutung und Macht oft in schwunghaften Klängen aus ihren engverketteten Distichen tönt. Der einfachste dieser Elegiker ist Albius Tibullus, der ohne prunkende Gelehrsamkeit frisch aus dem nationalen Leben schöpfte und sich durch kunstvolle Verwebung scheinbar fernliegender Bilder zu einem harmonischen Ganzen, durch Lebendigkeit und Anmuth der Schilderung, durch Natürlichkeit einer weichen, oft schmachtenden Empfindung, die unmittelbar aus der Seele kommt, so wie durch die Reinheit und Klarheit des sprachlichen Ausdruckes auszeichnet. Anmuthig gezeichnete Bilder des Landlebens schweifen als gern wiederholte Arabesken beruhigend um die hin und her wogende Elegie. Die dramatisch bewegte Sulpicia-Elegie mit ihrer leidenschaftlichen Gluth und der spannende, durch wechselndes Geschick sich entrollende Cyklus der Delia-Elegieen bilden die Krone der Tibull '- schen Dichtungen. Sextus Aurelius Propertius, der neben den zahlreichen Elegieen an seine Cynthia auch einige Threnodieen und patriotische Distichen schrieb, besitzt nicht die Naivetät und frische Unmittelbarkeit des Tibull; aber er übertrifft ihn im schmeichlerischen melodischen Versfluß, in malerischer Gruppirung und Drapirung, an gelehrter Würde, welche, die kleineren Bezüge des Lebens verschmähend, sich mehr in einem allgemeinen harmonischen Aether hält. Er verwebt in seine Elegieen eine Fülle mythologischer Bilder und gelehrter Notizen, welche die plastische Anschauung stören und die Phantasie stets318 aus der bestimmten Situation heraus in die Weite geschichtlicher Perspektiven führen. Wo Tibull schmachtend und weich erscheint, verräth Properz eine leidenschaftliche Gluth und gerade dies Feuer markiger Empfindung sichert ihm eine gleiche Stellung neben dem nationalsten römischen Elegiker. Der dritte, Publius Ovidius Naso, der genialste aller römischen Dichter, zeigt uns, ähnlich wie Heinrich Heine in neuester Zeit, die Auflösung des Glaubens und der Liebe, allerdings noch auf dem plastischen Grunde des antiken Lebens, aber doch schon mit allem Witze einer freispielenden Jronie. Er giebt sich niemals der Situation, die er schildert, mit Andacht hin; er zeigt immer in einzelnen Wendungen, daß er über derselben steht. Er gefällt sich in der frivolen Ausbeutung der dargestellten Liebesscenen, zeigt aber dabei eine so hinreißende Grazie des Ausdrucks, einen so leichten Fluß von Bild und Gedanken, eine so anmuthig tändelnde Beredtsamkeit, daß es schwer ist, dieser verführerischen Begabung zu widerstehn. Der erotischen Gattung gehören seine amores an, eine ebenso durch die Virtuosität der Darstellung, wie durch ihre unbekümmerte Offenherzigkeit fesselnde Liebesbeichte. Die Tristien dagegen bringen uns die Klagen des Verbannten, die oft in einen larmoyanten Ton verfallen, da Ovid diesem Geschick geistig zu erliegen schien und nicht die Ueberlegenheit seines so souverain selbst die Götter herausfordernden Witzes ebenso bewährte, wie etwa Heinrich Heine in seiner qualvollen Krankheit. Doch ist, trotz einförmiger Wiederholungen, die Form der Tristien fließend, gefällig, von melodischem Zauber. Dasselbe gilt von den epistolae ex Ponto, die sonst nüchterner und notizmäßiger sind. Dieser Trias der großen römischen Elegiker ging Catull voraus in noch ungeschulter Nachahmung griechischer Muster. Zahlreiche Nachdichtungen der klassischen Elegie, deren Bedeutung mit ihnen erlosch, geben neulateinische und italienische Poeten. Jn neuester Zeit hat Goethe in den römischen Elegieen den Ton des Properz mit bewundernswerther Sicherheit getroffen, August Wilhelm Schlegel in seiner Elegie Rom und Schiller in seinem Spaziergang die antiken Distichen, jener zur Darstellung welthistorischer Trauer, dieser zu einer an wechselnde Bilder anknüpfenden Reflexion im Geiste der alten Elegiker kunstvoll benutzt.

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2. Romanische und orientalische Lormen.

Neben dem einfachen Liede schufen die provençalischen Sänger in ihren Sirventes, die anfangs in der vielgestaltigen und vielfach wechselnden Form der Kanzone abgefaßt waren, eine Dichtform, in welcher die Reflexion vorwog, und welche der kriegerischen und politischen Elegie der Griechen, wie der erotischen der Römer entsprach. Hier begegnen wir wieder der politischen Lyrik, wir sehn die Troubadours unmittelbar aus dem frischen Leben, den Bewegungen und Kämpfen ihrer Zeit heraus dichten, oft in herbem, bitterm, herausforderndem Ton, stets aber mit derselben Hingabe an das naheliegende historische Ereigniß, mit welcher sie die Abenteuer der Liebe feierten. Die Grenze zwischen Lied und Elegie ist hier nicht leicht zu ziehn; doch gehören wohl alle Gedichte mit kunstvollerer Strophen - und Reimbildung, wo die Reflexion, das politische Pathos oder die Ausmalung der Situation überwiegt, in die letztere Gattung. Hierher müssen wir ohne Frage die Tenzonen (Streitgedichte) rechnen, und die Sirventes (Dienstgedichte), in denen die Troubadours anfangs die Huld der Damen und Fürsten feierten, welchen sie ihren Dienst gewidmet, bis diese Gedichte im Verlaufe der Zeit das Lob in Tadel verkehrten und einen strafenden, den Verfall der Verhältnisse beklagenden Ton annahmen. Der liebefeindliche Marcabrun eröffnet die Reihe der politisch-kriegerischen Elegiker mit einem Aufrufe zum Kampfe gegen die Saracenen in Spanien in schwerfälligen Versen und gesuchten Reimen; Guiraut von Borneil beklagt in drei Sirventen den Verfall des geselligen Lebens, die Trägheit und Rohheit des Adels, rühmt die schönere Vergangenheit und verwebt ein Lob des Königs Richard Löwenherz in seine wahrhaft elegischen Klänge; der kriegerische, von Dante hochgestellte Bertrand de Born feiert mit Behagen die Kampf - und Raublust seiner verwilderten Zeit, in deren Händel er verstrickt war; Trotzlieder gegen die Feinde, Gesänge voll aristokratischen Stolzes, in denen er nach Art des Theognis die niederträchtigen Reichen, die mit dem Adel zu streiten wagen geißelt, finden sich zahlreich unter seinen hinterlassenen Werken; Pons von Capdueil dichtet, mit mehr Beruf als neuerdings Redwitz, Kreuzlieder voll edler Beredtsamkeit, am feurigsten aber geißelt Peire Cardinal in seinen Sirventes den Uebermuth der Großen und der Priester mit rhetorischem320 Schwung, doch so, daß die Reflexion die Schilderung ganz in den Hintergrund drängt. Jn erotischen Kanzonen zeichneten sich der durch sein tragisches Schicksal bekannte Guillem von Cabestaing aus, der überspannte und eingebildete Peire Vidal feiert in einem Kanzonencyklus, der sich um einen geraubten und einen bewilligten Kuß dreht; Peirol, Arnaut Daniel, Gaucolm Faidit und Andere.

Der Mittelpunkt der italienischen erotischen Dichtung ist Francesco Petrarca, der das von Guittone von Arezzo erfundene Sonett zur größten Vollkommenheit, Weichheit und Harmonie durch die ängstlichste Feile ausbildete. Das Sonett wurde durch ihn zur allgemein gültigen Kunstform der italienischen Lyrik. Die einfache Jnnigkeit des Liedes, der Aufschwung der Ode war für diese Form unmöglich. Deshalb konnte in Jtalien nur die lyrische Reflexion gedeihn, die sich bei minder begabten Geistern durch den spielenden Reimklang zu Tändeleien und Künsteleien verleiten ließ, den Gedanken über das Maaß ausdehnte oder verstümmelte, um ihn in diese Dreizehnzeiler einzuzwängen. Petrarca selbst, ein eitler, um Gunst und Ruhm buhlender, wenn auch vielseitig gebildeter Geist, ist in seinen berühmten dreihundert Sonetten und Kanzonen an seine Laura von Vaucluse von einem gesuchten und gezierten Scholasticismus der Empfindung, von mannichfachen rhetorischen Kunststücken und Wortspielen, von übertriebenen Bildern und von einer großen Monotonie der Darstellung nicht freizusprechen. Die Anschaulichkeit der antiken Elegiker fehlt ihm ganz und gar; er weiß uns durch keinen Wechsel der Situation zu erquicken; die Reflexion brütet schattenhaft über den in's Weite ausgesponnenen Empfindungen! Wie ganz anders der energische, plastische Dante in seiner Vita nuova! Von den Vorgängern verdient vorzugsweise Guido Cavolcanti ( 1300), ein philosophisch gebildeter, inhaltsvoller Dichter, Erwähnung. Zu Petrarca's Nachfolgern aber sind mit wenigen Ausnahmen fast alle Vertreter der italienischen Lyrik zu rechnen, die meistens ohne seine Eleganz und mit Uebertreibung seiner Schwächen eine Fluth von Sonetten, Kanzonen, Terzinen heraufbeschworen, deren Gedankenarmuth durch den studirten Pomp der Form nicht verdeckt wird.

Eine ganz einsame Stellung unter den italienischen Lyrikern nimmt der Philosoph Campanella ( 1639) ein, der unter dem Namen321 Settimontano Squilla Sonette und Kanzonen voll hoher Gedanken und edelster Begeisterung dichtete.

Die spanische Lyrik war nicht so, wie die italienische, in den Formen der Reflexion aufgegangen; sie hatte Lied und Romanze, wie wir gesehn, in originell-nationalen Klängen ausgebildet. Doch konnte sie dem Andrange der italienischen Reimformen im 16. Jahrhundert nicht widerstehn. Die altspanische Glosse war eine dem Charakter elegischer Reflexion günstige Form, indem sie die Variationen der Empfindung und die Rückkehr zum Grundthema deutlich ausprägte. Gegen die eindringende italienische Form des Petrarca kämpfte Christoval de Castillijo ( 1596) vergebens an. Luis Gongora de Argote ( 1627) bildete einen affektirten Styl, estilo culto, in welchem er seine Einsamkeiten und seinen Polyphem dichtete. Hier kleidete sich die Reflexion in eigenthümlich verkünstelte und verzerrte Satz - und Sprachformen und suchte überdies in Art und Weise der Alexandriner durch mythologische Gelehrsamkeit zu glänzen. Von den Sonettisten, welche den Namen Concettisten von dem italienischen concetti, dichterischen Gedanken, annahmen, erwähnen wir Juan Boscan, Garcilaso de la Vega, Montemayor u. A. Jn der neuen Zeit hat die salmantinische Dichterschule, an ihrer Spitze Melendez Valdes, der spanischen Lyrik wieder einen nationalen, von französischen und italienischen Einflüssen unabhängigen Boden erobert und auch auf dem Gebiete der Reflexionspoesie manches Treffliche geleistet. Die portugiesische wird am glänzendsten durch den großen Epiker Luis Camoëns in Sonetten, Kanzonen u. s. w. vertreten. Von der orientalischen Lyrik hat vorzugsweise die arabische jenen Charakter, welcher unserer Begriffsbestimmung der Elegie entspricht. Ein kriegerisch bewegtes, thatkräftiges Leben und feuriges Lieben gab der Schilderung reichhaltigen Stoff, während auf der andern Seite die kahle Natur mit ihren endlosen Wüsten und schroffen Felsen das Gemüth zur beschaulichen Einkehr in das eigene Jnnere einlud. Schon die altarabischen Moallakats, in denen die Schilderung noch überwiegt, sind hierher zu rechnen; auch in der großen und kleinen Hamasa, den Sammlungen altarabischer Volkslieder, ist manches der reflektirenden Gattung angehöriges Gedicht enthalten. Der größte elegische Dichter der Araber ist jedoch Motenebbi ( 965),322 dessen Reflexion von tiefsinnig brütendem Charakter allerdings oft einen gesuchten und unklaren Ausdruck annahm, so daß der arabische Kunstrichter Tsaâlibi von ihm sagt, er sei eine Braut von blendender Schöne, die aber täglich die fallende Sucht bekomme.

3. Die moderne Reflexionspoesie.

Die neue Zeit hat nach außen hin viele Perspektiven eröffnet, die Welt der Erscheinung in ihrem tieferen Zusammenhang ergründet, ein reiches geschichtliches Material angehäuft, durch die Gedankenarbeit bedeutender Geister metaphysische Tiefen enthüllt, in welche auch die kühnere Jntuition der Dichter herabsteigen konnte. So gewannen die beiden Seiten der Elegie, die Schilderung und Betrachtung, an Ausbreitung und Gehalt. Sie wurde die Dichtform, welche den ganzen Reichthum eines weltumfassenden Genius in sich aufnehmen konnte. Wohl hat sich gegen ihre Koryphäen, einen Schiller, Byron und Victor Hugo, oft die einseitige Anklage des Rhetorischen erhoben, die aus der Verkennung des Wesens der Elegie und aus der verkehrten Beschränkung der Lyrik auf das Lied hervorging. Die erotische Poesie der Neuzeit hat sich freilich vorzugsweise in das Lied geflüchtet. Dagegen hat sich die Elegie gerade für die tieferen Fragen des Gedankens, für alle die Neuzeit bewegenden Probleme, die in Fleisch und Blut, in ihre unmittelbare Begeisterung übergegangen, als die geeignete Kunstform bewiesen.

Mit dem Wiedererwachen der deutschen Poesie im 17. Jahrhundert wurde auch die Elegie alsbald angebaut. Martin Opitz dichtete Elegieen vom Abwesen seiner Liebsten, Paul Flemming an sein Vaterland, ein Klagschreiben Germaniens an ihre Söhne, die Kurfürsten und Stände von Deutschland, voll patriotischen Schwunges. Hofmannswaldau, eines der Häupter der zweiten schlesischen Dichterschule, folgte in seinen Heldenbriefen dem Muster des Ovid; doch ging bei ihm der Ton der Empfindung unter spitzfindigen Wendungen und einem gesuchten Pomp des Ausdrucks verloren.

Jm 18. Jahrhundert nahm die Elegie einen vorzugsweise idyllischen Charakter an, wofür die englischen Muster tonangebend wurden. Gray's ( 1772) Elegie auf einem Dorfkirchhofe und Oliver Goldsmith's ( 1774) Gedicht: das verlassene Dorf wirkten auf323 die deutsche Muse ein und fanden ihren Wiederklang in Hölty's: Schwermuthsvoll und dumpfig hallt Geläute. Auf landschaftlichem Hintergrunde trugen Salis und Mathisson ihre Klagen um die entschwundenen Spiele der Kindheit oder die Ruinen des Mittelalters auf, während Tiedge in seiner Urania sich über Gott und Unsterblichkeit vom Standpunkte thränenreicher Empfindung unter dem Schatten der Trauerweiden in weitschweifigen Ergüssen erging. Von dieser threnodischen Richtung befreiten erst Goethe und Schiller die deutsche Elegie; jener, indem er die üppigen Ranken kecker Sinnlichkeit um Roms welthistorische Trümmer schlang und einen Properzischen Liebesroman in anmuthige Distichen bannte; dieser, indem er den reichen Jnhalt seines Geistes in einer volltönenden Lyrik mit leisem elegischem Anhauch ausbreitete. Jn den Göttern Griechenlands tönt die Klage um eine versunkene Götterwelt, um die antike Beseelung der Natur, aus einem nüchternen, deistisch aufgeklärten Zeitalter; in der Resignation wird wehmüthiger Verzicht geleistet auf das Arkadien des Glaubens und Hoffens, auf den Traum der Unsterblichkeit; in den Jdealen wird die rauhe Wirklichkeit angeklagt, welche das glühende Herz des Jünglings um Liebe, Glück, Ruhm und Wahrheit betrogen und ihm Nichts gelassen, als die zarte Hand der Freundschaft und die nie ermattende Beschäftigung. Das schwere Traumbild des Erdenlebens, den trüben Sturm des Jammers löst der Dichter in der reinen ästhetischen Harmonie auf (das Jdeal und das Leben). Jm Spaziergang knüpft er an wechselnde Natur - und Landschaftsbilder ebenso tiefe wie schöne Gedanken über das moderne Leben und seine geistigen Beziehungen und tröstet sich über den Wechsel der geschichtlichen Thaten mit der wandellosen Harmonie der Natur. Derselbe Hauch träumerischer Wehmuth ist über die sonst klar ausgeprägten Reliefbilder des bürgerlichen Lebens im Liede von der Glocke ergossen und zieht sich durch die antikisirenden Studien, die Klage der Ceres und das Siegesfest, in welchem die Grundstimmung des Dichters einen bezeichnenden Ausdruck fand:

Rauch ist alles ird'sche Wesen,
Wie des Dampfes Säule weht
Schwinden alle Erdengrößen.
324

Gegen die Hoheit Schiller's, gegen seinen Adel und die ergreifende Kraft einer in ihren Tiefen erzitternden Seele nehmen sich die Elegieen und Sonette der Schlegel und der romanische Formenklingklang der Romantiker schwächlich genug aus. Erst der neuesten Zeit war es vorbehalten, die deutsche Gedankenpoesie wieder zu Ehren zu bringen. Vorzugsweise hat die österreichische Lyrik jenen träumerischen Ton angeschlagen, welcher Bild und Reflexion in dämmernder Beleuchtung vermählt. Threnodisch austönend am Grabe geschichtlicher Größen sind die Todtenkränze, Kanzonen von Joseph von Zedlitz; auf reichem Bildergoldgrund trug Anastasius Grün im Schutt seine zwischen dem Grab der alten und der Wiege der neuen Zeit hin und her gehenden Reflexionen auf; Nicolaus Lenau schaut überall im Spiegel der Natur nur die Züge seines melancholisch brütenden, von unsteter Skepsis hin und her getriebenen Geistes und leiht der sinnenden Melancholie einen unnachahmlichen Zauber; Carl Beck knüpft an lebendig kolorirte ungarische Genrebilder, an die Schilderung Wiens und der Wartburg im fahrenden Poeten die Träume eines zerfallenen Gemüthes und einer unbestimmten Sehnsucht, für die Menschheit zu wirken, für die noch wärmer Alfred Meißner's dichterische Pulse in den Trümmern schlagen. Doch auch andere Dichter haben diese Richtung fortgebildet. Platen feiert die Lagunenstadt in marmorschönen Sonetten; Freiligrath erhellt plastisch und energisch ausgeprägte Bilder mit der düster-flackernden Gluth revolutionairer Begeisterung. Franz Dingelstedt bewährt sich im Roman als moderner Tibull und dichtet eine frisch aus dem Leben gegriffene Liebeselegie, in welcher die jüngste blasirte Kultur der Gesellschaft und die exotische Natur in einem eigenthümlich wehmüthigen Kolorit verschmelzen. So meisterhaft Goethe's römische Elegieen sein mögen, so zeigt uns doch diese erotische Elegie Dingelstedt's, daß auch ohne strenge Nachahmung der Antike der moderne Geist Elegieen schaffen kann, die der klassischen Vorbilder würdig sind. Hierher gehören auch die Sonette und einige andere Gedichte Herwegh's, wie z. B. auf den Bergen mit seiner innigen Todessehnsucht, Max Waldau's sorgsam gefeilte Kanzone: O diese Zeit, welche über die darniedergetretenen Hoffnungen der Gegenwart klagt, und viele herrliche Dichtungen Emanuel325 Geibel's, mag dieser Dichter nun im Lübecker Rathskeller mit Jürgen Wullenweber und Marcus Mayer Gestalten aus Deutschlands großer Vergangenheit heraufbeschwören und den Helden der Hansa gegenüber um die verkümmerte Gegenwart trauern, oder im Thurmbau zu Babel dem zerfahrenen, vom Zorn des Herrn auseinander gescheuchten Geschlecht ein Denkmal setzen, oder im Bildhauer Hadrian's die halt - und glaubenslose und darum auch für die Kunstgestaltung spröde Zeit anklagen. Für die Passionsgeschichte der Menschheit errichtet Hermann Lingg mit düsterer Energie seine lyrischen Stationen, malt z. B. im schwarzen Tod mit der Kraft Dante'scher Anschauung und zeigt in seinen Reflexionen eine schwunghaft aus den Tiefen kommende Weltanschauung.

Die Entwickelung der englischen Reflexionspoesie seit Sidney, Spencer und Cowley zu verfolgen, liegt außerhalb unserer Aufgabe. Wir erwähnen nur ihre Spitzen: Lord Byron und Shelley. Jener, Englands größter Lyriker, was die lodernde Pracht des Kolorits und den hinreißenden Schwung einer mit dem Weltgeschick rechtenden Reflexion betrifft, hat in Childe Harold's Pilgerschaft an eine Fülle europäischer Landschaftsbilder, die mit gleicher Vollendung ausgeführt sind, mag der Dichter auf dem honigreichen Hymettos oder dem weitschauenden Sunium um Attikas verlorne Herrlichkeit trauern oder auf dem Rialto um Venedigs versunkene Pracht oder ein Gewitter im Jura schildern, jene Betrachtungen geknüpft, die seinem durch Genuß erschöpften und doch nach ihm lechzenden Gemüthe, einem mit dem Weltlauf zerfallenen und doch von Thatendurst verzehrten Geist, der seinen Schmerz in vornehm nachlässiger Stellung kokett zur Schau trägt, einen eigenthümlichen und unverkennbaren Stempel aufdrücken. Noch imposanter erscheint die Grundstimmung Shelley's, der in seiner Königin Mab und andern Gedichten durch alle skeptischen Anwandlungen hindurch leidenschaftlich nach einer geahnten Harmonie strebt, deren schwunghafte Verkündigung ihn aber mit dem Glauben und den Satzungen der Gesellschaft in einen neuen, nicht auszugleichenden Widerspruch setzt. So geht die Klage über die unlösbaren Verwickelungen des Denkens und Lebens durch seine oft phantastischen, stets seelenvollen Gedichte. Neben diesen Heroen verdient noch Thomas Campbell ( 1844) wegen326 seiner schönen Elegie auf die Schlacht von Hohenlinden rühmende Erwähnung. Wie Byron und Shelley unter den englischen, so ragen Victor Hugo und Alphons de Lamartine unter den französischen Reflexionspoeten hervor. Victor Hugo in seinen Voix intérieurs, in den chants du crépuscule und in den feuilles d'automne, Lamartine in den méditations und harmonies réligieuses erschöpfen nach zwei Seiten hin die französische Reflexions-Lyrik. Jener ist pomphaft, prächtig, grandios in Anschauungen, Bildern, Diktion; dieser weich, schmelzend, träumerisch zerflossen; jener reich an unnachahmlichem Wohllaut in wechselnden Rhythmen, dieser von einförmigem Tonfall; jener weiß die eigene Stimmung und die Stimmung der Zeit zu einer melancholischen Harmonie zu verschmelzen; dieser flüchtet sich unter die fleckenlosen Engelsfittige der Religion aus allen Trübungen der Gegenwart. Der Herbst und die Dämmerung sind die Symbole für Victor Hugo's Stimmung, der mit dem Griffe des Genies Naturbild und Empfindung, das geschichtliche Bild und den Gedanken verschmilzt. Lamartine dagegen greift aus seiner anachoretischen Einsamkeit nur nach den Bildern der Erde, um seiner seraphischen Gefühlsverklärung einen Halt, seiner hin und her rankenden Empfindung eine Stütze zu geben. Als dritter ist Alfred de Musset zu nennen, welcher der Elegik der verlornen Seelen einen oft wüsten und pikanten Ausdruck gab, dessen Nachklänge sich in Deutschland bei Alfred Meißner und Franz Dingelstedt finden.

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Zweites Hauptstück. Die epische Dichtung.

Erster Abschnitt. Wesen des Epos.

Das lyrische Gedicht wird aus der unmittelbaren Gegenwart herausgedichtet; das epische beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Jn allgemeinster Fassung ist das Epos die dichterische Erzählung einer vergangenen Begebenheit. Da der Dichter sich nicht in der augenblicklichen Erregtheit des Herzens befindet, da die Handlung, die er darstellt, als eine vergangene bereits durch die Zeit einen beruhigenden Abschluß gewonnen: so tritt hier das Subjekt des Dichters mehr zurück, und seine Kunst besteht darin, die Handlung sich in größter Objektivität vor unsern Augen entwickeln zu lassen. Der lyrische Dichter verzehrt sein Objekt in der Flamme der Begeisterung; der epische verschwindet hinter seinem Objekt, das seine nachhaltige Begeisterung trägt und belebt.

Die epische Handlung unterscheidet sich von der dramatischen, indem sie nicht wie diese aus der auf die Spitze gestellten innern Entscheidung des Helden hervorgeht, sondern mehr durch das Zusammenwirken der Verhältnisse, durch den Weltlauf selbst hervorgerufen wird und sich wieder weithinein in alle Lebenszustände verzweigt. Die dramatische Handlung ist ein stolzer Ausfluß menschlicher Selbstbestimmung, ihrer Konflikte, ihrer Krisen. Jm Drama ist alles That, freier Akt des Willens; das Walten der Naturmächte ist ausgeschlossen. Jm Epos dagegen ist das menschliche Handeln mit hineinverflochten in den ruhigen Verlauf der Weltgesetze, verkettet in alle Bedingungen des Alls. Jm Drama herrscht328 die menschliche Freiheit, im Epos die Naturnothwendigkeit. Jm Drama giebt es nur einen Brennpunkt der Handlung, den Willen des Menschen; alle elementaren Mächte sind ausgelöscht, das Universum ist zur Koulisse, zur Dekoration geworden. Jm Epos handelt der Mensch als Mikrokosmus, als kleine Welt, welche die große spiegelt. Die dramatische ist ein gewaltiger Durchbruch aus der Tiefe; die epische ein stetiger Verlauf, ein organisches Wachsthum. Die dramatische Handlung ist That, die epische Begebenheit.

Doch wenn sich das Epos nach der einen Seite scharf vom Drama unterscheidet, so drohn auf der andern seine Grenzen mit denen der Geschichtschreibung zu verschmelzen. Die Geschichte schildert den stetigen Verlauf der Ereignisse, wie sie sich unter den elementaren Einflüssen, dem Eingreifen des Zufalls, der zwingenden Nothwendigkeit zu festem Gesetze gewordener Verhältnisse gestalten. Doch das Epos ist ein Kunstwerk, welches als solches ein harmonisches Ganze sein muß. Die Handlung des Epos wird deshalb, bei aller fortschreitenden Stetigkeit, nicht in dem breiten Strom der Geschichte verschwimmen, sondern eine innere Einheit haben, minder straff, minder central, als die Einheit des Dramas, aber doch mit Grenzen, die aus seinem Wesen hervorgehn und nicht nach Belieben festgesetzt werden können. Die Handlung des Epos ist wohl elastisch und dehnbar, aber nicht zerfließend und in's Maaßlose auflösbar. Die epische Handlung ist eine, aber ein Segment aus der Geschichte, welches, trotz seiner Grenzen, die Breite des ganzen Kreises in sich aufnimmt. Die Einheit wird erreicht, wenn die epische Handlung einen bestimmten und lebendigen Zweck hat, auf den sie zwar nicht mit dramatischer Energie loseilt, der aber immer das schöne Ziel ihrer organischen Entfaltung bleibt. Dies Ziel ist gleichsam die Krone des Baumes, hoch und voll zugleich, zu welcher nicht blos der Stamm emporstrebt, sondern welche auch die zahlreichen Aeste und Zweige in schöner Rundung zu bilden suchen. Jn der That erinnert das Volksepos des Homer und der Nibelungen durch seine tiefgehenden Wurzeln, seinen starken Wuchs, seine ruhige Entfaltung, seine weitverzweigte Fülle und die liebevolle Gastlichkeit gegen alles Leben der Welt an eine majestätische Eiche. Das Ziel der Homerischen Epopöen ist von Anfang an klar! Homer schildert nicht den trojanischen Krieg, sondern nur eine bedeutsame Episode aus demselben,329 den Streit des Achilleus und Agamemnon, den Zorn des Peleiiden, das Unheil, das den Achaiern aus ihm erwächst, das Hervorlocken des Löwen aus seiner Höhle, seinen siegreich rächenden Hervorbruch; aber in dieser Episode spiegelt sich die Weltweite jener kriegerischen Unternehmung und in Hektor's Fall der künftige Fall Jliums. Noch bestimmter ist das Ziel der Odyssee die Rückkehr des Odysseus in sein Erbe, zu seiner Gattin, seine Rache an den Freiern, das Ziel der Aeneis die Landung des Helden in Latium, die Stiftung des künftigen Weltreiches. Auch Tasso's befreites Jerusalem zeigt von Hause aus das Ziel an, auf welches die Handlung in breiter massenhafter Entfaltung hinschreitet. Jn den modernen Romanen, in denen die Bildungsgeschichte des Einzelnen den Jnhalt bildet, im Titan, Wilhelm Meister, den Epigonen von Jmmermann ist ein bestimmter, beruhigter Abschluß dieser Bildung das Ziel; in den Rittern vom Geiste die Gründung des humanen Weltbundes. Das alte Grundgesetz, das die künstlerischen Schöpfungen des Homer beherrscht, behauptet noch immer für alle epischen Dichtungen der Gegenwart seine Giltigkeit, und die Verstöße gegen dasselbe, gegen das bestimmte, lebendige Ziel der epischen Handlung, sind in alter wie neuer Zeit der künstlerischen Haltung verderblich gewesen. Schon die cyklischen Dichter verfielen in eine historische und biographische Weitläufigkeit, welche die schönen Grenzen des Kunstwerkes zerstörte. Der Dichter der Kypria beginnt mit der Hochzeit der Thetis und der Erzeugung der Helena; die kleine Jlias gruppirt um die Zerstörung Troja's eine große Menge selbstständiger dramatischer Handlungen, eine Mosaik von Episoden. Die Gudrun beginnt gar mit der Beschreibung der Geschicke, welche der Großvater der Heldin als Kind erduldet und der sagenhafte Greiffenraub ist nicht blos als Vignette behandelt. Ja bis in die neueste Zeit hinein, bis auf Brachvogel's Friedemann Bach, bis auf Steffens 'historische Romane, ist die historische und biographische Breitschlagung des epischen Stoffes von ungünstigstem Einfluß auf die künstlerische Vollendung des Dichtwerkes gewesen.

Jm Drama bewegt sich der Punkt als Linie, im Epos die Linie als Fläche. Die Bewegung des Epos ist eine breite und massenhafte. Der Feldherr tritt mit seinem Heere auf; der epische Held ist primus inter pares. Die äußere Welt der Natur und Kultur ist nicht bedeutungsloser330 Hintergrund; das Epos ist wesentlich Kulturgemälde. Doch auch die Naturschilderung ist, nach den früher aufgestellten Grundsätzen, berechtigt, die elementaren Mächte, Stürme, Seuchen u. s. f. spielen eine große Rolle im Epos. Homer ist ein Meister in der Schilderung des Seesturmes, er hat dem bewegten Leben des Meeres alle Geheimnisse, alle Farben abgelauscht. Schwächer ist diese Seemalerei in dem nordischen Seeepos: Gudrun, während sie in der Luisiade des Camoëns ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht. Doch es finden sich auch bei Homer Stellen, welche an die Landschaftsmalerei der modernen Romane erinnern. So z. B. beschreibt er die Umhegung der Grotte der Kalypso mit Erlen, Pappeln und Cypressen, den in üppigem Wuchs rankenden Weinstock, die vier Quellen, die ihr blinkendes Wasser durch schwellende Wiesen, reich an Violen und Eppich, in schlängelndem Lauf ergießen. Doch um das Landschaftsbild zittert der Hauch einer epischen Stimmung, wie wir es nennen möchten! Der Epiker malt, ohne lyrische Ausführung, ein Bild, dessen Bedeutung wir erst erfassen, wenn wir zu seiner Ergänzung den auf Felsen und sandigen Dünen sitzenden Odysseus in's Auge fassen,

Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend
Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend.

Die Grotte der Kalypso fesselt den Dulder nicht; er flieht aus ihrer reizenden Umgebung an das öde Gestade des Meeres, um sich dort ganz seiner Sehnsucht nach der Heimath hinzugeben. Der Lyriker hätte diesen Gegensatz mit reichen Farben ausgemalt; der Epiker stellt beide Bilder selbstständig hin und erhellt das eine durch das andere. Diese Grotte der Kalypso wurde später mehrfach von den Epikern nachgeahmt, am ausführlichsten von Tasso im Zaubergarten der Armida. Einen solchen Bezug auf die Seele des Menschen muß aber das Landschaftsbild in der epischen Dichtung immer haben. Wie charakteristisch sind Ossian's thauschwere, grasige Hügel, blaue Ströme und Gewässer, dunkle Schatten des Herbstes, obwohl bei ihm oft schon die epische Stimmung in's Lyrische zerfließt. Auch in Jean Paul's Romanen malt sich die Landschaft nur in der Seele des Helden, wie in einer camera obscura mit eigener magischer Beleuchtung. Breitere Schildereien ohne solche tiefere Beziehung, zu denen die Engländer neigen, seit Thomson's Zeit bis in ihre331 neuesten Romane, haben wir mit dem beschreibenden Gedichte bereits als einen epischen Auswuchs, einen Gallapfel an der Eiche des Epos, getadelt. Das Epos muß als Kulturgemälde das ganze sociale Leben seiner Zeit in sich aufnehmen! Glücklich wenn dies so einfach ist, wie in der Homerischen Zeit, wo die Helden selbst beten und schlachten, die Fürstinnen spinnen und weben und die Wäsche im Strom besorgen. Der Schild des Achilleus ist solch ein orbis pictus der Homerischen Kulturwelt! Hochzeit, Prozeß, Kriegswesen, Ackerbau, Weinbau, Viehzucht, Tanz das alles finden wir auf diesem Werke des Hephästos. Diese kulturgeschichtlichen Arabesken schweifen um beide große Epopöen; bis in die innersten Gemächer des Hauses, ihre Einrichtungen, Bad und Schlafstätte und jede Geräthschaft verstattet uns der Dichter den klaren Durchblick! Jn einer Zeit höchst verwickelter Kulturverhältnisse dagegen, wie die unsrige, kann der epische Dichter nicht erschöpfend sein wollen hier muß er eine Grenze einhalten, über welche hinaus es mißlich wäre, sich in das Detail zu verlieren! Die Kultur der Homerischen Helden wird vor unsern Augen von ihnen erschaffen; sie ist ihre eigene volle Thätigkeit! Götter schmieden die Geräthschaften des Krieges und Friedens; die Helden schlachten und speisen! Bei uns ist durch die Theilung der Arbeit das Kulturprodukt niemals die schöpferische That eines einzelnen ganzen Menschen, sondern aus einer getheilten Mühe hervorgegangen, die nur einen Theil des Werkes überschaut! Handwerk, Jndustrie, selbst das Staatsleben in Gestalt der Bureaukratie hat eine ausgebildete Technik! Wo sich aber noch einfache Verhältnisse finden: da stehn ihre Vertreter nicht auf der Höhe der Bildung, und ein Jmmermann'scher Dorfschulze, der einen Wagen anspannt, kann uns nicht wie ein Homerischer Held interessiren, der in jeder Beziehung der erste seines Volkes ist. Der realistische Roman der Neuzeit hat in dieser Beziehung die Grenzlinien des guten Geschmackes bei weitem überschritten; er hat sich in eine technische Detailmalerei vertieft, welche allen poetischen Aether verdunsten läßt. Gotthelf schildert uns mit großer Ausführlichkeit die Stallreinigung, das Mist zusammenkehren u. dergl. m. ; Otto Ludwig malt uns das technische Geräthe, die technische Arbeit eines Schieferdeckers mit einer objektiven Treue, die aber mehr an jene Beschreibungen der verschiedenen Handwerke erinnert, welche den betreffenden Bilderbogen für Kinder beigefügt sind. Ein Zug332 aus dieser bestimmten Thätigkeit heraus würde an der geeigneten Stelle das epische Lebensbild glücklich beleuchten! Jndem die Dichter aber mehr geben wollen, versetzen sie uns in eine Prosa der äußerlichen Zweckmäßigkeit, in welcher das allgemein menschliche Jnteresse aufhört; sie werden beschreibend und didaktisch im Sinne jener bekannten Lehrgedichte über das Schach, die Siphylis u. s. f., deren Poesielosigkeit gerade in der Detailmalerei einer technischen, medizinischen oder sonstigen Spezialität besteht! Aehnlich verhält es sich mit den ausgeführten Kostumbildern in den historischen Romanen. Die Kleidung kann charakteristisch sein für die Kultur einer bestimmten Zeit, für das Eigenthümliche einer bestimmten Persönlichkeit! Dann aber genügt das Hervorheben des Charakteristischen, nicht die beliebte ausführliche Schilderung des Anzugs von Kopf zu Fuß, wie es nach Walter Scott's Vorgang zur Mode geworden. Die Kultur unserer Zeit ist vorzugsweise eine geistige und wenn eine Reaktion dagegen das echt Menschliche im Kreis einer unfertigen Bildung sucht, in welcher die derbe Außenseite des Lebens sich kräftiger hervordrängt, so ist diese Reaktion, trotz ihres anscheinend frischen und aromatischen Heugeruchs, nicht von geistiger Rohheit freizusprechen. Justiz, Regierung, Polizei gehören ebenso wie Landwirthschaft und Jndustrie zum Kulturgemälde unserer Epoche, welches erst die Verschiedenheit der theologischen und politischen Meinungen, die ständische Gliederung u. s. f. vollendet. Deshalb bleiben Gutzkow's Ritter vom Geiste, in denen unsere sociale Welt nach allen ihren Richtungen geschildert wird, ein großartiges episches Kulturgemälde unseres Jahrhunderts. Dabei verfällt Gutzkow nie in die Barbarei geist - und interesseloser Schilderungen einer leeren Aeußerlichkeit. Wir haben gesehn, welche Breite des Lebens und der Welt die epische Handlung in sich aufnimmt; es entsteht jetzt die Frage, welches ihr Hauptinhalt ist? Dem Konflikt der einzelnen Charaktere, den das Drama behandelt, entspricht im Epos der Konflikt der Massen, der Völker. Der Kriegszustand zweier Nationen ist daher in den alten Volksepopöen der Kern der epischen Handlung. Auch die Geschicke des Odysseus und Aeneas knüpfen sich an den Völkerkampf vor Jlium. Jm Mahabharata kämpfen zwei indische Fürstengeschlechter, die Kuruinge und Panduinge miteinander, im großen Epos des Firdusi handelt es sich um den Kampf zwischen Jran und Turan, dem Reiche des Lichtes und333 der Finsterniß. Ossian's Fingal und Temora schildern den Krieg zwischen irischen und schottischen Heldenstämmen; Tasso's befreites Jerusalem den Kampf zwischen den christlichen Kreuzfahrern und den Saracenen.

Wenn das Epos indeß aus den großen Völkerkämpfen hervorgegangen, so wäre doch eine Beschränkung der epischen Dichtung auf Nationalkriege nur eine einseitige und engherzige Auffassung. Wir müssen sie dahin erweitern, daß die Handlung des Epos immer einen in's Breite gehenden, einen auf die dramatische Spitze gestellten Kampf darstellt, mag dieser Kampf nun äußerlich, mit den Waffen in der Hand, in der Ausdauer bei steter Mühsal, oder innerlich im Reiche der Bildung durchgefochten werden. Die Jrrfahrten eines Odysseus, eines Aeneas und ihrer Genossen, die Abenteuer der Ritterdichtungen und des Ariosto entfalten uns ebenfalls eine Welt von Kämpfen; es sind die Götter, die Riesen, die elementarischen Mächte des Meeres und des Sturmes, mit denen die Helden in rastloser Arbeit ringen. Diese Kämpfe sind episch, ungeeignet für den Dramatiker. Eine alte und neue Epoche kämpfen miteinander der Epiker kann uns diesen Kampf ironisch schildern, wie Cervantes in seinem Don Quixote; er kann ihn uns in großartiger Entwickelung vorführen, wie Gutzkow in den Rittern vom Geiste; aber niemals darf dieser Kampf zu letzter Entscheidung, zu radikalem Bruche im Geiste eines Einzelnen gelangen die Sokrates, Mahomet und Luther sind dramatische Helden. Auch die Bildungsgeschichte eines Einzelnen, wie z. B. des Wilhelm Meister, kann den Mittelpunkt einer epischen Dichtung bilden dann kämpft aber dieser Held gegen Verhältnisse, Zustände, Geschicke, die ihm theils gegeben sind, die er theils sich kämpfend schafft, die aber eben die Elemente seiner Entwickelung bilden. Jmmer gehorcht der epische Kampf den Entscheidungen eines Schicksals, das, wie wir später sehen werden, nicht einer dramatischen Schuld auf dem Fuße folgt, nicht aus einem dramatischen Konflikt herausgeboren wird, sondern nach Vischer's vortrefflicher Bezeichnung das tragische Gesetz des Universums ist.

Jm Zusammenhang damit steht die Art und Weise der epischen Charakteristik, die an ihrem Helden eine Fülle von Eigenschaften entwickeln kann, da sie ihn in zahlreichen Beziehungen zu einer vielgegliederten Welt zeigt. Einen Haupthelden hat das Epos so gut wie das334 Drama; aber der Held des Epos geht mit der Masse, der Held des Drama's isolirt sich. Ein Reformator z. B., welcher aus sich heraus, im Gegensatze gegen die anerkannten Autoritäten oder die öffentliche Meinung seines Jahrhunderts, eine neue Aera des Geistes heraufführt, ist niemals ein epischer Held. Um den Haupthelden gruppiren sich im Epos die andern in einer pyramidalen Gruppe; er ragt nur einen Kopf hoch über sie hervor. Die Gliederung der Gruppe selbst muß das Werk einer planvollen Kunst sein, welche indeß die Schärfe des dramatischen Kontrastes vermeidet! Der Kontrast der epischen Charaktere ist schon deshalb ein sanfterer, weil im Drama die Charaktere, bei der Verfolgung ganz bestimmter Zwecke, gleichsam mit ihrer Schneide scharf aufeinandertreffen, während im Epos die vielseitig entwickelten Charaktere in umfassender Lebensentfaltung mehr Berührungspunkte haben. Das Drama liebt scharfe Zuspitzung, das Epos harmonische Abrundung. Schon die reicheren Mittel, welche dem Epiker zur Zeichnung der Charaktere zu Gebote stehn, schon die behaglichere Ausführung, die ihm verstattet ist, unterscheiden seine Art und Weise zu charakterisiren wesentlich von der des Dramatikers. Der Zorn des Achilleus wäre als charakteristisches Motiv für diesen nur im raschen Auflodern des Augenblickes verwendbar, während Homer, in direktem Gegensatze gegen den Dramatiker, gerade den thatlos trotzenden Groll des Myrmidonenführers, sein Verharren bei den Schiffen als episches Motiv benutzt, den Helden vom Schauplatze der Handlung abtreten läßt und in langen Gesängen den Kampf vor Jlium und das wachsende Unheil der Achaier schildert, das aus dieser Thatlosigkeit ihres ersten Helden hervorgeht. Wenn Schiller indeß die Bedächtigkeit, das schlicht thatkräftige Wesen seines Tell, des Schweizer Natursohnes, in ähnlicher Weise schildert, wenn er ihn sagen läßt:

Doch was ihr thut, laßt mich aus eurem Rath!
Jch kann nicht lange prüfen oder wählen,
Bedürft ihr meiner zur bestimmten That,
Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen

wenn er hierauf die Hauptscene des Rütli spielen läßt, ohne daß der dramatische Held zugegen ist: so hat er offenbar mehr in epischer, als in dramatischer Weise charakterisirt, wie überhaupt die Massenentfaltung des Tell, der nationale Befreiungskampf, die Art, wie in Stauffacher,335 Attinghausen das Schweizer Volk selbst in seinen einzelnen Ständen individualisirt ist, und dies alles ohne Beziehung zum Helden des Drama's und seiner That, einen vorwiegend epischen Eindruck macht.

Die epischen Charaktere dürfen den ganzen Reichthum der Menschennatur entfalten! Zwar wiegt eine Eigenschaft in ihnen vor, das edle Jugendfeuer im Achill, die listige Gewandheit im Odysseus aber sie zeigen sich uns in so verschiedenen Lagen, von so verschiedenen Seiten, daß jener Grundzug des Charakters nie mit einseitiger Bestimmtheit hervortritt. Niemals wird er dramatisch in eine einzige That gelegt! Und weil der epische Charakter von den Begebenheiten und Verhältnissen getragen wird, so darf eine gewisse Passivität vorwiegen, und die Engelhaftigkeit der schönen Seelen eher im Epos als im Drama auf Verzeihung rechnen. Jean Paul beschäftigt sich angelegentlich mit dieser Frage von der Vollkommenheit der Charaktere. Er hat ein persönliches Jnteresse dabei, weil seine Klotilden und Lianen engelhafte gleichsam der schweren Atmosphäre der Erde entrückte Gestalten sind. Jndeß hat die abstrakte Jdealität solcher vollkommenen Menschen, solcher hohen Eremiten, wie Emanuel, etwas Befremdendes, indem der Dichter vergißt, die Mängel hervorzuheben, die gerade diesen erhabenen Erscheinungen, die sich mit der Erde nicht einlassen, anhaften. Auch der Messias Klopstock's interessirt nicht als epischer Held, weil seine Erhabenheit nicht mit irdischem Maaß zu messen, weil er zugleich über den Wettern steht, mit denen er kämpft. Auf der andern Seite können solche abstrakte Teufel, wie Abbadonnah, ebenfalls kein tieferes Jnteresse einflößen. Dagegen kann das Epos dämonische Charaktere, Gestalten von innerer und äußerer Häßlichkeit, zu denen selbst die plastische Kunst des Homer im Thersites ein Modell gegeben, mit größerer Vertiefung schildern, als das Drama, indem es Muße hat, sowohl die Erscheinung in aller Breite auszumalen, als auch die Weltanschauung in erschöpfender Weise auszusprechen. Der epische Hauptheld selbst bewegt sich indeß am richtigsten in der schönen Mitte der Menschlichkeit, und wir fügen hinzu, der Bildung. Helden und Heldinnen aus den untersten Schichten der Gesellschaft, wie sie in den neuern französischen und englischen Mysterienromanen und in den deutschen Dorfgeschichten beliebt sind, versetzen uns in eine Sphäre, in welcher der Charakter nicht jene völlige Reife erlangen kann, die ihm nur die336 Bildung giebt. Wir finden dort nur unfertige Ansätze, oder der Epiker legt in ihn ein inneres Leben hinein, welches den äußern Bedingungen seiner Existenz nicht entspricht.

Was nun die höheren Mächte des Epos betrifft, so liegt es im Charakter der epischen Auffassung, daß ein Eingreifen derselben in die Handlung von jeher gestattet war. Der dramatische Grundsatz:

Jn deiner Brust sind deines Schicksals Sterne

paßt nicht auf das Epos, dessen Schicksal durch das Naturgesetz im weitesten Sinne des Wortes bestimmt war. Als man die Naturmächte selbst in schöner Menschlichkeit darstellte, als Poseidon, der zürnende Gott des Oceans, noch den Odysseus umherirren ließ, als die Götterwelt auf dem hohen Olympos wie eine idealisirte Menschenwelt das Treiben der Helden spiegelte: da wurde menschliche Handlung und Seele in die Natur gelegt, und das Eingreifen der Göttermaschinerie gestaltete das menschliche Schicksal. Diese sogenannte Göttermaschinerie wurde zum kanonischen Grundgesetze des Epos, und die Dichter der Kunstepen suchten, bis in die neueste Zeit, mit dem Sänger der Jlias darin zu wetteifern. Wie nüchtern mußten aber alle Nachbildungen ausfallen, welche im Glauben des Volkes keine Wurzel hatten! Schon Tasso vermischte die antiken Furien mit den Teufeln des christlichen Glaubens. Noch weiter ging Camoëns, der die alten Götter und die christlichen Heiligen wie in einem Kartenspiele durcheinandermischte und Bacchus, als Christ verkleidet, am Altar der Jungfrau Maria Opfer bringen läßt. Milton und Klopstock stellten eine Handlung dar, welche den Bedingungen des Menschendaseins schon anundfürsich entnommen, das Hereinragen einer höheren Welt von selbst mit sich brachte. Die Gestalten des biblischen Glaubens, Milton's revolutionärer Teufel, Klopstock's sentimentaler Abbadonnah, verloren indeß auch bei weiterer Ausmalung jene feste volksthümliche Basis, und wenn Milton das Rebellenthum des höllischen Freigeistes mit kühnem Trotze darstellte, so fehlte dieser innerlichen Gewalt die äußere Plastik. Die allegorischen Gestalten in Voltaire's Henriade, die Heldenschatten im Gewölk, die Attila's und Scipionen, die in Pyrker's Tunisias mit den deutschen Truppen fechten, zeigen am klarsten, zu welchen abgeblaßten, an alte Tapetenbilder erinnernden Bildern die Nachahmung der Homerischen337 Götter verführte. Die Dichter der Kunstepen verkannten die tiefere Bedeutung, welche der Homerischen Göttermaschinerie zu Grunde liegt! Was waren jene Götter anders, als die verkörperten ewigen Mächte der Natur und des Lebens? Eine solche Verkörperung hatte nur Sinn in der Zeit des Homer und Phidias und konnte in anderen Zeiten, wo der Glauben an die lebendigen Götter fehlte, nur leblose, zwischen Himmel und Erde schwebende Schatten hervorbringen. Dagegen war auch in diesen Verirrungen die Weltanschauung, auf welcher das Epos ruht, auf das Klarste ausgesprochen! Es ist jene höhere Nothwendigkeit des ewig waltenden Gesetzes, welchem die Natur und die Menschen unterthan. Dies Gesetz offenbart sich im einzelnen Falle als Zufall, ein Recht des Epos, das in der Tragödie nicht gilt. Der Tod, ein Gesetz der Gattung, dem der Einzelne zum Opfer fallen muß, springt wie ein geschütteltes Loos aus dem Helm des Epikers und es erfüllt uns mit Wehmuth, wenn das Gesetz die Herrlichsten in ihrer Jugendblüthe dahinrafft. Wir klagen um Patroklos, um Hektor, um Achilleus, um Siegfried, um Sijawusch es ist die Klage um das allgemeine Loos der Sterblichen, die am frühen Grabe der Jugend und Kraft und Lebensfülle um so schmerzlicher ertönt. Der Krieg selbst erscheint in der epischen Darstellung als eine höhere Nothwendigkeit, welche die Völker gegeneinander, Europa gegen Asien, Jran gegen Turan waffnet! Welche launenhafte, abenteuerliche Naturmacht ist das Meer! Wie verschwindet die Kraft der Tapfersten, die List der Gewandtesten gegen das Geschick, das der Ocean über sie verhängt! Wohin nicht wird Odysseus und Aeneas verschlagen! Eine Welt der Abenteuer und des Zufalles für den Menschen; aber diese Zufälle sind nur der Wogenschlag des Oceans, nur die Ausflüsse einer Naturgewalt, gegen deren festgeordnetes Gesetz die Kraft der Helden oft vergebens ankämpft! Aber daß sie kämpft, daß sie ausdauert und sich bewährt, daß sie ruhmvoll untergeht oder siegreich zum Ziel gelangt das giebt uns ein Bild epischer Thatkraft, die sich in immer neuem Anlauf bewährt. Ja selbst die Liebe erscheint als eine Naturmacht; der Epiker kennt die strenge Sittlichkeit des Tragikers nicht. Aphrodite beschützt Paris und Helena und die leichtsinnige Ehebrecherin, die Urheberin des großen Völkerkrieges, kehrt nach Jliums Zerstörung an der Seite ihres Gatten und mit dem alten Rechte der Gattin in die Heimath zurück.

338

Der Epiker sieht die Welt als ein Ganzes in unendlicher Verkettung von Ursache und Wirkung. Diese innere Nothwendigkeit duldet und erklärt den Zufall. Für das neue Epos und den Roman besteht die geistige Welt der Kultur, des politischen und socialen Lebens als eine feste Macht, und in ihr kreisen die Räder der neuen Göttermaschinerie. Der dramatische Held bricht in diese Welt mit einer kühnen That, welche ihre Fäden verwirrt; der epische spinnt sich in diese Fäden ein und entwickelt sich erst aus diesem Kulturgespinnst zu einem Falter, welcher die Farben schönster Menschlichkeit auf seinen Psycheschwingen trägt. Die stillwaltende Nothwendigkeit des Epos nimmt alle Bedingungen der menschlichen Existenz in sich auf. Vor dem Auge des Epikers schwebt immer der ganze Kosmos. Er ist kein sittlicher Rhadamanth! Er sieht den Einzelnen verstrickt in ein Netz von Elementen, welche Natur und Kultur ihm über das Haupt geworfen, seine Entwickelung ist ein Kampf mit ihnen; der Epiker schaut sie mit den Augen des Spinoza sub specie aeternitatis an und zeigt uns im Ringen des Einzelnen das Ringen der ganzen Menschheit.

Aus diesem Anlehnen an die unerbittliche Logik des Weltgesetzes, an die fest ineinander greifende Kette von Ursache und Wirkung folgt für die Komposition des Epos die Nothwendigkeit einer stetigen Entwickelung, eines ununterbrochenen Fortschrittes ohne Sprünge in Raum und Zeit. Der Epiker kann uns durch weite Räume führen, aber wir müssen den Helden Schritt für Schritt auf seiner Wanderschaft begleiten. Es darf keine Lücke eintreten, wo uns seine Führung verläßt. Die Jrrfahrten des Odysseus von Jlium bis zu seiner Heimkehr nach Jthaka erfahren wir in ihrem vollständigen Zusammenhang, wenngleich ihre Erzählung in sich gebrochen ist, da sie theils der Dichter selbst vorträgt, theils seinen Helden vortragen läßt. Dadurch tritt eine kleine, aber spannende Verschiebung in der Zeit ein, indem wir das Spätere mit dem Helden selbst miterleben, ehe wir das Frühere aus seinem Mund erfahren. Das Gesetz epischer Stetigkeit wird dadurch nicht verletzt; denn die Erzählung selbst schließt sich zwanglos als eine Begebenheit an die Kette der andern an. Wenn wir Odysseus bis zu den Fäaken, Aeneas bis zur Dido begleiten: so gehört die Erzählung des Vergangenen mit in den Kreis der Erlebnisse der Helden. Der neue Roman hat von diesem339 Kunstgriffe der alten Epiker, diesen Einschachtelungen des Früheren in das Spätere, der kleinen Erzählung seiner Helden in die große des Dichters, einen ausgedehnten Gebrauch gemacht. Da uns der Epiker gleich in medias res führen soll, so ist er in seinem guten Rechte, Früheres zur Motivirung nachzuholen. Auch er darf die Spannung des Hörers nicht vernachlässigen! Nur aus solcher Vernachlässigung erklärt sich die ausgesprochene Abneigung der Neuzeit gegen die erhabene Langeweile des großen Kunstepos, gegen dies Waten in epischem Sande. Wenn man mit Schiller sagt: der epische Dichter schildert uns das ruhige Dasein der Dinge in ihren Naturen, sein Zweck liegt schon in jedem Punkte seiner Bewegung; so schwebt man in Gefahr, das lebendige Ziel zu vergessen, das dieser Bewegung vorschweben muß. Die Wahrheit dieser Behauptung trifft die epische Darstellungsweise und ihre verweilende Plastik; aber als Grundgesetz des Epos hingestellt, wäre ihre Einseitigkeit bedenklich. Kein neuer Roman ist spannender, als die Odyssee und wenn man die Langweiligkeit der Messiade damit vergleicht, so erkennt man, daß die epische Kunst des Homer bei weitem größer war, als die Klopstock's. Zwar die Spannung des Epikers ist anderer Art, als die des Dramatikers. Diese geht energisch, bestimmt, rasch nach der Zukunft; jene bewegt sich langsam, unter zahlreichen Hemmungen, dem festen Ziel entgegen; ein Ziel, das als Ausgangspunkt einer organischen Entwickelung mit Nothwendigkeit gegeben ist und deshalb eine gewöhnliche Neugierde nicht zu überraschen vermag. Die Spannung des Epikers geht auf die Vergangenheit. Jm Drama muß der Zuschauer von Hause aus mit im Geheimniß sein; das Signalement der einzelnen Personen muß ihm vollständig klar sein, die Ueberraschungen, Verwechslungen finden nur unter den Mitspielenden selbst Statt; für das Publikum giebt es kein zugeknöpftes Jnkognito. Wohl wird hiergegen vielfach gefehlt; aber die unverhofften Entpuppungen, die auch für den Zuschauer geheimnißvollen Gestalten sind undramatisch! Ganz anders im Epos, im Roman! Hier finden die Mysterien der Vergangenheit ihre Stelle! Die handelnden Personen haben ihre Antecedentien, die sich uns erst allmählich enthüllen, ähnlich wie wir im Verkehr des Lebens mit Charakteren zusammentreffen, deren Vergangenheit uns erst nach und nach offenbar wird! Die Kunst des Epikers besteht nun340 darin, auf diese Vergangenheit zu spannen, diese Spannung zu steigern und die Enthüllungen in einem entscheidenden Moment eintreten zu lassen, wo sie sich bedeutsam in den Gang der Geschicke verweben. Das moderne Epos, der Roman, wird kaum ohne diese Spannung wirken können, die eine naivere Zeit entbehren konnte. Die Welt der Wunder, die sich in den Thaten der Götter und Helden in erstaunenswerther Weise enthüllte, welche die Gemüther mit seltenem Zauber gefangen nahm, bedarf in einer Zeit des nil admirari und der verschollenen Himmelsgeheimnisse eines Ersatzes, der nur in den wunderbaren Verschlingungen des Geschickes, welche die Gemüther anregen und spannen, gegeben sein kann. Das Epos ist eine allmähliche Evolution verzweigter Geschicke; es liegt eben so viel jenseits seiner Schwelle, wie diesseits, und es ist die Kunst des Epikers, weder zu früh, noch zu spät mit dem richtigen Tempo ein plötzliches Licht auf die dunkeln Massen fallen zu lassen, sie aus der Nachtseite in die Tagseite der Geschichte zu rücken. Ganz anders spannt der Dramatiker, der uns sein Drama wie ein Schachräthsel vorführt, wo uns die bestimmten Figuren und ihre bestimmte Stellung von Hause aus gegeben sind, und wo es nur auf die entscheidenden Züge ankommt, die in gewandter und überraschender Kombination das Räthsel lösen. Dramen, die aus Romanen ungeschickt gebildet sind, zeigen in zahlreichen Erzählungen des Vergangenen, das noch jenseits des ersten Aktes liegt und oft erst im letzten zur Sprache kommt, unverhüllt ihren epischen Ursprung und die Verwechslung der epischen Spannung mit der dramatischen.

Wir haben schon oben gesehn, inwiefern das Epos Einheit der Handlung erfordert. Diese Einheit schließt die Episode nicht aus, im Gegentheil, die Selbstständigkeit der Theile macht, wie Schiller sagt, einen Hauptcharakter des epischen Gedichtes aus. Die dramatische Handlung schießt wie ein Pfeil nach dem Ziel; die epische schlängelt sich wie ein Bach nach demselben hin. All die Krümmungen und Biegungen, all die Ausweichungen bis zu halber Rückkehr gehören zum Wesen des Epos, das an keiner lieblichen Stätte, die sein Gang berührt, vorbei zu eilen braucht. Das Epos giebt uns ein Weltbild, dessen Spiegel der Held ist, das Drama ein Heldenbild, dessen Spiegel die Welt ist. Ja man kann im Epos überhaupt nur von Episoden341 sprechen, wenn man das bestimmte Ziel, das seinen Schlußstein bildet, in's Auge faßt. Der Epiker darf das Ziel indeß eben so gut aus dem Auge verlieren, um das Weltbild nach einer andern Seite hin zu vertiefen, mag die Beziehung zum Helden auch so locker wie möglich sein. Freilich darf eine Episode nicht ein dramatisches Jnteresse haben, das außerdem nicht einmal dazu dient, das Kulturgemälde zu vollenden. So muß die Episode von Olind und Sophronia im zweiten Gesange von Tasso's Jerusalem als müßiges Beiwerk getadelt werden. Schöne Episoden sind ein Schmuck des Gedichtes und außerdem ein wirksames Mittel des epischen Kontrastes, indem der Dichter durch sie das Ernste und Heitere, Strenge und Zarte zu verschmelzen vermag. Wie der Epiker in den Episoden den geraden Weg der Handlung verläßt: so hemmt er ihn durch zahlreiche retardirende Motive. Der Strom des Epos verläßt in Folge dieser Hemmungen sein enges Bette; er wird zum See, der sich in die Weite ausdehnt, und kehrt dann wieder in engere Grenzen zu geradem Laufe zurück. Die Winde des Aeolus, welche, von den neugierigen Genossen des Odysseus aus ihren Schläuchen entlassen, das Schiff des Helden zur Jnsel des zürnenden Sturmgottes zurücktreiben, sind zugleich ein Bild und Beispiel dieser Hemmung. Auch ist es nicht gleichgültig, wo der Epiker den Faden der einen Begebenheit fallen läßt, um den einer andern aufzunehmen, welche zum ganzen Verlauf seines Epos gehört. Homer verstand dies ebenso gut, wie es Eugène Sue versteht, und wußte mit der epischen Technik in einer Weise Bescheid, welche noch für die spätesten Epigonen lehrreich ist. Er schildert uns z. B. die Reise des Telemachos und seine Heimkehr, ehe er sich zu dem in der Grotte der Kalypso weilenden Odysseus wendet; aber er läßt den jungen Helden nicht sicher in den Hafen von Jthaka einlaufen. Er schildert uns die Verschwörung der Freier gegen ihn; er schildert uns die angstvolle Erwartung der durch ein Traumbild erregten Penelope; er schließt mit den Versen:

Aber die Freier im Schiff durchsegelten flüssige Pfade,
Stets des Telemachos Mord in grausamer Seele bewegend.
Mitten liegt in dem Meer ein Eiland schroff von Geklippe,
Dort wo Jthaka scheidet der Sund von der felsigen Samos,
Astoris, nicht sehr groß; da empfängt mit doppelter Einfahrt
Schiffe der Port; hier lauernd erwarten ihn die Achaier!
342

Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen? Wird er dem Hinterhalt der Freier glücklich entgehen? Wird die sorgenvolle Mutter den Geretteten wieder in die Arme schließen? Mit diesen ungelösten Fragen entläßt uns der Dichter, hemmt die Erzählung mitten in ihrem Verlauf und führt die Entwickelung der Hauptbegebenheit weiter fort. Durch diese Hemmung fesselt er zugleich! Während wir weiter hören oder lesen, bleibt im dunkeln Grunde unseres Gemüthes die Erwartung zurück, den weiteren Fortgang jener abgebrochenen Begebenheit zu erfahren. Dieser epische Effekt des Hinausschiebens ist dem Dramatischen entgegengesetzt. Der Epiker schließt einen Abschnitt seiner Dichtung in hemmender und abbrechender Weise; der Dramatiker im Gegentheil schließt den Akt mit einem entscheidenden, zu voller Geltung gebrachten Moment der Handlung. Die Technik des neuen Romans, für welche das geschickte Abbrechen und Aufnehmen der Fäden ein wesentliches Mittel ist, das Jnteresse immer wach zu halten, kann sich daher auf das Muster der ältesten Volksepopöen berufen.

Was nun die Darstellungsweise des Epos betrifft, so läßt sie sich am schlagendsten als eine plastische bezeichnen. Hegel nannte die Bilder des Epikers Skulpturbilder der Vorstellung. Fest auf sich selbst ruhend, wie aus Erz und Marmor gegossen, klar, bestimmt, von zusammenhängenden Linien und Formen, bis in's Einzelne ausgeprägt, sollen die epischen Gestalten vor unsern Augen stehn; Alles, was der Epiker schafft, soll ein Reliefbild sein. Das Epos verlangt die höchste Objektivität des Styles. Auch die innere Welt der Seele muß uns, wie die äußere, in klarem Zusammenhang vorgeführt werden. Jn unserer Zeit der größern Jnnerlichkeit läßt sich die Empfindung nicht immer durch die Anschauung darstellen; aber die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen, die vor der Seele vorüberziehn, muß uns wie ein innerlicher Kosmos in klarer Aufeinanderfolge dargelegt werden! Und niemals darf der Epiker seiner eigenen Empfindung einen beredtsamen Ausdruck vergönnen! Sie darf sich nur in der Wärme und Jnnigkeit offenbaren, mit der sie die Empfindung seiner Helden durchdringt! Tiefe und zarte psychologische Entwickelungen, wie sie sich in den Romanen einer George Sand, eines Balzac u. A. finden, sind daher echt episch, sobald sie nur am Faden343 innerer Nothwendigkeit verlaufen. Die Objektivität des Epikers kann dadurch nicht verlieren, daß das Objekt ein innerliches wird! Es giebt auch eine Plastik des Seelenlebens, und der Epiker wird heut zu Tage der größte sein, der allen ihren Bedingungen gerecht wird.

Die Diktion des Epos wird klar und bestimmt, voll und würdig einherfluthen! Die seelenvolle Bildlichkeit der Lyrik, die energische Metapher des Drama wird hier durch die ausgeführte Vergleichung vertreten, deren episches Wesen wir schon früher erörtert, und die sich wie eine kleine gleichartige Episode in das Rundgemälde des Epos einfügt. Das lyrische Element wird im strengeren Epos und dem ihm nachgebildeten plastischen Roman z. B. in Hermann und Dorothea und Wilhelm Meister kaum eine Stätte finden können; denn die begeisterte Gluth des Epikers ist in seiner Schilderung immer latent und gebunden und darf nie in entfesselter Flamme emporlodern. Anders verhält es sich mit den lyrisch-epischen Mischgattungen, die sich im Mittelalter und in der neuen Zeit ausgebildet. Die Romanze, die poetische Erzählung, z. B. Byron's, der sentimentale Roman, wie Goethe's Werther, der humoristische, wie Jean Paul's Titan, nehmen die reichsten Elemente lyrischer Stimmung in sich auf. Da sich diese Gattungen historisch ausgebildet haben und sogar in einer gewissen Breite die Literatur beherrschen: so kann ihre Berechtigung für unsere moderne Poesie nicht in Abrede gestellt werden. Für die poetische Erzählung würde indeß der wesentliche Fortschritt in einer größeren Herausbildung des streng epischen Styles bestehn. An das Dramatische, das dem Epischen seinem Wesen nach entgegengesetzt ist, erinnert das Epos nur durch den Dialog, welcher in den alten großen Volksepopöen keine geringere Bedeutung hat, als in den neuen Romanen. Doch der epische Dialog ergeht sich in behaglichem Schildern und Ausmalen; nicht blos der greise gerenische Nestor, sondern auch andere Helden Homer's gefallen sich in einer weit ausholenden Geschwätzigkeit, in ausführlichen Erzählungen ihrer Erlebnisse; und selbst wo sie einen in die Handlung eingreifenden Rath ertheilen, motiviren sie ihn mit breit ausgeführten Beispielen. Der dramatische Dialog ist bestimmt, schlagend, zweckvoll, charakteristisch; der epische oft nur eine mittelbare Form der Erzählung, indem der Dichter seinen Helden selbst zum Epiker macht und ihm die lebensvollere Darstellung überläßt. Hierher gehört auch die344 Briefform in einigen neueren Romanen. Der Dialog ist im Drama wesentliche Form, im Epos zufällige Einkleidung.

Was nun schließlich die Versform des Epos betrifft, so kommen die indischen Slokas, das Versmaaß des Firdusi, die Hexameter Homer's und Virgil's und die Nibelungen - und Gudrunstrophe darin überein, daß ihr Gang vollwogend und majestätisch, die Verszeilen langgestreckt und geräumig und des rhythmischen Wechsels fähig sind. Die italienischen Strophen, Dante's Terzinen, Tasso's und Ariost's Stanzen erreichen dasselbe durch eine Architektonik, welche vorzugsweise auf den Säulen des Reimes ruht. Der moderne Roman bedient sich der Prosa, welche allerdings eine minder kunstvolle, aber geräumigere Form für die Darstellung weitverzweigter Kulturverhältnisse ist. Die poetische Erzählung dagegen schillert in den buntesten Rhythmen, wie es der Charakter dieser farbenreichen Zwittergattung mit sich bringt.

Zweiter Abschnitt. Die Volksepopöe.

Die Volksepopöe ist die große Stammmutter aller epischen Dichtung. Sie gehört einer Kulturepoche an, in welcher das Leben selbst noch keine feste, verständige, organische Gliederung gewonnen, sondern sich gleichsam durch die freie That des Menschen immer von Neuem erzeugte. Der aufgeschlossene Sinn für das Schöne und Rechte, Gute und Wahre, der Jnstinkt des Gemüthes bestimmt allein die Handlungsweise der Menschen. Die barbarische Zeit roher Gewaltthat liegt hinter ihnen; aber noch sind sie nicht in ein Zeitalter getreten, in welchem die Norm bestimmter und fester Satzungen als Staatsmacht, religiöses und moralisches Kredo den Willen des Einzelnen einem allgemeinen Gebot unterordnet. Noch fehlen alle weitläufigen Vermittelungen einer Kultur, welche tausend Hände für einander arbeiten läßt, sodaß weder der Gebrauch noch der Genuß frisch von der Quelle schöpft, sondern sich nur ein Produkt aneignet, das bereits die Stempel einer vielfachen Arbeit trägt. Wie ganz anders ist das jugendliche, das heroische Zeitalter! Da hat der Held das Schiff selbst345 gezimmert, auf dem er das Meer durchgleitet, den Wagen selbst gebaut, auf dem er in die Schlacht eilt, das Roß selbst gezogen, das er an den Wagen anschirrt! Nichts ist ihm fremd und äußerlich; in Allem sieht er seine Thätigkeit, spiegelt sich seine Kraft. Kein kategorischer Jmperativ, kein moralisches Sollen läßt ihn so oder anders handeln; er folgt den Eingebungen des Augenblickes, der Götter. Achilleus schleift in grausamem Triumphe den getödteten Hektor um die Mauern Troja's, gewährt aber mit menschlicher Rührung die Bitte des greisen Priamos, des eigenen alten Vaters gedenkend! So sind diese Helden! Feurig folgen sie dem wilden und edeln Zug ihrer Natur; es sind keine nach Paragraphen gemodelten und zugestutzten Menschen; es sind Söhne und Enkel der Götter! Darum sind auch diese Götter selbst für die Volksepopöe eine Nothwendigkeit, und es giebt keinen schieferen Ausdruck, um ihre Wirksamkeit in diesen Epen zu bezeichnen, als den einer Göttermaschinerie. Nichts ist maschinenmäßig in diesem Verkehr der Götter und Menschen! Die Mächte der Natur und des Gemüthes haben Menschengestalt angenommen. Das Meer, das dem Odysseus die Heimkehr wehrt, wird zum zürnenden Poseidon; und die Besinnung, die in der Brust des zornigen Achilleus erwacht, erscheint hinter ihm als Zeus blauäugige Tochter Athene und faßt ihn an seinem goldgelockten Haupthaar. Die Ermattung des Patroklos stellt der Dichter dar, indem Apoll dem Helden, der die unbesiegbaren Waffen des Achilleus trägt, in Rücken und Schultern schlägt, ihm die Lanze zerbricht, den Helm vom Haupt und den Schild von den Schultern reißt und den Harnisch löst! Und dem Odysseus, als er im Kampfspiele der Fäaken den schwersten Stein am weitesten schleudert, erscheint Athene in Gestalt eines freundlich zunickenden Fäaken, der ihm die Stelle bezeichnet, wo sein Stein liegt, allen andern weit voraus! Wie liebenswürdig ist hier das trostreiche Siegsgefühl in der Brust des Helden in eine menschlich-göttliche Gestalt verwandelt! Und die Wildheit des allgemeinen Krieges selbst, der nicht blos die einzelnen Helden, sondern die kämpfenden Völker selbst im entfesselten Sturm der Schlacht gegeneinanderführt, erscheint als Ares, der tobende Gott, und Götter kämpfen gegen Götter.

Die Homerischen Götter sind indeß nicht blos personificirte Mächte des Lebens; es sind individuelle, plastische Gestalten; sie haben ihre eigene346 Geschichte, ihre eigene Lebenswirklichkeit. Doch in den Aether der olympischen Heiterkeit getaucht, darf kein rauher Konflikt sie berühren. Wohl wagt der kühne Diomedes, Aphrodite mit der Lanze zu verwunden durch die unsichtbarmachende, von den Chariten selber gewebte Hülle. Laut schreit die Göttin auf; unsterbliches Blut, klarer Saft rinnt aus der Wunde, und die Schmerzbetäubte trägt die windschnelle Jris aus dem Getümmel zum Olympos, wo ihre Wunden von Dionen's mütterlicher Hand geheilt werden; denn kein sterbliches Loos ist ihr beschieden! Auch Ares schmachtete in Fesseln, Here wurde von Amphitryon's Sohn verwundet doch kurz und vorübergehend ist die Passion der olympischen Götter. Jn ihrer Ab - und Zuneigung zu den Sterblichen folgen sie den Eingebungen der Laune; sie wählen ihre Günstlinge nach Wohlgefallen. Jhre unsterbliche Heiterkeit ist so frei von der Verdumpfung irdischer Moral, daß sie mit unermeßlichem Lachen sehn, wie die ehebrecherische Aphrodite mit Ares ruht in Liebe gesellt, von den künstlichen Banden des sinnreichen, hinkenden Gatten gefesselt! Und der Argostödter Hermes empfindet nur Neid über diese Beschämung, und ruft:

Band ', auch dreimal so viel, unendliche, möchten mich fesseln,
Und ihr all', o Götter, es schaun und die Göttinnen alle!
Dennoch ruht' ich gern bei der goldenen Aphrodite.

Die Götter des Homer sind seine Heroen, den Bedingungen der Sterblichkeit entnommen, in selige ätherische Freiheit versetzt! Wie hinter den Helden des Homer die Kulturkämpfe des barbarischen Zeitalters: so liegt hinter seinen Göttern der ernste Titanenkampf, das Ringen mit den Mächten des Abgrundes! Die Olympier und die Helden der Jlias und Odyssee befinden sich in der goldenen Mitte einer harmonischen Zeit und werden als die Urtypen göttlicher Menschen und menschlicher Götter ewig zusammengenannt werden.

Die indischen Götter des Mahabharata und Ramayana erfreuen sich nicht dieser harmonischen Klarheit. Hier wiegt eine theologische Dogmatik vor mitten in der Schlacht trägt Krishna dem Ardshuna auf einem Streitwagen die achtzehn Gesänge umfassende Episode Bhagawatgita vor, eine äußerlich eingeschobene mystische Dogmatik! Jm deutschen und persischen Volksepos vertritt ein seltsames Zauberwerk, Siegfried's Tarnkappe, die raubenden Greifen, der Zauberpfeil der Semiurg, die Göttermaschinerie! 347Jn den Nibelungen wie im Schahname sind es trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter, hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde!

Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso Karna in dem Mahabharata, der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der Gudrun sendet Frau Hilde Boten zu ihren Freunden, zu Herwig, dem Dänen Horand, zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den Kampf! Nur in den Nibelungen, demjenigen Volksepos, das in seiner Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum des Dienstmanns Hagen, der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes Motiv betont.

Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der Carrière*)Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde. einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen, persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus-Sijawusch-Siegfried, die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich. Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena, Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs, Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt,348 jener elegische Zug, der durch Ossian's Heldengedichte geht, am ergreifendsten, wo er am Grabe seines Sohnes Oskar weint, die ewige Klage, daß nichts Edles und Herrliches in dieser Welt Bestand hat, und daß die Jugend selbst ein früher Tod ereilt. Und auch das Jugendalter der Welt, das solche Helden schafft, hat keinen Bestand! Das ist ein Zug weltgeschichtlicher Trauer, der durch diese großen Epopöen geht. Auf den Fall jener Lichthelden folgt die Rache: Jlium's Zerstörung, Kai Kosrus Rachezug gegen Turan, der Untergang der Burgunder durch Chriemhild! Jn diesen blutigen und düstern Katastrophen findet die epische Volkssage ihren Schlußstein.

Sehr richtig hat Carrière darauf hingewiesen, daß dem großen Epos des Völkerkampfes und Heldentodes meistens ein sanfteres Epos zur Seite ging, dessen Mittelpunkt die Verherrlichung der weiblichen Treue bildet: Nal und Damajanti, die Odyssee, die Gudrun. Nal und Damajanti ist bekanntlich eine Episode des Mahabharata, eine umgekehrte Odyssee, in der das Weib in Wäldern und Städten umirrt nach dem Manne, der sie verlassen, bis sie das Geschick wieder mit einander vereinigt. Doch man könnte das Ramayana selbst als das Epos der Treue betrachten, indem ja sein Held Rama die geliebte Gattin Sita dem Wildnißriesen Ravanas auf einem siegreichen Heerzug nach Lanka (Ceylon) wieder abkämpft. Sita beweist ihre Treue durch ein Feuerordale. Auch hier bildet die glückliche Vereinigung der getrennten Gatten den Schluß des Epos, das in seinem abenteuerlichen Zug in die Ferne, einem Zug von kulturbringender Bedeutung, die durch den Pflugträger, der den Helden begleitet, ausgedrückt ist, in dem märchenhaften Zauber, der um diese Völker der Ferne, die Affenvölker und ihre Helden schwebt, in seiner nicht auf einen Punkt koncentrirten, sondern hinausschweifenden Kampfeslust an die Odyssee erinnert.

Auch darin kommen alle diese Volksepopöen überein, daß das Volk in den entscheidenden Zügen der Sage dem Sänger vorgedichtet hat, der mit künstlerischer Kraft und künstlerischem Bewußtsein aus diesen Ueberlieferungen ein organisches Ganze schuf. Jn ihrer letzten Gestalt tragen sie ein einheitliches Gepräge, das nicht blos auf eine ordnende Hand, sondern auf einen schöpferischen Genius hindeutet, der wie eine Sonne349 über dieser Sagenwelt aufging und ihre zerstreuten Gestalten in ein gemeinsames und ewiges Licht setzte.

Unter allen diesen Epopöen nehmen Homer's Jlias und Odyssee den ersten Rang ein. Diese hellenischen Volksbibeln sind zugleich gesetzgeberisch für das Epos aller Zeiten. Das Epos, als die plastische Dichtung, mußte seine höchste Blüthe in jenem Volke jugendlicher Plastik erreichen, das, einzig in der Weltgeschichte, dies Jdeal der klaren und festen Formenschönheit vertritt. Die Jlias behandelt den Kampf vor Troja, nicht seine zehnjährige Belagerung, sondern die entscheidenden Ereignisse des letzten Jahres, welche den Sturz der Veste herbeiführten, Ereignisse, die ihren Mittelpunkt im jugendlichen Heldencharakter des Achilleus finden. Die Odyssee behandelt die Heimkehr von Troja, indem sie ebenfalls einen Helden, den Odysseus, zum Mittelpunkte macht und die Schicksale der andern heimkehrenden Helden nur in zerstreuten Erzählungen einschaltet. Die seltene Meisterschaft einer maaßvollen Darstellung, die von jeder Ueberladung frei und doch reich an gesättigten Farben ist; die großartige Auffassung, welche, ohne die Einheit des Epos zu opfern, ein Kultur - und Weltgemälde entrollt; die unendliche Naivetät eines glücklichen Zeitalters, die sich in diesen Göttern und Helden ausspricht; die kunstvolle Komposition, welche eine echt epische Steigerung und Spannung nach Zielen hin, die von Anfang an klar und bestimmt sind, zur Geltung bringt; die Plastik der Charaktere, die bei allem Reichthum der Züge doch harmonisch, bei aller Kraft und Größe doch echt menschlich sind; eine rhythmische Behandlung, welche den Hexameter selbst, wie einen marmornen Vers, zu vollkommenem plastischem Ausdruck meißelt alle diese Vorzüge machen aus jenen jonischen Gesängen ewige Muster der Kunst, aus denen noch die spätesten Geschlechter die harmonische Durchdringung von Form und Jnhalt erlernen werden, welche das Wesen des echten und unsterblichen Kunstwerkes ist. Die indischen Epopöen, Mahabharata und Ramayana, besonders die erstere, sind reich an großen und phantasievollen Zügen; der Kampf der Helden auf ihren Elephanten und Streitwagen ist oft mit anschaulicher Plastik geschildert; das indische Naturleben tritt mit exotischem Arom vor uns hin, und die Lieblichkeit der Jdylle erinnert350 oft an die Homerische aber es fehlt dem ersten Riesenepos mit seinen hunderttausend Sloken die künstlerische Einheit, die geschmackvolle Anordnung; ein theosophischer Wust überwuchert das Ganze; es ist ein ungelichteter Urwald der Phantasie! Und auch das zweite Epos, die maaßvollere Schöpfung des Valmiki, kann sich mit den Homerischen Gedichten weder an Klarheit noch an Rundung messen.

Vergleichen wir aber unsere alten deutschen Volksepopöen mit den Homerischen: so entdecken wir alsbald den mehr nach innen gewandten, germanischen Geist, welcher die That den Helden in's Gewissen schiebt; wir finden Züge von mehr dramatischer als epischer Kraft, starke Charaktere, die auf sich selbst ruhn, jene seltsame Mischung von Treuherzigkeit und Wildheit, Liebenswürdigkeit und Barbarei, welche dem altgermanischen Charakter eigen; wir finden die Frauen als bestimmende Mächte, aus den Tiefen ihres Gemüthes heraus die blutigen Thaten geboren. Dagegen befremdet uns in der Darstellung das Holzschnittartige, Nüchterne, Kahle; die farblose Erzählungsmanier, die Gleichgültigkeit gegen die Bedeutung der Ereignisse, indem oft das Unwichtige ausgemalt, das Wichtige flüchtig skizzirt wird und eine nicht geringe Zahl roher, nicht ewig menschlicher Motive, wie z. B. die Bändigung der wilden Brunhild durch den unsichtbaren Siegfried! Die Helden der Nibelungen und der Gudrun haben bei weitem nicht jene volle menschliche Bestimmtheit, wie die des Homer; sie werden uns mit einzelnen, oft abstrakten Zügen geschildert! Und wenn uns auch der Bart des biedern Wate in der Gudrun mit größerer Anschaulichkeit gemalt wird, als das blonde Gelock des Menelaos: so können wir uns doch mit diesem gutmüthigen Frauenschlächter, diesem nordischen Nena Sahib nicht befreunden. Wenn uns daher die altgermanische Heldenwelt durch ihre Jnnerlichkeit näher zu treten scheint, als die Homerische: so hat diese Jnnerlichkeit, in ihrer gewaltsamen Art und Weise, in der Mischung kecker Kontraste des Gemüthes, doch wieder etwas Befremdendes für uns; wir fühlen uns den Charakteren Homer's verwandter, denn sie vertreten das Jdeal einer schönen Menschlichkeit. Selbst die hellenischen Frauen, die sinnige, häusliche, ausharrende Penelope, die schöne, leichtfertige Helena entsprechen dem weiblichen Jdeal mehr, als die Mannweiber der Nibelungen; tritt doch sogar Chriemhild, die anfangs ein351 sanfteres Gegenbild gegen die wilde Brundhild zu sein scheint, nachher als eine ganze Geschlechter vertilgende Rachefurie auf! Anders verhält es sich freilich mit der Gudrun, dem würdigen Gegenbilde einer Damajanti und Penelope, deren in jeder Bedrängniß ausharrende Treue einen rührenden Eindruck macht. Die Befreiung der Gudrun durch die Helden des Nordlandes entspricht der Befreiung der Penelope von den umwerbenden Freiern durch die Hand des Odysseus nach der blutigen Katastrophe tritt ein sanfter versöhnender Schluß ein, der durch die mehrfachen Hochzeiten in der Gudrun im Sinne des ritterlichen Epos und des modernen Lustspieles in luxuriöser Weise ausgeführt ist.

Das große Epos von Jran, das Schahname des Firdusi, ist in der Naivetät der Darstellung allerdings dem Homerischen verwandt, indem durch alle Urpoesie gleichmäßig die frischen von keiner Civilisation abgestreiften Züge echter Menschlichkeit gehn. Doch fehlt diesem Epos jene streng geschlossene Einheit, welche über alle Episoden übergreift; es fehlt den Charakteren jene in sich selbst sichere Gediegenheit der Homerischen Helden, welche den Göttern das Uebermenschliche überläßt. Das Epos von Jran hat freilich keine Göttermaschinerie; es stellt seine Helden ganz auf eigene Füße; aber gerade dadurch wachsen sie oft über das menschliche Maaß hinaus zu urweltlicher Titanengröße. Und fehlt der heitere Olymp mit seinen Menschengöttern, so rauschen doch unheimliche Fabelwesen, wie die Simurg, mit düsterm Flügelschlag durch die Dichtung und wirken bestimmend auf Menschenschicksal ein. Diese Simurg und die dunkle Welt der Zauberei, die Welt phantastischer und kolossaler Gestalten, erinnert vielmehr an die germanisch nordische Sagenwelt; und in der That begegnen wir hier auch der verwandtesten poetischen Form. Das Epos von Jran ist ein Epos des persischen Ritterthums, ein Cyklus von Sagen, der über Geschlechter hinübergreift, und dessen einzige Einheit der Kampf der Fürsten und Helden von Jran gegen ihre Feinde ist. Es ist ein Krieg der Völker und Massen, wie in der Jlias; blutige Schlachten werden geschildert; aber, wie dort, bilden auch hier diese sich hinwürgenden Massen, soviel Zinken - und Tubalärm auch ertönt, soviel Blut auch vergossen und Staub aufgewühlt wird, mehr den dunkeln Hintergrund des Gedichts. Der Kampf ist wesentlich ein Zweikampf; die letzte vollgültige Entscheidung ruht auf der Tapferkeit der Einzelnen, der352 vorleuchtenden Helden. So erinnert der Kampf der elf Recken an den Kampf der Horatier und Curiatier; so kämpfen Human und Bischen, Rustem und Jsfendiar. An das deutsche Volksepos erinnert das persische auf der andern Seite wieder durch jene in die Tiefen des Gewissens zurückgehenden Konflikte, wie sie im Untergang des Sijawusch, dem Höhepunkt des Schahname, enthalten sind. Der junge Prinz hat Afrasiab, den Schah von Turan, in einer dreitägigen Schlacht geschlagen und auf seine Bitte mit ihm Frieden geschlossen. Doch Kai Kaws, der Vater des Prinzen, nur auf die vollständige Vertilgung des Todfeindes bedacht, geräth über diesen Friedensschluß in höchsten Zorn und befiehlt Sijawusch, die von Afrasiab gestellten Geißeln ihm zuzusenden, den Krieg aber nichtsdestoweniger fortzuführen. So steht Sijawusch schwankend zwischen dem Gehorsam gegen den Befehl seines Vaters und Gebieters und zwischen der Gewissenspflicht, treu zu halten an dem gegebenen Wort und abgeschlossenen Vertrag. Er entscheidet sich für das letztere, heirathet die Tochter des Afrasiab, fällt aber den Hofintriguen zum Opfer und wird in grausamer Weise ermordet. Trefflich ist es motivirt, wie dieser Prinz des lichten Jran sich in das finstere Turan verirrt, und wie ihn dort die aufgebäumten Schlangen des mächtigen Reiches erwürgen. Nichts hätte uns den Gegensatz der beiden Reiche so klar an den Tag legen können, als dies Hinüberwandeln des Sterns von Jran in die Sphären von Turan und sein beweinenswerthes Erlöschen am mitternächtigen Himmel. Doch dieser Konflikt des Sijawusch, in welchem die freie Selbstbestimmung des Helden in ihrer letzten Spitze die Entscheidung trifft, ist im höchsten Sinne tragisch, und dieser Abschnitt des persischen Epos ist noch mehr als die Nibelungen in dramatischer Weise motivirt. Ebenso giebt es Abschnitte im Schahname, in welchem die Lyrik überwiegt, wie z. B. Sal und Rudabe, das Gemälde eines indischen Frühlings, unter dessen Rosen und Jasminen sich am Anfange der Zeiten zwei für einander geschaffene Wesen begegnen und den Bund für Leben und Tod schließen. Wenn das Schwelgen in dem Reize der äußern Erscheinung, das üppigprangende Kolorit in dieser Darstellung leidenschaftlicher und zugleich zarter Liebe bezeugen, daß dieselbe unter dem glühenden Himmel entstanden ist, dem wir das Hohe Lied und die Gitagovinde verdanken, so fehlt doch nicht ein dem353 abendländischen Gefühl verwandter Zug sanfter Schwärmerei und Schwermuth. (Schack.) Mit ebenso reicher lyrischer Fülle ist die Beschreibung des Lustortes von Sijawusch, Gangdes, und seiner paradiesischen Umgebung ausgemalt. Während daher das Homerische Epos ein Muster des streng epischen Kunstwerkes ist, während die Nibelungen dramatisch episch, aber ohne jeden lyrischen Zug sind: gehört das Schahname mehr zu jenen inkommensurablen Dichtungen, wo Episches, Dramatisches und Lyrisches sich üppig durcheinander ranken. Das persische Heldenbuch verleugnet den Charakter orientalischer Poesie nicht, wenn es auch gegen die kolossale und phantastische Erhabenheit der indischen noch maaßvoll erscheint. Die hyperbolische Darstellungsweise ist auch bei Firdusi vorherrschend. Die Hyperbel ist hier kein müßiger Schmuck; sie liegt den Handlungen und den Charakteren zu Grunde. Um uns einen Helden interessant zu machen, häuft Firdusi auf ihn eine Fülle des Außerordentlichen, so daß er durch das Unglaubliche seiner Kraft und seiner Leistungen hoch über gewöhnliche Menschenkinder hinauswächst.

Wir haben früher als einen gemeinsamen, oft mehr, oft minder ausgeprägten Zug dieser Volkepopöen das Elegische erwähnt und finden diesen elegischen Grundton auch bei Firdusi in einigen herrlichen Stellen angeschlagen. Abgesehn von jenen lyrischen Stimmungen, in denen sich die Ueberzeugung von der Nichtigkeit der Erscheinungswelt spiegelt, gewinnt die Klage über das Nichts und den leeren Schein des irdischen Glanzes in dem Theile der Dichtung, welcher Kai Chosru's Verschwinden behandelt, objektiv-epische Gestalt. Kai Chosru, der ruhmgekrönte Sieger über Turan, ein orientalischer Karl V., wird auf der Höhe seines Glückes welt - und lebensmüde, erklärt seinen letzten Willen, vertheilt Schätze und Lehnbriefe an die Großen, nachdem er ihrem Rath und ihren Ermahnungen widerstanden, der dunkeln Gewalt seines Schicksals, dem tiefen Drang seiner Seele folgend. Er nimmt rührenden Abschied von den Jraniern und seinen Töchtern, besteigt sein treues, schwarzes Roß Bahsad, das in der Dichtung mehr eine elegische Rolle spielt, wie Rustem's Roß Recksch eine heroische, reitet mit seinen treuen Pehlawanen in das wüste Gebirge und verschwindet dort, während in den Wirbeln eines Schneesturmes sein ritterliches Gefolge begraben wird. Dieser Abschnitt hat einen eigenthümlich wehmüthigen, dunkel ergreifenden Zug. 354Man sieht, der Dichter schwelgt hier recht in seinen Lieblingsgedanken, die hier unter seinen Händen greifbare Gestalt gewinnen.

Eine die Objektivität des Epos ganz verschattende Gewalt gewinnt indeß diese elegische Lyrik, diese Klage am frühen Grabe jugendlicher Helden und des heroischen Zeitalters überhaupt in den gälischen Gesängen Ossian's. Jn seinen Hauptepen: Fingal und Temora ist die Behandlungsweise der klassischen Homer's vollkommen entgegengesetzt. Beide verherrlichen kriegerische Züge des Kaledonierhäuptlings nach Jrland: im erstern eilt Fingal einem bedrängten irischen Häuptling Kuchullin zu Hilfe; im zweiten rächt er die Ermordung des jungen Königs von Erin Kormak an seinem Mörder Kairba und schlägt das Heer Kathmor's in die Flucht. Es ist der Völkerkrieg der Jlias; aber wie träumerisch ist die Behandlung! Jm Nebel wogen die Gestalten durch einander, und nur flüchtig, wie ein sich durchkämpfender Sonnenstrahl, erhellt die Poesie Ossian's bald den einen, bald den andern seiner Helden! Der Komposition selbst fehlt es nicht an Einheit, aber das Jnteresse der Handlung geht ganz verloren in diesen lyrischen Schilderungen, welche eine träumerische Beleuchtung der Natur, eine träumerische Stimmung der Seele zum Mittelpunkte des Gedichtes machen, so daß die kämpfenden Helden selbst nur wie Schattenbilder erscheinen, wie streitende Geister über Wolken gebeugt. Vergänglichkeit des Lebens und des Ruhmes das ist's, was Ossian's Seele am mächtigsten durchzittert, und so scheint es, als läßt er die Harfe aus der Hand gleiten, welche die Thaten der Helden feiert, ehe das Lied ausgesungen; denn die Wehmuth über die Nichtigkeit alles Jrdischen übermannt ihn:

Barde, sprach Kathmor, was weckst Du mir
Das Gedächtniß derer, die flohen?
Hat sich ein Geist aus dem düstern Gewölk
Zum Ohr dir geneigt, um so Kathmor
Mit Sagen der Vorzeit zu schrecken?
Jhr Bewohner der wolkigen Nacht,
Eure Stimmen sind nur ein Hauch,
Der das Haupt der Distel erfaßt
Und ihren Bart auf die Bäche verstreut.
355

Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's, und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl, wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter, Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder Beleuchtung! Dagegen ist die landschaftliche Natur nicht eine todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den verschiedenen Sternen des Himmels nein, diese hervorbrechenden Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde, die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen, diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener lyrischen Dämmerung, welche für Ossian die epische Plastik Homer's zu einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir noch das Czechy'sche Epos von Zaboj und Slawoj, die serbischen epischen Volksgesänge von König Lasar und Marko anführen, verdient das finnische Zauberepos Kalewala besonders erwähnt zu werden, weil es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert. Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes, bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische Orpheus, der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist Jlmarinen der finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen356 Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren Winter des baltischen Nordens eigen ist.

Dritter Abschnitt. Das Kunstepos.

Unter Kunstepos verstehn wir, im Gegensatze zur Volksepopöe, die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen zu ersetzen suchte. Als Kunstwerk steht die Volksepopöe, besonders die Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das Kunstepos ist nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit; das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer, als das eines Tasso, Camoëns und Milton; denn der Maaßstab der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel, während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker der romanischen Völker Nationaldichter geworden, aber nicht Volks - dichter im Sinne Homer's. Nur der große Dante hat die Plastik des Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das religiöse Epos späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die andern Kunstepen sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der357 Götter und Helden durch Erfindungen zu ersetzen, welche in Wahrheit erst den Namen einer Göttermaschinerie verdienten, indem sie an die theatralischen Flugmaschinen und Wolkenwagen erinnerten.

Die Grundgesetze des epischen Styls gelten natürlich auch für das Kunstepos, dessen Hauptverdienst es ist, seine Traditionen durch die Jahrhunderte fortgepflanzt zu haben. Das Ziel des Kunstepos kann nur eine Erfüllung mit volksthümlichem Gehalte sein; in seinen gelungensten Schöpfungen steht es diesem Ziele nahe, das auch für unser Jahrhundert nicht aus den Augen gerückt sein dürfte. Man hat allerdings den Roman das Epos der Neuzeit genannt; aber so geeignet seine Form für weitgehende Entwickelungen eines vielseitigen Jnhaltes und der ganzen realistischen Lebenspoesie ist, so darf man doch nicht vergessen, daß seine Kunstform nicht die höchste sein, nicht eine höhere für die Gegenwart und Zukunft ausschließen kann. Denn indem der Roman den Kammerdiener des Helden zu spielen das Recht hat, ist er der Höhe großer historischer Persönlichkeiten und Begebenheiten nicht angemessen und läßt zunächst das Bereich des Weltgeschichtlichen für eine epische Dichtung offen, welche durch eine mehr würdevolle und getragene Form auch das historisch Gegebene zu adeln vermag. Schiller trug sich in verschiedenen Epochen seines Lebens mit dem Gedanken eines solchen modernhistorischen Epos, zu dessen Helden er bald Friedrich den Großen, bald Gustav Adolph wählen wollte. Jn Bezug auf den ersteren Stoff schreibt er: Die Jdee, ein episches Gedicht aus einer merkwürdigen Action Friedrich's des Zweiten zu machen, ist gar nicht zu verwerfen, nur kommt sie für sechs bis acht Jahre für mich zu früh. Alle Schwierigkeiten, die von der so nahen Modernität dieses Süjets entstehen, und die anscheinende Unverträglichkeit des epischen Tons mit einem gleichzeitigen Gegenstande würden mich so sehr nicht schrecken. Ein episches Gedicht im achtzehnten Jahrhundert muß ein ganz anderes Ding sein, als eines in der Kindheit der Welt. Und eben das ist's, was mich an dieser Jdee so anzieht. Unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophieen, unsere Verfassungen, Häuslichkeit, Künste, kurz Alles muß auf eine ungezwungene Art darin niedergelegt werden und in einer schönen harmonischen Freiheit leben, sowie in der Jliade alle Zweige der griechischen Kultur u. s. w. anschaulich leben. Jch bin auch gar nicht abgeneigt, mir eine Maschinerie dazu zu erfinden, denn358 ich möchte auch alle Forderungen, die man an den epischen Dichter von Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen. Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoffe, in einem so prosaischen Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt wird. Es rollen allerlei Jdeeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch etwas Helles daraus bilden. Aber welches Metrum ich dazu wählen würde, erräthst Du wohl schwerlich. Kein anderes, als ottave rime. Alle andern, das jambische ausgenommen, sind mir in den Tod zuwider, und wie angenehm müßte der Ernst, das Erhabene in so leichten Fesseln spielen! wie sehr der epische Gehalt durch die weiche, sanfte Form schöner Reime gewinnen! Singen muß man es können, wie die griechischen Bauern die Jliade, wie die Gondoliere in Venedig die Stanzen aus dem befreiten Jerusalem. Auch über die Epoche aus Friedrich's Leben, die ich wählen würde, hab 'ich nachgedacht. Jch hätte gern eine unglückliche Situation, welche seinen Geist unendlich poetischer entwickeln läßt. Die Haupthandlung müßte, wo möglich, sehr einfach und wenig verwickelt sein, daß das Ganze immer leicht zu übersehen bleibe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig wären. Jch würde darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert darin anschauen lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die Jliade. Diese Winke Schiller's sind bedeutsam für die Neugestaltung eines volksthümlichen Kunstepos, das weder in dem Roman, noch in der poetischen Erzählung einen vollkommenen Ersatz finden kann. Wir mögen selbst von irgend einer mythologischen und phantastischen Maschinerie abstrahiren, eine äußerliche Forderung der Kunstrichter, die Schiller allzusehr imponirte, obgleich auch auf diesem Gebiete noch ein genialer Treffer möglich war; wir mögen hinter die ottave rime ein Fragezeichen machen, ohne gerade den Hexameter an ihre Stelle zu setzen aber im Wesentlichen zeigen diese Betrachtungen Schiller's unsern Dichtern den Weg zu einer idealeren epischen Kunstform, zu der sich unsere Poesie aus der jung-deutschen Prosa-Zersplitterung und ihren Nachklängen, den ersten Gährungen des modernen Elements, wieder emporraffen muß. Ein historisches Epos in diesem Schiller'schen Sinne wird ebenso hoch über dem historischen Roman stehn, wie Goethe's idyllisches Epos: Hermann und Dorothea359 über den modernen Dorfgeschichten. Und dies meisterhaste Epos zeigt uns zugleich, wie der Roman, auch als Kulturgemälde der Gegenwart, noch eine höhere epische Form neben oder über sich verträgt! Die liebenswürdige Jdylle des beschränkt bürgerlichen Lebens, im Gegensatz zu den großen weltgeschichtlichen Bewegungen, die lebensvoll in sie eingreifen, während ihre großen Hauptschläge in der Ferne verhallen, kann allerdings nicht mehr in ebenbürtiger Weise behandelt werden; aber dies Kunstwerk zeigt uns, daß auch die Verhältnisse unseres modernen socialen Lebens, unserer Zustände, Einrichtungen, selbst die großen Weltereignisse der Neuzeit sich nicht blos in der Romanprosa breitschlagen lassen, sondern für die Jnspirationen einer höheren Begabung auch noch in einer höheren Form ergiebig sind. Das gute Recht des Romans werden wir später vertreten; aber er kann nicht den großen dichterischen Styl des Epos ersetzen, welcher, nach den subjektiven Erhitzungen und Stürmen einer Durchgangsepoche, deren Niederschlag der Roman ist, gewiß wieder seinen Meister finden wird.

Wir können das Kunstepos, nach seiner historischen Entfaltung, in das historische, das romantische, das religiöse und das komische unterscheiden und wollen auf die einzelnen Arten einen flüchtigen Blick werfen.

1. Das historische Epos.

Das historische Epos der Griechen und Römer lehnte sich vorzugsweise an den Sagenkreis der Jliade an; aber es fehlte allen späteren Dichtern die Homerische Simplicität, Größe und Würde, die Naivetät der Jnspiration. Die Einheit der Komposition wurde aufgegeben; das Kunstwerk zersplitterte sich in eine Fülle von Episoden. Die Kykliker verherrlichten die Geschichte der Helena in biographischer Ausführlichkeit (Kypria von Stasinos), die Geschichte des Achilleus und des Aethiopierkönigs Memnon (Aethiopis von Arktinos), die Zerstörung Jlions, die Rückkehr der Atriden u. s. f.; ja Eugammon gab in seiner Telegonie eine Fortsetzung der Odyssee, deren Held Telegonos, der Sohn des Odysseus und der Kalypso ist. Andere Kykliker schufen das dorische Epos, indem sie vorzugsweise in der Thebais, Oedipodie u. s. f. den thebanischen Sagenkreis ausbeuteten. Aus dem kunstvollen Volksepos wird360 eine Art mythischer Geschichtschreibung in Versen. Spätere epische Dichter einer Epoche, in welcher sich lyrische und dramatische Poesie bereits entwickelt hatten, konnten von diesen Einflüssen nicht unberührt bleiben. So rühmt man an der Thebais des Antimachos, dem Lieblingsepos des Kaisers Hadrian, den erhabenen Styl und, im Gegensatze zu Homerischer Einfachheit, die uneigentliche bilderreiche Ausdrucksweise. Jnteressant bleibt der Versuch des Choerilos, ein streng-historisches Epos aus der jüngsten Gegenwart zu dichten und in seiner Perseis den Sieg der Athener über die Perser ohne jede mythische Beimischung zu besingen. Die Argonautika des Appolonius Rhodus dagegen aus dem alexandrinischen Zeitalter schließt sich wieder enger an das Homerische Vorbild an.

Das große Epos der Römer, die Aeneis des Virgilius Maro, das Werk eines gewandten Kunstverstandes und patriotischen Sinnes, ist eine pathetische Nachdichtung der naiven Homerischen Muster. Homer dichtete durch das Volk, Virgil für das Volk. Ein lebendiges Nationalgefühl, verbunden mit einer klugen Berechnung, ließ ihn jene Elemente der alten Sage auswählen, an welche sich die Herrlichkeit und Majestät der römischen Traditionen ungezwungen anknüpfte. Wie schmeichelhaft mußte es für die Römer erscheinen, von jenem tapfern Aeneas abzustammen, den ein Göttergeschick an Latiums Küste führt! Wie fesselnd wußte der Dichter, unbekümmert um alle Anachronismen, in der Episode von Dido und Aeneas ein individuelles Geschick zum Spiegel des Völkergeschickes zu machen und im Scheiterhaufen der von Liebe besiegten Dido den Brand Carthago's ahnen zu lassen! Und nicht blos an die glänzendsten Reminiscenzen der römischen Geschichte, an die punischen Kriege erinnerte diese Episode es lag in ihr zugleich eine feine Schmeichelei für den großen Cäsar Augustus, der sich ebensowenig wie Aeneas von einer andern syrisch-lybischen Fürstenschönheit, der üppigen Cleopatra, verlocken ließ, seiner geschichtlichen Sendung untreu zu werden! Wie imposant erscheint in der Unterwelt die Weissagung des Anchises von der Zukunft des völkerbeherrschenden Roms! Und indem so Virgil sein Epos mit allen jenen schmeichlerischen Zügen ausstattete, welche ihm die Bewunderung und Dankbarkeit der Quiriten sichern konnten, bewahrte er zugleich auf's Strengste die künstlerische Einheit der Komposition durch den bestimmten361 und lebendigen Zweck, der die Begebenheiten beherrscht, und wählte seinen Stoff so glücklich, daß er zugleich die Aristeia und den Nostos, die Jlias und Odyssee vereinigte. Freilich erinnert er oft an diese Muster und nicht zu seinem Vortheil, indem der Adel und die Würde seiner Darstellung, ihr feierlicher Gang in einem kunstvoll beherrschten Rhythmus nicht zu jenen Erfindungen passen will, welche die naive Muse Homer's in göttlicher Unbefangenheit und köstlicher Frische ausgeführt! Wo sich dagegen die Handlung mehr zum Pathetisch-Tragischen wendet, wie im Geschicke der Dido und der Camilla: da macht das reifere Zeitalter der Cleopatra, welchem bald das der Messalinen folgte, seine Rechte geltend, und das Pathos energischer Frauenseelen und einer leidenschaftlichen Liebe wird mit hinreißender Energie ausgeführt! Hier liegen auch die Uebergänge von dem Epos des Virgil, das durch den letzten Zweck der Staatengründung und einen durchgängigen prophetischen Zug, der auf Roms Größe hinweist, einen politischen Charakter hat, zu dem romanischen Epos des Tasso und Camoëns. Was aber außer Virgil von römischer Epik bekannt: das Gedicht des Naevius über den punischen Krieg, Rom's Annalen von Ennius in Verse gebracht, die Pharsalia des Lukan, des römischen Choerilos, der den naheliegenden Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompejus ohne alle Mythik mit rhetorischem Schwung schildert, des Silius Jtalicus Dichtung über den zweiten punischen Krieg, des Papinius Statius Thebais und Achilleis: das bewegt sich entweder gänzlich im Gleise der überlieferten hellenischen Formen oder erstickt das freie Spiel dichterischer Erfindung und Darstellung unter der Wucht des historischen Pathos.

Der Jtaliener Torquato Tasso, der eine Epoche zügelloser romantischer Erfindung wieder mit einem einheitlichen Epos, die freigeistigen Spiele chevaleresker Phantasie wieder mit kirchlichem Ernst abschließt, ist in seinem befreiten Jerusalem der Wiedererwecker des historischen Epos, der Virgil des Mittelalters. Auch er traf, wie Virgil, mit richtigem Jnstinkt einen Stoff, der für das neue Rom, die Beherrscherin des Mittelalters, von gleicher Bedeutung war, wie der Stoff der Aeneis für das alte, die Beherrscherin der alten Zeit. Der erste Kreuzzug, die Eroberung Jerusalems durch die Schaaren Gottfried's von Bouillon koncentrirt die ganze Völker bewegende Energie des kirchlichen362 Glaubens. Doch wie abgeschwächt erscheint dieser bei Tasso, im Vergleich mit Dante! Wie frostig abstrakt, ähnlich den Göttern des Virgil, erscheinen bei ihm Gott und Teufel, die christlichen Merkure, die Engel, und der heidnische Hofstaat des Satans! Dagegen greift die Zauberei der Nekromanten thatkräftig in die Handlung ein, zu Ungunsten der Helden, welche ihre Siege oft nur durch Zaubergewalt davontragen. Die ariostischen Episoden, Rinaldo und Armida, die Zauberin, die von der Tigerin gesäugte Clorinde, die wilde Heidin, welcher eine späte Nothtaufe das Tigerblut heiligt, und Tankred, Episoden, von denen besonders die erstere fast zum Mittelpunkt der Handlung gemacht wird, wollen zum Ernste des gläubigen Kampfes nicht passen! Wie schwächlich sind diese Helden, der üppige Rinaldo, dessen Hauptthat, die Entzauberung des verrufenen Waldes, durchaus als eine innerliche Entsühnung erscheint, der sentimentale Tankred in seinem unritterlichen Jammer! Auch die Erfindungskraft des Dichters erscheint gering das Schema Virgil's und Homer's schwebt ihm fortwährend vor; eine große Zahl von Schilderungen erinnert bis in's Einzelne an die Gesänge des Schwans von Mantua, während die mehr phantastischen Bilder zum großen Theil der reichen Phantasie des Meisters Ludoviko und seiner Vorgänger entlehnt sind! Dennoch genügt das, was dem Tasso eigen, die Wärme eines romantischen Liebesgefühls, das weiche glänzende Kolorit der Darstellung und die unnachahmliche Magie einer in sehnsüchtigen und zauberischen Rhythmen ergossenen Sprache, seinem Heldengedicht eine dauernde nationale Bedeutung zu sichern. Wie Tasso steht auch Camoëns an der Grenze des Mittelalters; aber wie jener den Blick rückwärts wendet, so dieser vorwärts in die Zukunft! Es ist das frische rührige Leben seefahrender Nationen,

Die Zauberluft, die ihren Zug umwittert,

die moderne Thatkraft und der Reiz exotischen Lebens, der seine Lusiade, deren Mittelpunkt die Entdeckung Ostindiens durch Vasco de Gama ist, zur portugiesischen Nationaldichtung gemacht hat. Aber der wackere Krieger und Seemann, der frisch aus dem eigenen Erlebniß heraus dichtete, war wohl glücklich in der Schilderung, besonders in unübertrefflicher Seemalerei, aber unglücklich in eigenen reizvollen Erfindungen und seine wettergebräunte Muse vermischte mit der Ungenirtheit eines Seemannes,363 der sich um theologische Fragen nicht kümmert, die heidnische und die christliche Sagenwelt. Einen ähnlichen exotischen Stoff behandelte der spanische Epiker d'Erzilla in seiner Araucana, die Besiegung der Rebellen von Arauko an der Küste von Chili durch die Spanier.

Die neue Zeit sucht vergebens nach einer Form für das historische Epos, das dennoch eine dichterische Nothwendigkeit ist und durch den historischen Roman nicht ersetzt werden kann. Voltaire, der in seiner Henriade den Homer und Virgil erreichen wollte, erreichte kaum den Lucan, dem er durch die Wahl eines nationalen Stoffes aus einer Zeit der Bürgerkriege verwandt ist. Seine allegorische Maschinerie macht einen nüchternen Eindruck; Erfindungen, wie die Reise Heinrich's V. zu Elisabeth, befremden als unhistorisch; der Palast der Schicksale, der Anblick der Thronfolger Heinrich's, erinnern an den Besuch des Aeneas in der Unterwelt und die Prophezeiungen des Anchises. Doch sind einzelne Schilderungen, wie die der Bartholomäusnacht, lebendig und die Feier der Toleranz im geöffneten Himmelreich entspricht dem Zeitalter der Aufklärung. Glover's Leonidas ist einfach kräftig, aber ohne Bedeutung; ebenso wie die Kolumbiade der Madame du Bocage. Neuere epische Versuche, wie die Napoleonischen Gedichte von Barthélemy und Méry, Pyrker's Tunisias und Rudolfias, Scherenberg's Waterloo und Leuthen, denen sich mein Carlo Zeno und Sebastopol anreiht, scheinen ihre Bedeutung darin zu finden, daß sie als Studien des epischen Styles betrachtet werden können, der sich zu reiner und plastischer Objektivität aus den episch-lyrischen Mischungen Byron's, Lenau's, Meißner's herauszuarbeiten sucht. Dieser epische Styl würde dann in einem modernen Kunstepos, wie es Schiller vorschwebte und das vorzugsweise ein historisches sein würde, der Träger der Dichtung werden. Die epische Tradition des Kunstepos von Virgil her, die sich durch Tasso, Camoëns, Voltaire u. A. hindurchzieht und eine etwas blasse Charakteristik, eine abstrakte Göttermaschinerie und die stereotype Wiederkehr derselben pathetischen und prophetischen Situationen im Gefolge hat, muß aufgegeben, mit einem neuen epischen Schema vertauscht werden. Wie Tasso die Aventuren der Rittergedichte in sein Epos aufnahm: so verträgt das modern-historische Epos die novellistische Episode, die spannend sein364 darf und soll, aber zugleich ein Kulturbild geben muß. Der Weltgeist, der Geist des historischen Fortschritts, im Bewußtsein und in den Thaten der Helden lebendig, ersetzt die alte Göttermaschinerie. Eine schöne dichterische Form aber wird die Nothwendigkeit des historischen Epos und seinen Unterschied vom Roman von selbst in das klarste Licht setzen.

2. Das romantische Epos.

Diese freiere epische Form, welche die organische Einheit des strengern Epos zerbricht, das Historische in freie Phantasiespiele auflöst, die Volkssage durch eigene sagenhafte Erfindungen ersetzt, persönliche Geschicke an die Stelle des Weltgeschickes setzt, deren Muse nicht die göttliche Begeisterung, sondern die irdische Phantasie ist, gehört eigentlich dem Mittelalter an als üppige Blüthe aller Licenzen des Ritterthums in der Welt des Herzens und auf dem Gebiete der That. Dennoch findet ihr großes Muster Ariosto bereits im Alterthum ein glänzendes Vorbild an dem geistvollsten Dichter Roms, Ovidius Naso, der in seinen Metamorphosen die Abenteuer der Götter und Menschen, nicht mit Homerischer Naivetät, nicht mit gläubiger Andacht, sondern mit dem üppigen Behagen einer freispielenden Phantasie darstellte, welche in den alten Mythen einen willkommenen Stoff für bunte und lebendige Schilderungen und die Arabesken einer geistvollen Reflexion fand. Obgleich wir weder an die Götter des Alterthums, noch an die Wunder der Ritterwelt glauben: so fühlen wir uns doch bei Ovid und Ariosto vollkommener heimisch; denn diese Dichter setzen einen Glauben nicht voraus, der ihnen selbst fremd ist. Für ihre Phantasie hat die Welt keine Schranken, alle Schwere des Stoffes ist aufgehoben, die Gesetze der Kausalität sind in ihrer Märchenwelt suspendirt und diese Schrankenlosigkeit erweckt bei uns dasselbe Behagen, von dem jene Dichter durchdrungen sind, und das sich als ein Lächeln feiner Jronie in ihren Zügen spiegelt. Die Darstellung ist bei Ovid und Ariosto oft echt episch, aber der Eindruck, den sie hervorbringt, ist kein epischer. Das Talent dieser Dichter ist größer, als das von Virgil und Tasso; aber an die Stelle des ordnenden Kunstverstandes tritt bei ihnen das willkürliche Spiel der Phantasie. Jn den Metamorphosen herrscht eine eigenthümliche Seelenwanderung;365 Thiere, Bäume, Blumen haben eine menschliche Vorgeschichte. Wölfe, Hunde, Schwalben und Nachtigallen, Schwäne und Eisvögel, Lorberbäume, Eichen, Anemonen, Narcissen und Hyacinthen Alles zeigt uns auf einmal ein menschliches Gesicht und plaudert die Märchen seiner Verzauberung aus! Wie sinnreich ist die Geschichte des Phaëthon und die des Narciß, wie pathetisch bewegt die der Medea, des Ajas, wie glänzend, geistreich, farbenreich der Styl des Ovid überhaupt, ein buntes Kaleidoskop zusammenschießender Mythenbilder! Sein mittelalterlicher Nachfolger gab im rasenden Roland zwar nicht blos eine Reihenfolge von einander unabhängiger Erzählungen; aber doch eine Mosaik von Episoden aus dem Karolingischen Sagenkreise, deren Zusammenhang durchweg äußerlich und locker! Die Phantasie des Ariosto war bei den Alten, besonders bei Ovid, in die Schule gegangen die alten Mythen treten in neuer Einkleidung wieder auf! Wer erkennt nicht in der an den Felsen geschmiedeten, dem Meerungeheuer preisgegebenen Angelika und ihrem Befreier Ruggiero die Andromeda und den Perseus wieder? Wer nicht in Orko den Polyphem, in Medea den Nisus, in der auf einsamer Jnsel verlassenen Olympia die Ariadne? Wieviel ist aus Lucan, Virgil, Homer, wieviel aus den nordfranzösischen Ritterepen, wieviel aus Pulci, Bojardo und andern Vorgängern entnommen! Die Originalität des Ariosto besteht aber in der freiironischen, das Ritterthum in Phantasterei auflösenden Auffassung. Ein Hauptmittel dieser Jronie ist die Hyperbel! Die Hyperbel des Ariosto unterscheidet sich wesentlich von der naiven Hyperbel der orientalischen Poesie. Die Tapferkeit der Ritter z. B. und die Liebesinnigkeit der Frauen wurde vorzugsweise von den ritterlichen Dichtern gefeiert. Doch wenn im Ariosto Rüdiger und Makramant mit ihren Lanzen so hart aneinanderstoßen, daß die Splitter bis in die feurigen Kreise des Himmels hineinfliegen und einige wieder angebrannt herunterfallen, wenn Bradamante so glühende Seufzer auf Rüdiger's Brief haucht, daß dieser in Feuer aufgegangen wäre, wenn nicht gleich wieder ihre strömenden Thränen ihn benetzt hätten: so liegt in dieser hyperbolischen Verzerrung im Vexirspiegel der Phantasie zugleich eine freigeistige Verspottung jener für das Ritterthum wesentlichen Tugenden366 und ihm heiligen Empfindungen! So ist das tolle Zeug des Meisters Ludovico, dies phantastische Schellengeläute der Phantasie, zugleich ein Grabgeläute des Ritterthums.

Ernster gemeint ist die Romantik im höfisch ritterlichen Epos der Deutschen, als dessen Höhepunkte Wolfram von Eschenbach's Parcival und Gottfried von Straßburg's Tristan und Jsolde zu bezeichnen sind. Das mystische Element, das dem Sagenkreise des heiligen Graals angehört, vermag indeß dem Parcival keine höhere, über das Abenteuerliche und rein Jndividuelle hinausgehende Bedeutung zu geben! Und die sündig-sinnliche Liebesgluth in Tristan und Jsolde ist in ihrer reflektirenden Leichtfertigkeit von den üppigen Phantasiespielen des Ariosto zu ihrem Nachtheile verschieden. Neben glänzenden Höhepunkten der Darstellung findet sich in diesen Dichtungen viel Einzelnes von ermüdender Breite, Schilderungen ohne Kraft und Poesie, äußerliche Malereien, und die einförmigen Verse mit den monoton wiederkehrenden Reimen machen einen ermüdenden Eindruck. Jn England verdienen Chaucer's romantische Nachdichtungen und Spencer's allegorisches Epos: Fairyqueen, dessen Nachwirkungen noch bei Byron und Shelley nachzuweisen, unter den romantischen Epen aufgeführt zu werden. Jn neuer Zeit haben die Ritterepen von Alxinger und vor allen Wieland's Oberon das romantische Epos wieder aufzuwecken versucht, und Wieland's behaglich sinnige Phantasie hat darin den Preis davongetragen. Die romantischen Dichtungen Tieck's sind in dramatischer Form geschrieben Brentano's Romanzen vom Rosenkranz, reich an diabolischer Genialität und an den lieblichsten Stellen, zeigen bereits eine polemische Wendung gegen die Zeit! Hiermit war die Harmlosigkeit des romantischen Epos aufgehoben, und wenn auch Ernst Schulze in seiner Cäcilie noch einmal seine umfangreiche Verjüngung versuchte, in der bezauberten Rose eine letzte duftige Blüthe auf sein Grab legte, beides Dichtungen von harmloser Phantastik, so war doch sowohl der Amaranth von Oscar von Redwitz, als auch Eichendorff's Julian, Robert und Guiscard u. a. bereits mit einer so feindseligen Reaktionspolemik gegen den Geist der Gegenwart zersetzt, daß die echt romantische Heiterkeit und Unbefangenheit gänzlich verloren gegangen ist. Jn der That367 bedürfte Redwitz eines neuen Meister Ludoviko, der seine Charaktere mit hyperbolischem Humor aufbliese und ausweitete, und sein Held Jungwalter, der aufdringlich predigerhafte Ritter, eines neuen Astolf, der ihm seinen Verstand in einer Flasche vom Monde herunterholte!

3. Das religiöse Epos.

Das religiöse Epos benutzt die Gestalten des Glaubens nicht als eine in die Geschicke der Menschen eingreifende Göttermaschinerie, sondern es macht sie zu selbstständigen Helden großer Dichtungen! Gehören diese Gestalten dem dogmatischen Kreise des christlichen Glaubens an, so liegt die Gefahr nahe, daß die epische Plastik verloren geht, daß an ihre Stelle verschwimmende Umrisse treten, indem die Jnnerlichkeit und Vergeistigung dieser Religion keine Skulpturbilder der Vorstellung duldet. Auf der andern Seite schien dem Kunstepos eine neue Volksthümlichkeit zu erblühn, indem es religiöse Stoffe wählte, welche im Herzen der Nation, im Herzen der ganzen Christenheit lebendig waren. Die große Trias der religiösen Ependichter Dante, Milton und Klopstock hat, bei aller Bedeutung ihres Genius, die erste Klippe nicht vermeiden können, aber ebenso durch die Wahl ihrer Stoffe eine tiefgreifende Volksthümlichkeit gewonnen.

Dante und Milton haben vor Klopstock voraus, daß ihre religiösen Epen zugleich eine politische Bedeutung haben, daß Dante die hervorragendsten Männer seiner Zeit vor das erhabene Tribunal seiner weltgerichtlichen Muse lud, daß Milton seinen kühnen puritanischen Rebellengeist dem höllischen Lucifer lieh. Dante hat sich in seiner göttlichen Komödie, hervorgerufen durch die antiken Vorbilder, die Homerische und Virgilische Schilderung der Unterwelt, auf welche er die Ueberlieferungen seines Glaubens übertrug, von allen diesen Dichtern die größte Freiheit der Phantasie bewahrt und verdankt der religiösen Vorstellung nur den jenseitigen Kosmos, den er frei mit den Gestalten seiner Einbildungskraft bevölkert. Die Weltgeschichte als Weltgericht in das Jenseits verlegt, das ist der Stoff seiner großartigen und unerschöpflichen Jntuition in der divina commedia. Dabei war dieser große Ghibelline volksthümlich in des Wortes strengster Bedeutung! Denn gerade was ihn zum Liebling der heutigen gelehrten Analyse macht, die bis in's368 Einzelne gehende Fülle von Gestalten, Thaten, Begebenheiten aus seiner Zeit, deren fragmentarische Chronik er in den Abgründen seiner Hölle, wie in den lichten Himmeln des Paradieses giebt: das war ja seiner Gegenwart, für die er dichtete, durchaus vertraut, an's Herz gewachsen, ohne jeden Kommentar verständlich! Seine nachahmenswerthe Bedeutung für alle Zeiten besteht ja gerade in der frischen und freudigen Hingabe an seine Zeit, von der er freilich auch die Mystik, den Scholasticismus und die Liebe für symbolisirende Darstellung mit überkam! Die sinnliche und lebensvolle Plastik des Katholicismus tritt am kräftigsten in dem Jnferno hervor! Hier ist Größe der Anschauungen, eine architektonische Klarheit, welche den Grundriß des höllischen Trichters nirgends aus den Augen verliert, sondern ihn bis in jeden einzelnen Abgrund mit Treue und Genauigkeit ausführt; hier ist eine Meisterschaft der Zeichnung mit großen, bestimmten, sichern Zügen; hier eine Fülle ergreifendster Schilderungen von dem süßen Liebesgeflüster einer Francesca da Rimini bis zu Ugolino's Hungertod; hier eine erstaunenswerthe Erfindungskraft in Bezug auf das gigantische Marterzeug in dieser Folterkammer der Menschheit! Jm Purgatorio tritt an die Stelle der gewaltigen Plastik eine sanftere Malerei, welche im Paradiso von einem ätherisch-scholastischen Hymnenschwung abgelöst wird, von einem vorwiegend musikalischen Element!

Milton und Klopstock legten von Hause aus ihrer Phantasie Fesseln an, indem sie aus dem alten und neuen Testament Stoffe entnahmen, die für den Glauben einen so festen und unerschütterlichen Jnhalt haben, wie keine profane Ueberlieferung. Die dichterische Erfindung war daher auf einen kleinen Kreis beschränkt und mußte selbst mit vorsichtiger Schonung des heiligen Jnhalts zu Werke gehn. Milton's großer Genius dichtete in die Ueberlieferung des alten Testaments einen tiefen Sinn hinein, welcher dem Bewußtsein seiner Zeit angehörte! Als Puritaner fand er im Akt sinnlicher Liebe die Ursünde der Menschheit diese Ursünde ist das Motiv des verlorenen Paradieses. Jn Adam und Eva schilderte er die typischen Urmenschen, sein Paradies ist eine reizende Jdyllik landschaftlicher Natur. Der epische Kampf aber spielt zwischen Himmel und Hölle, die hier in ihrem polaren energisch bewegten Gegensatz geschildert werden. Der Fürst dieser Hölle, Lucifer,369 der Urahn der Byron'schen und Shelley'schen skeptischen Teufel, ist weder ein Dante'sches inkarnirtes Ungethüm, noch ein lustiger Volksteufel er ist der Urprotestant, dem Himmel und Hölle gleichgültig, weil der Geist seinen Himmel und seine Hölle in sich selbst trägt! Die ewige Rebellion des freien Gedankens gegen die Autorität ist der religiösphilosophische Gegensatz in Milton's lost paradise, das reich ist an oft bizarren, oft aber überaus anmuthigen und schönen Schilderungen! Wenn in ihm, neben dem Gedankenvollen, das Malerische überwiegt, so in Klopstock's Messiade das Musikalische, ein theologischer Schwung aus voller Brust, ein Hymnen - und Oratorienstyl mit oft erhabenen, oft gedankenleeren Anläufen. Die Umdichtung der alten Evangelien - Harmonieen im Element einer neuen, antikbiblischen Form und durch einen schwunghaften Genius mußte für unsere literarische Entwickelung Epoche machend sein, erreichte aber bei weitem nicht die plastische Größe des Dante'schen Jnferno, die Gedankenhoheit des Milton'schen Paradieses.

Jn Dante und Milton ist der religiöse Stoff philosophisch erfaßt noch mehr wird unsere Gegenwart das religiöse Epos in das philosophische verwandeln. Byron's Mysterien, Goethe's Faustiade und andere hier einschlagende Dichtungen haben zwar keine strenge, sondern, wie schon Dante's divina commedia, eine über die Gattungen übergreifende Kunstform. Doch läßt sie die dialogisirte Einkleidung, die Nachahmung der alten Mysterien, Moralitäten und Volksschauspiele der dramatischen Dichtung einreihn. Dagegen dürfte Julius Mosen's Ahasver beweisen, daß ein religiös-philosophisches Epos in strenger Form auch für unsere Zeit noch zu dichten ist; ja es scheint uns zweifellos, daß die plastische Form des Epos, die auch ein geistiges Universum zu spiegeln vermag, sich besser für religiös-philosophische Dichtungen eignet, als die dramatische, indem der Dialog nicht die Breite und Fülle einer universellen Darstellung ersetzen kann.

4. Das komische Epos.

Wie für das Erhabene, ist die epische Darstellungsweise auch für das Komische geeignet, das die Breite der Sinnlichkeit liebt. Das Komische kann geradezu als Parodie des Erhabenen auftreten so parodirte der370 Froschmäusekrieg den Homerischen Styl überhaupt, die travestirte Aeneis von Blumauer den Virgil mit kritischem Scharfblick für seine Schwächen, die pucelle von Voltaire die Romantik der heroischen Jungfrauen mit größerer Plastik, trotz alles Cynismus, als seine Henriade bietet.

Dann kann aber das komische Epos selbstständig einen Stoff aus unserem Leben behandeln. Auch hier liegt eine parodirende Auffassung zu Grunde, indem der Epiker ein ganz unbedeutendes Objekt mit allem Aufwande epischer Erhabenheit, Anrufung der Musen, Göttermaschinerie u. dgl. m. behandelt. Doch gewinnt hier die Komik durch eine scherzhafte Phantastik und scharfe schlagende Satyre eine selbstständige Bedeutung. Hierher gehören einige in ihrer Art vortreffliche Dichtungen der vorigen Jahrhunderte: Tassoni's geraubter Wassereimer, Butler's Hudibras, Boileau's Kirchenpult, Pope's Lockenraub und Dunciade, Zachariä's Renommist, Schnupftuch u. s. w. Die allegorischen Maschinen, wie z. B. Boileau's Zwietracht, Nacht und Trägheit, sind hier besser, als in der Henriade, an ihrem Platze. Wir erinnern nur an Pope's reizende neckische Silfen, an die ausgezeichnete Schilderung der Göttin Langeweile in Zachariä's Schnupftuch, um darauf hinzudeuten, wie dies komische Epos verdient, in der Gegenwart wieder angebaut zu werden. Ueberall in der Poetik ist es unser Bestreben, auf ältere Formen hinzuweisen, die, längere Zeit vernachlässigt und scheinbar veraltet, nur des schöpferischen Talentes harren, welches den Geist der Gegenwart in sie hineinbannt; überall betonen wir wieder die strengere Kunstform für den jugendlich modernen Geist, der seine jungdeutsche Genialität endlich einmal ausschäumen muß in der fragmentarischnovellistischen Feuilletonprosa, um auf allen Gebieten eine klassische Sicherheit und Formenschönheit zu erringen. Kleinere komische Epen nach Pope's und Boileau's Muster in gereimten Jamben von abwechselnden Füßen oder in Freiligrath'schen Alexandrinerstrophen sind für ein graziösmodernes, an der feinen Eleganz des neufranzösischen Feuilletonstyles herangebildetes Talent gewiß eine willkommene Dichtform, die sich durch die humoristische Novellette nicht ersetzen läßt. Denn das ideale Element, das einmal in der rhythmischen Form und im Reim liegt, läßt sich durchaus nicht als gleichgültig veranschlagen; es trägt auch die371 komische Muse, giebt ihr einen heiter phantastischen Schwung und ihren gelungenen Wendungen eine dem Gedächtniß der Nation sich einprägende Form. Auf der andern Seite werden solche mehr plastische Formen dazu dienen, unsere komische Muse von der stereotypen Heine'schen Manier zu befreien, an welcher sie krankt. Jn Otto Roquette's Waldmeisters Brautfahrt liegt ein ansprechender Versuch in dieser Gattung vor.

Das größere satyrische Thierepos, das im Wesentlichen allegorisch ist, indem in ihm die Thiere als personificirte Eigenschaften auftreten, hat im alten Reinecke Fuchs sein klassisches Muster, das Goethe, Glaßbrenner u. A. in verschiedener Weise zu modernisiren suchten. Ueber diese feststehenden Typen wird eine neuere Erfindung nicht hinausgehn können, wenn auch Heine's Atta Troll eine geistvolle Variation auf das alte Thema ist. Als Gipfelpunkt des komischen Epos bezeichnen wir das humoristische, das in der derb-volksthümlichen Holzschnittmanier der Jobsiade, als genialer Welt - und Lebensspiegel aber in Byron's Don Juan seine Muster findet. Hier kann auch die ernstere epische Muse ihren ganzen dichterischen Reichthum entfalten; hier kann ein großer Genius, ohne in die Blasirtheit des weltmüden Lords zu verfallen, ein echt modernes Weltepos dichten, das künstlerischen Werth und Volksthümlichkeit vereinigt. Das Burlesk-Joviale, wie es in Glaßbrenner's verkehrter Welt hervortritt, hat indeß ebenfalls sein gutes Recht.

Vierter Abschnitt. Die dichterische Erzählung.

Durch die Auflösung des Kunstepos, dessen Wiedergeburt in strenger Form wir nicht nur für möglich, sondern für wünschenswerth halten, entstanden in neuer Zeit zwei beliebte epische Formen: die poetische Erzählung, in welcher die Totalität des epischen Weltbildes aufgegeben wurde, um ein einzelnes Ereigniß mit dichterischer Kunst, die aber meistens in's Lyrische übergreift, auszumalen, und der Roman, in welchem die Totalität des Weltbildes festgehalten, die künstlerische Form aber in die Breite der Prosa verflacht wurde. Beide Formen gingen indeß auch dem großen Epos zur Seite! Die Erzählung ist die selbstständig losgelöste372 epische Episode und als solche des epischen Geistes und Styls theilhaft. Dennoch hat die neuere Zeit, die sie mit großer Vorliebe gepflegt, das Lyrische in aller Fülle mit in sie aufgenommen, während das Didaktische schon von den Griechen und Römern mit ihr verschmolzen wurde. Wir wollen ihre Formen in aller Kürze betrachten.

1. Die strengepische Erzählung.

Die Jdylle (εἰδυλλιον, kleines Bild) vertritt vorzugsweise diese Gattung in allen Zeitaltern. Einfachheit der Handlung, plastische Wahrheit der Darstellung sind ihr ebenso wesentlich, wie jene arkadische Beseligung, die aus der unbefangenen Einheit der Natur und Kultur hervorgeht. Jn der vollkommenen Harmlosigkeit der Existenz besteht der ganze Reiz der Jdylle. Wohl sind Konflikte nicht ausgeschlossen, aber sie dürfen nicht den Rahmen des Genrebildes sprengen. Deshalb sind die meisten modernen Dorfgeschichten keine Jdyllen, weil sie Konflikte einer ausgebildeten Kulturwelt, Konflikte juristischer und confessioneller Art, rohe, wüste Leidenschaften u. dgl. m. mit in ihren Kreis hinübernehmen. Der frische Duft der Ackerfurche allein kann den arkadischen Hauch nicht ersetzen. Es fehlt das Vollglück, die Harmonie innerhalb enger Schranken! Eher verträgt die Jdylle einen leisen komischen Anstrich man denke z. B. an den verliebten Alten Aegon in Theokrit's Rinderhirten. Reizende humoristische Prosaidyllen von der größten geistigen Tiefe, deren diese Form fähig ist, hat Jean Paul geschrieben. Auch einzelne Genrebilder aus Auerbach's ersten Dorfgeschichten sind treffliche idyllische Burlesken. Das arkadische Vollglück der Jdylle darf indeß nicht in die klare Empfindung ihrer Helden gelegt werden, sondern nur wie ein leiser Hauch epischer Stimmung um das plastische Bild zittern. Wir selbst empfinden uns in jene objektiven Situationsbilder hinein, und der Kontrast einer einfach kindlichen Welt, die sie darstellen, mit den verwickelten Verhältnissen, in denen wir uns bewegen, kann in uns eine elegische Rührung hervorrufen. Geßner griff hierin fehl, indem er seinem Helden eine geschmückte Sentimentalität ankränkelte, welche an die arkadischen Komödieen des Hofes von Trianon erinnert. Die neue Jdylle braucht sich nicht, wie Theokrit, Bion, Moschus, Virgil, auf das ländliche Leben der Fischer, Schnitter, Hirten zu373 beschränken, um so mehr, als dies Thema durch die Pegnitzschäferdichtungen und Geßner bis zu widerwärtiger Unnatur ausgebeutet worden ist; alle einfachen Lebensverhältnisse sind einer idyllischen Behandlung fähig, und selbst die geistige Bildung ist nicht ausgeschlossen, sobald sie nur als fest, konservativ, fertig auftritt, ohne Kampf, Gährung, Zerrissenheit. So hat Voß in seiner Louise, einer von frischer und gesunder Landluft durchwehten norddeutschen Jdylle, die Poesie eines ländlichen Pfarrhauses dargestellt hier fehlt nicht die Zeitung und der kunstvoll bereitete Kaffee und die geistliche Weisheit, doch bleiben die Zustände einfach, nur angeflogen von der Kultur. Noch kunstvoller läßt Goethe in seinem idyllischen Musterepos: Hermann und Dorothea nur Naturelemente walten, frische Rheinluft und selbstgezogenen Rheinwein; aber der Pfarrer und Apotheker sind, trotz ihrer gelehrten Bildung, echte Helden der Jdylle. Jean Paul's Schulmeister Wuz und Fibel können für Muster solcher Helden gelten. Der landschaftliche Hintergrund ist schon von Theokrit und Virgil mit Meisterschaft dargestellt worden. Der frische, freie Duft, der über der Landschaft schwebt, gehört mit zum Zauber der Jdylle; doch bleibt die Landschaft nicht todte Scenerie, sie hat Beziehung auf den Menschen. So z. B. in Virgil's erster Ekloge:

O glückseliger Greis, hier zwischen vertraulichen Bächen
Und an heiligen Quellen erfrischt dich schattige Kühlung,
Wo der Zaun hinab an benachbarter Grenze des Feldes
Stets hybläische Bienen in Weidenblüthe bewirthet,
Wiegt ein leises Gesummse Dich oft in gemächlichen Schlummer:
Hier am hangenden Fels singt hoch in die Lüfte der Winzer,
Während indeß dein Liebling, die heitere Taube des Waldes,
Rastlos girrt, und die Turtel vom lustigen Wipfel der Ulme.

(Nach Voß.)

Die Naturumgebung bei Voß ist eine bäuerliche Feld - und Gartenprosa; bei Geßner sind es gemalte Koulissen ohne den geringsten Schweizer Berg - und Mattenduft! Dagegen schwebt die Poesie des Rheinthales, ohne alle Aufdringlichkeit, reizvoll über Goethe's Hermann und Dorothea, eine Magie, welche Wolfgang Müller in seiner Maikönigin, trotz breiter ausgeführter Schilderung, nicht zu erreichen vermochte. Die Dorfnovelle hat in neuer Zeit den idyllischen Hexameter verdrängt. Ein Versuch Moritz Hartmann's in Adam und374 Eva, ihn wieder einzuführen, hat wenig Anklang gefunden, vielleicht weil zu viele Elemente moderner Bildung und Reflexion z. B. Betrachtungen über Humboldt's Kosmos mit in die Waldeinsamkeit hinübergenommen waren; doch verdient er schon als künstlerische Reaktion gegen die immer seichter werdende Prosa der Dorfgeschichten Beachtung.

2. Die didaktisch-epische Erzählung.

Diese Erzählung ist sich nicht Selbstzweck; sie stellt eine Moral, eine Weisheitslehre in anschaulichen Bildern dar. Ton und Styl sind episch; aber das Lehrhafte liegt zu Grunde. Die epische Unbefangenheit wird einer darzustellenden Bedeutung geopfert. Wir können zwei Hauptarten unterscheiden:

a. Die Fabel.

Die Fabel ist die erdichtete Geschichte eines besondern Falls, in welchem wir anschauend eine allgemeine Wahrheit erkennen. Der größte Theil der Fabeln hat Thiere zu handelnden Personen, weil die Thiere wegen der allgemein bekannten Bestimmtheit ihrer Charaktere für die Zwecke des Fabeldichters am bequemsten sind. Die Schranken ihrer Natur werden zwar insofern erweitert, als man ihnen Sprache und vernünftige Absichten leiht; aber ihr wesentlicher Charakter darf nicht verändert werden. Der Fabeldichter darf das Schaf nicht verwegen, den Wolf nicht sanftmüthig, den Esel nicht feurig vorstellen. Die Fabel ist naiv; sie stellt ihre Geschichte weder als eine Allegorie, noch als ein Wunder dar, sondern als eine Wirklichkeit, die sich in einer Zeit zugetragen, in welcher die Voraussetzungen des Fabeldichters selbstverständliche Geltung hatten. Die Moral der Fabel ist entweder in ihr latent, oder sie kann noch besonders am Anfange oder Schlusse ausgesprochen werden. Wir können die Fabel eintheilen in die epigrammatische, die Fabel des Aesop, und in die humoristische, die Fabel des Lafontaine. Die erste giebt in der Darstellung des besondern Falles Nichts als was zur Anschauung des allgemeinen Satzes gehört; sie ist präcis und von lapidarischer Kürze. Jhrer objektiven Haltung steht die subjektive der zweiten entgegen, welche mit heiterer Geschwätzigkeit hin und her schweifende Arabesken um den Rahmen der Geschichte flicht. Lessing's scharfer Verstand, der immer nur auf den Kern dringt, hält die erste für375 allein berechtigt; doch kann sich die freispielende und scherzende Phantasie mit gleichem Rechte des Fabelstoffes bemächtigen. Die metrische Form und der Reim geben der Fabel sowohl pointirten Abschluß, als auch lapidarische Haltung und wenn Lessing seine Fabeln in Prosa schrieb, so mag für ihn seine eigene Entschuldigung gelten: er habe die Versifikation nie so in seiner Gewalt gehabt, daß er auf keine Weise besorgen dürfen, das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da den Meister über ihn spielen.

Wir erwähnen als Fabeldichter den Griechen Aesop, den Römer Phädrus, den Jndier Bidpai, den Araber Lokman, den Engelländer Gay, den Franzosen Lafontaine, der den Konversationston des Salons auf das Thierreich übertrug. Von älteren deutschen Fabeldichtern ist Stricker, Boner, Burkard Waldis anzuführen. Gellert war weitschweifig wie Lafontaine, aber in seiner Redseligkeit mehr doktrinair als humoristisch; kürzer waren Pfeffel, Gleim und besonders Lichtwer und Lessing. Jn neuer Zeit ist die Fabel wenig angebaut, nur der Schweizer Fröhlich verdient Erwähnung.

b. Die Parabel.

Die Parabel stellt ebenfalls wie die Fabel einen allgemeinen Satz in der Form eines besondern Falles dar; aber für die Fabel ist dieser Fall Wirklichkeit, für die Parabel Möglichkeit, für die Fabel Geschichte, für die Parabel Beispiel. Die Parabel wählt daher in der Regel alltägliche menschliche Handlungen, die nicht einmal geschehn sind, sondern immer wieder geschehn. Der Sämann z. B., der seinen Samen ausstreut, ist kein bestimmtes Portrait; er vertritt nur die Millionen Ackersleute der Erde. Die Parabel veranschaulicht in der Regel eine volksthümliche Wahrheit an einem volksthümlichen Beispiele. Deshalb muß sie durchsichtig sein der Sinn meist von Anfang an durch die krystallklare Darstellung der Thatsache hindurchschimmern. Die schönsten Parabeln enthält das neue Testament. Die Herder'schen Paramythien sind mythische Parabeln, in denen der besondere Fall, das Beispiel, einem alten oder neu umgedichteten Mythos angehört. Einige scherzhafte Parabeln hat Goethe gedichtet.

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3. Die lyrisch-epische Erzählung.

Wir haben bereits bei der Darstellung der Lyrik die Ballade erwähnt, als das epische Lied, das ein Erlebniß oder Begebniß ganz in Empfindung auflöst. Jhr gegenüber tritt die Romanze als die lyrische Erzählung, in welcher die Begebenheit als solche in den Vordergrund tritt und nur die lyrische, aber nicht liederartige, sondern farbensatte Behandlung mit der epischen wechselt. Bei größerem Umfange wird die Romanze zum erzählenden Gedichte, zu welchem schon ein Romanzencyklus den Weg bahnt. Mit diesen erzählenden Gedichten ist heutzutage der literarische Markt überfluthet sie sind die Lieblingsform der Gegenwart, da sie immer reichen Wechsel von Schilderungen, Reflexionen und Empfindungen verstatten.

Schiller's Balladen, wie: der Kampf mit dem Drachen, die Kraniche des Jbykus, die Bürgschaft u. a. vertreten auf's Klarste den modernen Romanzenstyl; auch die Balladen Bürger's gehören, trotz ihres volksthümlichen Styles und oft gespenstigen Jnhaltes, hierher; ebenso Goethe's Braut von Korinth, des Sängers Fluch von Uhland, viele Balladen von Körner, Kerner, Schwab, Pfizer, Chamisso, Thomas Moore, Puschkin, Heine im Romanzero u. A. Die liederartige Ballade ist eine Seltenheit die Romanze und das erzählende Gedicht hat sie verdrängt.

Jn der freien Mischung des Epischen und Lyrischen muß dennoch eine bestimmte Gesetzmäßigkeit walten, das Vorwiegen des epischen Elementes gesichert sein. Wiegt die Lyrik vor: so werden wir einen Reichthum glänzender Einzelheiten, stimmungsvoller Schilderungen, geistvoller Reflexionen erhalten; aber die fortgehende Handlung wird durch die beständigen Eingriffe des Subjekts zur Unzeit unterbrochen werden; wir vergessen über dem Dichter die Begebenheit, die er darstellt. Schiller's Romanzen enthalten glänzende Beispiele einer streng epischen Darstellung wir erinnern nur an den Kampf mit dem Drachen selbst, an den Umgang des tragischen Chors in den Kranichen des Jbykus, an Fridolin's Gang nach dem Eisenhammer. Dagegen wiegt in Byron's erzählenden Gedichten der Braut von Abydos, der Korsar, der Giaur der subjektive Schwung des Dichters vor, der377 Handlung und Charaktere in das Element seiner eigenen leidenschaftlichen Stimmung untertaucht. Da diese Stimmung bei Byron selbst ebensoviel Größe wie Tiefe hat, so war sein Vorbild verführerisch für die episch-lyrische Dichtung der Gegenwart. Der Stoff der Erzählung erschien als gleichgültig man konnte ja jedem ein glänzendes Kolorit geben, in jedem die Fülle der eigenen Seele niederlegen. Thomas Moore's Lalla Rookh hatte orientalische, farbenschimmernde Erzählungen im Gefolge! Das exotische Element begann in dieser Form eine große Rolle zu spielen. Die transatlantische Welt wurde von Longfellow und noch mehr in der deutschen Dichtung von Böttger, Strodtmann u. A. verherrlicht. Bodenstedt's Ada schilderte uns Natur, Leben, Volkssitte und Kampf im Kaukasus, Puschkin altrussisches Leben und die Tartarenreminiscenzen der Krimm, Carl Beck im Janko ungarische Volkssitten, während Annette von Droste - Hülshoff in ihren erzählenden Gedichten das einheimische Kolorit der westphälischen Eichenkämpe und Sumpfmoore festhielt. Walter Scott in seinen dichterischen Erzählungen, der Jungfrau vom See u. a., in denen der epische Ton außerordentlich glücklich getroffen ist, verherrlichte die schottischen Hochlande. So schien das Kolorit auf der einen Seite zur Hauptsache zu werden, während auf der andern nach Byron's Vorbild die subjektive Wendung, die Begeisterung für die Reform, für den Fortschritt der Menschheit z. B. in Lenau's Albigensern und Savonarola die dichterische Erzählung mit einem geistigen Pathos erfüllte! Es giebt kaum einen Ton, der von ihr in neuester Zeit nicht angeschlagen worden wäre. Die lyrisch-epische Erzählung ist der Modeartikel des Tages geworden.

Es ist keine Frage, daß sich das romantische Epos in solche Erzählungen auflösen läßt; daß wir schon Ovid ebenso an dieser Stelle hätten anführen können, daß besonders die ritterlich höfische Epik des Parcival, Titurel, Tristan, Lohengrin hierher gerechnet werden kann. Schon im Mittelalter ging diesen größeren Epen die kleine Erzählung zur Seite. Der Cid selbst ist nur ein Cyklus von Romanzen. Doch tritt in allen diesen Schöpfungen das Lyrische mehr zurück, als in der modernen poetischen Erzählung, die auf eine Erschlaffung der Gattungsunterschiede hinzudeuten scheint. Wir haben schon einmal darauf hingewiesen,378 daß die schärfere Herausbildung des episch-plastischen Styles für die poetische Erzählung das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben können, kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich ablösen, die That lyrisch besungen, die Liebe episch beschrieben wird und der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, die für den Dichter dichtet und denkt, vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt.

Fünfter Abschnitt. Der Roman und die Novelle.

Der Roman wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt! Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine379 geräumige und bequeme Form treten, welche auch die realistische Prosa der verwickeltsten Kulturverhältnisse in sich aufzunehmen und wiederzuspiegeln fähig ist. Der Roman, das moderne Epos in Prosa, das sich nur an die allgemeinsten Gesetze des epischen Styles bindet und sonst die größten Freiheiten der Auffassung und Behandlung verträgt, ist daher ein willkommener Ersatz für die alte Volksepopöe! Wir haben indeß schon früher erwähnt, daß wir seine ausschließliche Berechtigung für die epische Darstellung des Kulturlebens der Gegenwart nicht anerkennen; daß wir ein modernes rhythmisches, kunstgeadeltes Epos im strengeren Styl für möglich halten, in welchem zwar unsere Kultur nicht erschöpfend bis in ihre Einzelnheiten, aber doch in ihren Höhenpunkten, in ihren wesentlichen Zügen genugsam dargestellt wird, um der Nachwelt ein dichterisch markirtes Gemälde unseres Jahrhunderts zu hinterlassen. Es bedarf nur eines großen Genius und eines kühnen Griffes zum thatsächlichen Beweise unserer Ansicht. Was aber ein Kulturgemälde der Vergangenheit betrifft, so werden wir stets dem historischen Epos den Vorzug vor dem historischen Roman ertheilen.

Wir wollen nun sehn, was dem Roman mit dem Epos gemeinsam ist, und was beide von einander unterscheidet. Das Epos entrollt sein Kulturgemälde, indem es meistens einen Völkerkampf darstellt; der Roman hält sich an ein individuelles Erlebniß! Das Epos wählt zu seinen Helden hervorragende Charaktere, geschichtlich gefeierte Namen; der Roman vermeidet sie und sucht das Weltbild, das er darstellt, an das Geschick erfundener Helden zu knüpfen. Dies hängt damit zusammen, daß der epische Dichter das naive Organ seines Volkes ist, der Romandichter dagegen sein Werk mit dem vollen Bewußtsein einer frei erfindenden Phantasie schafft. Wenn er in der Darstellung der äußern Welt den Regeln des epischen Styles folgt: so darf er dagegen auf die innern Entwickelungen, auf die Dialektik der Empfindungen, auf die Geheimnisse des Seelenlebens, auf die Magie und wechselnde Beleuchtung der Gedankenwelt eine sinnige, eingehende Betrachtung wenden die psychologische Malerei ist bis zu mikroskopischer Ausführung verstattet. Die Würde und Erhabenheit des heroischen Epos kann der Roman nicht erreichen; dagegen darf er von einer größeren pathologischen Wärme durchdrungen380 sein und an geeigneter Stelle selbst den Pulsschlag einer lyrischen Phantasie, das Pathos des Dramatikers entfalten!

Die Göttermaschinerie des Epos wirkte besonders durch den volksthümlichen Reiz des Wunderbaren, durch eine Fülle olympischer Ueberraschungen, welche in das Geschick der Sterblichen eingriffen. Das Rittergedicht, das romantische Epos, ersetzte die klassischen Mythen durch phantastische Zaubermärchen; der Roman, der sich schon als letztes Erzeugniß der hellenischen Poesie von der Grundlage des Mythos sonderte, als Ritterroman eine volksthümliche Prosaauflösung des Rittergedichtes war, nahm das Wunderbare ebenfalls mit aus dem Epos in seine freiere Form hinüber; aber er begann bereits damit, ihm eine andere Gestalt zu geben und die himmlischen Wunder in Ueberraschungen des Zufalls und seine abenteuerlichen Eingriffe in das Menschengeschick zu verwandeln. Schon in jenen ersten griechischen Romanen des Antonius Diogenes, Jamblichos, Lukianos, Heliodoros, Achilleus Tatios u. A. tritt die Abenteuerlichkeit des ungewöhnlichen Begebnisses an die Stelle des göttlichen Mythos und der thätig eingreifenden Erscheinung des Gottes. Die Geheimnisse der Erde, des Kosmos mußten sich enthüllen! Und wenn auch Lukian mehr persiflirend das Leben der Sonn - und Mondbewohner schildert, so stellt uns doch Antonius Diogenes in den Unglaublichkeiten jenseits Thule eine Reise um die Welt, eine Nordpolexpedition u. dgl. m. mit phantastischem Ernst dar. Wie wunderbar sind in Jamblichos babylonischen Geschichten die Geschicke des Rhodanes und der Sinonis, wie spannend die Verfolgung der Liebenden durch den König Garmus, welch 'überraschender Wechsel im Schicksal des Rhodanes, der, schon an's Kreuz angenagelt, wieder herabgenommen und noch König von Babylon wird. Wie seltsam im Heliodor die äthiopische Königin, die im Augenblick der Empfängniß ein Bild der Andromeda angeblickt hatte und nun mit einem weißen Kinde niederkam, die daraus entstehenden Verwickelungen, die Keuschheitsprobe der Chariklea u. s. f., wie unterhaltend die Räubergeschichten in den Erotika des Tatios! Das Absonderliche, Ueberraschende tritt überall an die Stelle des mythisch Wunderbaren! Aehnlich in den ersten Romanen des Mittelalters, den Amadisromanen! So wird Amadis, der Sohn der Prinzessin Elisena, von ihr in einer Wiege ausgesetzt, von381 einem schottischen Ritter aufgefischt und unter dem Namen des Kindes der See erzogen!

Diese Wunder des Zufalls und des Schicksals gehn nun auch durch den modernen Roman und haben hier dasselbe Recht, wie die mythischen Wunder in der Epopöe. Nur darf mit ihnen kein Mißbrauch getrieben werden und das Stoffartige, das im Roman überhaupt schon über die lockere Kunstform hinauswächst, nicht im Jnteresse einer prickelnden Neugierde ganz in den Vordergrund treten. Die Spannung nach der Vergangenheit hin, bereits von uns als episches Grundgesetz entwickelt, darf im Roman zu vollster Geltung kommen. Die Charaktere des Romans dürfen bei ihrem ersten Auftreten etwas Geheimnißvolles haben; ihr Totalbild entrollt sich uns erst allmählich, indem aus ihrem vergangenen Leben ein immer wachsendes Licht auf ihren Charakter fällt! Es gehört zur Technik des Romans, diese Enthüllungen in überraschender Weise vor sich gehn zu lassen, ihnen den Reiz des Unverhofften und Wunderbaren zu geben. Trotz der Polizeiregister und Kirchenbücher, trotz Aufenthaltskarten und Taufscheinen kann die Phantasie auch in die Verhältnisse unserer Civilisation des Abenteuerlichen viel hineinzaubern. Ein Hauptmittel dieser Zauberei beruht auf jener Lösung der Verwickelungen, die aus der alten Tragödie in den hellenischen Roman überging unter dem Namen der Anagnorisis, Wiedererkennung. Seit den Romanen des Heliodoros und Longos bis in die neuesten von Eugen Sue, Dickens, Gutzkow spielt diese Wiedererkennung eine große Rolle. Sie hat die Verwickelungen der Descendenz zur Voraussetzung; geraubte, vertauschte Kinder, natürliche Kinder, die spät erst ihren Vater und ihre Mutter entdecken, liberi adulterini und die verschiedensten Arten der geheimnißvollen Kindschaft. Das Dunkel, das um ihre Wiege schwebt, die zufällige Begegnung, das rührende Wiedersehn, die Lösung, die der Leser im Voraus zu errathen sucht, da ihn der Romandichter, unähnlich dem Dramatiker, nicht zum Vertrauten seiner Geheimnisse macht das alles sind Momente aus diesem Verwickelungskreise, welche die Spannung des Lesers wacherhalten. Hierher gehören auch dunkle Thaten der Vergangenheit, welche in das Leben der Helden mit schwarzer Magie hineinragen, deren Schleier zu lüften die Neugierde brennt man denke an Bulwer's Eugen Aram. Oder ein zufälliges Begegnen gruppirt382 eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse, ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's Clotilde von Lusignan. Das Jnkognito ist für die Romanhelden wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren Stern. Diese Romantik gehört einmal zum modernen Roman, und wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform, die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten, dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen, auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius, dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema! Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig die Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das383 vornehme Gaunerthum, die Schmuggler u. dgl. setzt. Vortheilhaft für die Romantik des Romans sind alle größeren Krisen der Gesellschaft, Revolutionen, Kriege, in denen die stagnirende Fluth stereotyper Zustände aus ihrer trüben Ruhe emporgerüttelt wird. Hierher gehört seit der Odyssee der Zauber der Ferne, der Reiz des Unbekannten, Unentdeckten, der fernen Länder und Meere und ihrer Abenteuer, ein Zauber, den sich der See - und exotische Roman, ein Marryat und Sealsfield, zu Nutze machen. Doch auch der Prosa unserer Kultur wird ein begabtes Talent ihre Poesie abgewinnen wir erinnern nur an Dickens, Hackländer u. A.

Die Komposition des Romans muß, um diese Romantik unserer Zustände auszubeuten und die epische Spannung unserer Zustände durchzuführen, bestimmte Gesetze der Technik beobachten. Der Anfang des Romans führt uns gleich in das bewegte Leben; wir orientiren uns in unbekannten Physiognomieen und Verhältnissen, bis unser Jnteresse an ihnen lebendig, diese Lebendigkeit durch die Verschleierung einzelner Zustände und Charaktere gesteigert wird. Lange Beschreibungen von Gegenden, Verhältnissen, Charakteren sind besonders am Anfange des Romans von ertödtender Wirkung; der Faden einer fortgehenden Begebenheit muß uns diese Entwickelungen bieten. Die allmählich wachsende Klarheit soll mehr durch die Handlung, durch Gespräch und Brief, durch eine selbstständige Entwickelung der Helden von innen heraus hervorgerufen werden, als durch die Beschreibung des Dichters. Der Anfang des Romans ist gewiß am glücklichsten entworfen, wo wir gleich in irgend eine fesselnde Situation, einen Knotenpunkt der Handlung versetzt werden, dessen Fäden zugleich nach rückwärts und vorwärts weisen.

Die Mitte des Romans führt nun diese Fäden weiter zu immer neuen Knotenpunkten der Entwickelung. Das Drama hat nur eine Kollision; der Roman verträgt deren mehrere neben - und nacheinander. Hier wird die eine gelöst, dort eine andere neuangeknüpft. Doch das vollkommene Austönen derselben in der Mitte muß von dem Romandichter vermieden werden. Ganz neue Anfänge sind hier gefährlich! Es muß alles ineinandergreifen, mindestens an einem Punkte der Bewegung. Wir haben schon früher gesehn, daß der Epiker spannt, indem er an einer fesselnden Stelle der Handlung abbricht und den Leser mit einer künstlich erzeugten Unbefriedigung entläßt. Dies Geheimniß384 der Technik ist für den Romandichter wesentlich. Er wandert von einer der verschiedenen Gruppen seines Romans zu andern und wählt gerade den Moment, in welchem die eine in eine spannende, noch ungelöste Situation versetzt ist, um sie zu verlassen und zur anderen fortzuschreiten. Die gleichsam verzauberte Gruppe steht noch lebendig vor unserer Phantasie, während wir weiter eilen sie gemahnt uns wie eine alte Schuld des Dichters, auf deren Abzahlung wir gespannt sind. Je größer der Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schulden in Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist.

Der Schluß des Romans selbst hat nun nicht jene logische Nothwendigkeit und Bestimmtheit, wie der Schluß des Drama's. Jm Allgemeinen nimmt man an, daß der Schluß des Romans, wie der des Epos überhaupt, ein glücklicher sei, daß das bestimmte Ziel, das dem Helden oder dem Dichter vorschwebe, nach mancherlei Verwickelungen und Jrrungen erreicht werde, daß der Schluß nach vielen Dissonanzen eine versöhnende Harmonie bringe. Doch ist das Gegentheil, ein tragischer Abschluß, keineswegs ausgeschlossen. Jm breiten Verlaufe des Romans werden eine Menge von Fäden angeknüpft, treten eine große Zahl Personen auf, über deren Schicksal uns der Abschluß des Romans nicht im Dunkeln lassen darf. Hier ist besonders eine übereilte Abfertigung zu vermeiden. Der Roman ist voll eingeläutet und muß auch voll austönen dem Geschick jeder Persönlichkeit, die unser Jnteresse wachgerufen, muß ein unverkümmertes Recht zu Theil werden. Für jene modernen Romane, deren Jnhalt die innere, den Kreis der verschiedensten Verhältnisse durchlaufende Bildung des Einzelnen ist, wie Goethe's Wilhelm Meister, Jean Paul's Titan, Jmmermann's Epigonen, Laube's junges Europa, die Wandelungen der Fanny Lewald u. a., ist ein Abschluß nicht leicht zu finden, da der Prozeß der Bildung ein bis zum Tode fortdauernder ist und nur willkürlich an dieser oder jener Stelle unterbrochen werden kann. Der Roman schließt daher in der Regel, wo die Romantik der Existenz aufhört und ihre Prosa anfängt; er läßt eine Beruhigung des hin und hergehenden Strebens durch eine harmonische Ehe, die Wahl eines bestimmten Berufes u. dergl. eintreten. Dieser Schluß ist ohne schärfere dramatische Konsequenz; aber er genügt385 für den Roman, der ja nur ein Segment aus dem breiten Kreise des socialen Lebens herausschneidet und nicht, wie das Drama, eine scharfe Kollision in entscheidender Weise zum Ziele führt.

Dies Verlaufen in die Prosa des Lebens läßt die Grenzen des Romans nicht so scharf hervortreten, daß er als ideales Kunstwerk auf sich selbst ruhen könnte. Sein Zusammenhang mit äußerlichen Jnteressen, die für eine poetische Verklärung nicht durchsichtig genug sind, tritt nun auch in seinem Verlauf hervor; seine Form hat nicht genügende künstlerische Begrenzung, um das Hereinbrechen einer überfluthenden Prosa zu verhindern. Besonders nach zwei Seiten hin wird die reine Linie der Schönheit leicht überschritten: das unästhetisch sinnliche, materiell prickelnde, und das tendenziös didaktische Element trüben die künstlerische Reinheit des Romans und machen seine bequeme und geduldige Form zu einem Gefäß für die verschiedenartigsten Zwecke, welche außerhalb der selbstgenugsamen Harmonie des Schönen liegen. Die Effekthascherei durch grelle Situationen und eine gewaltthätige Spannung, wie sie in den alten Ritter - und Räuberromanen und in vielen neufranzösischen Socialromanen herrscht, zerstört die reine Wirkung des Schönen, indem sie mehr die Nerven, als den Geist in Erregung zu bringen sucht. Hierher gehört auch das erotische Element, das schon den Hellenischen Anfängen des Romans in starker Dosis beigemischt war. Der Roman gewährt bereitwillig den Raum zu einer behaglichen und breiten Ausmalung des sinnlich Ueppigen, der erotischen Situation. Seit dem Priapeischen Roman des Petronius bis zum Ritter Faublas von Louvet, bis zu Schlegel's Lucinde, den sinnlichen diableries von Paul de Kock, der schönheitstrunkenen Orgiastik von Heinse, den harmlosen Nuditäten in Gutzkow's Wally und den Pariser Salons von Heine ist der sinnliche Reiz und die sinnliche Spannung ein wesentliches Ferment der Romanliteratur geblieben. Wieland in seinen hellenisirenden, die George Sand in ihren geistvollen und klassisch schönen Socialromanen haben sich von diesen sinnlich üppigen Auswüchsen nicht freigehalten, zu denen die Form des Romans selbst durch ihre gewährenlassende Breite herausfordert. Auf der andern Seite giebt es kaum eine religiöse, philosophische, politische, pädagogische, sociale Tendenz, welche nicht in neuester Zeit versucht hätte, im Gewand des Romans größere Beliebtheit386 und Verbreitung zu gewinnen. Wenn der Roman eine bestimmte Jdee durchzuführen sucht, so ist er dabei wie jedes Kunstwerk in seinem guten Rechte! Einige Romane der George Sand zeigen die Harmonie von Form und Jnhalt, die ungetrübte künstlerische Meisterschaft, auch wo sie in einem Lebensbilde einen bestimmten reformatorischen Gedanken darstellen, der mit überzeugender Nothwendigkeit aus dem konsequent gehaltenen Kunstwerk hervorgeht! Wenn dagegen die Tendenz, wie z. B. in dem Roman: eritis sicut Deus, sich mit all ihrer Absichtlichkeit in den Vordergrund drängt, wenn der Roman in Pasquille und Abhandlungen zerfällt, zu einem Parteiprogramm oder einer ausgeschmückten Biographie wird, dann zeigt sich die bedenkliche Nachbarschaft der Romanform und der didaktischen und polemischen Prosa, von der sie nur durch eine leicht angelehnte Thüre getrennt ist. Denn da dem Roman auch die rhythmische Getragenheit fehlt, so ist seine Prosa von der Rhetorik und Geschichtschreibung, ja vom Styl der Zeitung und des Feuilletons nur durch jene Grenzen geschieden, welche das Talent des Romanschriftstellers selbst zu ziehn vermag. Diese Prosa kann markig und charakteristisch, fein und zierlich, plastisch klar, pathetisch, humoristisch sein sie kann aber auch traditionell und stereotyp werden und in Phrasenhaftigkeit und Verwaschenheit des erzählenden Styles ausarten. Unsere Klassiker, Goethe, Wieland, Schiller im Geisterseher haben dem Romanstyl ein bestimmtes, künstlerisches Gepräge gegeben, welches besonders in Goethe's Romanen dem epischen Jdeal entspricht. Jean Paul zersetzte seinen Prosastyl durch die seltsamsten Reagentien des Humors, so daß der Strom desselben selten ein klares Bette gewann. Wo Ludwig Tieck seinen Phantasus zu bändigen vermochte, da war sein Styl von jener ironischen Behaglichkeit, die in echt epischer Weise wirkte. Dagegen war der Styl Arnim's chronikenhaft geziert, der Brentano's phantastisch wild, der des Novalis von visionairer Erhabenheit! Die jungdeutsche Epoche wollte die Reform der Literatur durch eine Reform der deutschen Prosa ausführen, in welche sie alle poetischen Formen aufzulösen suchte. Seit Heine und Börne wurde die geistvolle Prosa die Loosung des Tages und in der That gewann der prosaische Styl unter den Händen der jung deutschen Autoren Glanz, Schärfe, Beweglichkeit und Reichthum. Die französischen Muster gaben387 hierin den Ton an, aber die Lyrik und Dramatik in Prosa konnte sich in Deutschland nicht behaupten; es war nur eine neue Art zuchtloser Romantik. Dagegen ist die jungdeutsche Reform für die deutsche Romanprosa von günstigem Einfluß gewesen; gerade der moderne Schliff, die geistsprühende Beweglichkeit und Form, die alle Elemente der Zeit in sich aufzunehmen vermag, ist dem Roman förderlich, der doch im Wesentlichen ein Zeitgemälde ist! Wenn Walter Scott, Bulwer, Dickens und Thackeray in England, die Staël und George Sand, Victor Hugo, Alfred du Vigny, Nodier, Balzac, Eugène Sue, Paul de Kock, Alphonse Karr in Frankreich sowohl die Höhepunkte, als auch die prismatische Vielfarbigkeit des Romanstyles vertreten: so brauchen wir nur an Gutzkow, Laube, Auerbach, Freytag, König, Hackländer u. A. zu erinnern, um die vielseitige Ausbildung der neuen deutschen Romanprosa in das günstigste Licht zu stellen. Den epischen Ton, der sich für größere Schöpfungen eignet, scheint uns besonders Gutzkow in den Rittern vom Geiste getroffen zu haben.

Der Jnhalt des Romans ist der Jnhalt unseres socialen Lebens und in keine bestimmten Rubriken zu fassen. Dennoch giebt er zunächst das Princip der Haupteintheilung des modernen Romans her, indem dieser entweder historisch ist und seinen Stoff aus der Geschichte entlehnt, oder Zeitroman, welcher aus unserer Kulturepoche, aus der Gegenwart freierfundene Stoffe schöpft.

1. Der historische Roman.

Der historische Roman ist die Darstellung einer der Geschichte entlehnten Begebenheit in selbsterfundener Ausführung und in einem umfangreichen, die geschichtliche Epoche nach allen Seiten hin spiegelnden Gemälde. Auch kann der Held und die Hauptbegebenheit des Romans vom Dichter selbstständig erfunden, und nur der Hintergrund von der Geschichte gegeben sein. Da indeß dem historischen Roman, der sich der prosaischen Form bedient und seinem Wesen nach bis in's Einzelne malt, die Mittel fehlen, in der Darstellung der großen Persönlichkeiten und Ereignisse die Geschichtschreibung zu übertreffen oder auch nur zu erreichen: so muß ausdrücklich betont werden, daß seine Domaine nicht die Weltgeschichte ist, sondern die Specialgeschichte, und daß er es dem Epos,388 das eines idealen Schwunges fähig ist, und der Tragödie, welche die Höhenpunkte des innern Lebens in dichterischem Fluge streift, überlassen muß, die großen bekannten Helden und Katastrophen der Geschichte zum Gegenstande zu wählen. Die Tragödie hat sogar das Recht, die Geschichte bis zu einem gewissen Grade von innen heraus umzudichten, da sie energische ideale Hebel ansetzt, und der Pragmatismus der geschichtlichen That zuletzt doch mit jenen innersten Mysterien des Charakters zusammenhängt, zu deren Entzifferung der Dichter eher den Schlüssel hat, als der Historiker. Der Roman aber geht von außen an seinen Stoff heran; er stellt ihn in einer Breite der Beziehungen dar, deren wesentliche Voraussetzung die historische Treue ist. Da er sich ganz auf gleichem Boden mit der Geschichtschreibung bewegt, gleicher Entwickelungen und Vermittelungen bedarf: so ist er durch ihre feststehenden Daten bei allen Begebenheiten, die sich auf der Höhe der Weltgeschichte bewegen, beschränkt. Historische Romane, welche diese ihre Schranke nicht beachten, werden daher zu Zwitterbildungen der Geschichtschreibung und Romandichtung, in denen abwechselnd die Geschichte und die Dichtung die Arabesken des Bildes bilden. Da erhalten wir äußerlich ausgeschmückte Biographieen von Mirabeau, auseinandergefaserte Memoiren u. s. f. Der Schöpfer des historischen Romans, Walter Scott, ist zwar in einzelnen Werken mit diesem mißlichen Beispiele vorangegangen; aber in seinen Hauptromanen, wie z. B. Waverley und Quintin Durward, hat er nicht einen Fergus Mac Jvor und Ludwig XI. zum Helden, nicht die pragmatische Entwickelung des schottischen Rebellenkampfes und des französisch burgundischen Krieges zum Mittelpunkte des Romans gemacht, sondern die freierfundenen abenteuerlichen Schicksale selbstgeschaffener Helden, in welche dann jene historischen Persönlichkeiten miteingreifen. Der historische Roman soll uns das Kulturgemälde einer vergangenen Epoche entrollen und uns am Geschicke seiner Helden zeigen wie das menschliche Handeln und Empfinden durch die Bedingungen dieser Kultur bestimmt wird. Freilich liegt hier die Gefahr nahe, im Ausmalen des Kulturbildes in eine antiquarische Genauigkeit zu verfallen und das beschreibende Element in ungehöriger Breite auszubilden, eine Gefahr, die Walter Scott selbst um so weniger vermieden hat, als ihn gerade seine Vorliebe für antiquarische Studien, für die Denkmäler und Reminiscenzen389 Schottlands dazu trieb, das erzählende Gedicht, weil es ihm nicht Raum genug bot für die ausführliche Darstellung der geschichtlichen Alterthümer seines Vaterlandes, mit dem bequemeren Roman zu vertauschen. Das patriotische Jnteresse kann diesem Roman für einen engern Kreis einen erhöhten Reiz geben, wie ihn z. B. die brandenburgischen Romane von Wilibald Alexis für Preußen haben; oder die geschichtliche Epoche, welche der Romanschriftsteller darstellt, liegt der Gegenwart näher, ist ihr geistig verwandt und nimmt dadurch eine größere Theilnahme in Anspruch, wie z. B. in der hohen Braut und den Klubbisten von Mainz von Heinrich König. Niemals darf indeß die Absicht des Autors, ein Kulturgemälde zu entrollen, aufdringlich in den Vordergrund treten, sondern das Bild der ganzen Epoche muß sich ungezwungen aus den Ereignissen selbst ergeben, deren bunter und spannender Wechsel die Phantasie, nach dem alten Grundrechte des Romans, beschäftigt. Die künstlerische Bedeutung des historischen Romans bleibt dennoch eine unsichere, und wir glauben ihm keine Zukunft versprechen zu dürfen.

Walter Scott ist sein Schöpfer und Meister frühere ähnliche Dichtungen, wie z. B. in Deutschland: Lohenstein's Arminius und Thusnelda, schlugen eine ganz andere Richtung ein. Die Fehler und Vorzüge Walter Scott's sind für den historischen Roman maaßgebend geblieben nur daß die geringere Begabung seiner Nachahmer, z. B. eines James, noch mehr die nüchterne Prosa der historischen Staatsaktionen hervorkehrte. Für untergeordnete Geister war die Walter Scott'sche Form willkommen, um den Spektakel der Ritter - und Räuberromane, an die schon Jvanhoe und Robin der Rothe erinnern, die wilde Romantik der Walpole'schen und Redcliffe'schen Schauerromane mit dem Schein einer neuen Berechtigung wieder aufleben zu lassen. Geistreiche Schriftsteller dagegen, wie Bulwer im Rienzi und zum Theil im letzten der Barone, einem Werke, das auf der andern Seite wieder ein ausgezeichnetes Kulturgemälde ist, verfielen in ein mehr dramatisches Pathos, indem sie große weltgeschichtliche Kollisionen ausmalten. Victor Hugo ließ in Notre dame seiner Vorliebe für mittelalterliche Kunst in einer sonst mit narkotischem Effekt gewürzten Erzählung die Zügel schießen. Gleichbedeutend steht Alfred de Vigny da in seinem Cinq-Mars, während Alexander Dumas bereits die Verflachung des historischen390 Romans in eine stoffartig wirkende, drastisch pikante Memoirenfolge bezeichnet. Von deutschen historischen Romanschriftstellern hat besonders Rehfues in Scipio Cikala den epischen Ton in einer oft meisterhaften Darstellungsweise getroffen, während Spindler sich durch eine erfindungsreiche Phantasie auszeichnet. Außerdem sind Wilibald Alexis, Heinrich Laube, Gustav Kühne und vor Allen Heinrich König in seinem dem Socialroman der Gegenwart nahestehenden historischen Romane zu erwähnen*)Vergl. über den neuesten historischen Roman in Deutschland meine deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Bd. II. p. 509 und folgd..

2. Der Zeitroman.

Der Zeitroman verlegt die Begebenheiten, die er um einen Mittelpunkt des Gedankens oder um die Persönlichkeit eines Helden gruppirt, in unsere Zeit und schafft, indem er das Leben der Gegenwart nach allen Richtungen hin erfaßt, zugleich für die Zukunft. Seine Berechtigung ist eine ungleich höhere, als die des historischen Romans! Sein Jnhalt ist frei erfunden, seine umfassende epische Form auf diesem Gebiete vollgültig, weil sie die Mannichfaltigkeit geistiger Strömungen und die unerschöpfliche Fülle des realen Lebens bequem und behaglich in sich aufnimmt. Wir dürfen von ihm nicht nur anschauliche Objektivität in Darstellung der Außenwelt verlangen, sondern auch geistigen Reichthum, psychologische Feinheit, Anatomie des Herzens und der Leidenschaft! Er darf ebenso tief nach innen, wie breit nach außen gehn und muß die Längen seiner Form dazu benutzen, das innere Leben bis in seine geheimsten Abgründe zu verfolgen. Wenn der Dramatiker ein durchgreifendes Motiv wählt, da darf der Romanschreiber jene ganze Kette verschlungener Motive entwickeln, aus denen das Handeln zuletzt in seiner Bestimmtheit hervorgeht, alle Vorstellungen, welche die Schwelle der Seele übersteigen, sich kreuzen, mit einander kämpfen, bis die einen über die andern den Sieg davontragen. Ebenso muß der moderne Romanschriftsteller alle objektiven Lebensverhältnisse kennen er muß Arzt, Kriminalist, Publicist, Oekonom zugleich sein und mit dem Organismus des menschlichen Leibes391 ebenso Bescheid wissen, wie mit dem Mechanismus der Staatsmaschine. Zu einem umfassenden Kulturgemälde der Zeit hat Eugen Sue in seinem: Juif errant, der mit seinen Mysterien keineswegs in eine Linie zu stellen ist, zuerst den Anlauf genommen, er hat um einen geschickt erfundenen Mittelpunkt eine Fülle von Persönlichkeiten und Handlungen gruppirt, in denen sich wesentliche Richtungen des Jahrhunderts spiegeln. Alle diese Typen, der Napoleonische Veteran, der Jesuit, der Fabrikarbeiter, die Grisette, die vornehme Dame, sind indeß französisch; der Jesuitismus steht als Hauptagens im Vordergrund! Es handelt sich im Ganzen um praktische Jnteressen, um die Macht des Geldes, um jene riesige Erbschaft, deren Millionen so feeenhaft wirken, wie die Millionen des Monte-Christo. Eine nie verlegene, zauberisch reiche Phantasie überbietet sich in Erfindungen, die oft grell und wüst sind, oft an der äußersten Grenze des Wahrscheinlichen stehn, aber mit der Magie der arabischen Märchen fesseln. Ein ähnliches umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts hat Karl Gutzkow in seinen Rittern vom Geiste geliefert, nur daß hier der Mittelpunkt kein jüdischer Hort von Millionen ist, sondern der Bund der Ritter vom Geiste, kein materialistisches, ein idealistisches Centrum, und daß, dem Grundgedanken angemessen, hier sich die ganze Fülle geistiger Richtungen auf allen Gebieten des Staats, der Religion, der Gesellschaft entbindet und bekämpft, ein schlagendes Bild vom Unterschiede des französischen und deutschen Geistes!

Neben diesen großen Kulturgemälden entwickelt sich der Roman des socialen Problems, der nur einzelne Abschnitte des ganzen Kreises behandelt. Wir begleiten entweder den Helden auf seinen Jrrfahrten durch die Gesellschaft, bis er in ihr einen festen Halt gefunden, wie den Wilhelm Meister, den Hermann in Jmmermann's Epigonen u. s. f.; oder eine bestimmte Frage wird ohne aufdringliche Tendenz an einem konkreten Fall des socialen Lebens dargestellt. Hierher gehört besonders die Physiologie der Ehe in Goethe's Wahlverwandtschaften, in den Romanen der George Sand, z. B. in der Jndiana , dem Jacques, und ihren zahlreichen Nachahmungen. Von derselben Schriftstellerin wird die sinnliche und platonische Liebe in der Lelia geistvoll kontrastirt, der Handwerkerstand verherrlicht u. s. f. Der Gegensatz der Stände, der Kampf der Bourgeoisie und Aristokratie, die Ueberflügelung392 der letztern durch den Genius des tiers-etat, bildet in Gustav Freytag's Soll und Haben den Mittelpunkt der Handlung. Freigeistige Auflockerung in streng konservativen, autonomischen Kreisen ist die Grundstimmung in Schücking's Romanen, während den Gegensatz von Arbeit und Besitz, Erfindung und Ausbeutung auf industriellem Gebiete Prutz in seinem Engelchen behandelt. Fanny Lewald liebt konfessionelle Konflikte der religiösen und politischen Ueberzeugung in den Vordergrund zu stellen. Hier liegt die Gefahr der Tendenz nahe, an der eine Menge neuer Romane scheitern.

Jn Beziehung auf den Lebenskreis, in welchem sich der Roman bewegt, kann man den Salonroman, den Volksroman und den bürgerlichen Familienroman unterscheiden. Der Salonroman führt uns in die fashionabeln Konflikte des aristokratischen Lebens; wir sind hier den Sorgen der materiellen Existenz entnommen, und diese höhere Freiheit läßt die Fragen des Herzens zu ihrem ungetrübten Rechte kommen. Die Gefahr liegt hier in der Verfeinerung der Empfindung, in ihren üppig selbstgefälligen Schwelgereien, in der Ueberhebung einer exklusiven Lebensstellung! Das Resultat dieser ausschließlichen Beschäftigung mit dem eigenen Herzen ist entweder der Ehebruch oder das Kloster. Die Staël in Corinne und Delphine ging hier voran; Bulwer in Pelham, Devereux folgte; die Gräfin Hahn-Hahn in ihren kapriciösen, aber geistvollen Romanen, der elegante Sternberg u. A. vertreten den Salonroman in der deutschen Literatur. Jm Gegensatz entwickelte sich in Deutschland der Volksroman zur Dorfgeschichte, ohne den Humor des Lesage und Smollet! Derbe Realität, sogenannte tüchtige Charaktere von altem Schrot und Korn, rustikale Zustände bis in alle juristischen und kriminalistischen Verwickelungen hinein, bis in alle Subtilitäten bäuerlicher Standesunterschiede treten in den Vordergrund; die Faustinen verwandelten sich in Baarfüßele, die Ulrich's in Lehnholde; Uli der Knecht fesselte mehr, als Sternberg's Paul der Herr; aber dieser Jdylle fehlte der Frieden, das Glück, die arkadische Beleuchtung; die herbsten Konflikte wurden in sie verlegt; sie war entweder bäuerlich roh oder von Reflexionen einer ihr fremden Bildung durchzogen, so daß weder das Talent eines Auerbach und Rank, noch die kapriciöse und naturwüchsige Originalität eines Gotthelf diesen Schöpfungen eine393 längere Dauer und Geltung verbürgen. Jn die Mitte zwischen Volks - und Salonroman tritt der Familienroman, welcher die Jnteressen der bürgerlichen Familie, die einfachen Konflikte des häuslichen Lebens behandelt. Richardson in seiner Pamela, Klarissa u. A. ist der Schöpfer dieses Romans; Oliver Goldsmith gab in seinem Vikar von Wakefield sein glänzendstes Muster. Rührende Jdyllik des Hausstandes, Verführungsgeschichten, Nahrungssorgen, die Welt aus der Perspektive des Wohn - und Schlafzimmers bildet ihren Jnhalt. Hermes verpflanzte den Richardson'schen Roman, der sich wenigstens durch organische Gliederung und einen wenn auch noch so weitschweifigen innern Zusammenhang auszeichnete, nach Deutschland. Hier bildet er seit Lafontaine's Zeit die undurchdringliche Mitte einer umfangreichen Unterhaltungsliteratur wir brauchen blos Clauren, Gustav Schilling, Laun u. A. zu erwähnen. Die Engelländerin Currer Bell mit ihren psychologisch interessanten Gouvernantenromanen, und die Schwedin Friederike Bremer sind die Führerinnen jener großen Schaar, welche das Werg des Familienglücks und Unglücks am häuslichen Herde spinnt.

Als eine Spezialität des Romans erwähnen wir noch den exotischen und Seeroman, welcher an den Urroman, die Odyssee, und an die ersten hellenischen Romane anknüpft. Seinen Jnhalt bilden die Abenteuer des Meers und der Fremde, das Seeleben, der Urwald und die exotische Landschaft, die Sitten fremder Völker, die socialen Raçenkämpfe in fremden Welttheilen. Einen solchen exotischen Reiz üben auf uns die national patriotischen Romane eines Cooper aus, der indeß an genialer Darstellungsgabe, glänzendem Kolorit, kosmopolitischem Weltblick und tiefem Humor bei weitem von Sealsfield übertroffen wird. Den Seeroman insbesondere vertritt Eugen Sue mit greller, aber phantasiereicher Marinemalerei und Marryat mit derb kräftigem Humor und farbensattem Realismus.

Wenn das humoristische Element in alle diese Romane mit hineinspielt und in einzelnen Charakteren, Situationen und Schilderungen zur Geltung kommt: so tritt es stylbeherrschend in dem humoristischen Roman auf. Der Humor beeinträchtigt allerdings das epische Grundgesetz der Objektivität; denn wenn er auch dem objektiv Komischen zu seinem Rechte verhilft, so hat das freie und glänzende Spiel des Geistes,394 das die Welt kaleidoskopisch zusammenschüttelt, doch bei ihm das Uebergewicht. Die objektive Komik tritt in jenen realistischen Possenbildern, wie sie sich in den Romanen eines Smollet und Fielding finden, noch mehr aber in jener ironischen Darstellungsform hervor, welche mit der Treue des naiven Epikers ernst, sorgfältig, unerschütterlich den Zusammenhang von Begebenheiten erzählt, welche der Spiegel der menschlichen Thorheit sind. Das unsterbliche Muster dieser Darstellungsweise ist der Don Quixote des Cervantes, dessen humoristischer Doppelstern Don Quixote und Sancho Pansa für alle Zeiten den idealistischen und realistischen Pol der menschlichen Thorheit repräsentirt. Auch der satyrische Roman eines Jonathan Swift, besonders sein Hauptwerk Gulliver's Reisen, gehört in dies Gebiet objektiver Komik. Die burlesk-humoristischen Romane eines Rabelais und Fischart wenden sich bereits von der streng-epischen Darstellung ab und ergehn sich in allen erdenklichen Sprüngen der Laune und des Witzes, bald phantastisch, bald cynisch, mit handgreiflichen Angriffen auf einzelne Stände der Gesellschaft. Dagegen nimmt der sentimentale Roman bei Sterne einen Anlauf zu vollkommener Verflüchtigung des Epischen in die ätherischen Gase eines Sentiments, das sich kaum noch um das Thatsächliche kümmert, sondern nur seinen eigenen, launisch launigen, fast hysterischen Anwandlungen folgt. Eine glänzende Vereinigung der satyrischen Ader Swift's, der Sentimentalität Sterne's und der derben Komik Fielding's in einem reichen, tiefen, allseitig gebildeten Genius findet sich in den humoristischen Romanen Jean Paul's, deren Form indeß die Licenzen des Humors mißbraucht und in vollkommene Styllosigkeit ausartet. Zu einer mehr epischen Darstellungsweise kehrt der humoristische Roman eines Dickens, Thackeray, Hackländer zurück, wenn auch die Ader Sterne's keineswegs in diesen mehr realistischen Formen ganz versiegt ist.

3. Das Märchen und die Novelle.

Aus dem Märchen, der phantastischen Novelle, bildete sich die moderne Novellistik, was historisch unschwer nachzuweisen ist. Das indische Fabelbuch des Bidpai, die sieben weisen Meister, die disciplina clericalis von Petrus Alfonsi, die gesta Romanorum, in denen arabische Märchen stark vertreten waren, bildeten neben den französischen Fabliaux der Trouvères395 die Hauptquelle der italienischen Novellistik, welche die ersten und bedeutendsten Muster dieser epischen Nebenform enthält. Mit den Märchen von Tausend und Einer Nacht, dem Papageienbuch haben diese italienischen Novellenbücher eine bestimmte Einkleidung gemein, indem eine Situation vorausgeschildert wird, aus welcher jene Erzählungen fließen. Diese Situation ist in den sieben weisen Meistern, in dem Märchen von Tausend und Einer Nacht bekannt. Aehnlich läßt Boccaccio im Decamerone seine Novellen in einem Kreise von Herren und Damen erzählen, welche vor der Pest aus Florenz geflohn. Noch abenteuerlicher ist die Einkleidung in dem Pecorone des Ser Giovanni, wo der Geliebte einer Nonne, der Mönch und Kaplan geworden, um in ihrer Nähe zu sein, und diese selbst im Sprechzimmer des Klosters sich fünfundzwanzig Abende lang diese Novellen erzählen. Ebenso unglücklich ist die Einleitung zu den Diporti des Girolamo Parabosco, der uns erzählt, wie siebenzehn Herren fischen gehn wollen, sich aber, weil das Wetter zu schlecht, zusammensetzen und Geschichten erzählen. Cinthio läßt in seinen Hecatommiti zehn Frauen und zehn Herren der Plünderung Roms entfliehen, nach Marseille segeln und sich unterwegs Novellen erzählen. Das Muster des Boccaccio ahmte bekanntlich auch Chaucer in seinen Canterbury tales nach, indem er diese Geschichten von Pilgern, bei Gelegenheit der alljährlichen Frühjahrswanderung nach dem Grab des Märtyrers Thomas Bekket in Canterbury, Abends bei Tisch erzählen läßt. Neuerdings sind Tieck im Phantasus, dem romantischen Märchenbuch, und Goethe in den mehr novellistischen Unterhaltungen der Ausgewanderten diesen Beispielen gefolgt. Und in der That eignet sich ein solcher erzählender Faden trefflich zur Anreihung einer größeren Zahl von Märchen und Novellen. Das Märchen ist eine phantastische Erzählung, welche nur dem freien Fluge der Phantasie folgt und die Schranken der Realität nicht achtet. Wie die Sage aus der Auflösung des Mythos hervorgegangen, unterscheidet es sich von dieser durch die gänzliche Unbestimmtheit in Bezug auf seine Helden, auf Ort und Zeit. Die Sage vollzieht den Proceß der Entgötterung, indem sie die Götter in Halbgötter, Heroen und wunderbare Helden verwandelt, aber dabei die bestimmte That, den bestimmten Namen festhält. Das Märchen rettet dagegen die Ungebundenheit des396 Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv, kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik. Es bewegt sich in der Region des Traumes und besitzt seine ganze Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft, sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern Grimm in den Kinder - und Hausmärchen gesammelt, treuherzig und sinnig. Was die Romantiker, der Däne Andersen und andere Kunstdichter auf diesem Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen, theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken.

Die Novelle, die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen - und Situationswechsel und innern Zusammenhalt des Drama. Die Novelle darf nur einen Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende Komposition. Sie soll unterhalten es kommt nur darauf an, ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein sinnreiches Zeit - und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch397 abenteuerliche Schürzungen des Zufalls fesseln. Aus den romanischen Literaturen, in denen der Jtaliener Boccaccio und der Spanier Cervantes als novellistische Muster hervorragen, wurde sie besonders durch die romantische Schule nach Deutschland verpflanzt, welche sie, wie das Märchen, anfangs zum Vehikel ihrer abenteuerlichen Erfindungen machte. Später hat besonders Ludwig Tieck die sociale Zeitnovelle geschaffen, in welcher er, oft mit ironischer Meisterschaft, oft mit doktrinairer Schwatzhaftigkeit, vielen Richtungen der Zeit den Spiegel vorhält. Die geistvolle Freiheit der Darstellung räumt diesen Novellen einen hohen Rang ein; nicht blos Anhänger und Geistesverwandte Tieck's, Steffens, Bülow u. A. bildeten diese Richtung weiter aus, sondern auch die jungdeutsche Schule benutzte nach Tieck's Vorgang die novellistische Form für ihre gährenden Reformtendenzen. Eine einsame Stellung unter den Novellisten der Gegenwart behauptet Leopold Schefer, der die Tiefe seiner magischen Weltanschauung in jede seiner farbenreichen, aber traumhaft motivirten Novellen hineingeheimnißt. Das Ueberwuchern der Novelle, die aus allen Journal - und Zeitungsspalten hervorkeimt, als beliebige Erzählung zufälliger, oft sinn - und bedeutungsloser Begebnisse in einer meist styllosen Prosa, deutet auf eine belletristische Verflachung, welche den Dilettantismus allzusehr in den Vordergrund treten läßt.

Sechster Abschnitt. Das didaktische Gedicht.

Man hat die didaktische Poesie als eine vierte, selbstständige Hauptgattung der Dichtkunst, die durch ihre ausgesprochene Lehrhaftigkeit an der Grenze der Prosa steht, von den übrigen abgezweigt! Doch giebt weder ihre Darstellungsweise noch ihr Jnhalt ein Recht dazu, ihr eine so bedeutende und unabhängige Stellung einzuräumen*)Vergleiche Moritz Carrière das Wesen und die Formen der Poesie. S. 183 u. flgde., so groß auch die aufgehäufte Masse derartiger Gedichte ist. Tritt der Zweck zu398 belehren und über irgend einen Gegenstand Unterricht zu ertheilen mit ausgesprochener Bestimmtheit auf: so muß die dichterische Einkleidung, wie es bei den meisten Lehrgedichten der Fall ist, nur als eine zufällige erscheinen. Dann gehört das didaktische Gedicht in den Kreis der prosaisch-poetischen Misch - und Zwitterformen. Doch auch hier wird der Ton der Darstellung ein epischer sein! Jch kann nur über einen Gegenstand belehren, indem ich ihn beschreibe die Beschreibung ist aber ein isolirtes episches Moment. Dies ist auch der innige Zusammenhang zwischen dem beschreibenden und didaktischen Gedichte, die beide zu ungehöriger Selbstständigkeit ausgebildete Theile des epischen Organismus sind. Tritt aber das Lehrhafte nicht so unmittelbar und direkt auf, sondern nur als der Sinn einer dichterischen Einkleidung, als das Resultat einer dichterischen Entwickelung: so vertheilt es sich an die verschiedensten Gattungen der Dichtkunst, an die lyrische, epische und dramatische! Die Fabel und Parabel, die wir bereits unter den Erzählungen angeführt, die Satire und Epistel sind didaktische Formen des epischen Styles, an deren dichterischer Vollgültigkeit man nicht zweifeln sollte, da eine echt künstlerische Behandlungsweise hier wie auf jedem Gebiete der Dichtkunst Einkleidung und Bedeutung zu schöner Einheit verbinden kann. Wir unterscheiden als Formen des didaktischen Gedichtes das Epigramm, das Lehrgedicht, die Satire und Epistel.

1. Das Epigramm.

Das Epigramm (Sinngedicht) ist aus den alten Aufschriften auf Denkmälern hervorgegangen und die lakonische Urform des Epos. Die Jnschrift auf dem Denkmal einer That, dem Grabmal eines Helden faßt diese That, das Leben und Wirken des Helden in gedrängtester Epik zusammen. Aus diesem Ursprung leitet auch Lessing seine bekannte Definition her, indem er das Sinngedicht für ein Gedicht erklärt, in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen. Erwartung und Aufschluß sind also die beiden Theile des Epigramms! 399Die Erwartung wird durch die episch objektive Darstellung erregt; der Aufschluß tritt als überraschende sinnige Deutung auf. Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen würde. Der bloße Denkspruch ist ebensowenig Epigramm, wie das kurze Histörchen dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß. Jenes sind Gnomen, Weisheitssprüche, dies Anekdoten im Lapidarstyl. Die epigrammatischen Bienen unterscheiden sich noch von den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden Gnomik. Jn der Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht - und Rosengärten finden sich zahlreiche Gnomen Salomon und Solon, Theognis und Saadi, Rückert in der Weisheit des Bramahnen ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste, satyrische Epigrammatiker ist der Römer Martial. Seine neulateinischen Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose Scarron, die älteren deutschen Dichter Logau, Wernicke, Kästner, Goethe und Schiller in den Xenien, litterarisch-kritischen Epigrammen einer anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine beliebteste Form ist das Distichon schon das einzelne Distichon genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem der Hexameter die Erwartung, die sich weit erschließt, der Pentameter den kurz zusammenfassenden Aufschluß giebt. Doch eignet sich auch der leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet dagegen durch die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen eintritt, die epigrammatische Pointe auf Dichtungen übertragen, deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere Liederdichtung und Reflexionspoesie von solchen epigrammatischen Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des400 spielenden Witzes würde durch einen selbstständigen Anbau des Epigramms erleichtert werden seine Bienenstöcke würden dann aus unsern lyrischen Blumengärten entschwinden.

2. Das Lehrgedicht.

Das Lehrgedicht ist die in eine dichterische Form gekleidete Auseinandersetzung irgend eines Gegenstandes aus dem Gebiete der Moral, des Lebens, der Wissenschaft und Kunst. Hier hört die freie Durchdringung von Form und Jnhalt auf; der bestimmte einseitige Zweck verdrängt den Selbstzweck der Schönheit, um so mehr, als die wissenschaftliche Analyse, deren sich das Lehrgedicht in Definitionen, weitläufigen Erörterungen, welche das Ganze in seine Theile auseinandernehmen, bedient, der poetischen Synthese geradezu entgegengesetzt ist. Wir haben dies schon früher, bei dem beschreibenden Gedicht, erwähnt, das ebenfalls durch den analytischen Gang, durch die Mosaik von Einzelnheiten den poetischen Zauber einbüßt. Beide Dichtformen sind für die Gegenwart verschollen, von ihrer ästhetischen Bildung verurtheilt und haben deshalb nur noch das Jnteresse einer geschichtlichen Kuriosität. Von diesem Gesichtspunkte aus bleibt der Aesthetik nur noch der kurze literarhistorische Nachweis übrig, an wie vielen Stoffen sich diese lehrhafte Muse versucht.

Der Grieche Hesiod beginnt mit seinen Tagen und Werken, die reich an nüchternen Beschreibungen im Kalenderstyl, an Regeln der Lebensweisheit, der Oekonomie u. s. f. sind, den Reigen. Die patriarchalische Einfachheit der Lebenszustände übt hier auf uns noch einen poetischen Reiz aus. Jn Virgil's Georgika verschwindet dieser Reiz, trotz einzelner glänzender Schilderungen, gegen die weit ausgeführte Prosa der Agrikultur. Gedichte wie Ovid's ars amandi und des Lucretius de rerum natura erheben sich, indem sie Stoffe der Empfindung und des Gedankens behandeln, über das Niveau der blos technischen Lehrgedichte. Auch die ars poetica des Horaz und die Poetiken des Vida, Pope und Boileau finden in ihrem Stoff einige dichterische Oasen. Jn neuerer Zeit hat Tiedge's sentimental-religiöse Urania einen mehr elegisch-lyrischen Charakter. Wir fügen hier einen nicht einmal vollständigen Katalog der literarhistorischen Kuriositätensammlung des Lehrgedichtes bei.

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Von neulateinischen Dichtern schrieben in Versen: Vida über das Schachspiel und die Seidenzucht, Fracastoro über die Syphilis, Giuseppe Milio über den Gartenbau, Kardinal Adriano und Natale Conti über die Jagd, Angelio Bargeo über die Dressur der Jagdhunde, Marco Tullio Berrò zehn Bücher rusticorum.

Von italienischen Dichtern: Giovanni Rucellai nach Virgil's Vorbild über die Bienen, Alamanni über den Landbau, Baldi über die Nautik, Berlingheri eine Geographie in terze rime, Tessauro über die Seidenzucht, Giambullari über die Beschwerden des Ehestandes im Sonaglio delle Donne, Fiordano gab eine gereimte Naturgeschichte der Fische, Duchi schrieb über das Schachspiel, Valvasone über die Jagd, Riccoboni über die Schauspielkunst, neuerdings Bartolomeo Lorenzi über den Bergbau, Cesare Arici über den Olivenbau und die Korallen, Niccolini über den Cedernbau u. s. f.

Von englischen Dichtern: John Davies nosce te ipsum, über die Unsterblichkeit der Seele, Buckingham über die Dichtkunst, Roscommon über die Uebersetzungskunst, John Phillips über die Bereitung des Aepfelmostes, Hill über die Schauspielkunst, Dyer über die Wolle, Armstrong, über die Diätetik, Grainger über das Zuckerrohr, Pope über den Menschen, Akenside über die Freuden der Phantasie, Young über die Kraft der Religion u. A.

Von französischen Dichtern: Louis Racine de la grâce, und de la réligion, Dorat über die theatralische Deklamation, Delille über die Gartenkunst und den Landbau, Boisjolin über die Botanik, Castel über die Pflanzen, Erménard über die Schifffahrt, Lalane besang den Küchengarten, Gudin und Daru die Astronomie, Légouvé das Verdienst der Frauen, St. Victor die Hoffnung u. A.

Von deutschen Dichtern schrieb Martin Opitz den Vesuv und Trostgedicht in Widerwärtigkeit des Krieges, Haller die Alpen, Cronegk die Einsamkeiten, Uz die Kunst stets fröhlich zu sein, Kästner über die Kometen und einige Pflichten des Dichters, 402Lichtwer über das Recht der Vernunft, Dusch über die Wissenschaften, Neubeck über die Gesundbrunnen u. A.

3. Die Satire.

Die Satire, eine Dichtung, welche die Jrrthümer, Thorheiten, Laster der Zeit mit scharfem Spott, sittlichem Pathos und in komischer Darstellung geißelt, darf den Zweck der Belehrung und Besserung nicht offen zur Schau tragen, wenn sie nicht in die Fehler des Lehrgedichtes verfallen will, sondern sie muß aus ihrer Darstellung selbst den Spott und die Züchtigung der Thorheit unmittelbar hervorleuchten lassen. Geht sie aus einer humoristischen Weltanschauung hervor, besitzt der Dichter objektive Darstellungskraft: so schwindet das Lehrhafte der Satire zu unbedeutender Nichtigkeit, und sie behauptet einen episch-humoristischen echt dichterischen Charakter. Auch das Pathos sittlicher Entrüstung stört diesen nicht, wenn es sich nicht selbstständig in den Vordergrund drängt, sondern nur die innere Gluth, die Kraft und das Mark der Darstellung hergiebt. Die gefährliche Klippe der Satire ist die Karikatur, in welche sie leicht übergeht, da die Thorheit um so schärfer hervorgehoben wird, je mehr sie sich mit einem Menschen, einer Epoche zu identificiren scheint. Als Vers der Satire wurde der Jambus von Archilochos, der Hexameter von Horaz, der Alexandriner von früheren deutschen Dichtern angewendet. Wir halten die Freiligrath'schen Alexandriner und die gereimten Jamben noch heutzutage für empfehlenswerthe Formen der selbstständigen Satire, die mit Unrecht in Mißkredit gekommen ist, seit sich die satirische Ader nur durch die Romanprosa (in Jean Paul's Extrablättern, Jmmermann's Münchhausen, Gutzkow's Blasedow u. a.) oder durch die Feuilletonliteratur hindurchzieht. Wir glauben zwar nicht, daß die Satire noch jene Wirkungen haben wird, wie die schmähenden Jamben des Archilochos, deren Opfer sich selbst aus Verzweiflung erhängten; wir wünschten auch dem persönlichpasquillartigen Ton der Pope'schen Dunciade, der spießbürgerlichen Prosa Rabener's und andern einseitigen historischen Gestalten keine Wiedergeburt; doch wir erinnern nur an die liebenswürdige Sittenmalerei des epikuräischen Horaz, an den finstern stoischen Zorn des Persius, an des Juvenalis Rembrandt'sche Kulturbilder, an diese Denkmäler403 einer in ihren Lastern kolossalen Zeit; wir erinnern an Boileau und Voltaire, Swift und Pope, an die vortrefflichen deutschen Muster eines Lauremberg und Liskow, um unsere Generation zur Wiederbelebung der selbstständigen satirischen Form anzuregen. Die Satire als eine Stimmung des Gemüthes, welche die Wirklichkeit am Jdeal mißt, kann freilich die verschiedensten dramatischen und epischen Formen durchdringen; doch hat sie ebensogut ein Recht, sich ihre eigene Form zu schaffen, welche durch rhythmische Getragenheit einen lapidaren Charakter annimmt, den die charakterlose Humoreskenprosa des Feuilletons ihr nicht gewähren kann. Auch auf diesem Gebiete werden die Nachwehen der Heine'schen Richtung am besten durch eine künstlerische Fassung und Anlehnung an antike Muster bei echt moderner Weltanschauung verwunden werden.

4. Die Epistel.

Auch diese Form verdient die Beachtung der modernen Dichter. Jn ihrer geschichtlichen Behandlung wiegt oft das Lehrhafte, oft das Satirische, wie bei Horaz, Pope, Wieland u. A. vor; doch die freiere Form der Epistel, als des poetischen Briefes, der ein individuelles Leben gewinnt durch die Person, die ihn schreibt und durch die, an welche er gerichtet ist, erscheint geeignet für humoristische Ergüsse, welche eben durch diese fast dramatischen Beziehungen zweier Charaktere und durch die metrische Form einen künstlerischen Halt gewinnen. Wenn wir auch die römische Heroide des Ovid, und ihre Nachbildung von Pope, Dorat, Laharpe, Hoffmannswaldau und Lohenstein, als die pathetische Epistel, in welcher berühmte Männer und Frauen des Mythos und der Geschichte die Helden des Briefwechsels sind, für bedenklich halten, weil sie zu Monologen verführt und ungeeignet ist, einen weltgeschichtlichen Charakter in seiner Bedeutung darzustellen: so giebt sie doch einen lehrreichen Wink, welcher verschiedenartigen Ausbildung die Epistel fähig ist. Ein lebendiges humoristisches Kulturbild der Gegenwart läßt sich in einer solchen Epistel vortrefflich vorführen; sie ist die dichterisch geadelte Humoreske und Novellette; ja selbst einer Welt von Stimmungen, psychologischen Entwickelungen, Reflexionen, für welche nur die Prosa des Romans heutzutage eine Stätte bietet, eröffnet404 sie ein erwünschtes Asyl. Es ist keine Frage, daß die ernste Epistel in der Hand des rechten Talents dichterische Bedeutung gewinnen kann. Von neueren Dichtern hat sich nur der vielversuchende Rückert auf ihren Boden gewagt. Doch würden wir statt des Horazischen Hexameters lieber den Jambus Pope's und Gay's, am besten in freier Behandlung mit wechselnden Füßen, wie bei Uz, Michaelis, Nikolai und andern deutschen Vorbildern des vorigen Jahrhunderts, empfehlen. Auch dürften für einige Gattungen der Epistel sich die Platen'schen Parabasenverse, die Anapästen und Trochäen, eignen. Der Humor gewinnt in der Epistel noch dadurch freies Spiel, daß sie nicht an eine bestimmte Person gerichtet zu sein braucht man kann auch, wie Sedaine, Episteln schreiben à mon habit oder wie De Pezay: A la maitresse que j'aurai.

E405

Drittes Hauptstück. Die dramatische Dichtung.

Erster Abschnitt. Wesen und Begriff des Drama.

Das Dramatische ist die Blüthe der Dichtkunst, die Vereinigung des Epischen und Lyrischen in der unmittelbaren Lebendigkeit einer gegenwärtigen sich nach der Zukunft hin entwickelnden Handlung. Wir schauen in das Herz der Menschen, aus dem ihre Handlungen hervorgehn, und zugleich in das Herz der Welt, welche durch die That der Menschen verwandelt wird. Jenes ist das Lyrische, dies das Epische; doch weder die thatlose Empfindung, noch die todte Aeußerlichkeit hat ein Recht im Drama, welches zwar jene Elemente vereinigt, aber in einer durchaus neuen Gestalt. Das Epos erzählt die vergangene Begebenheit, die Lyrik stellt die gegenwärtige Empfindung dar; das Drama führt uns eine gegenwärtige Handlung vor, die aber nach der Zukunft hin gespannt ist, das Werden und Wachsen der Zukunft ist ebenso das eigentliche Lebenselement des Drama, wie das Verweilen in einer das Gemüth bewegenden Gegenwart das Lebensprincip der Lyrik, die Hingabe an eine erfüllte Vergangenheit das des Epos ist. Die Lyrik verharrt in der Jnnerlichkeit, das Epos entwickelt von außen nach innen, das Drama von innen nach außen; doch wenn auch die Verschmelzung des Epischen und Lyrischen eine chemische Vereinigung ist, die einen neuen Stoff schafft: so treten doch in der Entwickelung der dramatischen Handlung analytische Vorgänge ein, welche den beiden Faktoren des chemischen Produktes eine selbstständige Geltung verschaffen. Die äußerliche406 Welt zwar ist im Drama zur Dekoration geworden; die epische Beschreibung flüchtet in eine Scenerie, deren vollkommene Belebung allerdings erst die wirkliche Aufführung des Stückes vollzieht. Flüchtige Züge aus der Außenwelt verwerthet der Dramatiker nur für die Beleuchtung des Seelengemäldes wir erinnern an Shakespeare's Dunkan, der die milde Luft und die nistenden Tauben in Macbeth's Burg, diesem Tod bringenden Asyl, erwähnt. Dagegen wird die epische Erzählung im Dramatischen stets Platz greifen müssen, und die hellenische Tragödie, die, wie die hellenische Lyrik, den plastisch-epischen Grundcharakter der griechischen Muse nicht verleugnete, macht einen ausgedehnten Gebrauch von ihr. Da nicht die ganze Handlung auf der Bühne, unter der wir zunächst nur die innere Bühne der Vorstellung verstehn, vor sich gehn kann: so muß ein großer Theil der Handlung, der hinter den Koulissen spielt, erzählt werden. Es entsteht nun die Frage, ob die Erzählung nur das für den dramatischen Fortgang Wesentliche zu berühren habe, oder sich in einer selbstständigen epischen Darstellung ergehen dürfe. Jn den antiken Mustern ist das letztere unbedingt der Fall, ebenso wie sich die Lyrik in dem tragischen und komischen Chor ein selbstständiges Organ schuf. Auch bei Shakespeare und Schiller finden sich Erzählungen, in denen die epische Darstellungsweise angewendet ist wir erinnern z. B. an Raoul's Erzählung in der Jungfrau, an die des schwedischen Hauptmanns im Wallenstein. Doch muß als Regel festgehalten werden, daß die epische Erzählung im Drama nur dann erlaubt ist, wenn sie ein neues, den Fortgang der Handlung förderndes Moment hinzubringt, wenn sie ein Hebel und nicht ein Hemmniß der dramatischen Spannung wird. Nach zwei Seiten hin färbt schon die dramatische Form die Erzählung in anderer Weise, als das Epos. Der epische Erzähler ist objektiv, unbefangen, nur der Sache hingegeben der dramatische steht selbst unter der Macht des Eindrucks, den er hervorbringt. Man denke an die vibrirende Siegesfreude in Raoul's, an die gedämpfte Wehmuth in des schwedischen Hauptmanns Erzählung. Dann aber hören wir im Drama nicht blos den Erzähler, sondern wir sehn auch die Wirkung, die er hervorbringt, in unmittelbarer Lebendigkeit. Die Erzählung ist episch, aber ihre epische Ausführung wirkt pathologisch! Während der schwedische Hauptmann erzählt, sehn wir in der407 Seele der Thekla den Kampf der stummen Affekte, aus denen sich der dramatische Entschluß erzeugt. Diese Muster belehren uns, wann die Erzählungen im Drama undramatisch und müßig sind. Am unstatthaftesten sind sie am Anfange und Schluß des Drama in der Exposition und der Lösung! Die Exposition soll durch die Handlung selbst, durch frische Bewegung und Berührung der Charaktere vor sich gehn der Schluß aber die nothwendigen Konsequenzen der Handlung lebendig vor uns entrollen! Besonders ist jeder Abschluß verfehlt, wo die Erzählung einer bisher unbekannten Begebenheit den Knoten löst.

Ebenso wie das epische Element kann sich das lyrische aus dem dramatischen zur Selbstständigkeit entbinden! Keine Handlung, die nicht von Empfindung begleitet wäre der Affekt, die Leidenschaft, die Höhenpunkte der subjektiv-dramatischen Entwickelung sind ebenfalls Höhenpunkte der Empfindung. Das Lyrische wird daher an mehreren Stationen der dramatischen Handlung zum Durchbruch kommen. Jn der antiken Tragödie war der Chor das Organ einer schwunghaften, selbstständigen Lyrik, welche die Anregungen der dramatischen Handlung in freien Ergüssen, in denen freilich das Episch-Gnomische vorwog, in sich verarbeitete. Der Versuch, den Chor wieder einzuführen und der Lyrik im Drama ein anerkanntes Privilegium zu ertheilen, mißglückte ebenso in Ben Jonson's Catilina, wie in Schiller's Braut von Messina. Dagegen hatte nicht nur die Calderon'sche Romantik eine Fülle glühender Lyrik in den handelnden Charakteren des Stückes selbst verbunden, sondern auch der größte Dramatiker Shakespeare die tiefsinnigen Reflexionen und lyrischen Stimmungen des griechischen Chors in den Mund seiner Helden verlegt! Wie hätte dieser Dichter die Leidenschaft der Liebe in Romeo und Julie mit so meisterhaften Zügen schildern können, wenn ihm nicht der volle Ausdruck einer seelenvollen Lyrik zu Gebote gestanden! Je tiefer das Drama in das Jnnere des Menschen zurückging, die geheimsten Stimmungen der Seele belauschte, die Genesis der Leidenschaft durch alle ihre Stadien verfolgte: desto mehr mußte ein lyrischer Zug sich in das Dramatische verweben, ja es läßt sich behaupten, daß ohne dies lyrische Element sich keine dramatische Situation in ihrer Tiefe erschöpfen läßt. Wodurch unterscheiden sich die großen Dramatiker, ein Shakespeare und Schiller, von den verständigen dramatischen Technikern,408 Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer latenten Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung? Doch latent muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend, nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in Shakespeare's Romeo und Julie, die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist ausgesprochene Stimmung jeder Charakter des Dramas macht in seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse den reimlosen, fünffüßigen blanc-vers unterbrechen, sind nicht von lyrischer Zerflossenheit freizusprechen.

Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt das Drama die That des Menschen auf die Spitze seiner freien Entscheidung und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter von Haus aus erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden ist. Der dramatische Charakter ist ganz; seine Entwickelung zieht nur409 das letzte Facit seines Wesens. Der Konflikt muß nicht in seinen Eigenschaften, in innerer Zerfahrenheit und Haltlosigkeit liegen, sondern in seinem Geschick! Der Held darf zwischen zwei Entscheidungen schwanken, aber dies Schwanken verliert alles Jnteresse, wenn es eine Eigenthümlichkeit seines schwächlichen Charakters und daher eine alltägliche Lebensgewohnheit ist! Das Räthsel des Verhaltens der menschlichen Freiheit und Nothwendigkeit löst das Drama, wie das Leben selbst. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht! Lear, Hamlet, Otello müssen, ihrer Charakteranlage nach, so handeln, wie sie handeln; aber ihre That gehört vor das sittliche Gericht, dessen Urtheilsspruch in der Katastrophe und dem Schluß des Drama liegt! Der Zufall ist von der Peripherie des Drama nicht ausgeschlossen, wohl aber von seinem Mittelpunkt. Er darf nicht in die wesentliche Entwickelung eingreifen, nicht die Katastrophe herbeiführen. Fiesko darf nicht, auf einem Brett ausgleitend, in's Meer stürzen dazu gehört die That des Republikaners Verrina. Der Zufall ist in der Tragödie nur der Regisseur des Schicksals, er setzt nur die Nothwendigkeit in Scene. Was z. B. in Romeo und Julie als Zufall erscheint: das ist nur Offenbarung der sich überstürzenden Leidenschaft! Der Dichter wählt eine Variation des Zufalls; er hätte vielleicht auch eine andere wählen können, wie im Schach verschiedene Züge zu dem gleichen Resultat führen; aber jede Variation ist in sich nothwendig und aus der Nothwendigkeit der Charaktere und des ganzen Plans hervorgegangen. Ein freieres Feld hat der Zufall im Lustspiel! Da erfreun wir uns an seinem bunten Spiel, an jenem geheimnißvollen Luftzug, der die Gestalten des Lebens zusammen und durcheinander weht! Doch auch hier muß aus seinen neckischen Eingriffen, die das Unberechenbare im menschlichen Leben in heiterer Weise vertreten, schließlich nur das hervorgehn, was in den Menschen und Verhältnissen selbst liegt.

Schon die epische Handlung verfolgte ein bestimmtes Ziel, noch mehr gilt dies von der dramatischen, deren letzter Endzweck aus einer energischen Kollision der Zwecke hervorgeht. Die Charaktere des Drama interessiren uns wesentlich durch ihre Zwecke! Deshalb ist müßige Charaktermalerei episch! Der dramatische Charakter kann nicht so voll, so reich an Zügen, so behaglich ausgeführt sein! Er ist von Hause aus gespannt auf einen bestimmten Zweck und nur nach dieser Seite hin voll beleuchtet410 Freilich muß der Dramatiker die Fabel so wählen, daß die Handlung gerade den innersten Schwerpunkt des Charakters klar macht! Die Achse, um welche die Handlung rotirt, muß auch die Achse des Charakters sein dann rotirt er mit ihr um sie und enthüllt in vollständigem Umschwung eine Seite nach der andern. Aristoteles nennt die Tragödie nicht die Nachahmung von Personen, sondern von Handlungen und Lebensverhältnissen und Glück und Unglück (denn auch dieses beruht auf Handlung), und ihr Endzweck ist eine Handlung, nicht eine Beschaffenheit. Nun besteht aber die Beschaffenheit der Handelnden in ihren Sitten, ihr Glück oder Unglück aber in ihren Handlungen. Also ist die Handlung nicht zum Behuf der Sittenschilderung da, sondern der Handlungen wegen wird die Sittenzeichnung mit umfaßt; und somit sind die Situationen und die Fabel der Endzweck der Tragödie: der Endzweck aber ist überall das Höchste. Ohne Handlung ist keine Tragödie möglich, ohne Sittenzeichnung aber ist sie möglich. Wenn man diesen Satz als Axiom festhält: so läßt sich die dramatische Auffassung des Charakteristischen bei Shakespeare und Molière nur dadurch mit ihm versöhnen, daß wir für die Handlung und für den Charakter ein gemeinsames Centrum suchen. Die Vertiefung des Jndividuellen gehört der modernen Zeit an! Unsere Charakteristik verhält sich zur antiken, wie die bewegte Mimik unserer Darsteller zur regungslosen Maske der alten. Dennoch darf der Kreis der Handlung sich nicht zu einer Ellipse verschieben, wo die Bahn der handelnden Charaktere dem Mittelpunkte bald näher, bald ferner ist! Es ist fraglos, daß den alten Dramatikern zuerst die Fabel feststand, daß sie ganz naiv die Handlung erfaßten, während einem Shakespeare im Timon und Hamlet, einem Ben Jonson im Alchymisten, einem Molière im Avare zuerst das Charakterbild vor der Seele schwebte, das in seinem Umschwung den Kreis der dramatischen Handlung beschreibt. Die Goetheschen Dramen sind fast alle Charaktergemälde, nicht einmal im Sinne Jonson's und Molière's, mit kräftigen dramatischen Handhaben, sondern meistens duftige Seelengemälde. Goethe gelang es nicht, die Handlung zum Mittelpunkte seiner Dramen zu machen und die Charaktere an ihr und durch sie zu entwickeln. Bei ihm überwiegt die Gesinnung, das Ethos, die wechselnde Beleuchtung der Seele. Dagegen entsprechen411 die Schiller'schen Tragödieen vollkommen dem Grundsatze des Aristoteles, nur den Carlos und Tell ausgenommen, und verdanken dem energischen Fortgang der Handlung ihre großen und verdienten Erfolge.

Was die dramatischen Charaktere betrifft, so verlangt Aristoteles, daß sie edel, angemessen, gleichartig und konsequent seien. Aristoteles spricht nur von der Tragödie, und von ihr, der Nachahmung des Edleren, verlangt er eine Charakteristik nach Art der guten Portraitmaler, welche, indem sie die individuelle Gestalt wiedergeben, sie zugleich wohlgetroffen und idealisirt malen. Diese Jdealität erleidet daher in der Komödie einige Modifikationen, obgleich die derbe Realität auch hier in den freieren Farben des Humors schimmern muß. Schon das Gleichniß des Aristoteles giebt dem Dramatiker ein Recht, die Fülle der Eigenthümlichkeit zu entwickeln, wenn sie nur mit dem Schimmer der Jdealität bekleidet ist, das schärfste Profil zu malen, aber nicht die Narben, Warzen u. s. f. Die ideale Haltung darf nur nicht in das Aetherische übergehn, weder den Charakter zu einem Musterbild des Guten, zu einer Mosaik von lauter vortrefflichen Eigenschaften machen, noch in seiner Darstellung allzufeine Tinten der Seelenmalerei wählen, indem die innern Wallungen der Schönseligkeit keine dramatische Handlung gestalten können. Auf der andern Seite ist das inkarnirt Böse, die absolute moralische Mißgestalt, fehlerhaft, wenn sie, wie z. B. Franz Moor, nur als eine individuelle Verkrüppelung erscheint! Jst diese diabolische Energie dagegen nur das Gegenbild einer schwächlich verkümmerten Welt, wie Richard III., so gewinnt das Böse, als das Dämonische der Menschheit, eine höhere Berechtigung. Ueberhaupt ist auch das absolut Böse noch immer dramatischer, als das absolut Gute, weil es mit Energie seine bestimmten Zwecke verfolgt. Dies Dämonische der Leidenschaft aber, welche den Menschen von That zu That fortreißt und immer tiefer in das Gewebe des Bösen verstrickt, ist wahrhaft tragisch wir weisen nur auf Macbeth und Othello hin. Ueberhaupt bedürfen die dramatischen Charaktere der Energie. Denn nur durch diese Energie identificiren sie sich mit den Zwecken, die sie verfolgen, woraus die dramatische Spannung und das Jnteresse an der Handlung hervorgeht. Schwächliche und schwankende Charaktere können dies Jnteresse nicht erwecken, da sie nur halb sich ihren Zwecken hingeben.

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Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner Epistel an die Pisonen (114 und folg. ) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst eine ethische:

Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros;
Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend
Braus ', ob stolze Matron' auftret ', ob geschäftige Amme,
Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens;
Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;

dann aber eine historische:

Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles,
Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer,
Sag 'er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte.
Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet,
Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.

(Nach Voß.)

Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. Für den Römer, sagt Schiller, hat der Richterspruch des ersten Brutus, der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher Annahme der letzteren fähig sein. Der moderne Dichter, der heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese Gleichartigkeit 413schließt auch die paradoxe Charakteristik aus, die sowohl bei den Zeitgenossen Shakespeare's, einem Massinger, Ford u. A., als auch bei Hebbel, Ludwig, Meißner in neuer Zeit beliebt ist. Ausnahmenaturen und Ausnahmemotive können kein allgemeinmenschliches Jnteresse erwecken. Eine Leidenschaft, wie der Ehrgeiz des Macbeth, die Eifersucht des Othello, die, Allen gemeinsam, vom Dramatiker nur zu tragischer Größe gesteigert wird, erweckt durch ihre Gleichartigkeit unsere Sympathie; aber die befremdende Handlungsweise von Massinger's Sforza und Hebbel's Herodes, von Massinger's Molefort und Hebbel's Graf Bertram, das Abnorme, Krankhafte, organisch Fehlerhafte, die Marotte als Motiv der Tragödie, das verstößt gegen jenes nicht genug hervorzuhebende Grundgesetz des Aristoteles. Die Konsequenz der Charakteristik, die vierte Forderung des Stagiriten, das Verharren des Charakters auf seinem Schwerpunkte, schließt natürlich die Zeichnung eines inkonsequenten Charakters nicht aus, der nur ebenfalls in seinem ganzen Wesen mit Treue durchgeführt sein muß. Doch scheint es bedenklich, inkonsequente Charaktere in den Vordergrund des Drama zu stellen, da ihr beständiges Abspringen von der geraden Linie den energischen Verlauf der Handlung stört.

Diese Handlung selbst bedarf nun der Einheit; alle ihre Fäden müssen in einem bestimmten Knotenpunkte zusammentreffen. Schon Aristoteles nennt die Tragödie die Nachbildung einer abgeschlossenen und vollständigen Handlung, die einen gewissen Umfang hat. (VII. 2.) Die Einheit der Handlung ist eine einfache, wenn überhaupt nur eine Handlung dem Drama zu Grunde liegt, eine zusammengesetzte, wenn zwei oder mehrere, anfangs mit anscheinender Selbstständigkeit abgezweigte Handlungen sich im Verlaufe des Dramas zu einem Hauptstamme vereinigen. Diese Kompositionsweise war im altenglischen Drama sehr beliebt, Shakespeare gab ihr eine tiefere Bedeutung, indem er nicht nur die äußerliche Vereinigung mehrerer Handlungen zu einem Ganzen mit großer Gewandtheit bewerkstelligte, sondern ihnen auch von Anfang an eine innere Beziehung zu einander gab, indem jede den gleichen Grundgedanken des Dramas spiegelte. Lear und Gloster, Antonio und Shylock neben Bassanio und Portia sind hierfür erläuternde Beispiele. Die Einheit der Handlung fehlt, wenn sich zwei Helden414 mit ihren Zwecken nacheinander ablösen, wie Carlos und Posa, Cäsar und Brutus, wenn das Drama ein Konglomerat von Genrebildern ist, wie Götz von Berlichingen, oder eine epische Massenhandlung, in welcher die That des Einzelnen sich verliert, wie Wilhelm Tell. Die Logik des Dramas ist so zweckvoll, so unerbittlich, daß keine Episode in ihm Platz greifen darf. Doch wird oft als Episode bezeichnet, was im wesentlichen Zusammenhang mit der Haupthandlung steht und besonders durch einen Grundgedanken mit ihr verknüpft ist. So spiegelt sich der Konflikt Wallenstein's in Max Piccolomini! Die Dialektik von Treue und Verrath, welche durch diese Tragödie geht, die wir bei dem Haupthelden selbst, bei Butler und Octavio wiederfinden, zeigt sich hier in einer neuen Fassung! Der Kampf und Untergang der jugendlichen Lieb eund Treue bildet einen wehmüthigen Kontrast mit der Tragödie des Hochverraths. Doch würde die dramatische Einheit noch fester und zweifelloser gewahrt sein, wenn es dem Dichter gelungen wäre, dem Untergange des Max Piccolomini eine nicht blos in das Empfinden, sondern auch in das Geschick Wallenstein's und seines Planes eingreifende Wendung zu geben.

Man spricht in der Regel von drei aristotelischen Einheiten und führt, außer der Einheit der Handlung, noch die des Ortes und der Zeit als Gesetze des griechischen Aesthetikers an. Es ist bekannt, mit welcher Strenge das klassische Theater der Franzosen diese Regeln beobachtete, und mit welcher Genialität die altenglische Dramatik sie vernachläßigte. Dort mußte die dramatische Fabel im engen Zeitraum von einem oder wenigen Tagen auf einer unwandelbaren Scene abgespielt werden; hier zog sich die Handlung durch lange Jahre hin; die Scene wechselte fast mit jedem Auftritt und führte die Phantasie, innerhalb eines und desselben Aktes, über weite Länder und Meere. Die Schiller'sche Tragödie dürfte in dieser Beziehung die rechte Mitte halten und neuern Bestrebungen als Muster gelten. Der Schnürleib der französischklassischen Regelrechtigkeit hatte eine poetische Engbrüstigkeit zur Folge, welche die hellenischen Klassiker nicht kannten. So weit entfernt waren sie von einer strengen Beobachtung der Einheiten der Zeit, daß z. B. in den Trachinerinnen des Sophokles die Seereise von Thessalonien nach Euböa dreimal vollbracht wird, und in den Schutzgenossinnen415 des Euripides während eines einzigen Chorgesanges ein ganzer Feldzug von Athen gegen Theben vorging und der Feldherr nach einer gewonnenen Schlacht zurückkehrt. Jn den Dramen Corneille's und Racine's dagegen ist alle Freizügigkeit der Phantasie aufgehoben, ihre Helden sind glebae adscriptitii, und eine beengende Leibeigenschaft des Geistes die Folge ihres Haftens an der Scholle. Bringt der Stoff ungezwungen die Einheit der Zeit und des Ortes mit sich: so ist kein Grund vorhanden, warum der Dramatiker diese Vorzüge des Stoffes nicht unbefangen benutzen sollte. Doch wenn er dieser Technik nur das geringste Opfer in Bezug auf höheren dichterischen Gehalt bringen muß: so ist ihre Beobachtung verwerflich, ein kleinlicher Götzendienst vor hölzernen Formen. Deshalb sind die neuern Versuche, durch scenische Künsteleien das Jdeal jener Einheiten zu erreichen, spurlos vorübergegangen. Auf der andern Seite wäre es noch mißlicher, jene scenischen Licenzen des altenglischen Theaters nachzuahmen, das, durch seine einfache Einrichtung begünstigt, indem die veränderte Scene nur durch einen Zettel angezeigt wurde, an die Phantasie der Zuschauer die größten Zumuthungen stellte. Der bunte, häufige Scenenwechsel, die maßlose Ausdehnung in Zeit und Raum bringt nothwendig eine Zersplitterung des Jnteresses und eine Zerfahrenheit der Handlung hervor, welche ihre innere Einheit oft gefährdet, oft unmöglich macht.

Goethe hat in seinem Götz von Berlichingen den Beweis geliefert, daß die Nachahmung der Shakespeare'schen Regellosigkeit der Komposition kein Stück von einheitlicher Handlung und fesselndem Jnteresse hervorzubringen vermag, und widerlegt so durch sein eigenes Beispiel die geniale Theorie seiner Sturm - und Drangepoche, die er mit den Worten ausspricht: Es ist einmal Zeit, daß man aufgehört hat, über die Form dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, und wie das Zeug alles hieß, und daß man nunmehr stracks auf den Jnhalt losgeht, der sich sonst von selbst zu geben schien. Das Zusammenwerfen der Regeln giebt keine Ungebundenheit, und wenn ja ein Beispiel gefährlich sein sollte, so ist's doch im Grunde besser ein verworrenes Stück machen, als ein kaltes. Dagegen geißelte schon zu Shakespeare's Zeiten einer der geistvollsten Zeitgenossen die scenische Ungebundenheit des altenglischen Schauspiels. 416Sir Philipp Sidney sagt in seiner Vertheidigung der Poesie in Bezug auf die Bühne Shakespeare's: Jhr habt Asien auf der einen, Afrika auf der andern Seite und soviele Reiche dazwischen, daß der Schauspieler, wenn er auftritt, immer erst sagen muß, wo er sich befindet, damit er nur verstanden werde. Da treten plötzlich drei Damen auf und sammeln Blumen, und wir müssen annehmen, daß die Bühne ein Garten sei dann ist von einem Schiffbruch die Rede, und die Bühne muß uns als ein Felsen erscheinen. Auf diesem zeigt sich ein häßliches, feuerschnaubendes Ungeheuer dann müssen die bedauernswerthen Zuschauer die Scene für eine Höhle halten, während zwei Armeen, von vier Schwertern und Schilden dargestellt, hereinstürmen wer würde sich da nicht erbitten lassen, in der Bühne ein Schlachtfeld zu erblicken? Jn der Zeit ist man noch weniger ängstlich, denn gewöhnlich verlieben sich ein Prinz und eine Prinzessin ineinander, nach vielen Zwischenfällen genest sie eines Knaben, eines schönen Buben; er geht verloren, wird ein Mann, verliebt sich und zeigt sich bereit, selbst Kinder zu bekommen, und das alles in einem Zeitraum von zwei Stunden. Wir sehn, daß schon die Romantik des alten Englands ihren Platen fand; und wenn auch die von Sidney gerügte Unklarheit der englischen Bühne durch die Dekorationen unseres Theaters beseitigt ist, so bleibt doch sein Tadel für den stürmischen Scenenwechsel der Stürmer und Dränger und der Romantiker, eines Tieck, Jmmermann und ihrer Nachbeter zu Recht bestehn, um so mehr, als auch die größere Hälfte der Shakespeare'schen Stücke durch ihre scenische Zerfahrenheit ihre übrigen Vorzüge wesentlich beeinträchtigt. Die altenglische Tragödie macht den Eindruck eines Urwaldes, der erst durch Lichtung für den guten Geschmack zugänglich wird. Das Hin - und Herfahren der Shakespearomanie auf der einen, die gezwungenen Einheitskünsteleien auf der andern Seite haben dem modernen Drama in seiner Entwickelung sehr geschadet. Wir glauben als Prinzip feststellen zu dürfen: die Einheit von Ort und Zeit muß insoweit beobachtet werden, als es die Einheit der Handlung verlangt. Verwandlung der Scene findet nach jedem Akte, der zugleich ein nothwendiger Einschnitt der Handlung ist, Statt. Jnnerhalb des Aktes dürfen die Verwandlungen höchstens zweimal stattfinden, weil ein öfterer Scenenwechsel die Stimmung nothwendig unterbricht. Aus dem gleichen417 Grund sind allzugroße Sprünge im Ortswechsel, z. B. von einem Welttheile nach dem andern, zu vermeiden! Die Phantasie folgt ihnen zwar mit Leichtigkeit; aber die Stimmung wird unterbrochen, die Handlung in eine andere Athmosphäre, unter andere Bedingungen versetzt. Das paßt nur für die Posse, für den Weltumsegler wider Willen! Die Weite des Raumes, welche die Phantasie durchfliegen muß, wirkt wie ein episches, retardirendes Motiv. Auch darf sich der Kredit des dramatischen Talentes nicht durch solche Anleihen bei der Phantasie des Publikums erschöpfen. Ebensowenig darf der Zeitraum des Drama die Grenze der einzelnen Lebensalter überschreiten. Ein Kind, das später als Jungfrau oder als Mann auftritt, eine Jungfrau, die sich in eine Matrone, ein Held, der sich in einen Greis verwandelt das sind unerlaubte Verpuppungen der dramatischen Chrysalide. Biographische Lebensläufe in auf - und absteigender Linie passen nicht in den abgerundeten Kreis des Drama. Die Einheit der Handlung verlangt vor Allem die innere Einheit der Charaktere, nicht blos die Einheit des Objektes; denn sonst könnte man einen Wetzlar'schen Reichsgerichtsprozeß, der über ein Jahrhundert hinaus dauert, in Scene setzen und ganze Generationen in ihrer Aufeinanderfolge zu Helden machen. Nach allen diesen Seiten hin ist nicht Shakespeare mit seinen Verirrungen, die höchstens einem Kotzebue, einer Birch-Pfeiffer und der neufranzösischen Boulevardsromantik zu gute kommen, sondern der kunstgerechteste Dramatiker der ganzen neuen Zeit, Schiller, als klassisches Muster hinzustellen. Den Jnhalt der dramatischen Handlung bildet nun die Fabel des Stückes, welche der Dichter selbst erfinden oder der Geschichte und dem Mythos und der erzählenden Literatur entlehnen kann. Es ist eine verkehrte Ansicht der Neuzeit, in der selbstständigen Erfindung das sicherste Zeugniß des schöpferischen Genius zu suchen. Dann wäre Agathon ein größerer Dramatiker als Sophokles und von welchen Pygmäen würde Shakespeare übertroffen werden! Nicht durch die Wahl des Stoffes, sondern durch die Eigenthümlichkeit der Behandlungsweise unterschied sich Euripides von Aeschylos und Sophokles. Die großen tragischen Mythen der Alten waren traditionell wie lächerlich wäre damals ein Eigenthumsstreit um die Benützung einer Fabel erschienen, wenn die Eumeniden des Aeschylos gegen den Orestes des Euripides oder die418 Elektra des Sophokles gegen die des Euripides eine Anklage des Plagiats erhoben hätten! Wie lächerlich wäre noch in Shakespeare's Zeit ein solcher kleinlicher Rechtshandel um das Mein und Dein einer Erfindung erschienen! Jede Blüthenepoche der dramatischen Literatur hat ihre bestimmten, Allen gemeinsamen Stoffquellen, ebenso eine bestimmte und gemeinsame Richtung der Komposition und des Styles! Was den Einzelnen über die Mitstrebenden erhebt, ist nicht die Erfindung der Fabel, die sich ebenfalls nach einem unsichtbaren Schema richtet, das den Dichtern vorschwebt sondern die Größe der Weltanschauung und die Kraft der Darstellung! Die Originalität des Dramatikers fällt mit seinem Genius zusammen! Der Genius aber offenbart sich in der nothwendigen Wahl des ihm angemessenen Stoffes.

Die eigene Erfindung, auf welche die neuen Dramatiker einen überschätzenden Werth legen, zeigt sich alsbald in ihrer Mißlichkeit, wenn sie ihre Gestalten frei in einem unbestimmten Aether der geschichtlichen Zeit, der Sitte u. s. w. schweben läßt und nicht mit Sicherheit auf einem historischen Grunde aufträgt. Daran scheiterte Agathon, der die feste Bestimmtheit der Mythe verließ, welche die großen griechischen Tragiker trug. Die altenglischen Dramatiker wählten entweder die Sagenzeit des eigenen Vaterlandes als Stoffquelle (Ferrex und Porrex, König Lear u. A.), oder sie gaben ihren Stoffen das Kolorit einer bestimmten Zeit und Volkssitte (Marlow im Maltheser, Webster in der Vittoria Corrombona u. A.). Für das bürgerliche Schauspiel und Lustspiel ist dieser Hintergrund ein für allemal in der Kultur der jedesmaligen Epoche gegeben.

Die Hauptfundgrube dramatischer Stoffe ist die Weltgeschichte, in welcher große Charaktere und große Motive gegeben sind. Die historische Tragödie nimmt für die Gegenwart unbedingt den ersten Rang ein. Jnwieweit der Tragödieendichter das Recht hat, die Geschichte umzudichten, haben wir bereits früher untersucht. Die Shakespeare'schen Historien sind indeß verfehlte Dramen, und nur die lächerlichste Autoritätssucht kann sie für Muster gelten lassen. Hier können wir nur Grabbe's Urtheil unterschreiben, der Shakespeare's Fehler besser einsah als vermied: Vom Poeten verlang 'ich, sobald er Historie dramatisch darstellt, auch eine dramatische, koncentrische und dabei die Jdee der Geschichte wiedergebende Behandlung. Hiernach strebte Schiller, und419 der gesunde deutsche Sinn leitete ihn; keines seiner historischen Schauspiele ist ohne dramatischen Mittelpunkt und ohne eine koncentrische Jdee. Sei nun Shakespeare objektiver als Schiller, so sind doch seine historischen Dramen (und fast nur die aus der englischen Geschichte genommenen, denn die übrigen stehen noch niedriger) weiter Nichts, als poetisch verzierte Chroniken. Kein Mittelpunkt, kein poetisches Endziel läßt sich in der Mehrzahl derselben erkennen. Von Schiller's Auffassung und Behandlung der Geschichte ist man in neuester Zeit wieder mit Unrecht abgewichen, indem man Tragödieen zu dichten versuchte, deren unsichtbarer Held der Weltgeist selbst sein sollte, die aber nur in den massenhaften Spektakel großer Staats - und Kriegsaktionen verliefen. Die Tragödie muß ein individuelles Geschick zum Mittelpunkt haben; die Krisen der Massen, die Katastrophen der Völker sind nicht dramatisch. Die historische Tragödie muß sich weder an die Kontinuität der Geschichte hingeben, noch sie willkürlich unterbrechen sie muß die fortgehende Linie zu einem Kreis mit centraler Einheit umbiegen. Die Kunst des Tragikers aber wird darin bestehen, im individuellen Geschick das Weltgeschick zu spiegeln und den Mittelpunkt seines Kreises zugleich zum Mittelpunkte jener großen koncentrischen Kreise zu machen, welche das Schicksal der Völker beschreibt. Daß die neuere Geschichte seit der Reformation die günstigste Stoffquelle für die moderne Dramatik ist, haben wir bereits früher erwähnt.

Neben der eigenen Erfindung und der Geschichte kann der Roman, die Novelle und die Ballade dem Dramatiker die Grundzüge seines Stoffes geben; und es muß um so mehr für eine falsche Scham namhafter dramatischer Dichter gelten, diese Stoffquellen zu verschmähn, als es großer schöpferischer Kraft und Originalität bedarf, einen epischen Organismus, dessen Schwerpunkt nach der entgegengesetzten Seite hin liegt, in einen dramatischen umzudichten. Wir sprechen hier natürlich nicht von der principlosen Einschachtelung eines beliebigen Romanstoffes in die zufällige dramatische Form zur Erzielung stoffartiger Wirkungen auf der Bühne; wir sprechen von der künstlerischen Benutzung eines bereits in Romanform behandelten Stoffes für die Gestaltung eines einheitlichen dramatischen Werkes. Es ist bekannt, daß Shakespeare und seine Zeitgenossen besonders die italienischen Novellen als Fundgrube420 dramatischer Stoffe benutzten; es ist ebenso bekannt, wie Shakespeare diese zufällig gefundenen Stoffe nicht etwa blos dramatisch einkleidete, sondern mit der Macht seines tragischen Genius umschuf und unter die großen Perspektiven seiner genialen Weltanschauung rückte. Man hat soviel Tadelnswerthes des großen Britten nachgeahmt warum ist man nicht auch hierin seinem Vorgang nachgefolgt? Aehnlich jenen italienischen Novellen, deren Hauptvorzug in einer phantasievollen Erfindung bestand, erscheinen die neuern französischen Novellen und Romane und wie die altenglische Dramatik sich jener Stoffe bemächtigte und sie in genialer Weise umdichtete: so dürfte auch für die moderne deutsche Dramatik in diesen phantasievollen stoffartigen Produktionen ein glücklicher Rohstoff vorliegen, der durch künstlerische und geniale Behandlung sich zu bedeutungsvollen Dramen umgestalten ließe. Der deutsche Genius würde nicht nur die dramatische Kunstform, sondern auch den tiefern Grundgedanken für jene Stoffe erst schaffen müssen; aber diese novellistischen Anregungen zu verschmähn, ist für einen modernen Dramatiker so wenig ein Grund vorhanden, als für Shakespeare, einen bereits von den Jtalienern Luigi da Porto und Bandello, von dem Franzosen Boisteau und seinem englischen Uebersetzer Painter in Novellenform, von Arthur Brooke als lyrisch-episches Gedicht behandelten Stoff zur Grundlage seiner Tragödie Romeo und Julie zu nehmen.

Zweiter Abschnitt. Die Technik des Drama.

Keine Dichtform hat eine so unerbittliche Logik, wie die dramatische; keine bedarf einer solchen Korrektheit des innern Zusammenhanges. Hierzu kommt, daß das Drama für die Aufführung geschrieben ist und sich nach den Anforderungen der Bühne richten muß. So ist seine Technik eine vielfach schwierige und verwickelte; und nirgends im Bereich der Poesie gilt so wie hier der Goethe'sche Spruch:

Jn der Beschränkung nur zeigt sich der Meister!

Jedes Hinausstürmen über die gegebenen Schranken vereitelt die421 organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne beherrscht die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale Bühne schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie422 sich der Technik seines Theaters, seiner Epoche anschmiegt und trotz dessen ewigen Ruhm gewinnt, während ein mittelmäßiges Talent trotz seiner scenischen Neuerungen verdienter Vergessenheit anheimfällt. Das Drama der Gegenwart hat die Bühne der Gegenwart zu seiner Voraussetzung. Die romantische Genialität der Lesedramen hat sich nicht stichhaltig bewiesen; ihre letzten Nachklänge verhallen immer mehr! Selbst die originalen Kraftdramatiker, wie Hebbel, schmiegen sich den scenischen Anforderungen an und wenn Hebbel's Dramen sich nicht auf unserer Bühne einbürgern, so liegt es nicht an einer Tieck-Grabbe'schen Formlosigkeit und scenischen Unmöglichkeit, sondern nur an der Paradoxie ihrer Stoffe. Jm Gegentheil, unser Theater ist der freien und kühnen dramatischen Bewegung günstiger, als das Theater irgend einer Epoche, da es für seine Maschinerieen und technischen Hülfsmittel kaum noch eine Unmöglichkeit giebt. Der gewaltige Aufwand der Jnscenirung, an den Ballet und Oper gewöhnt sind, kommt auch der dramatischen Dichtung zugute. Auch ist nicht abzusehn, warum sich dieselbe die ausgedehnten und glänzenden scenischen Mittel unseres Theaters nicht ebenso zu Nutze machen sollte, wie das altenglische Drama die scenische Einfachheit und Armuth des seinigen, vorausgesetzt nur, daß der innere Gang des Drama durch diese glänzende Maschinerie weder gestört, noch verdunkelt wird.

Die Technik des Drama ist eine innere und äußere. Unter der innern Technik verstehen wir einen Bau des Drama, der sein ästhetisches Grundgesetz in eine wirkungsvolle Form kleidet, in Ausdehnung, Gliederung, Steigerung nicht nur das Maaß des scenisch Möglichen festhält, sondern auch scharf jeden Einschnitt der Handlung markirt; unter der äußern Technik verstehn wir die Rücksichtnahme auf ganz bestimmte Konvenienzen unserer Bühne. Jn Kollisionsfällen muß die äußere der inneren geopfert werden. Die erstere ist mehr positiv, die letztere mehr negativ. Die Wirkung der erstern wird durch die zweite unterstützt, indem sie jede Störung vermeidet. Der Kanon der erstern hängt mit dem Wesen des Drama innig zusammen; die Regeln der zweiten sind zufällig, gelten für heute und nicht mehr für morgen, sind aber für den Dramatiker der Jetztzeit ebenfalls von hoher Wichtigkeit.

Die innere Technik des Drama hat große Aehnlichkeit mit dem Wesen des Schachspiels. Seine Gestalten sind ihm gegeben, wie die423 Figuren dieses Spieles; ihre Bewegung geht nothwendig aus dem Wesen ihres Charakters hervor, wie die Bewegung eines Thurms, Springers, Läufers. Der dramatische Charakter kann ebensowenig seinem Wesen untren werden, wie ein Thurm oder Läufer von ihrer Linie abgehn und in die hüpfenden Touren des Rösselsprunges verfallen dürfen. Die Beschränkung auf eine bestimmte Zahl zur Entscheidung nothwendiger Figuren mag der Dramatiker ebenfalls vom Schachspiele lernen; ebenso die Beschränkung auf einen bestimmten Zweck, zu welchem alle Figuren gemeinsam wirken! Der König soll matt gesetzt werden. Das ist der einzige und letzte Zweck des Schachs! Ein gleiches Matt ihres Helden verlangt die Tragödie, während sich das Lustspiel mit einem Patt begnügt. Vom Drama, wie vom Schachspiel gilt, daß jeder einzelne Zug dies letzte Ziel im Auge habe. Das ist die Einheit des Spieles und die Einheit des Drama, der geniale Durchblick nach dem letzten Endzweck, ohne den es keinen großen Dramatiker und keinen großen Schachspieler giebt. Minder Begabte verstricken sich in nebensächliche Verwickelungen und verlieren das letzte Ziel aus dem Auge. Mit den bestimmten Figuren des Schachs ist nun eine große Menge von Kombinationen und Variationen möglich; ähnlich mit den Gestalten des Drama. Entscheidend aber ist im Schach die kürzeste und schlagendste Kombination, die am raschesten zum Ziele führt! Und wie der geniale Schachspieler durch wohlberechnete und überraschende Opfer den Sieg davonträgt; so siegt der geniale Dramatiter durch blendende Züge, die aber nur die innere Nothwendigkeit der Sache, die dem blöderen Aug 'anfangs versteckt ist, in überraschender Weise aufdecken. Manche Variationen sind im Drama, wie im Schach gleichgültig, indem sie in einer gleichen Zahl von Zügen zum Ziele führen. Dagegen ist jede noch so glänzende Diversion verwerflich, wenn sie das letzte Resultat aus dem Auge verliert. Unnöthiges Schlagen und Abtauschen, das durchaus keinen Vortheil bringt, ist im Schach tadelnswerth; im Drama das Hinopfern der Figuren, wenn es ohne Einfluß auf den Fortgang der Handlung bleibt.

Diese Vergleichung mag Manchem müßig erscheinen; und doch erläutert sie das Wesen der dramatischen Technik besser, als eine selbstständige Abhandlung. Ja eins ihrer Hauptgeheimnisse, welches wir als das424 dramatische Tempo bezeichnen, läßt sich vollständig nur durch einen Blick auf das Schachspiel klar machen. Hier kommt es nicht nur darauf an, daß der richtige Zug gemacht werde, sondern auch, daß er zur rechten Zeit geschehe. Derselbe Zug ein Tempo später würde das Spiel verlieren, das er ein Tempo früher gewonnen hätte. Ganz ebenso verhält es sich im Drama. Es ist nicht gleichgültig, wann eine Person in die Handlung eingreift, wann eine oder die andere Scene eingefügt wird, wann eine Krise oder Katastrophe eintritt ein Tempo früher oder später macht einen großen Unterschied für die mehr oder minder energische Entwickelung der Handlung. Der Schluß des Drama ist am glücklichsten herbeigeführt, wenn er, ähnlich einem Schachräthsel, mit logischer Nothwendigkeit in eine bestimmte Zahl von Zügen die letzte Entscheidung zusammendrängt. Je kühner und überraschender diese letzten Züge, desto glänzender die Auflösung des Räthsels und der Abschluß des Drama. Die Gliederung des dramatischen Organismus in Akte und Scenen kann keine willkürliche sein, sondern nur eine nothwendige. Da er Dramatiker seinen Stoff nicht nach Behagen und Laune vertheilen darf, sondern seiner innern Schwerkraft gehorchen muß, die den Schwerpunkt der Handlung von selbst an eine bestimmte Stelle verlegt: so wird nicht nur jeder Akt, sondern auch jede Scene sowohl ihre selbstständige Bedeutung, als auch eine Bedeutung für den Organismus des Ganzen haben müssen. Wie dieser muß jeder Akt und jede Scene Anfang, Mitte und Schluß, ihren dialektischen Verlauf haben.

Die Scene wird durch das Auftreten einer neuen Person bedingt. Man hat zwar, nach dem Vorgange der altenglischen Bühne, auch mit dem Ausdrucke Scene jede Verwandlung des Theaters bezeichnet, mögen nun mehr oder weniger Personen innerhalb derselben auftreten. Doch in der Regel gebraucht man Scene und Auftritt in gleicher Bedeutung. Jede auftretende Person muß einen bestimmten in die Handlung eingreifenden Zweck haben; es soll in einem Drama keine müßigen Scenen geben; es sollen keine Personen auftreten ohne einen vollkommen klaren und bestimmten Grund. Die Scene muß äußerlich und innerlich motivirt sein. Die auftretende Person bringt ein neues Moment in die Handlung, welches sich im Verlauf der Scene entwickeln muß. Jn Scenen von größerer Bedeutung wird der Schluß ihren425 Jnhalt in einer drastischen Pointe zusammenfassen. Hieraus gehen die sogenannten dankbaren Abgänge hervor, die nicht blos äußerlich theatralisch, sondern Ausflüsse echter dramatischer Energie sind. Wie viele Personen in einer Scene zusammentreffen dürfen, darüber läßt sich kein festes Gesetz geben. Doch müssen, mit Ausnahme der Statisterie bei großen Staats - und Kriegsactionen, alle anwesenden Personen thätig in den Fortgang der Scene eingreifen. Ob wir ein dialogisches Duett, Terzett, Sextett vor uns haben die Stimme eines jeden Mitwirkenden bleibt wesentlich. Bei einer größeren Zahl von Personen kommt es auf die Stimmenführung und Gruppirung an, wobei dem Dramatiker stets das theatralische Tableau lebendig vor Augen schweben muß. Jm stummen Spiele müssen sich die einzelnen Gruppen während einer Scene ablösen; es darf dem stummen Spiel der Einzelnen nie zu viel überlassen werden sonst würde die Pantomime zum integrirenden Theil des Drama gemacht. Jn der Regel darf die Scene nicht leer stehen, besonders dann nicht, wenn diese Leere nur ein testimonium paupertatis für die scenische Gewandtheit des Dramatikers ausstellen würde. Nur in spannenden Momenten, wenn hinter der Scene sich etwas Bedeutendes begiebt, ist eine Ausnahme von dieser Regel gestattet. So bleibt z. B. die Scene, ohne Beeinträchtigung des dramatischen Jnteresses, leer stehn, während Otto von Wittelsbach mit gezogenem Schwerte fortstürzt, um den Kaiser zu ermorden, bis zu seiner Wiederkehr nach vollbrachter That.

Größere Einschnitte des dramatischen Organismus bilden die Akte (Aufzüge), innerhalb deren die Handlung sich durch ein bestimmtes Stadium weiter fortentwickelt. Das dramatische Finale jedes Aktes faßt die in demselben enthaltenen Fäden zusammen und das mattere oder vollere Austönen, die größere oder geringere Wirkung des Schlusses ist zugleich der Prüfstein für die Bedeutung, welche der einzelne Akt für das ganze Drama hat. Darum dürfen wir in den sogenannten dankbaren Aktschlüssen kein werthloses Zugeständniß an die theatralische Wirkung sehn, sondern vielmehr den anerkennenswerthen Erfolg einer echt dramatischen Komposition, welche die zerstreuten Strahlen der Verwickelung und Handlung am Schluß in einem Brennpunkte sammelt. Die Zahl der Akte hat Horaz in seiner Epistel an die Pisonen auf fünf festgestellt. Wenn man mit Aristoteles Anfang, Mitte und426 Ende als die wesentlichen Stadien der dramatischen Dichtung betrachtet, so würde sich die Dreizahl der Akte als das richtige Gesetz des Drama ergeben. Der erste Akt enthält den Anfang, die Exposition, der zweite die Mitte, die Verwickelung, der dritte das Ende, die Entwickelung. Es ist indeß ebensowenig ein Grund abzusehn, warum sich die Verwickelung nicht in drei Akte ausdehnen soll, sodaß die Fünfzahl an die Stelle der Dreizahl tritt, als auch, warum sich nicht die drei Akte bei einem kurzathmigen Stoffe in die Abbreviatur eines einzigen zusammenziehn sollten. Dagegen sind zwei, vier oder sechs Akte für die dramatische Komposition ungünstig, indem die einzelnen Bestandtheile der Handlung, deren Dialektik an das dreigetheilte Schema der logischen Entwickelung erinnert, dann in den Akten keinen entsprechenden Ausdruck und Abschluß finden. Wenn wir das fünfaktige Schema des Horaz adoptiren, das bei größeren Dramen mit Recht allgemeine Anwendung gefunden, so enthält der erste Akt die Exposition, die Bedingungen und Anfänge der Handlung, die aber selbst wieder Handlung sind und nicht todte Auseinandersetzung der Situation, wie sie sich bisweilen in den Prologen alter Götterherolde findet. Die Exposition des Drama duldet keine Mysterien für den Zuschauer; er muß mit gleichem Ueberblick, wie der dramatische Dichter, alle Fäden der Entwickelung in der Hand halten. Die Exposition soll uns aber gleichzeitig in die dramatische Stimmung versetzen. Die Stimmung gehört zwar vorzugsweise der Lyrik an doch sprechen wir schon von einer epischen Stimmung und dürfen noch mehr von einer dramatischen sprechen. Jede dramatische Handlung hat ihr bestimmtes Kolorit, das mit ihrem Grundcharakter übereinstimmen muß. Die heißblütigen Kampfscenen in Romeo und Julie versetzen uns gleich in jene südliche Lebenssphäre, wo Haß und Liebe in heißer Leidenschaftlichkeit emporlodern, während die düstern Hexen auf Schottlands öden Haiden und Schlachtfeldern uns alsbald in jenen unheimlichen Kreis bannen, aus dem die großen Verbrechen des Ehrgeizes hervorgehn, indem der Geist aus der grauenhaften Oede der Natur um so dämonischer brütend in die eigenen Tiefen einkehrt! Und wie meisterhaft hat Shakespeare die Einheit der Stimmung in beiden Tragödieen festgehalten dort, sympathisirend mit der glühenden Sinnlichkeit der Liebe, die duftigen Nächte, die Blumen und Nachtigallen des427 Südens; hier, im Einklang mit den Verbrechen des ehrgeizigen Mordes, die unheimliche Sturmesnacht des Nordens, in welcher die Eule krächzt und der Wolf auf seinen Raub ausgeht. Das historische Drama muß uns den Hintergrund der Kultur, den der Epiker in aller Breite auszumalen berechtigt ist, den Geist der geschichtlichen Epoche und des Volkslebens mit wenigen, aber schlagenden und lebensvollen Zügen darstellen, die uns in die Stimmung jener Zeit versetzen. Jn dieser Beziehung sind z. B. die ersten Akte des Egmont und Wilhelm Tell meisterhaft! Dort befinden wir uns mitten in der rührigen und frischen Bürgerlichkeit des niederländischen Volkes, welche im Helden der Tragödie eine ideale Gestalt gewinnt; hier tritt uns die große, freie Natur der Alpen und des Schweizer Volkslebens entgegen, dessen thatkräftige Rüstigkeit sich im energischen Auftreten des Helden spiegelt. Der erste Akt versetzt uns also in die Situation des Drama, die keine ruhende, sondern von Anfang an nach der Zukunft hin bewegt ist, und in die dramatische Stimmung. Er zeigt uns die Wurzeln der Handlung in ihrem Wachsthum, und sein organischer Schlußpunkt ist dort, wo ihre ersten Keimblätter sichtbar an's Licht hervortreten. Der Schluß des ersten Aktes ist am wirksamsten, wenn er uns eine spannende Perspektive in die Zukunft eröffnet, wenn er uns, wie mit einem Blitze, das Reich der Möglichkeiten erhellt, innerhalb dessen die Handlung verlaufen kann.

Der zweite Akt schürzt den Knoten der dramatischen Verwickelung enger, giebt dem Konflikt des Drama schärfere Bestimmtheit. Sind, wie im König Lear oder Kaufmann von Venedig mehrere Gruppen da, welche eine Grundidee spiegeln: so läßt der zweite Akt sie beide noch selbstständig bestehn, vertieft und entfaltet nur die gesonderte Handlung. Er schließt am besten mit einem folgenreichen Entschluß, z. B. in Maria Stuart mit dem Entschluß der Elisabeth, die gefangene Königin in Fotheringhay - Schloß zu sehn. Jst die Handlung des Drama in eine Reihe von Thaten zerfällt, deren innere Einheit die bewegende Leidenschaft des Helden ist: so kann schon im zweiten Akt eine entscheidende That geschehn. So die Ermordung des Königs Dunkan im zweiten Akt des Macbeth, die erste That in jener unheilvollen Kette der Verbrechen.

Der dritte Akt ist der centrale Akt des Drama, der Mittelpunkt der Handlung. Der zweite Akt hat den Konflikt weiter entwickelt; der428 dritte hat ihn gereift. Er enthält den Höhepunkt der Krisis und das ist seine tiefe künstlerische Bedeutung. Er hat die Frucht gereift; aber er darf sie noch nicht vom Baume schütteln! Denn solche vorzeitige Beschleunigung der Entwickelung würde die letzten Akte um ihre Wirkung bringen. Die Spannung ist auf's Höchste gediehn, der Konflikt auf seine drohendste Spitze gesteigert. Hier tritt seine innere Einheit zu Tage, gesonderte Handlungen müssen ineinandergreifen; die Koncentration des dramatischen Pathos giebt dem Schluß des dritten Aktes eine mächtige Wirkung. Diese Bestimmungen sind sowenig zufällig, daß wir sie gerade an den kunstgerechtesten Dramen nachweisen können. Man darf indeß nicht diesen Höhepunkt der Krisis mit der Peripetie verwechseln, welche, wie wir bald genauer sehen werden, durchaus von ihm verschieden ist. Jn derjenigen Tragödie Shakespeare's, deren Organismus vor allen andern künstlerisch gegliedert ist, im Coriolan, sehn wir im dritten Akt die Spannung zwischen dem aristokratischen Patricier und dem Volk und seinen Tribunen auf's Höchste gesteigert. Sie haben ihn, der sie in stolzem Uebermuth schmähte, aus Rom verbannt. Jn der Jungfrau von Orleans schließt den dritten Akt die Begegnung mit Lionel, in welcher die tragische Kollision zwischen der himmlischen Sendung und der irdischen Liebe ihren Gipfel erreicht. Die Spannung zwischen Maria Stuart und Elisabeth ist in ihrer Begegnung in Fotheringhay-Schloß auf's Höchste gesteigert, und der Bruch durch den Mordversuch auf die Königin von England, der am Schluß des Aktes eintritt, unheilbar geworden. Jm dritten Akt des Tell liegt in der Scene des Apfelschusses die dramatische Krisis. Der sittliche Konflikt des Acosta, der Kampf zwischen dem freien Gedanken und der Liebe zur Familie findet im dritten Akte, in der Scene mit der blinden Mutter, seinen Brennpunkt. Auch an Othello und vielen andern Dramen läßt es sich nachweisen, wie der dichterische Genius nur dem nothwendigen Gesetz der dramatischen Form folgt, wenn er den Schwerpunkt der Krisis in den dritten Akt, in die Mitte des Stückes verlegt.

Der vierte Akt dagegen ist der Akt der Peripetie, des Glücksumschwunges, den schon Aristoteles als wesentlich für das Drama bezeichnet und als dessen beliebteste Form er die Erkennung anführt. Der Glückswechsel ist eine Veränderung mit den handelnden Personen,429 wodurch sie in einen entgegengesetzten Zustand gerathen und zwar nach unserer Bestimmung auf eine wahrscheinliche und nothwendige Weise. (Poet. c. 11.) Der vierte Akt des Drama ist nun die Entwickelung der dramatischen Krise zur Peripetie, die ihm den wirksamsten Abschluß giebt. Jn jenen Dramen, in denen die Steigerung des Konfliktes im dritten Akt mit Meisterschaft ausgeführt ist, finden wir auch regelmäßig im vierten eine kunstgerechte Peripetie. Wie großartig ist sie im Coriolan, der siegend mit dem Heere der Volsker vor Rom rückt und sich durch die Bitten seiner Mutter und Gattin zum Rückzuge bewegen läßt, ein Rückzug, der seinen Untergang zur Folge haben muß. Welch 'ein Umschlag des Geschickes, welch' ein Wechsel! Der Rachedurstende Triumphator, der bereits seine Vaterstadt vor sich gebeugt im Staube sieht, verwandelt sich in der Entwickelung des vierten Aktes in den guten Sohn, Gatten und Patrioten, der das Opfer seiner Großmuth wird. Der Anfang des vierten Aktes der Jungfrau von Orleans zeigt uns die Heldin auf der Höhe ihres Ruhmes, am Schluß des Aktes entflieht sie einsam und von Allen verurtheilt! Und wie meisterhaft ist diese Peripetie herbeigeführt, indem die Heldin, jener Anklage der Zauberei gegenüber, verstummte, weil sie ihr tieferes Verschulden durch das schweigende Eingeständniß einer Schuld, der man sie mit Unrecht zeiht, zu büßen sucht. Für Maria Stuart bringt der vierte Akt durch Leicester's Verrath die Entscheidung die Unterschrift des Todesurtheiles. Jm Uriel Acosta aber besteht die Peripetie im Widerrufe des Widerrufes, welcher den Helden dem Untergange weiht.

Der Jnhalt des fünften Aktes nun ist die Katastrophe und der Schluß der Tragödie. Der Untergang des Coriolanus, der Jungfrau von Orleans, der Maria Stuart, des Uriel Acosta erläutert von selbst die Bedeutung des letzten Aktes. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, den Verlauf der dramatischen Handlung von der Peripetie bis zur Katastrophe noch spannend zu erhalten, den letzten Akt nicht zu einem bloßen Austönen des vollen tragischen Akkordes zu machen, den der Schluß des vierten angeschlagen. Jn allen oben erwähnten Dramen ist der fünfte Akt matter, als der dritte und vierte, mit Ausnahme der Jungfrau, in welcher ein neues Moment der Handlung von spannender Kraft die Katastrophe des Schlusses herbeiführt. Dagegen ist der430 Schlußakt des Macbeth und Hamlet von echt dramatischer Steigerung. Wir haben die Beispiele für die kunstgerechte Gliederung des Drama aus dem Bereich der Tragödie genommen; wir hätten sie ebensogut aus dem Kreise des Lustspiels nehmen können, nur daß hier die Peripetie und Katastrophe eine andere Bedeutung gewinnt. Jn Scribe's Glas Wasser z. B. giebt der erste Akt eine klare und lebendige Exposition. Am Schluß des dritten Aktes steht die dramatische Partie so kritisch, daß Abigail sie für verloren, Bolingbroke für gewonnen erklärt. Der vierte Aufzug aber führt durch das berühmte Glas Wasser die Peripetie des Lustspieles herbei, während der fünfte Akt noch durch mancherlei spannend verschlungene Fäden zur glücklichen Katastrophe eilt, d. h. zur befriedigenden Lösung aller geschürzten Knoten und zur vollkommenen Darlegung des schalkhaft ironischen Grundgedankens. Ohne diese Präcision der dramatischen Gliederung, ohne diese Steigerung der Handlung, die Schürzung und Lösung des Knotens, ohne die an richtiger Stelle eintretende Krisis, Peripetie und Katastrophe wird das Drama leicht in das epische Gebiet hinüberschielen und nicht jene energische Spann - und Schlagkraft gewinnen, die seiner gedrungenen Form und ihrer logischen Konsequenz eigenthümlich ist. Wohl werden Ausnahmen von diesen allgemeinen Bestimmungen eintreten, wenn es die Behandlung eines besondern Stoffes mit sich bringt; aber der dramatische Gang wird durch diese Regeln markirt, und es wird stets bedenklich bleiben, die vorgeschriebene Etappenstraße des Drama zu verlassen und romantische Seitenwege einzuschlagen. Als ein Hauptkunstgriff der dramatischen Technik gilt der Theaterkoup, die dramatische oder theatralische Ueberraschung*)Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, ὁταν γένηται παρα τὴν δόξαν καὶ μᾶλλον, ὅταν δί \̓αλληλα, wenn die Begebenheiten wider Vermuthen und doch aus einander entstehn. (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser Vereinigung des Ueberraschenden und doch wohl Motivirten die berechtigte dramatische Wirkung.. Die letztere, die in einer unverhofften scenischen Entwickelung besteht, gehört nur in das Gebiet der Oper, des Ballets und der Posse. Was die erstere betrifft: so sind die romanhaften Ueberraschungen, die in unerwarteten Enthüllungen bestehn, von der Schwelle431 des Drama zu verweisen. Jm Drama verlangt Alles eine sorgfältige Motivirung, und Effekte, die man als Wirkungen ohne Ursache definirt hat, dürfen hier nicht Platz greifen. Wohl aber sind plötzliche Wirkungen verstattet, die aus der Explosion geschickt angelegter Minen oder Kontreminen hervorgehn. Jm Lustspiele hat der Zufall, in dessen Wesen das Ueberraschende und Plötzliche liegt, ein Recht, wohlberechnete Plane zu kreuzen und heitere Verwicklungen herbeizuführen. Der berechtigte Theaterkoup geht aus maskirten Zügen des dramatischen Spiels hervor, die, an sich klug und fein angelegt, doch durch die überraschende Gleichzeitigkeit wirken, mit der sich zwei oder mehrere Angriffslinien eröffnen. Auch die plötzliche Wendung eines Charakters, die allerdings seinem Wesen nicht widersprechen darf, aber doch ein unerwartetes Licht auf dasselbe wirft, kann die Wirkung eines Theaterkoups hervorrufen. So ist uns Leicester in der Maria Stuart als glatter und doppelzüngiger Höfling bekannt dennoch bringt sein Verfahren, dem Mortimer gegenüber, den er verhaften läßt, um sich zu retten, eine überraschende Wirkung hervor, die aber durch die Situation und den Charakter gerechtfertigt ist.

Zur innern Technik des Drama im weitesten Sinne kann man auch seine dialogische Einkleidung rechnen. Der Dialog ist die dramatische Gesprächsform, das Hinundwieder der Rede, aus welchem wie aus den Plattenpaaren der Volta'schen Säule der elektrische Blitz der Handlung hervorspringt. Der Monolog, das Selbstgespräch, ist im Drama ebenfalls berechtigt, als die Einkehr der dramatischen Charaktere in ihr Jnneres, eine Einkehr, die indeß niemals ein blos lyrisches Vibriren des Gemüthes sein darf, niemals eine zerfließende Hingabe von Stimmungen, sondern uns entweder die innern Tiefen des Charakters, in denen der Schwerpunkt der Selbstbestimmung liegt, ohne jede Maske enthüllt und dadurch den Dialog ergänzt, oder im kritischen Moment die Wendung zur That, die innere Entscheidung darlegt. So muß der Monolog in der einen oder der andern Weise motivirend sein. Jn den Monologen sammelt sich das Gemüth der Helden; die Handlung geht auf ihr geistiges Centrum zurück. Der innere Konflikt, das Werden und Wachsen des Entschlusses und der Leidenschaft kommt in den Monologen zu vollem Ausdrucke. Die Monologe Wallenstein's vor dem Eintritte des schwedischen432 Hauptmanns, Macbeth's vor der Ermordung Dunkan's, Tell's vor der Ermordung des Landvogtes, ein Monolog, der deshalb mit Recht getadelt worden, weil er seine That zu einem Werk mörderischer Berechnung macht sind Beispiele für die dramatische Bedeutung des Monologs. Jphigenie und die Jungfrau von Orleans, Hamlet, durch das Schicksal zu einer That berufen, der sein Charakter widerspricht, sprechen ihren innern Konflikt in Monologen aus. Nie darf indeß ein Monolog ein blos lyrisches Pracht - und Schaustück sein, wenn sich auch im Monolog die Charaktere in ihr Jnneres zurückziehn, und diese vorwiegende Jnnerlichkeit ihm einen lyrischen Zug giebt. Dennoch muß er ein organisches Glied des Drama sein, das sich nicht ohne Gefahr für das Leben des Ganzen von ihm loslösen läßt. Jm Lustspiele wird der Monolog noch mehr, als in der Tragödie, die geeignete Form sein, um das Publikum zum Vertrauten von Planen und Jntriguen zu machen, welche den übrigen handelnden Personen des Stückes zunächst verborgen bleiben müssen.

Der dramatische Dialog darf weder in eine müßige Unterhaltung, noch in eine sokratische Abhandlung in Gesprächsform ausarten. Er ist scharf und schlagend, das geistige Schwert der kämpfenden Charaktere. Er muß gesättigt sein mit der Energie des Willens, die auch durch die Rede ihre bestimmten Zwecke verfolgt. Damit ist indeß nicht gesagt, daß die dramatische Kraft des Dialogs in jener lakonischen Einsylbigkeit besteht, welche zur Zeit der Sturm - und Drangperiode an der Tagesordnung war und die Ergüsse der Leidenschaft und Empfindung naturwüchsig auf gehäufte Jnterjektionen beschränkte. Ebensowenig soll die Schlagkraft des Dialogs sich in jenen stichiometrischen Reden und Gegenreden erschöpfen, welche an geeigneter Stelle, wie wir aus den griechischen Tragikern und aus Schiller ersehn, von großer Wirkung sind, aber für die letzten Zwecke des Drama nicht genügen. Der Dramatiker soll im Dialog sein Pathos voll expliciren; er soll die Motive der Handlung und ihre Zwecke in ein vollständiges Licht setzen, die sittlichen und historischen Mächte, wenn sie im Gemüth der Helden oder im Verlauf ihres Geschickes zur Geltung kommen, mit aller Würde und Majestät erscheinen lassen und die stürmische Beredtsamkeit der Leidenschaft, wie den verhüllten433 Schmerz der Seele mit der ganzen Kraft seines Genius offenbaren! Das ist ja die berechtigte Magie der Dichtkunst:

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab ihm ein Gott zu sagen was er leide!

Bei Sophokles und Euripides, bei Calderon, Shakespeare und Schiller finden wir im Dialog diesen vollen Ausdruck des dramatischen Pathos, und keine falsche Theorie der Naturwahrheit wird uns jene Lakonismen des Dialogs als alleinberechtigt aufzudrängen vermögen, hinter denen sich nur ausnahmsweise dramatische Energie, in der Regel geistige Armuth und die Unfähigkeit verbirgt, in die Tiefen der Seele hinabzusteigen.

Was nun die äußere Technik des Drama betrifft, so darf man von ihm verlangen, daß es bühnengerecht sei, um sich jener Oeffentlichkeit zu erfreuen, die sein wahres Lebenselement ist. Das Drama gehört auf die Bühne der Gegenwart. Wenn seine innere Technik den eben angeführten Bestimmungen entspricht: so wird ihm auch der theatralische Erfolg nicht fehlen, der eine regelrechte Anlage und spannende Durchführung stets begleitet. Dennoch müssen auch einige äußere Hemmnisse beseitigt werden, welche die Jnscenirung erschweren. Die Länge einer darstellbaren Tragödie oder eines Lustspieles darf bei der Aufführung nicht das Maaß von drei Stunden überschreiten. Man mag immerhin mit Hamlet's Jronie über diese Vorschrift die Achseln zucken und von einem solchen Stücke sagen: es soll mit eurem Bart zum Barbier; man mag sich auf die großen Werke Shakespeare's und Schiller's berufen, die trotz ihrer Länge nicht nur bühnenfähig geblieben, sondern auch unsterblich geworden sind; man mag an den Rothstift des Regisseurs und der Schauspieler appelliren wir weisen nur darauf hin, daß solche Stücke, wie Schiller's Carlos, Shakespeare's Hamlet u. a. in ihrer jetzigen Bühneneinrichtung verstümmelt sind, indem für den Zusammenhang wesentliche Motivirungen fortgelassen werden; wir räumen gern ein, daß es ein Theaterpublikum gegeben hat oder geben wird, welches ganze Tage und Nächte vor der Bühne ausharrt; aber wir sprechen nur vom Publikum und der Bühne der Gegenwart. Ein Stück, dessen Aufführung drei Stunden überdauert, ermüdet die Aufmerksamkeit unseres434 Publikums oder bedarf mindestens eines doppelten Aufwandes dramatischer und theatralischer Mittel, um sie wach zu erhalten. Besonders gefährlich ist die Länge des letzten Aktes. Von gleicher Wichtigkeit ist die Beschränkung der Verwandlungen, indem eine Häufung derselben zwar keine Schwierigkeiten für die Maschinerie unserer Bühne bietet, aber doch nothwendig eine nicht intensiv fortschreitende, sondern hin und her springende Handlung zur Folge hat und die Aufmerksamkeit des Publikums zerstreut. Ferner verlangt die scenische Technik, daß nicht zwei große Scenen, welche die ganze Tiefe der Bühne einnehmen und mancherlei Zurüstung, Requisiten, eine bei der Verwandlung bereits rangirte Statisterie bedürfen, aufeinander folgen. Solch 'einer größern Ausstattungsscene kann nur eine Scene mit kurz vorfallender Dekoration vorausgehn, hinter der die nöthigen Vorbereitungen getroffen werden. Größere Zwischenräume der Zeit zwischen die einzelnen Verwandlungen zu verlegen, bleibt immer mißlich, da die Haupteinschnitte der Akte hierfür geeigneter sind. Auch auf nothwendige Umkleidungen der Darsteller innerhalb der Akte muß die erforderliche Rücksicht genommen werden. Alle diese technischen Rücksichten, die sich noch weiter in's Einzelne ausführen lassen, dürfen sich indeß in keiner aufdringlichen Weise geltend machen. Daß sie beobachtet worden sind, darf der Zuschauer nur aus dem bequemen und ungehinderten Gang der Aufführung errathen.

Dritter Abschnitt. Die Tragödie.

Jm Drama tritt, am meisten von allen Dichtformen, die scharfe Sonderung des Tragischen und Komischen ein. Melpomene und Thalia herrschen in getrennten Reichen. Nicht alles Tragische indeß ist dramatisch. Aristoteles nennt als das dritte Moment der tragischen Fabel das Unglück (cap. 11) und rechnet dazu gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Verwundungen und dergleichen. Dies Tragische kann in der Tragödie nur als Wirkung gelten, die aus einem sittlichen Konflikt erwächst. Sonst gehört es in das Bereich des Epos, wo der Kampf des Menschen mit der Gewalt und den Gesetzen der435 Natur, deren Nothwendigkeit sich im einzelnen Falle als Zufall offenbart, seine Stelle findet. Der Untergang eines Schiffbrüchigen ist tragisch im Sinne des Epos, nicht im Sinne des Drama. Das Tragische des Drama ist das sittlich Erhabene, sein Held kämpft gegen die bestehende sittliche Weltordnung; der einzelne Charakter erhebt sich zu voller Größe und Entfaltung, aber so erscheint er maaßlos gegenüber dem Maaß der bestehenden Welt, deren Ordnung er entweder im Sturme der Leidenschaft durchbricht, oder mit bewußtem Pathos erschüttert. Wir dürfen zwei Formen des dramatisch Tragischen unterscheiden: das Tragische des einfachen Konflikts und das Tragische der sittlichen Kollision. Jenes beruht vorzugsweise auf dem Charakter, dies vorzugsweise auf der Situation. Jn jenem schafft der Charakter die Situation, in diesem entwickelt die Situation den Charakter. Auch die antike Tragödie kannte bereits beide Formen, und wenn man unterschiedslos von der Schicksalstragödie der Griechen spricht, erschöpft man keineswegs ihr innerstes Wesen und vergißt, daß alle Keime der modernen Tragödie bereits in ihr enthalten sind. Das Tragische des einfachen Konfliktes beruht darauf, daß der Charakter durch seine Fehler (ἁμαρτὶα τὶς, Arist.) in Kampf mit der Welt und dem Schicksal geräth und in diesem Kampf untergeht. Aristoteles schließt die ganz guten und ganz schlechten Charaktere von der Tragödie aus. Wir erweitern seine ἁμαρτὶα dahin, daß diese Fehler des Helden zugleich seine Vorzüge sein müssen, daß seine Schwäche zugleich seine Kraft ist. Jeder einzelne Charakter hat seine eigene Tragik, die in dem dunkeln, unüberwundenen Urgrund einer Nothwendigkeit liegt, welche auch seine freien Entschlüsse bestimmt. Es ist dies die Tragik der Prädestination, das Problem ihrer Verkettung mit der freien Selbstbestimmung. Dramatisch wird sie nur durch die Energie, mit welcher der Charakter seine eigenen Konsequenzen in entscheidenden Thaten zieht. Der rasende Ajax des Sophokles, die wilde Medea des Euripides sind in ihrem tiefsten Grunde solche Charaktertragödieen und, wenn man von der antiken, unentwickelten Einfachheit der Form absieht, von den gigantischen Charaktergemälden Shakespeare's, einem Macbeth, Lear, Othello, Richard III., dem Wesen nach wenig verschieden. Es ist nicht schwer, bei diesen Helden Shakespeare's die ἁμαρτὶα nachzuweisen, die zu ihrem tragischen Verhängniß436 wird. Die Macht und Größe der Leidenschaft aber, die sie beherrscht, bildet ein Moment der tragischen Erhebung, fesselt uns dämonisch in die Kreise ihres Strebens und läßt uns ihrem Untergange noch gerührte Theilnahme schenken. Je moderner, vielseitiger, innerlicher der Charakter wird, desto mehr kann auch seine Schuld sich gleichsam in das tiefste Gehäuse seines individuellen Lebens zurückziehn; sie kann, statt in thatkräftiger Energie, gerade im Ueberwiegen der Reflexion, im Mangel an Thatkraft bestehn, wie im Hamlet, oder in einer mehr passiven Eigenschaft, im hingebenden Vertrauen und unerschütterlicher Arglosigkeit, wie im Egmont. Ja das Tragische kann ganz in das innere Gebiet des Gedankens verlegt, ein einzelner Charakter zum Repräsentanten der denkenden und ringenden Menschheit werden, wie Faust und Manfred. Jn allen diesen Tragödieen des einfachen Konfliktes ist der Verlauf, daß der Held, seinem Charakter und dem Pathos folgend, das ihn beherrscht, gegen die Ordnung und die Gesetze der sittlichen Welt verstößt, diese gegen sich aufreizt, bis die gestörte Harmonie durch seinen Untergang wiederhergestellt ist. Der ehrgeizige Macbeth ermordet seinen König, seinen Waffenbruder Banko, Alle, welche nach der Usurpation seinen Pfad kreuzen; er wird zum Tyrannen Schottlands, doch die Verletzung der menschlichen und göttlichen Gesetze durch seinen Untergang gesühnt. Uns aber fesselt an ihm der dämonische Zug, welcher den Eingebungen der Schicksalsschwestern folgt, eine wilde Energie, welche den nicht verstummten Zweifel des Gewissens in konsequenten Thaten übertäubt, und eine Heldenkraft, welche sich muthig dem hereinbrechenden Verhängniß entgegengestellt. Der Ehrgeiz, aufgestachelt durch die Zuflüsterungen der Lady, treibt ihn zum Verbrechen; es ist trotz dieses äußern Anstoßes die innere Schwerkraft seines Charakters, die ihn dem Abgrunde zuführt.

Die zweite Form der sittlichen Kollision stellt das Tragische auf einer noch höheren Stufe dar. Jn den Tragödieen der Situation beruht das Tragische auf einem Kampf gleichberechtigter sittlicher Mächte. Wenn der Held der einen gehorcht, verletzt er die andere nur sein Untergang stellt das harmonische Gleichgewicht wieder her. So verstößt Antigone gegen das Gesetz des Staates, indem sie dem Gebote der Pietät folgt und ihren Bruder beerdigt! Sie fällt der bestehenden Ordnung, dem äußern Gesetz zum Opfer als Verkündigerin des höheren, das in437 die Brust des Menschen geschrieben; aber auch Kreon, der die Bestimmungen der gesetzlichen Autorität aufrecht erhält und dabei eine That schwesterlicher Liebe mit dem Tode bestraft, entgeht der tragischen Gerechtigkeit nicht, indem sein Sohn aus Liebe zur edeln Verbrecherin sich selbst das Leben nimmt. Klytemnästra rächt die geopferte Tochter Jphigenie, indem sie den Gatten, den heimkehrenden Agamemnon, ermordet. Orestes rächt den gemordeten Vater, indem er die Mutter erschlägt, doch den Muttermörder verfolgen die Furien. Jn diesen letztern Beispielen ist der Konflikt der sittlichen Mächte in die Brust eines Einzelnen verlegt, während in der Antigone jede der kämpfenden sittlichen Mächte einen besonderen Vertreter hat. Ebenso ist es klar, daß das Tragische hier nicht im Charakter liegt, sondern in der Situation, in jener Zwickmühle der sittlichen Mächte, die unerbittlich ihr Opfer fordert. Diese Welt der Konflikte liefert für die Tragödie den reichsten Stoff; schon Aristoteles hat darauf hingewiesen, wie empfehlenswerth solche Stoffe sind, in denen eine Leidenschaft in Verhältnissen ausbricht, deren Wesen die Liebe ist. Die schärfste Fassung solcher Stoffe ist eben die Form der sittlichen Kollision. Außer auf ethischem Gebiet, im Kreise der Familie findet sie auch auf historischem Statt und gewinnt dort eine tiefere Bedeutung. Die Entwickelung der Weltgeschichte ist ein ewiger Kampf zwischen dem Bestehenden und einem Princip des Fortschrittes, das sich oft in gewaltsamer Weise Bahn bricht. Jn diesen großen Epochen der Geschichte, in denen die Arbeit des Weltgeistes am sichtbarsten hervortritt, wird der Einzelne einer sittlichen Kollision preisgegeben, welche echt tragisch ist, indem auf der einen Seite die heilige und nothwendige Autorität des Bestehenden, auf der andern die begeisternde Jdee des Fortschrittes, die innere Ueberzeugung, die zu lebendiger That drängt, sich gleichberechtigt gegenüberstehn. Wenn der Held sich als ein Organ des fortschreitenden Weltgeistes erfaßt und dem schöpferischen Drang in seiner Brust gehorcht: so macht er sich einer Verletzung der bestehenden Weltordnung schuldig, welcher er zum Opfer fällt. Die großen Religionsstifter und Reformatoren, die Märtyrer ihrer Ueberzeugung, die Vorkämpfer der politischen Freiheit, wie die Jmperatoren, welche das Gesetz der historischen Nothwendigkeit an lebensunfähigen Republiken vollziehn, die Männer des Gedankens, welche einer großen Entdeckung zum Opfer fallen, sind die438 Helden dieser historischen Situationstragödie, welche indeß niemals in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof - und Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt. Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt. Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende, bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f.

Die Wirkungen der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles, der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt. Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit439 sich durch die Anschauung eines uns vorgeführten großen Unglückes doppelt belebe und uns das erhöhte egoistische Gefühl unseres Glückes gewähre. Eine so äußerliche Erklärung muß aus der Kunstlehre verbannt bleiben, wenn sie auch für einen nicht unbedeutenden Theil des Publikums Geltung haben dürfte. Das in die Regelmäßigkeit, in die ununterbrochene Behaglichkeit des Daseins eingewiegte Philisterthum wird durch die Vorführungen der Tragödie an die großen Krisen des Erdenlebens gemahnt, emporgeschüttelt aus seiner trägen Ruhe, in ein aufregendes Unbehagen versetzt, welches als wohlthätige Erschütterung wirkt und von ihm bald durch die trostreiche Zuversicht überwunden wird, daß die kalten Schläge der Tragödie an seinem häuslichen Herd nicht zünden. Blasirte Gemüther aber lassen sich durch die Aufregungen der Tragödie auf Augenblicke von ihrer Lähmung heilen, ähnlich wie körperlich Gelähmte ihre Glieder in das Blut der hingeschlachteten Thiere tauchen. Nicht genug betont wird ferner der Pessimismus des menschlichen Gemüthes, der vom dunkeln Zusammenhang der Grausamkeit und Wollust, der kitzelnden Freude an rohen Exekutionen und Schaustellungen noch zu unterscheiden ist. Es liegt eine eigenthümliche Konsequenzmacherei in der menschlichen Seele, es ist ihr eine Beruhigung, wenn das halbe Unglück zum ganzen, das kleine zum großen wird, als wenn es dadurch in eine Sphäre gehoben würde, in welcher seine ängstlich bedrückende Wirkung sich in eine großartig zerschmetternde verwandelt, in welcher das Schicksal den Menschen erhebt, indem es ihn zermalmt. Hier kommen wir dem ästhetischen Kreise, den Wirkungen des tragischen Kunstwerkes schon näher. Jener Pessimismus ist der dunkle Grund des Gemüthes, auf den die Sonne der tragischen Kunst ihre Lichtbilder zeichnet. Mit Furcht, mit ängstlicher Spannung befinden wir uns von Anfang an im Bann der Tragödie, auf einem vulkanischen Boden, dessen Eruptionen sich von allen Seiten ankündigen. Diese Spannung hat zugleich etwas Anregendes! Die Zauberin Phantasie, der stets ein kleiner hyperbolischer Dämon zur Seite steht, hat in ihrem Vergrößerungsspiegel bereits das drohende Unglück mit pessimistischer Freude ausgemalt und frohlockt, wenn sich ihre Ahnungen Schlag auf Schlag erfüllen! Das Mitleid mit dem Geschick des Helden geht in rein menschlicher Weise damit Hand in Hand! Doch diese Affekte werden von der440 Tragödie nicht blos erweckt, sondern auch gereinigt; das Einzelschicksal, das uns vorgeführt wird, erweitert sich zum Schicksal der Welt; die Kraft des ringenden Helden wird zur Kraft des Menschen überhaupt, die wir im eigenen Busen fühlen, die mit der Macht der Bedrängniß wächst und die Majestät des Geistes zu voller Glorie entfaltet; der Untergang des Helden aber läßt den Tod nicht als eine Nothwendigkeit oder einen Zufall der Natur erscheinen, sondern giebt ihm eine sittliche Bedeutung. So wird unsere Furcht, unser Mitleid gereinigt, und die Tragödie wirkt eine freie Erhebung des Geistes. Jndem der Held durch eine Einseitigkeit und Maaßlosigkeit seines Charakters untergeht, triumphirt in seinem Untergang die sittliche Harmonie; fällt er aber einer Kollision der Pflichten zum Opfer, so schließt sich in seinem Tod der gebrochene Kreis der sittlichen Mächte wieder zur Einheit zusammen. Niemals darf indeß der moderne Tragiker auf stoffartige Wirkungen hinarbeiten, weder auf die grellen Schauer, den glänzenden Pomp, die prickelnden Ueberreizungen des Bühneneffekts, noch auf Eindrücke und Erfolge, die aus einem Anschmiegen an Stichwörter des Tages und seiner Parteien aus einer äußerlichen Tendenzhascherei hervorgehn.

Die Diktion der Tragödie muß Wohllaut (ἡδυομένῳ λόγῳ Arist.), Adel und Würde haben; sie muß uns in einen geläuterten Aether erheben, in welchem alles Flache und Triviale ausgeschlossen ist, das sich mit den letzten Zwecken der Tragödie nicht verträgt. Dabei darf ihr die charakteristische Angemessenheit nicht fehlen. Die Sprache der griechischen Tragiker ist für unser Drama nicht individuell und bewegt genug; die Diktion Shakespeare's nicht frei von Plattheiten und charakteristischen Ueberladungen. Die Vereinigung dieser beiden Gegensätze ist das Jdeal der tragischen Diktion für unsere Bühne. Hier steht Schiller wieder als klassisches Muster da nur daß sein Styl bei seinen Nachahmern zu einer feststehenden Manier wurde, welche durch die einförmige Behandlung des Jambus zu matten Deklamationen verführte. Das neue deutsche Drama wir erinnern nur an Gutzkow, Laube und Hebbel ist auf dem richtigen Wege, jenes Jdeal des echt dramatischen Styles zu erreichen, ohne in eine sclavische Nachahmung Schiller's zu verfallen. Was das tiefere Gepräge der dramatischen Diktion betrifft, so hängt es mit der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius zusammen, und441 kleinliche Bestimmungen und Beschränkungen würden hier von einer Einseitigkeit zeigen, welche eine persönliche Vorliebe zu einem allgemein gültigen Gesetze zu erheben sucht. Ohne Frage lassen sich die höchsten Zwecke der Tragödie ebensogut in Shakespeare's bilderreicher Diktion, wie in der antithesenreichen Schiller's, in Goethe's plastisch klarer, wie in Lessing's verstandesscharfer Sprache, in Hebbel's paradox kühner, Gutzkow's sinnvoll verschlungener, Laube's sinnlich frischer Redeweise erreichen, wenn nur die Begeisterung des Dichters die Diktion mit immer schöpferischer Nothwendigkeit hervorbringt! Dagegen ist die Gewalt des tragischen Pathos, das sich in mächtigen Feuerströmen ergießt, allen großen Dramatikern, Aeschylos und Sophokles, Calderon und Shakespeare, Corneille und Schiller, eigenthümlich eine unerläßliche Bedingung der tragischen Wirkung. Nicht Goethe's sinnige Grazie, nicht Lessing's geistvolle Schärfe können den Mangel an dieser hinreißenden Energie des Ausdruckes ersetzen, ohne welche der Dramatiker die großartige Majestät der Leidenschaft und den Enthusiasmus, aus dem die weltgeschichtliche That hervorgeht, nur mit Aquarellfarben darzustellen vermag.

Ausgeführte epische Vergleichungen sind im Drama, wie in der Lyrik ungehörig. Jn Goethe's Tasso und Jphigenie finden sich Beispiele einer im Drama fehlerhaften, schleppenden Bildlichkeit des Ausdrucks. Dagegen ist die schlagende Metapher, welche den Gedanken energisch zusammenfaßt, das echt dramatische Bild, um so mehr, als sich schon die undichterische Leidenschaft derselben zu bedienen pflegt. Calderon's Metaphern sind zu weit ausgeführt. Shakespeare und seine Zeitgenossen, Schiller, Victor Hugo, Grabbe, Hebbel, Gutzkow u. A. sind Meister eines schlagkräftigen metaphorischen Ausdruckes, der nicht zu den unwesentlichsten Mitgaben des dramatischen Talentes gehört. Daß diese Metaphern nicht ein abgeblaßter und abgetragener Schmuck, nicht welke Blumen aus den Guirlanden der Lyrik sein dürfen, versteht sich von selbst Die dramatische Metapher ist energischer, realistischer, als die lyrische; sie ist nicht blos eine Blüthe der Empfindung, sie muß dem Charakter und der Situation angemessen sein. Ein Styl, der an Metaphern arm ist, verführt, wie wir es an den großen französischen Tragikern sehn, leicht zu einem Uebermaaß abstrakt nüchterner Wendungen und blos rhetorischer Figuren. Eine sehr verschiedenartige Auffassung hat die Bedeutung der442 Sentenz in der Tragödie erlebt! Sie ist bis in die neueste Zeit auf das Lebhafteste angegriffen worden, und doch überzeugt uns ein flüchtiger Blick in die Werke aller großen Tragödieendichter, daß sie alle reich an Sentenzen sind. Wenn man Schiller die sentenziöse Diktion zum Vorwurf gemacht hat, so vergißt man, daß Shakespeare sich derselben in nicht geringerem Maaße bedient hat, daß sich bei Calderon sehr zahlreiche und sehr weitschweifig ausgeführte Sentenzen finden, ganz abgesehn von den hellenischen Tragikern, welche eben so wenig das gnomische, wie das epische Grundelement der griechischen Poesie verleugnen. Die Sentenz als solche, der Ausspruch einer allgemeinen Wahrheit, kann in der Tragödie kein Fehler sein, denn der tragischen Handlung geht stets die Besinnung zur Seite; der konkrete Fall der dramatischen Kasuistik hängt nach den verschiedensten Seiten hin mit einer allgemeinen Lebenswahrheit zusammen, ohne welche die ganze Tragödie werthlos wäre! Gerade den geistvollen Gehalt auszusprechen, ist des Dichters Recht und Pflicht zugleich. Der dramatische Held darf nie in ein blindes Handeln verstrickt sein! Seine That geht aus dem Entschluß, sein Entschluß aus einem Kampf entgegengesetzter Motive hervor, welche ein Fluidum des Gedankens entbindet, das nothwendig in blitzenden Sentenzen ausströmt. Die Sentenz ist eine schlagende Fassung des Gedankens und entspricht der Energie, dem Grundwesen des Drama, welches alles koncentrirt, die Handlung zur That, den Gedanken zur Sentenz. Fehlerhaft aber wird die Sentenz, wenn sie nicht organisch aus der Situation und dem Charakter herauswächst, sondern der Rede nur äußerlich angehängt ist oder mit dem Anspruche einer selbstständigen Bedeutung auftritt. Nur der zu lockere Zusammenhang unterscheidet die Sentenzen des Euripides von denen des Sophokles, indem man dem ersteren das Bestreben anmerkt, seine Weisheit noch besonders an den Mann zu bringen und den dramatischen Charakter nur zu ihrem Sprachrohr zu machen, während der Letztere stets so in die bestimmte Situation vertieft ist, daß seine Helden sie in ihren Sentenzen auf's Schlagendste ausdrücken. Shakespeare sprudelt oft von Sentenzen über. Auch wird nur irrthümlich behauptet, daß er sie zu charakteristischer Malerei benutze. Der alte Polonius ist ebenso unerschöpflich darin, wenn er seinem Sohn Laërtes, als dieser junge Hitzkopf, wenn er seiner Schwester Ophelia Lehren ertheilt. Auch verleugnet443 keine Sentenz Shakespeare's den Charakter ihres Dichters, gleichgültig, wem er sie in den Mund gelegt. Dagegen darf man ihm nachrühmen, daß seine Sentenzen stets aus der bestimmten Situation hervorgehn, wenn auch ihr Luxus keineswegs im Verhältniß zur Bedeutung derselben steht. So ist es ganz natürlich und einleuchtend, daß Polonius seinem in die Weltstadt Paris reisenden Sohn einen großen Vorrath schätzbarer Maximen in Bezug auf die Diätetik der Seele mit auf den Weg giebt; aber diese Reise des Laërtes ist selbst von so geringer Wichtigkeit für die Haupthandlung des Stückes, daß wir jene Fülle väterlicher Weisheit für einen dramatisch unnöthigen Aufwand erklären müssen. Auch Schiller ist mit seinen Sentenzen stets bei der Sache; nur ertödtet er bisweilen durch eine Sentenz den warmen Ausdruck des unmittelbaren Gefühls. Wenn Thekla ihren bekannten Monolog mit den Worten schließt:

Das ist das Loos des Schönen auf der Erde!

so liegt in dieser allgemeinen Wendung bereits eine Besinnung und Beruhigung, die zum Ausdruck der aufgeregten Empfindung nicht passen will, dem sie in etwas schroffer und unvermittelter Weise angehängt ist.

Für die Tragödie paßt als sprachliche Form der Vers. Die Versuche, sie von seinem Kothurn herunter in das prosaische Gebiet zu verpflanzen, haben nur eine vorübergehende, keine maaßgebende Bedeutung, indem sie in Uebergangsepochen die charakteristische Verjüngung eines durch stereotype Versmanier abgeschwächten Styles beabsichtigen und erreichen können. Die neue bürgerliche Tragödie bedient sich ebenfalls der Prosa, obwohl eine nicht allzu äußerliche und prosaische Bürgerlichkeit auch den Vers vertrüge, dessen Jdealität überhaupt dem Adel, der Würde, dem ernsten Gang und der geistigen Tiefe der Tragödie entspricht. Die griechischen Tragiker bedienten sich bekanntlich des Trimeters, dessen feierliche Plastik der charaktervollen Beweglichkeit unserer Tragödie nicht entspricht. Ebensowenig paßt für sie der vierfüßige Trochäus der spanischen in seinem Wechsel mit reimüppigen Sonetten und Stanzen. Der gereimte Alexandriner der Franzosen würde in seinem monotonen Gang an eine überwundene Entwickelungsstufe unserer Literatur erinnern. Dagegen ist der fünffüßige reimlose Jambus (blanc-vers) der Engländer und Jtaliener mit Recht bei uns eingebürgert, indem er Ungezwungenheit, dramatische444 Kraft, Beweglichkeit, Schwung, frisches, nicht feierlich schleppendes Pathos besitzt.

Den historischen Entwicklungsgang der Tragödie können wir hier nur ganz flüchtig skizziren, nur die für ein durchgreifendes Stylprincip charakteristischen Höhenpunkte desselben in's Auge fassen, die auch deshalb von naheliegender Bedeutung sind, weil der Dilettantismus unserer Epoche sie alle nachzuahmen sucht, statt das moderne tragische Stylprincip auszubilden. Jede auch nur oberflächliche Geschichte der dramatischen Literatur setzt eine Geschichte der dramatischen Kunst voraus, welche vom Plan dieses Werkes weit ab liegt. Der Hauptgegensatz des Styls findet zwischen der antiken und modernen Tragödie Statt. Die Plastik der ersteren hing mit dem Wesen der Schauspielkunst und den Einrichtungen des dortigen Theaters zusammen. Das hellenische Theater bietet uns eine Mischung der Künste dar, die an den künstlerischen Urbrei des Kunstwerkes der Zukunft erinnert. Nicht blos das lyrisch gnomische Element des Chors, welcher den idealisirten Zuschauer (Schlegel) repräsentirt, sonderte sich von der dramatischen Handlung ab dieser Chor ergänzte den Vollklang lyrischer Sprache durch Gesang und Musik und die plastischen Rhythmen durch plastische Figurationen des Tanzes. Nimmt man hierzu, daß das recitativische Eingreifen der Helden in seinen Gesang nicht ausgeschlossen, daß die Darstellungskunst durch die Dimensionen der Bühne, durch die Maske, welche den Mangel jeder Mimik ersetzen mußte, und durch den Kothurn auf den feierlichen Ausdruck eines die größten Räume füllenden Pathos und auf die weit sichtbaren Höhenpunkte der Handlung beschränkt war: so läßt es sich erklären, daß die großen Vorbilder des hellenischen Theaters für die Muse der Gegenwart nicht mehr mustergültig sein können, indem unsere Bühne und Schauspielkunst, welche für den Ausdruck der feinsten Nuancen der Empfindung und der Leidenschaft durch das Spiel der Mimik und eine freie, ausgebildete Deklamation befähigt ist, vom Dramatiker eine tiefe innere Entwicklung, Reichthum an charakteristischen Pointen und Vollständigkeit der Handlung verlangt. Die Tragödieen der Alten sind in der That, wenn wir unsere Anschauungen zu Grunde legen, meistens nur als letzte Akte zu betrachten, indem nur die Schlußkatastrophe einer Handlung, wie z. B. im Ajas, auf die Bühne gebracht wird. Die ganze vorausgehende445 Entwicklung erscheint entweder als bekannt, wenn das Stück auf einem volksthümlichen Mythos beruht, oder sie wird von einer Göttin im Prolog, oder einer der handelnden Personen vorgetragen. Die entscheidenden Thaten selbst geschehn hinter der Scene und werden ebenfalls erzählt. Was große Genien in dieser Form geleistet, hat sich Unsterblichkeit errungen; aber vergeblich war stets das Bemühn, diese Form selbst nachzuahmen oder neu zu erwecken.

Der Jnhalt der hellenischen Tragödie war vorzugsweise ein mythischer. Die Stoffe waren traditionell, gehörten besonders dem thebanischen und mykenischen Sagenkreise an, der mit dem trojanischen zusammenhing, und wurden von den verschiedensten Dichtern behandelt. Nur Aeschylos in den Persern nahm den Anlauf zu einer historischen, Agathon in seinen nicht erhaltenen Stücken zu einer ganz fingirten Tragödie. Von den drei großen Tragikern der Griechen ist Aeschylos*)Von den zahlreichen Tragödieen des Aeschylos sind uns nur 7 erhalten: der gefesselte Prometheus, die Hiketiden, die Sieben gegen Theben, Agamemnon, die Coephoren, die Eumeniden, die Perser. der gewaltigste, der größte dichterische Genius, eine Mischung von Pindar und Shakespeare, doch ihn hemmte noch mehr als seine Nachfolger der unausgebildete Zustand der Bühne, die Kindheit ihrer Formen! Seine Tragödieen waren mehr erhabene Wettgesänge, die dramatische Handlung brach nur halbentfaltet aus dem epischen Keime und der lyrischen Schale. Doch seine Phantasie war reich an bedeutsamen Anschauungen und großen Bildern, an kühnen Griffen. Sein Prometheus ist eine griechische Faustiade, seine Perser wiesen das griechische Drama auf die Bahn der politischen Volksdichtung, die es aber wieder verließ, um nur Stoffe mythischer Tradition zu behandeln. Seine großartige Trilogie: Agamemnon, die Choephoren, die Eumeniden, welche die ganze Orestie enthält, ist uns vollständig erhalten. Die Kunst der dramatischen Anlage, welche dem Aeschylos fehlte, vereinigt mit einer ideal menschlichen Haltung der Charaktere, in welcher alles unklar Titanenhafte vermieden war, stellt den Sophokles**)Von den 130 Tragödieen des überaus fruchtbaren Sophokles haben sich nur 7 erhalten: der wüthende Ajax, Elektra, Antigone, Oedipus Tyrannus, Oedipus auf Kolonos, die Trachinerinnen und Philoktetes.446 in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung, eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen wir erinnern nur an jene dramatische Weihehymne, den Oedipus auf Kolonos. Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im Ajas, findet seine maaßvolle Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt ist die tragische Kollision in der Antigone, die Heldin selbst eine Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die größten Fortschritte gegen Aeschylos die Handlung entwickelt sich Scene für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, Euripides, verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen, die den Sophokles charakterisirt! Während bei Aeschylos der Schwerpunkt der Handlung auf die Seite der göttlichen Mächte fällt: wird bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama, und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders seine Heldinnen, seine Medea, Phädra u. s. w. entwickeln eine dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt. Kein größerer Gegensatz, als die Medea des Euripides und die Antigone des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere, auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin und barbarische Zauberin, den glühendsten Rachedurst verlassener Liebe in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft entschwindet. Die Sprache des Euripides vertauscht ebenfalls das harmonische Maaß des Sophokles mit den wilden Ergüssen entfesselter Leidenschaftlichkeit, deren dämonischer Taumel oft zur Unzeit von kalten Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche selbstständiger Bedeutung auftreten*)Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,. An Euripides vorzugsweise447 knüpfen die Nachahmungen und Fortbildungen der antiken Tragödie an, die sich bis in die neueste Zeit verfolgen lassen. Wir wollen nicht die alexandrinische Plejade, nicht die römischen Tragödieen, die dem Seneka zugeschrieben werden, erwähnen es sind nur schwülstige Nachdichtungen in Stoff und Form. Dagegen fällt die kunstmäßige Wiedergeburt der antiken Tragödie im klassischen Theater der Franzosen mit einem Höhepunkte der Entwickelung des Drama überhaupt zusammen. Das Theater jener nationalen Glanzepoche der Franzosen wählte seine Stoffe vorzugsweise aus dem tragischen Mythos der Hellenen und der alten Geschichte und bequemte seine Behandlungsweise den Regeln des Aristoteles an. Die aristotelischen Einheiten gelten für das unumstößliche Grundgesetz der Tragödie, von Corneille und Voltaire nicht nur beobachtet, sondern auch kritisch proklamirt. Der erstere hielt es für eine ketzerische Kühnheit, wenn er die dramatische Regelrechtigkeit der vierundzwanzig Stunden in seiner Komödie: die Wittwe auf drei Tage auszudehnen wagte; der letztere gab sich einigen schüchternen Zweifeln über die Einheit des Ortes hin, die er in einigen Stücken zu verletzen kühn genug war. Natürlich machte die Einrichtung der französischen Bühne auch einige nicht unwesentliche Abweichungen von der antiken Tragödie nothwendig. Der Chor, den Jodelle, der Stifter des französischen Theaters, noch in seiner Cleopatra beibehalten, und den Racine in der Esther wieder einzuführen versuchte, verschwand in den meisten Stücken von der Bühne und wurde nur in mangelhafter Weise durch die sogenannten Vertrautenrollen ersetzt. Dagegen trat die regelmäßige Eintheilung in fünf Akte ein. Die Helden und Heldinnen der alten Mythe und Geschichte mußten es sich gefallen lassen, die Konvenienzen des glänzenden französischen Hofes in engherzigster Weise zu beobachten. Die ceremonielle Feierlichkeit des Pathos bewegte sich in Alexandrinern, deren steife, rhythmisch verschnittene Taxushecken den regelmäßigen Gang der Handlung einengten. Selten plätscherte eine erquickende Fontaine der Phantasie in diesem einförmigen Park der Tragödie, dessen*)der rasende Herakles, die Herakliden, die Hiketiden, die Bacchen, Andromache, die Phönissen, Rhesos, Jon, Phädra, Medea, Hippolytos.448 geradlinigen Wege in ihrer nothwendigen Kreuzung jede freie und freudige Bewegung und Ueberraschung unmöglich machten. Dennoch waren es große Talente, welche diese enge konventionelle Form schufen, deren Einfluß auf Jahrhunderte und auf viele Nationen mächtig blieb. Denn das französische Drama bewegte sich bis zu Victor Hugo's romantischen Reformversuchen, deren Gegenschlag gegen die strenge Regel korrekter Schönheit, bei aller Macht und Pracht eines großen Genius, in das Geschmacklose und Ueberspannte überging, ganz in den Gleisen eines Corneille und Racine, und der Kampf zwischen Klassicität und Romantik ist in Frankreich noch immer nicht ausgefochten. Bedeutende Dramatiker, wie Ponsard, stehn noch auf der Seite der ersteren. Auch die Einflüsse auf italienische Tragiker, auf Alfieri, Monti u. A. sind nicht zu verkennen. Pierre Corneille ist von der Trias der klassischen Tragiker Frankreichs der gewaltigste, der die tragische Collision, wie z. B. im Cid und Cinna, auf eine ergreifende Spitze treibt. Die Anlage seiner Tragödieen ist einfach und kunstgerecht; um den Mittelpunkt des Konfliktes gruppiren sich Charakter und Situationen in symmetrischer Weise; die Sprache ist deklamatorisch, prunkhaft, von heroischer Kraft, soweit es die Etikette der ganzen hoffähigen Form erlaubt. Die Gesinnung wechselt, besonders in den historischen Stücken zwischen antikem Freiheitspathos und der Verherrlichung der glanzvollen Majestät. Außer seinem Cid und Cinna gehören die Horazier, Polyeukt, Rodogune, der Tod des Pompejus und Heraklius zu seinen besten Tragödieen. Sein Oedipus, seine opernhafte Andromeda schließen sich an die antike Mythe an. Jean Racine, harmonischer, gefälliger, wahrer im Ausdruck der Empfindungen, mehr rührend, als heroisch, mehr ergreifend, als erhebend schloß sich noch enger an die antiken Tragiker in der Thebaide, der Andromache, Jphigenie und Phädra an. Er gab in diesen Stücken der griechischen Form ein eigenthümliches Arom der Empfindung, eine oft hinreißende Wärme, obschon die Schwächlichkeit eines blos höfischen Pathos und eine schwankende Hinneigung zur Bigotterie viele seiner dramatischen Blüthen verkümmerte und seine letzten biblischen Tragödieen Esther und Athalie trotz trefflicher Anlage eine etwas hektische Färbung entwikkelten. Bei Voltaire (Oedipe, Artémise, Mariamne, Brutus, César,449 Mahomet, Mérope u. a.), dessen Beruf zur Tragödie ein sehr geringer war, interessirt die Unterwürfigkeit eines kecken, frivolen, Staat und Kirche unterwühlenden Talentes unter die Normen einer dramatischen Form, die ihm fester zu stehn schien, als die heiligsten Autoritäten der Gesellschaft. Crébillon, nach der grausamen und gräßlichen Seite hin übertreibend, Thomas Corneille, Lémierre, (Hypermenestra), Marie Joseph de Chénier, de la Harpe, die beiden Arnault, zum Theil Delavigne und Ponsard setzten in ihren Stücken diese klassische Tradition durch die Zeiten des ancien régime, der Republik, des Kaiserreichs und der Restauration bis auf die neueste fort.

Jn Deutschland hatte Lessing zwar die französische Auslegung des Aristoteles gebrochen und die Nachahmungen eines Corneille und Racine ihres Werthes entkleidet; doch die ursprünglich antike Tragödie wirkte als bedeutsames Bildungselement unserer Tragiker fort. Schiller übersetzte die Jphigenie in Aulis des Euripides; Goethe behandelte die Jphigenie in Tauris in einer meisterhaften, das Antike und Moderne versöhnenden Nachbildung. Jn der Braut von Messina versuchte Schiller, den antiken Chor wiedereinzuführen und zugleich die Schicksalsidee der Hellenen zur Seele der modernen Tragödie zu machen, ein Versuch, der nach beiden Seiten hin mißlang, nach der letzteren aber in Werner's vierundzwanzigstem Februar, Müllner's Schuld, Grillparzer's Ahnfrau, Houwald's Bild Nachahmer fand, welche eine Zeitlang die Bühne beherrschten. Die Schicksalsidee der Alten ist von Hegel an verschiedenen Stellen mit philosophischer Tiefe dargelegt! Doch würde eine genauere Betrachtung der antiken Tragödie wohl eine mannichfachere Gestalt und Anschauung des Schicksals bieten, als sie jene vorzugsweise auf den Oedipus und die Orestie passende Erklärung Hegel's bietet! Der Prometheus des Aeschylos, der Ajas und die Antigone des Sophokles, die Medea und Phädra des Euripides fallen unter ganz andere Gesichtspunkte. Jenes Schicksal des Oedipus, welches blind den Helden, der seine Räthsel zu spät löst, in den Abgrund stürzt, das Schicksal der Atriden, welches dies Geschlecht in eine Reihe blutiger Verbrechen verstrickt, wurde nun in die Romantik eines Familienschicksals übersetzt, das den Einzelnen unabwendbar beherrscht und in's Verderben treibt. Der Zufall eines Datums, eines450 blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb - und geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen Bühne vertritt.

Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier, Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos ist sein allegorischer Scholasticismus oft naiv, oft von der wilden Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber genialen Anfängen bildete Calderon de la Barca das Jdeal der katholischen Romantik heraus, welches die Glanzepoche des spanischen Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf, den schwelgerischen Erfindungsreichthum des Lope de Vega war er ihm an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger451 Harmonie der Sprache bei weitem überlegen; die Schauer der Andacht und Grausamkeit, die Geheimnisse des Märtyrerthums erhob er in eine höhere Sphäre; aber er verfiel dabei in einen grüblerischen Mysticismus, der sich nicht blos in den Aufschwung des verklärten Gemüthes, sondern auch in eine traumhafte Weltanschauung verlor, welcher alle Gestalten des Lebens zu Schatten zerflossen. Der standhafte Prinz und das Leben ein Traum vertreten diese beiden Pole des Mysticismus. Auch Calderon hat zahlreiche historische Tragödieen geschrieben, einen Coriolan, eine Zenobia, Semiramis, einen Scipio, Maccabäus, Alexander den Großen aber es fehlte dieser spanischen Romantik, welche das Historische mit abenteuerlichen Erfindungen durchflocht und mit Ergüssen des trunkenen Gefühles zersetzte, die Größe und Würde einer historischen Weltanschauung, welche in den Krisen der Geschichte den Herzschlag des Weltgeistes zu vernehmen vermag und die Motive der großen Staatsaktionen in ihrer Einfachheit zu adeln versteht. Jm Einklange mit dieser romantischen Behandlung der Geschichte steht die Sprache, die nur hin und wieder mit dramatischer Energie aufblitzt, gewöhnlich aber in üppige und glänzende Schilderungen und breit ausgesponnene Reflexionen verstrickt ist und sich von dem einförmigen Pathos der vierfüßigen Trochäen nur befreit, um sich in die lyrische Breite der ottave rime und selbstgefälligen Sonette zu ergießen.

Jm Gegensatz zur spanischen Tragödie steht die altenglische auf dem Boden des Protestantismus, kennt kein anderes Märtyrerthum, als das der Leidenschaft und des Gedankens, keine andere Schuld und Verklärung, als die eigene That, keinen andern Richter, als das Gewissen. Allen Dichtern jener frischen und rührigen Glanzepoche der Elisabeth war eine Bühne gemeinsam, welche in ihrer Einfachheit den größten scenischen Wechsel gestattete, da die Ausführung ihrer nur durch einen Zettel angezeigten Verwandlungen der Phantasie der Zuschauer überlassen blieb, gemeinsam die Benutzung historischer, besonders vaterländischer und novellistischer Stoffe, die Vorliebe für das Bizarre, Abenteuerliche, Grelle und Maaßlose, besonders für kecke Verwickelungen in Geschlechtsverhältnissen, eine Komposition in anfangs parallelen, nachher konvergirenden Gruppen, eine an kühnen, gehäuften, oft gesuchten Bildern reiche Sprache, ebenso zum höchsten pathetischen Aufschwung, wie452 zum Ausdrucke des derbsten Realismus geeignet, der fünffüßige, nur in lyrischen Momenten, bei markirten Schlüssen der Rede, der Scene und des Aktes gereimte Jambus. Vor seinen Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern, vor den zahlreichen Vertretern dieser produktiven Epoche ragt Shakespeare durch die Harmonie seiner Weltanschauung, die Größe seines Humors, die objektive Kraft der Charakteristik und die menschheitlichen Dimensionen seiner Tragödieen hervor. Die Leidenschaften der Liebe (Romeo und Julie), des Ehrgeizes (Macbeth), des Stolzes (Coriolan) und der Eifersucht (Othello), die Schuld einer träumerischen Reflexion, die sich nicht zur That zu ermannen vermag (Hamlet), des greisenhaften Vertrauens, das der Undank belohnt (Lear), lauter echt und tief menschliche Motive sind in einer ebenso sinnreichen, wie energischen Weise, welche die Genesis der Leidenschaften zugleich zur motorischen Kraft der dramatischen Handlung macht, von diesem großen Dramatiker behandelt worden. Tiefer stehn seine historischen Tragödieen aus der englischen und römischen Geschichte, nur den Coriolan, Richard II. und allenfalls Richard III. ausgenommen, indem ihnen der Mittelpunkt der innern Einheit fehlt und ihre Komposition nur ein rohes Konglomerat von Scenen bietet. Epische Ausweichungen der Handlung gehn Hand in Hand mit dramatischen Ueberstürzungen, aber das große Princip, die Geschichte als ein Produkt der menschlichen That und diese als einen Akt des zurechnungsfähigen Charakters zu fassen, ist ein für allemal für die Tragödie gerettet. Daß Shakespeare's Tragödieen das Wesen der Menschheit in ihrer Totalität erschöpfen: das hat ihnen jene lang nachwirkende Bedeutung gegeben. Jm Einzelnen ist es fraglos, daß er an metaphysischer Tiefe der Weltanschauung von Christoph Marlowe (Tamerlan, Eduard II., Jude von Malta) übertroffen wurde, der besonders in seinem Faust jene gewaltigen Klänge des ringenden Menschengeistes anschlug, die durch die englische Literatur, durch Milton, Byron und Shelley bis in die neueste Zeit nachtönen, daß ihm an kunstgerechter, maßvoll gesteigerter Komposition, wie an einer bei aller Energie geschmackvollen und korrekten Sprache John Massinger (Herzog von Mailand, der unnatürliche Kampf, die unselige Mitgift) überlegen war, und daß in einzelnen Stücken Robert Greene in ansprechender Volksthümlichkeit, Beaumont und Fletcher in phantasievoller Erfindung453 und Ausführung, John Webster durch Größe der Leidenschaft, Kraft der Charakteristik und der Darstellung, Ford durch tiefeingehende Motivirung ihm würdig zur Seite stehn. Von späteren englischen Dramatikern erreicht nur Thomas Otway ein ähnliches markiges Pathos der Leidenschaft bei einer äußerlich kunstgerechten, innerlich lockern Komposition. Jm Gegensatz zu dieser ganzen Richtung pflegte Ben Jonson die antike Tragödie (Sejanus, Catilina), deren in französischer Weise modificirte Normen von den späteren Dramatikern, Dryden, Addisson, Rowe, Home, Hughes u. A., adoptirt wurden.

Einen neuen Aufschwung nahm die deutsche Tragödie der Schiller - Göthe'schen Epoche, der bis jetzt in den Tragödieen Schiller's kulminirt, ohne daß wir diesen Höhenpunkt für einen absoluten halten möchten. Wir können zwar in den Tragödieen der Romantiker, eines Zacharias Werner und Kleist, Grillparzer und Müllner, keine verheißungsvollen Anläufe finden, ebensowenig in den Nachahmungen Schiller's von Seiten Uhland's, Raupach's, Auffenberg's u. A.; denn der Mysticismus, Somnambulismus und die fatalistische Geisterseherei der ersteren war ebenso unersprießlich für unsere Bühne, wie die technisch geschulten, aber geistig matten Nachahmungen der letzteren. Dagegen finden wir in den zwar paradoxen, aber geistvollen, zwar pathologischen, aber dramatisch markigen Tragödieen Hebbel's (Judith, Maria Magdalena, Agnes Bernauerin) einen großen, nur zu sehr in Probleme vertieften Kunstverstand, der auf eine noch strengere Fassung des dramatischen Jnhalts hinarbeitet, als sie unsere Klassiker anstrebten; wir finden in Gutzkow's Uriel Acosta, in Laube's Graf Essex und andern Produktionen der modernen Schule Tragödieen von größerem Zusammenhalt, als er in Schiller's Stücken vorhanden*)Vgl. über das neuere deutsche Drama meine Nationallitteratur; über Schiller's Tragödieen Bd. I. p. 33 42, p. 52 61; über Goethe's: p. 62 65; p. 70; p. 74 86; die Schicksalstragödieen p. 162 186; Heinrich von Kleist p. 321 335; Jmmermann p. 385 391; das originelle Kraftdrama Bd. II. p. 328 bis 390; die deklamatorische Jambentragödie Bd. II. p. 390 445; das regenerirte Bühnendrama p. 445 481.. Die Aufgabe für die moderne Tragödie, auf welche schon Grabbe bei seiner Verurtheilung der einseitigen Shakespearomanien und ich selbst in meiner National -454 Literatur hinwies, hat neuerdings Vischer im letzten Hefte seiner Aesthetik auf das Klarste und Bestimmteste ausgesprochen: Shakespeare's Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken. Jn der That bewegen sich um diesen Punkt die Schiller '- schen und Göthe'schen Tragödieen, bald mehr nach der einen, bald mehr nach der andern Seite sich neigend. Die schönste Mitte hat Schiller im Wallenstein und in der Maria Stuart erreicht. Die individuelle Kraft der Charakteristik, der scharf bestimmte und mannichfach gefärbte Ausdruck des dramatischen Pathos, die psychologische Entwicklung der Leidenschaft, die sinn - und gedankenreiche Darstellung der Menschenwelt von Shakespeare, ohne die Formlosigkeiten seiner Komposition, die oft schwülstige Bizarrerie seines Ausdruckes, die Uebertreibungen und Geschmacklosigkeiten seiner Epoche; die Harmonie und Klarheit des Styles, den künstlerischen Adel der Form, die fesselnde Einheit der Handlung von der antiken Tragödie ohne ihre engen Beschränkungen in Zeit und Ort, ohne den unorganischen Chor, ohne ihre zu plastisch allgemeine Haltung, ohne ihre mythischen Stoffe und fatalistische Tendenz das ist das Erbe der echten Kunstform, das unsere neuere Tragödie anzutreten hat und auch anzutreten sucht, und das der echte Genius, der im Mittelpunkte unserer Bildung steht, aus sich selbst hervorbringt. Nach dem Jnhalte ist die moderne Tragödie eine historische oder bürgerliche. Die Aufgabe der Gegenwart ist, die historische Tragödie zur politischen, die bürgerliche zur socialen zur erheben. Wir verstehn hier das Wort politisch nicht im Sinne der Tagestendenzen, sondern wir meinen damit nur, daß der Stoff einer geschichtlichen Tragödie sich um staatliche Konflikte drehe, welche von Jnteresse für die Gegenwart sind, daß man nicht historische Stoffe aus der Zeit Attila's und Alarich's, der Karolinger und Kapetinger wähle, sondern aus Epochen, die unserer Zeit nahe verwandt sind, oder in denen sie unmittelbar wurzelt. Die Perser des Aeschylos, Heinrich VIII. von Shakespeare, der Sieg des Marquis von Santa Cruz von Lope (bei dem der Dichter selbst betheiligt war) beweisen, daß auch die Nähe der Zeit große Dichter von der Wahl solcher Stoffe nicht abschreckte! Und wir möchten dies Vorrecht mit besonderer Betonung für die Tragödie der Gegenwart in Anspruch nehmen. Die bürgerliche Tragödie455 aber soll sich aus der kriminalistischen Weinerlichkeit des Schauspiels, wie es bei den Engländer Lillo und Moore, bei Diderot, Jffland und Kotzebue herrscht, zur Größe eines gesellschaftlichen Konfliktes erheben. Schiller's Räuber und Kabale und Liebe haben auch hierin die Bahn gebrochen, auf welcher Hebbel's Maria Magdalena und andere Stücke folgten. Die Kämpfe der Leidenschaft und des Gedankens, die tiefsten psychologischen Probleme können sowohl auf diesem Hintergrund, als auch auf einem mehr historischen und romantischen zum Austrag gebracht werden.

Vierter Abschnitt. Das Lustspiel, das Schauspiel und die Posse.

Wenn uns die Tragödie den Helden im erhabenen Kampf mit dem Schicksal zeigt, sodaß in seinem Untergange die sittliche Jdee triumphirt: so zeigt uns die Komödie den Menschen in den heitern Verwickelungen von Absicht und Zufall, aus denen sich am Schluß die Harmonie der Existenz wiederherstellt. Die Beruhigung, daß diese Welt des Scheines doch auch ihren realen Schwerpunkt hat, auf welchem wir mit Behagen ausruhn können, ist die ideale Schlußwirkung der Komödie, ohne welche sie sich in's Phantastische und Bodenlose verflüchtigt. Die Zwecke des Helden müssen in der Komödie erreicht werden, wie sich auch der Zufall und die Jntrigue dagegen wehre. Wohl darf die Jronie dabei bestehn, daß diese Zwecke nichtig sind und gerade, wenn sie erreicht worden, sich in ihrer ganzen Nichtigkeit offenbaren. Doch ebensogut können diese Zwecke eine reale Gültigkeit haben und sich durchsetzen in einer nichtigen Welt, die sich im Verlaufe der Handlung in heiterer Weise auflöst. Das Behagen der Komödie kann nicht aus der Selbstgefälligkeit der Phantasie hervorgehn, die mit der ganzen realen Welt ein willkürliches Spiel treibt, sondern nur aus dem Bewußtsein, daß dieser von allen Kleinlichkeiten und Nichtigkeiten, von hundert Widersprüchen erfüllten und bewegten Welt doch die Jdee zu Grunde liegt, die uns einen sichern Halt giebt. So vertiefen wir uns mit doppeltem Behagen in die lustige Bewegung der Wirklichkeit, in ihre bacchantischen Wirbel, weil wir uns dabei sicher fühlen auf dem Ankergrunde des Ewigen. Jn der Tragödie sympathisiren456 wir mit der sittlichen Erhebung des Helden, mit seiner energischen Willenskraft, welche durch ihre That das Gewebe der bestehenden Verhältnisse zerreißt, weil die Kraft unserer freien Selbstbestimmung sich in ihr spiegelt; in der Komödie sympathisiren wir mit der freien Bewegung der sinnlichen Welt, welche mit ihren mannichfachen Kräften das Streben der Helden kreuzt, weil die Wurzel unseres sinnlichen Lebens in ihr ruht. Diese Sympathie aber, die der dunkle Grund unserer Lust am Komischen ist, muß sich in das höhere Behagen auflösen, daß auch diese sinnliche Welt, die sich gegen die Jdee zu empören scheint, von ihr durchdrungen ist und harmonische Ruhepunkte bietet, wo beide versöhnt zusammenwirken. Das Komische erscheint im Drama in der Form der Handlung, welche ebenso wie die tragische an das Gesetz der Einheit gebunden ist. Auch das Lustspiel hat, wie das Trauerspiel, seinen letzten Endzweck, der, wie wir eben gesehn, in eine harmonische Beruhigung auslaufen muß. Der tragische Held kämpft gegen das Schicksal, das sowohl in seiner eigenen Brust, in der innern Nothwendigkeit seines Charakters liegt, als auch in einer Konstellation der sittlichen Welt, die ihn unlösbar verstrickt. Der Held des Lustspiels kämpft gegen den Zufall und die Jntrigue, gegen die Mächte des Menschenlebens, die ein unberechenbares Spiel der Ereignisse oder die Berechnung Anderer entbindet. Der Zufall ist nicht aus dem Mittelpunkte des Lustspieles ausgeschlossen, wie aus dem der Tragödie. Er darf sich überall in seinen Verwickelungen einschleichen; aber er muß sich in seiner Bedeutung für die Grundidee des Ganzen legitimiren können. Der blinde Zufall, irgend ein beliebiges Naturereigniß, ein nichtssagendes Hinderniß der Entwickelung, ein Zusammentreffen, das für den Fortgang der Handlung gleichgültig ist, hat auch im Lustspiel kein Recht. Der Zufall aber, der für die Kasuistik des Lustspielhumors die bestimmte Situation herbeiführt, der die geladenen Flaschen der Komik entladet, ist nicht einmal in der Jntriguenkomödie entbehrlich, in welcher die Kunst des Dichters darin besteht, die List des Zufalls zu überlisten und die Steine, die er in den Weg legt, für den planvollen Bau des Werkes zu verwenden. Schon aus dem Wesen des Drama geht hervor, daß sich das Lustspiel nicht in einer zwecklosen Charaktermalerei ergehn, nicht die komische Verkehrtheit in ihren blos innerlichen Widersprüchen nachweisen darf, sondern den Charakter durch die That darstellen457 muß, welche seine Widersprüche hinausführt in die objektive Welt, auf den Kampfplatz des Lebens.

Da die Komödie die lebensvollste Kunsterscheinung des Komischen ist, so muß auch der Dialog von seiner ganzen Gewalt durchdrungen sein. Eine Jntrigue geschickt anzulegen, Charaktere nach der Schablone mit einer gewissen Lebenswahrheit zu zeichnen: das macht nicht den großen Lustspieldichter, wohl aber eine Weltanschauung mit dem Weltblicke des Humoristen, der in jeden einzelnen Fall der Komik ihre ganze Tiefe legt und den Dialog mit dem üppigsten Spiele der Laune, des Witzes und der Jronie ausstattet. Witz und Jronie müssen freilich schon in den Plan des Lustspiels hineingeheimnißt sein; aber dieser latente Witz genügt nicht, das ganze Stück muß mit Witz gesättigt sein, der fortwährend mit seinen elektrischen Schlägen die Atmosphäre seiner Verwickelungen reinigt. Wenn man in neuester Zeit Lustspielen ohne Witz und Humor den Preis zuerkennt, sofern sie nur mit wohlfeilen scenischen Ueberraschungen ausgestattet sind, wenn man sich vor der erschütternden Macht der Komik bekreuzt, als ob in ihr eine Versündigung gegen die Regeln des Anstandes liege, wenn man einer fadenscheinigen Trivialität, die sich mit Sicherheit in den hergebrachten Gleisen bewegt, den Vorzug ertheilt vor einer genialen, von der vis comica durchdrungenen Schöpfung, weil sie nicht nach einer modischen Schablone zugeschnitten ist: so befindet man sich auf einem Abwege, der immer weiter aus jenem Bereiche, wo die Kronen der echten Komödie winken, seitab in das Schattenreich der leblosen Silhouetten führt. Eine Tragödie ohne Schwung, ein Lustspiel ohne Witz, seichte Verstandskombinationen, kleine scenische Mittel, wirksame Attrapen das gehört zum haut-gout des entnüchterten Publikums und der blasirten Tageskritik. Jede Jnspiration, auch die des Humors, wird für überflüssig erklärt; der Maaßstab für das imponderable Wesen des dichterischen Genius ist gänzlich abhanden gekommen. Man könnte zwar, in Bezug auf das Lustspiel, einwenden, daß es jede Lebenswahrheit einbüßen würde, wenn es allen seinen Charakteren dieselbe Dosis eines stets schlagfertigen Witzes ertheilte, und daß ein humoristischer Fasching von lauter Witzbolden doch nicht dem Jdeal der echten Komödie entspreche. Jn der That sind Stücke, in denen die Witzhascherei vorherrscht, wie z. B. die Lustspiele Congreve's,458 tadelnswerth, doch nur, weil die komische Kraft hier in einseitiger Richtung verschwendet wird. Dagegen vergißt man die reiche Scala der Komik, über welche der Lustspielgenius gebietet, und durch deren Abstufungen er die verschiedenartigsten Charaktere mit aller dramatischen Schärfe ausstatten kann, von der objektiven, mehr burlesken Komik der naiven Gestalten, in denen sich der zum Lachen reizende Widerspruch ohne ihr Bewußtsein verkörpert, zur Satyre und Jronie geistig überlegener, zum Welthumor der tiefsten und bedeutendsten Charaktere. Der Witz ist ihnen allen gemeinsam, er ist der Blitz dieser ganzen komischen Atmosphäre. Doch darf er nie Selbstzweck sein; deshalb ist der Wortwitz und die Sylbenstecherei, wie wir sie, im Geschmack der Nation und der Epoche, bei Shakespeare, Calderon und Lope finden, das ganze Turnier einer phantastischen Dialektik, aus der neuen Komödie zu verbannen. Dagegen darf der Bilderwitz, der Quell, aus dem auch die Metaphern der Tragödie fließen, nicht als äußerlicher Schmuck, sondern als dramatischer Nerv der Lustspieldiktion angesehn werden.

Ueber das Verhältniß des Tragischen und Komischen im Drama, wie über die Eintheilung des Lustspieles sind die verschiedensten Ansichten aufgestellt worden. Es ist bekannt, in welcher Ausdehnung Shakespeare und Calderon das Komische in die Tragödie aufgenommen haben. Mit welchen üppigen Farben ist das Charaktergemälde eines Falstaff ausgemalt, das sich in den Vordergrund zweier Tragödieen drängt! Welche Rolle spielt der Narr im König Lear! Bei Calderon ist das Komische in der Regel Parodie des Tragischen, indem sich dieselbe Situation, die uns in einer idealen Sphäre mächtig ergreift, in einer burlesken wiederholt! Aus welcher Mischung des Tragischen und Komischen das Schauspiel hervorgehn kann, das in der Regel nur auf einer Abstumpfung beider Elemente beruht, werden wir später sehn. Dagegen können wir die Posse nicht als eine besondere Gattung des Lustspiels ansehn. Jn der Regel versteht man darunter ein potenzirtes Lustspiel, in welchem das Komische in's Burleske und Groteske, die Charakteristik in das Karikirte übergeht, die Anlage von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit abstrahirt, Haltung und Sprache aber in einer niedern Sphäre des Ausdruckes heimisch bleiben. Ohne Frage entfaltet sich in der Posse die Energie des Komischen! Sie braucht nicht in das Gemeine459 und Niedrige überzugehn; sie kann im Gegentheile die ganze Dithyrambik des Humors entfalten. Doch in ihrer Verschiedenheit von der umfangreichen Zauberposse bis zum einaktigen Schwank reiht sie sich ungezwungen der von uns versuchten Eintheilung des Lustspieles ein. Hettner theilt das Lustspiel in das phantastische und realistische; Bohtz in seinem Werke über das Komische und die Komödie theilt das romantische Lustspiel d. h. das neuere, das er dem antiken anreiht, in das humoristische Jntriguen - und Charakterlustspiel ein; Vischer unterscheidet dem Stoffe nach das politische und bürgerliche, der Auffassung nach das Charakter - und Jntriguenlustspiel. Wir halten die Eintheilung Hettner's für die durchgreifendste, der wir indeß ein drittes Glied beifügen, und die wir in etwas anderer Weise interpretiren. Wir unterscheiden das idealistische Lustspiel, das Lustspiel des Welthumors, das realistische Lustspiel, das sich wieder in Jntriguen - und Charakterlustspiel sondert, und die Vereinigung von beiden, das historische Lustspiel.

1. Das idealistische Lustspiel.

Der Welthumor schaut die Welt als Ganzes und sucht unmittelbar die großen und tiefen Beziehungen des Lebens auf. Wendet er sich dem Lustspiele zu, so gehören seine Stoffe der Allgemeinheit des Lebens an, seine Form ist kühn phantastisch; er schafft sich eine mythische Welt, welche in die Handlung eingreift oder selbst ihre Scene bildet. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit werden von diesem freispielenden Humor umgestoßen, der sich hier selbst zu einer schwunghaften Lyrik erheben und diesem Lustspiele echt dichterischen Reiz geben darf. Die Handlung des Lustspieles setzt immer den bestimmten Fall voraus. Auch hier muß eine Handlung erfunden werden, die einen bestimmten Endzweck, eine organische Gliederung hat; aber ihre Voraussetzungen und ihre Durchführung dürfen phantastischer Art sein und eine durchaus ideale Bedeutung haben, die Gestalten über die rein menschliche Mitte hinaus wachsen in's Karikirte und Burleske, wenn wir nur im Vexirspiegel dieser phantastischen Welt den Fokus der Jdee entdecken. Dennoch verlangt auch die übermüthige Komik in ihren Uebertreibungen lebensvolle Gestalten, nüchterne Allegorieen würden nur Zeugniß für ihre Ohnmacht ablegen. Diese460 Lustspielform steht ähnlich, wie die metaphysische Tragödie, ein Faust, Manfred an der äußersten Grenze des Drama; sie wächst über sein Maaß hinaus; sie hat etwas Jnkommensurables. Doch die Fülle und Tiefe des Humors, der sich über die gelockerte Form ausgießt, versöhnt uns mit seinen dramatischen Licenzen. Die historischen Gestalten dieses Lustspiels, die wir kurz vorführen wollen, werden uns seine Bedeutung für die Gegenwart klar machen.

Die älteste ist die alte attische Komödie des Aristophanes, des ungezog'nen Lieblings der Kamönen. Er ist vor Allem ein Sohn seiner Epoche, welcher die Zerwürfnisse der damaligen Parteikämpfe, die Lockerung des alten sittlichen Gehalts im Staatsleben durch die Sophisten, ihre Thorheiten auf allen Gebieten des Lebens und der Kunst verewigt hat. Es handelt sich in dieser alten attischen Komödie um die tiefsten Fragen der Welt. Schon Pherekrates hatte in seinem Wilden die einreißende Gesetzlosigkeit der Athener verspottet, Eupolis in dem Poleis die Tyrannei, welche die Athener gegen die Bundesstädte ausübten, in den Demoi den Uebermuth der Demagogie, Platon die Vertreter verkehrter Richtungen in Kunst und Religion und diese Richtungen selbst gegeißelt. Aristophanes schloß sich ihnen an, indem er in den Rittern die Demagogie Kleon's, in den Wolken die Sophistik, als deren Vertreter er Sokrates auffaßte, in den Acharnern und dem Frieden den peloponnesischen Krieg, in den Wespen die Prozeßsucht der Alten, in der Lysistrate, den Thesmophoriazusen und den Ekklesiazusen die Thorheiten emancipationssüchtiger Weiber und der Gütergemeinschaft geißelt, in den Vögeln aber ein humoristisches Weltbild in die Luft bauender, Staatengründender Thorheit, in den Fröschen ein Bild unterweltlicher Kunstkritik, aus welchem sich verherrlicht das Bild des echten Kunstideals erhebt, für alle Zeiten hinstellt. Ein Advokat der marathonischen Zeit, ihrer sittlichen Einheit und Gediegenheit, ihres großen nationalen Pathos, kämpft der Dichter, der in vieler Beziehung ein polemischer Tendenzpoet zu nennen ist, gegen die Zerrüttung von Hellas, den Bürgerkrieg, die Parteienspaltung, die Verjüngungsversuche der Demagogie und gegen die ganze Welt der Thorheit, die sich in diesem zerspaltenen politischen Leben entfaltet. Die Grundidee, die dem Aristophanes vorschwebt, die aus allen grotesken Bildern seiner komischen461 Muse hervorleuchtet, ist eine politische, die Form aber eine phantastisch-symbolische, ohne je in's Allegorisch-Nüchterne überzugehn. Diese Symbolik erstreckt sich bis auf das Kostüm, wie z. B. in den Fröschen der feige Dionysos, der wie Herkules in die Unterwelt hinabsteigen will, um einen verstorbenen Tragiker heraufzuholen, die Kontraste seines Charakters und seiner Jntentionen in seinem Kostüm andeutet, in welchem sich die Löwenhaut und der Weiberrock, die Herkuleskeule und der Weiberschuh paaren. So hat der Chor der Vögel, der Wespen, der Frösche nicht blos eine symbolische Bedeutung für die Handlung selbst, sondern er drückte sie auch in der entsprechenden Thiermaske aus, welche als die Vermischung des Thierischen und Menschlichen den phantastischen Anstrich des Ganzen am schärfsten ausprägte. Der Chor, das Urelement, aus welchem sich die Komödie, wie die Tragödie entwickelte, spricht entweder die Gesinnung des Dichters in heiterer Jronie aus, wie in den Fröschen, oder er wandelt seine Meinung unter den Einflüssen der Handlung, wie in den Wespen, oder er giebt sich, wie in den Vögeln, den Wolken, den Anschein, als ob er ganz in das thierische und elementarische Leben aufgegangen sei, während er doch mit schalkhafter Jronie aus seiner Maske hervorsieht*)Vgl. Bohtz, das Komische und die Komödie S. 158.. Jndem er aber oft mit schwunghafter Lyrik, wie jener Preis der Gestirne in den Wolken beweist, die Handlung unterbricht, erhebt er das Komische in den gereinigten Aether des Schönen. Jn der Parabase, in welcher sich der Chor mit einer Frontveränderung gegen das Publikum schwenkte, nahm die Komik des Dichters eine ganz persönliche Wendung, indem er sich selbst, seine Rivalen, seine Werke bespricht und sich so in unmittelbare Beziehung zu seinem Auditorium setzt. Die Handlung dieser altattischen Komödie war natürlich ohne jede Jntrigue und Verwicklung, ein einfach komischer und symbolischer Akt; die Ausführung ging oft in's derb Possenhafte und Cynische über; aber ein kühner Genius, von sittlicher Energie durchdrungen, mit einer außerordentlich reichen Phantasie begabt, erhob diese Komödie zu einer idealen Höhe!

Die zweite historische Erscheinung des idealistischen Lustspieles finden wir in den phantastisch-romantischen Shakespeare's462 (Sturm, Sommernachtstraum), in welchem es eine von der aristophanischen gänzlich abweichende Gestalt angenommen. Das individuelle Geschick als solches hatte in der alten attischen Komödie keinen Werth; die Charaktere waren nur Vertreter irgend einer geistigen Richtung, welche der Komiker persiflirte. Bei Shakespeare bildet ein persönliches Geschick, z. B. Leid und Lust der Liebe, den Mittelpunkt der Handlung, in welche die Elementargeister, die Gebilde einer die Natur beseelenden Phantasie, mit ihrem heitern Spiel eingreifen. Der Reiz dieses Lustspieles, welches der altattischen Komödie, die meistens ganz bestimmte Verhältnisse des Staates und der Gesellschaft, des Wissens und der Kunst mit keckem Humor verspottete, gerade entgegengesetzt ist, beruht auf einer traumhaften Verkettung des menschlichen und elementarischen Geschickes, auf einem abenteuerlichen Quodlibet des Menschen und der Natur, das aber dennoch in seiner scheinbaren Verwirrung einen sinnvollen Grundgedanken spiegelt. So zieht sich z. B. im Sommernachtstraum durch dies ganze in den duftigsten Aether der Naturlyrik getauchte, scheinbar verworrene und verwirrende Treiben, das uns zarte Elfengeister, rohe Handwerker, mehrfache Liebesintriguen, magische Liebestränke und bizarre Metamorphosen vorführt, als rother Faden die Grundidee, die träumerische Launenhaftigkeit der Liebe und ihre elementarisch wirkende Gewalt, eine Jdee, die sich ebenso in der wechselnden Stellung der beiden Liebespaare zu einander, wie in dem Streit zwischen Oberon und Titania, in der durch Blumenzauber bewirkten Verliebtheit der Feeenkönigin in den Weber Zettel mit seinem angezauberten Eselskopf und selbst in der Hochzeitskomödie von Pyramus und Thisbe, in allen ernsten, heitern, burlesken Gruppen des Stückes wiederfindet. Hier ließe sich noch die heitere, phantastische Märchenwelt Gozzi's anreihn.

Unsere neue deutsche Literatur hat mehrfache Anläufe zur Wiedergeburt des idealistischen Lustspiels genommen. Wir erwähnen zunächst die ironischen Komödieen Ludwig Tieck's, Zerbino, die verkehrte Welt, den Fortunatus u. a., in denen allen sich die literarische Satyre des Aristophanes mit Shakespeare's phantasievoller Sinnigkeit vereint. Dennoch müssen diese Versuche als verfehlt bezeichnet werden; denn zunächst entbehrten sie die Volksthümlichkeit und Bühnenfähigkeit, die den Dichtungen des Aristophanes und Shakespeare einen so großen Halt463 gegeben; sie wandten sich an ein literarisches Publikum, das keineswegs mit der Nation identisch war, und ergingen sich in einer Fülle schwerverständlicher Beziehungen. Dann aber fehlte ihnen, bei aller Feinheit und Liebenswürdigkeit einer reichen Phantasie, bei allen glänzenden Einzelnheiten und echt burlesken Erfindungen, eine spannende Handlung, ein dramatischer Kern, die Gleichheit und Harmonie der Darstellung und vor allen Dingen das durch alle traumhaften dissolving views hindurch blickende Licht des einheitlichen Grundgedankens. Das geheime ideale Band Shakespeare's, das sich um die scheinbar zerflatternden Gebilde seiner Phantasie schlingt, war bei Tieck zerrissen durch das kecke Spiel einer selbstgenugsamen Jronie, welche keine höhere Wahrheit des Lebens anerkannte, als diesen Taumel der Dinge und Vorstellungen, diese Willkür des Geistes selbst. Den zweiten Anlauf nahmen Platen (Romantischer Oedipus, verhängnißvolle Gabel) und Prutz (politische Wochenstube) in literarischen und politischen Komödieen, die leider auch durch strikte Observanz der altattischen Lustspielform auf die äußere Darstellbarkeit verzichteten, zugleich aber dem deutschen Lustspiele eine Meisterschaft idealen Ausdruckes zueigneten, die ihm für künftige Versuche als ein verheißungsvolles Erbe verbleiben wird. Auch hier zeigte sich als Hemmung dieser ganzen Gattung, daß das Literarische in Deutschland nicht über den engen Kreis einer exklusiven Bildung hinausgeht, nicht wie die aristophanische Kritik eines Aeschylos und Euripides ein nationales Jnteresse beansprucht, das Politische aber durch äußere Rücksichten von der Oeffentlichkeit ausgeschlossen ist. Der dritte Versuch, diese Gattung bei uns einzubürgern, sind die Zauberpossen Raimund's u. A., die ihren mythischen Gestalten sogar die Bühnenwirklichkeit zu sichern verstanden, im Alpenkönig, im Lumpacivagabundus nicht trockene Allegorieen, sondern eine lebensvolle und zum Geschick ihrer Helden passende Göttermaschinerie erschufen, die Volksmoral durch die in Scene gesetzten Kontraste des innern und äußern Glückes bildeten, den Volkshumor durch manche echt lustige Erscheinung erfreuten.

An diese Versuche wird das idealistische Lustspiel anknüpfen müssen, dem wir schon deshalb eine Zukunft versprechen, weil die Keimkraft der bürgerlichen Lebensprosa und ihrer Familienverwicklungen in bedenklicher Weise erschöpft scheint. Dies Lustspiel schließe sich an die Zauberpossen464 an, insofern es die theatralische Wirklichkeit als Grundbedingung seiner Lebensfähigkeit festhält; es benutze den Reichthum der Dekorationen und Maschinerieen, über den die heutige Bühne gebietet, für seine phantasievolle Beweglichkeit, für seine mythische Erfindung; denn hier ist gerade der Ort, wo das Mythische noch eine Stätte findet. An die Stelle des Gesanges in der Zauberposse setze es eine kunstvolle Lyrik mit rhythmischem Farbenreichthum, wie Platen und Prutz, aber mit einer allgemeinverständlichen, schlagenden Komik. Für den antiken Chor irgend einen Ersatz zu finden, wird die Aufgabe dieser humoristischen Talente sein. Die Erfindung einer spannenden Fabel wird, im Unterschiede von Aristophanes und Tieck, diesem Lustspiele nicht erlassen werden können; von Shakespeare mag es das sinnvolle Verweben des menschlichen und elementarischen Geschickes lernen! Die Sprache selbst sei mit dem ganzen Zauber der Jdealität ausgestattet. An Stoff aber dürfte es einem solchen Lustspieldichter in unserer Zeit nicht fehlen; denn abgesehen von der literarischen und politischen Satyre welche Fundgrube wäre für Aristophanes der Geldschwindel und der Materialismus unserer Zeit, dessen Vertreter er zwar nicht wie Sokrates in der Luft schweben, aber vielleicht in irgend einer sichtbaren Phase des Stoffwechsels dem Publikum vorführen würde!

2. Das realistische Lustspiel.

Aus der allgemeinen Sphäre der Weltthorheit und ihrer symbolischgrotesken Gestaltung, aus diesem Reich der phantastischen Laune zieht sich die Lustspielmuse in das Privatleben zurück, um in einem engeren dramatischen Rahmen die Komik am Faden einer bestimmten Handlung und durch die Ausmalung bestimmter Charaktere zu entwickeln. Die Thorheit wird eine individuelle, die Maske wird zum Portrait, die Komödie das Abbild der Wirklichkeit. Was sie dadurch verliert, indem die erhabene Seite des Komischen, der Welt verspottende Humor, die großartige Dithyrambik geopfert werden muß: das gewinnt sie wieder durch die schärfere Betonung des Dramatischen, den spannenden Fortgang der Handlung, den Reichthum individueller Charakteristik, die Verwicklung und Lösung der Jntrigue. Diesen Schritt that bekanntlich schon die mittlere attische Komödie, die neuere führte die neue Form zur465 Vollendung. Ja Aristophanes selbst scheint in seinem Plutos bereits eine allegorische Darstellung, in seinen letzten Komödieen Kokalos und Anolosikon die Darstellung einer Liebesintrigue aus dem realen Leben ganz im Geiste der neueren attischen Komödie gedichtet zu haben. Es ist charakteristisch, daß ihr glänzendster Vertreter, Menander, ein Freund und Anhänger des Epikur gewesen und gewiß aus der Lehre dieses Philosophen sein Behagen an der sinnlich-realen Welt und seine Begeisterung für die Tyche, den Zufall, den Beherrscher der Welt und die Muse seines Lustspiels geschöpft hat. Dies realistische Lustspiel zeigt uns den Gegensatz von Charakter - und Jntriguenstück noch gebunden. Die Jntrigue, die Schürzung und besonders die Lösung des Knotens scheint, nach den uns erhaltenen Proben und den Bearbeitungen des Plautus und Terenz, nicht gerade seine stärkste Seite gewesen zu sein, indem die Wiedererkennungen der Tragödie hier in einer abgeblaßten und monotonen Form angewandt wurden; die Charaktermalerei aber konnte, da diese Stücke ebenfalls in einer Maske und zwar in einer Doppelmaske für den Ausdruck des Ernstes und der Heiterkeit gespielt wurden, nicht über das Typische hinausgehn. Jhre Typen sind in der That eine Erbschaft geblieben, welche das ganze neue bürgerliche Lustspiel angetreten hat, wenn sich auch die Hetären Menander's und Philemon's in die sittigen Töchter bürgerlicher und adeliger Familien verwandelt haben. Seit Anaxandrides die Liebe zuerst in der mittlern Komödie eingeführt, ist ein Liebeshandel die Achse der Komödie geblieben, um welche alle ihre Charaktere rotiren. Diese selbst sind Typen, die sich noch in den Rollenfächern der heutigen Bühne spiegeln und in vielen ausgeführten Charakteren noch ihre entfernten Nachkommen finden. Zwar die Bordellwirthe und Kupplerinnen, die noch in Shakespeare's Stücken eine nicht unerhebliche Rolle spielen, hat die Decenz von der neueren Bühne verbannt und ihnen unschädliche Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft substituirt, denen es eine Freude macht, die Helden und Heldinnen unter die Haube zu bringen; an die Stelle der Piraten, welche die Mädchen entführten, dadurch Urheber der Jntrigue und schließlich die Alexander wurden, die ihren gordischen Knoten zerhieben, sind natürliche und unnatürliche Väter, Verwechslungen des Zufalles, verlorene Taufscheine u. dgl. m. getreten; die Parasiten, die Schmarotzer an den466 Tischen der Reichen, die einen Anflug von Genialität und das Bewußtsein ihrer Schwäche hatten, und in denen Lessing die Vorgänger des Harlekins erkennen wollte, haben sich in joviale bonvivants verwandelt; der Thraso, der großsprecherische Soldat, der miles gloriosus, der horribilicribrifax, hat ebenfalls eine häufige Auferstehung gefeiert; der Vater in seinen Beziehungen zur eifersüchtigen, herrschsüchtigen oder listigen Gattin ist bis auf die komischen Banquiers von Bauernfeld in den zahlreichsten Metamorphosen erschienen! Ebenso der listige Sklave, der spanische gracioso, der ränkevolle Bediente! Die spätere Zeit nun den hat dies realistische Lustspiel nach zwei Seiten hin ausgebildet, indem es Ton entweder auf die Handlung oder auf den Charakter legte, das Komische aus der Verkettung der Jntrigue oder aus den Eigenthümlichkeiten der Charaktere hervorgehn ließ. Beides sind natürlich integrirende Momente des Drama; aber es erhält eine wesentlich verschiedene Färbung, je nachdem das volle Licht der vis comica auf die eine oder die andere Seite fällt.

a. Das Jntriguenlustspiel.

Das spanische Degen - und Mantellustspiel des Lope, Calderon und Moreto ist das Urbild des neuern Jntriguenstücks, das sich in dem neufranzösischen Lustspiele des Scribe eine moderne, von den deutschen tonangebenden Dramaturgen vielbewunderte Gestalt erschaffen. Doch schon aus dem Wesen der spanischen Dramatik geht die Einseitigkeit dieses Lustspielgenres hervor. Der Konflikt zwischen Liebe und Ehre wurde, eigentlich nur durch den glücklichen Ausgang modificirt, auf das Lustspielgebiet übertragen. Die Helden und Heldinnen behielten ihre ritterliche Haltung, den Ernst ihrer Leidenschaft, welche nur vom gracioso und der Zofe parodirt wurden. Feindliche Väter und Rivalen waren die Hemmnisse der Liebe; zufällige Verwicklungen, Verkleidungen, Verstecke bildeten die Jncidenzpunkte der Handlung; Serenaden und Duelle gehörten unumgänglich zu ihrer scenischen Ausstattung. Die Scene selbst spielt natürlich mit, und zwar oft die Hauptrolle, wie z. B. in Calderon's der Liebhaber als Gespenst, wo ohne den unterirdischen Gang die ganze Handlung eine Unmöglichkeit wäre. Selten ist die psychologische Dialektik mit solcher Meisterschaft durchgeführt, wie in Moreto's467 Donna Diana. Doch auch hier überwiegt bei weitem der Ernst, und wir sind weit davon entfernt, uns im freien Aether der Komik zu bewegen.

Die Jntrigue geht daraus hervor, daß einzelne Personen ihre bestimmten Zwecke verfolgen, diese sich wieder mit den Zwecken anderer kreuzen, die Bemühungen, die verschlungenen Fäden zu lösen, eine wachsende Verwirrung hervorbringen, bis der geschürzte Knoten in überraschender Weise entwirrt wird. Den Anforderungen des Aristoteles gemäß ist freilich im Jntriguenlustspiel die Handlung das Wesentliche; aber sie wird zu einem Raffinement der Beziehungen ausgebildet, welches sie nicht mehr einfach aus den Charakteren hervorgehn läßt. Die Handlung soll uns die Charaktere entwickeln; aber im Jntriguenlustspiele wird sie zu einem selbstständigen Automaten, welchem die handelnden Personen bald das eine, bald das andere Rädchen zu seiner Fortbewegung einverleiben. Die Technik des dramatischen Schachspieles feiert freilich hier ihre höchsten Triumphe; aber sie zeigt sich auch in ihrer Einseitigkeit, insofern die personae dramatis auch nur, wie hölzerne Schachpuppen, wie allgemeine Charaktertypen ohne individuelles Leben erscheinen. Das Weben des Jntriguenlustspiels beruht auf einer fortwährenden gegenseitigen Ueberlistung; schon daraus geht hervor, daß die List auch als vorzügliche Charaktereigenschaft der handelnden Personen angesehen werden muß. Abgesehn davon, daß sie dadurch alle einen stereotypen Zug erhalten, so hindert diese Absichtlichkeit der List an der freien Entfaltung einer echt jovialen Heiterkeit, die uns in das volle Behagen des Komischen versenkt. Sie giebt den Charakteren ein scharf kombinirendes Verstandeselement, das keine befreiende Macht ausübt, eine gewisse Engherzigkeit der Gesinnung, die in kleinlichen Zwecken aufgeht. Wenn daher neuere Dramaturgen in der Vergötterung der Scribe'schen Lustspielschablone und der allerdings vorzüglichen Technik ihrer Anlage und Verwicklung aufgehn: so soll sich die deutsche Lustspieldichtung dadurch nicht irre machen lassen und nicht aufhören, in reichen Bildern der Menschenwelt ihren freiesten und glänzendsten Humor zu entfalten. Jene Pointirung der französischen comédie heftet das Gewebe der dramatischen Handlung oft mit allzu feinen psychologischen Nadelstichen zusammen, sie geht in eine undramatische Jnnerlichkeit zurück, in eine schwerverständliche, auf's468 Mühsamste zusammengefädelte Motivirung, welche dem gesunden Humor die Augen verdirbt. Das ist ein Lustspiel ohne Frische und Freudigkeit, ohne Behagen, ohne Lachlust, dessen Triumph in der koketten Selbstgefälligkeit besteht, die da ausruft: wie geschickt hab 'ich das alles eingefädelt! und bei dem Publikum ein verständnißinniges Lächeln hervorruft. Die Eigenthümlichkeit des Jntriguenlustspiels wird durch jene bekannte Anekdote am besten charakterisirt, daß sein Matador Scribe seine früheren Stücke, deren Zusammenhang ihm zum Theil entfallen, oft mit großem Jnteresse wieder aufführen sieht und, wo der Knoten am meisten verschürzt ist, in höchster Spannung ausruft: Wie werd' ich mich nur da herausgewunden haben! Das Hinein - und Herauswinden ist die Seele dieser Stücke; der dramatische Prozeß wird durch lauter Advokatenkniffe gewonnen; die Technik, deren wesentliche Bedeutung für das Drama wir auseinandergesetzt, wird hier zur alleinigen Lebenskraft der Handlung gemacht, was nothwendig zu einem monotonen Schema führt und die geniale Lebendigkeit des Dialogs und der Charakteristik ertödtet.

b. Das Charakterlustspiel.

Das Charakterlustspiel, dessen Komik aus der Tiefe germanischer Jndividualität wiedergeboren ist, während die Jntrigue mehr dem romanischen Charakter entspricht, steht dem Jntriguenlustspiele nicht so gegenüber, als ob ihm ein durchgehender Faden der Handlung und Verwicklung fehle; aber es legt den Nachdruck keineswegs auf die subtilen Motivirungen und Ueberlistungen, sondern läßt die Charaktere in ihrem Wesen liegende Zwecke verfolgen, die in heiterer Verstrickung mit den Zwecken anderer und mit dem Zufall entweder scheitern oder zum Ziele gelangen. Seine Helden sind nicht Jntriguanten, Planmacher, Schlauköpfe, die mit feierlichem Ernst in ihrer Jntrigue aufgehn; sondern sie verfolgen ihre Zwecke ohne Hinterthüren und Attrapen in der Weise, die ihrem Charakter entspricht, und in welche der Zufall seine launigen Verwicklungen verwebt. Der Witz der Situation ist hier nicht ausgeschlossen; aber diese Situationen tragen nicht den Stempel einer mühsamen Geburt aus dem Schoos der ängstlich kreisenden Jntrigue, sondern sie gehn aus einer ungezwungenen und zufälligen Kreuzung der Zwecke hervor. Die Charaktere entfalten die ganze Vielseitigkeit, Frische und469 Freudigkeit des Humors; der Dialog ist nicht auf hyperfeine Pointen gestellt, sondern witzig, schlagkräftig, geistvoll im Sinn einer tiefern Weltanschauung, nicht im Sinne des lauernden und triumphirenden esprit. Die Technik des Ganzen braucht der Technik des Jntriguenstückes nicht nachzustehn, nur daß sie nicht zum herrschenden, geistzerreibenden Mechanismus wird, sondern sich als dienendes Glied einfügt in den Organismus des Ganzen. Die Grundidee des Lustspiels aber, irgend eine Lebenswahrheit, die sich in den beschränkten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, in individuellen Beziehungen spiegelt, nicht auf der absoluten Höhe der aristophanischen Komik bewegt, beherrscht alle Theile gleichmäßig. Das ist das Jdeal des deutschen, bürgerlichen Lustspiels, dessen Ausbildung für die Bühne segenbringender ist, als die Nachahmung französischer Jntriguenstücke, die unserem Volkscharakter nicht entsprechen. Das englische Lustspiel von Shakespeare, Ben Jonson und Massinger bis zu Farquar, Congreve, Colman und Sheridan, das ältere französische Lustspiel Molière's, das dänische Holberg's, das deutsche Kotzebue's bewegt sich in dieser Bahn. Selbst ein Dichter, wie Benedix, der die Komik der Situationen liebt, läßt sie doch nur aus der Eigenthümlichkeit der Charaktere hervorgehn, wie z. B. die Verwicklungen im Vetter alle auf dem humoristischen Charakter des Helden beruhn.

Doch auch das Charakterlustspiel kann in eine bedenkliche Einseitigkeit verfallen, wenn es den Gegensatz zum Jntriguenstück dahin ausbildet, daß der Faden der Handlung selbst ganz dürftig und unscheinbar wird, und das Drama sich in ein breit ausgeführtes Charaktergemälde verwandelt. Gerade die größten Lustspieldichter dieser Richtung, Molière und Holberg, sind von einer Hinneigung hierzu nicht freizusprechen. Shakespeare's Falstaff ist ein bloßes Charaktergemälde. Molière's Harpagon und Tartüffe behalten ihre dramatische Schwerkraft, indem sich das Jnteresse an ihnen nicht nach vielen Seiten hin zersplittert, sondern in ihrer mehr typischen Eigenthümlichkeit, indem sie ein bestimmtes Laster repräsentiren, einen festen Einheitspunkt findet. Einzelne Lustspiele Holberg's, wie z. B. der geschwätzige Barbier, ergehn sich im Ausmalen individueller Thorheiten, denen der dramatische Faden fehlt. Dagegen ist in seinen Hauptwerken, im politischen Kannegießer, Don470 Ranudo, der Wochenstube, nicht nur eine hinlänglich spannende Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen Ben Jonson gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster der neuern attischen Komödie Front machte, im Alchymisten, Volpone u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht sind.

Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt zum Schwank, der Posse des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Molière und Holberg, die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise auch in der Posse versucht, und besonders der erstere in seinem Bauer als Edelmann, Arzt wider Willen, Georg Dandin eine mehr markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele, in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes Element eindrängt und die Thorheit in das Laster übergeht. Wir könnten die Posse auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das Volkslustspiel seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine ästhetische gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der Kunst, die nur eine Nation kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, wie die phantastische Zauberposse in einer Weise zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere Schwank, die Farce der Franzosen, die ähnlich wie das Satyrdrama der Griechen sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.

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3. Das historische Lustspiel.

Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört, finden wir eine Vereinigung des idealistischen und realistischen Lustspiels oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den Humor der Weltgeschichte nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen Helden giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist, wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen, auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in Scribe's Glas Wasser, so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage. Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert. Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind Gutzkow's Urbild des Tartüffe und besonders Zopf und Schwert, Stücke, denen ich mit meinem Pitt und Fox mich angeschlossen habe.

Wir könnten hier noch das Feuilleton der Bühne, das einaktige Lustspiel, die Bluette, erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung, eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner das sogenannte Schubladenstück, die Bluette schauspielerischer Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen;472 doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die realistische Komödie ebenfalls wieder den Vers in Vorschlag bringen, den nicht nur Molière zum großen Theil, den auch Kotzebue, Müllner, Steigentesch und andere deutsche Lustspieldichter mit Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden, in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen. Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern der Wechsel mit gereimten vier - und fünffüßigen Jamben würde jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts athmen.

Ohne auf das musikalische Drama, die Oper und das Liederspiel (Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns Holtei einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: die Dichtkunst und die Musik verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das Schauspiel werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama, in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat Moritz Carrière in seinem Werke über das Wesen und die Formen der Poesie versucht. Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die Freiheit, die sich selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht. Er führt uns von der Sakontala der Jndier, der Jphigenie und den Eumeniden des Euripides zu Calderon's Leben ein Traum, Shakespeare's Cymbeline, Maaß für Maaß und Kaufmann von Venedig, 473Lessing's Nathan, Goethe's Jphigenie und Faust eine Reihe von Musterdramen auf, welche in diese Kategorie des Schauspiels gehören. Jn der That ist nicht abzusehn, warum nicht auch die ideale Dichtung aus dem Kampfe des Lebens zu einem versöhnenden Ausgange führen sollte, zu einem heitern Abschluß, der alle Dissonanzen löst. Dennoch wird das Schauspiel stets an einer Unsicherheit des Styles leiden, wie denn auch die Hälfte jener Stücke theils in's Lustspiel, theils in die Tragödie hinüberschwankt. Bei den Alten führte ein deus ex machina, eine göttliche Sühne den versöhnenden Ausgang herbei, der auch im neuern idealen Schauspiel nicht ohne eine bedeutsame innere Wandlung und Wendung des Helden eintreten kann, welche doch nur für bestimmte Stoffe des Gedankendrama möglich scheint. Die Gefahr dieser Gattung tritt daher an ihrer beliebtesten Form, dem bürgerlichen Schauspiel, am meisten hervor, indem hier ernste, meistens kriminalistische Konflikte des Lebens zu einem versöhnenden Ausgang führen, in welchem nur die schlechte Weinerlichkeit einer charakterlosen Rührung triumphirt. Den wunden Fleck dieses Schauspiels hat Kaiser Joseph berührt, der nach einer Vorstellung von Jffland's Verbrechen aus Ehrsucht äußerte: ich würde nicht so gelinde mit Ruhberg umgehn, wie der Verfasser. Die Abstumpfung des Konflikts, die Vertuschung des Verbrechens und die innere Besserung, ein Moment, das dramatisch gar nicht zur Gestaltung kommen kann, sind diesem Schauspiele durchaus wesentlich. Die Befriedigung, die das Publikum aus seinem versöhnenden Ausgange mit nach Hause bringt, ist daher eine höchst mangelhafte. Oder wer würde die rührenden Familiengruppen in Kotzebue's Menschenhaß und Reue, die eheliche Versöhnung in Dorf und Stadt der Frau Birch für einen harmonischen Abschluß halten? Schon Molière's und Jonson's Charakterbilder neigten sich in diese dramatische Sphäre herüber, welche Diderot selbstständig anbaute, und die dem deutschen Familiensinn, trotz des energischen Verdammungsurtheils, das unser größter Dramatiker ihr zuschleuderte, vorzugsweise zusagt. Nur dies bürgerliche Schauspiel hat sich auch einen eigenthümlichen Styl gebildet, eine triviale Prosa, die alle hausbackenen Beziehungen des Lebens, den ganzen kriminalistischen Jargon und die Langeweile der Moralpredigt gleichmäßig wiederzuspiegeln vermag. Einige gelungene Charakterbilder und die474 geschickte Technik Jffland's und Kotzebue's haben dies prosaische Schauspiel der darstellenden Kunst empfohlen und ihm auf der deutschen Bühne einen noch fortdauernden Einfluß gesichert. Dennoch fehlt dieser comédie larmoyante jede organische Keimkraft, da sie fast ganz aus der Poesie herausfällt, und es bleibt der Aesthetik nur übrig, Shakespeare's Schatten immer von Neuem gegen diese kleine und erbärmliche Welt heraufzubeschwören.

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Druck von Robert Nischkowsky in Breslau.

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Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. Literarische Anzeige. Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt von Rudolph Gottschall. gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr.

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Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, da ihm kein fertiger Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.

Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von denE476 flüchtigen Schilderhebungen der Tageskritik und ihren ebenso vergänglichen Angriffen, kann zwischen dem innern Werthe eines Talents und seiner öffentlichen Anerkennung ein Mißverhältniß bestehn, das vielleicht schon die nächste Zukunft in befriedigender Weise löst. Hier wird der ästhetische Sinn mit unmittelbarem Empfinden das Richtige treffen, während die kritische Analyse mit eingehenden Erörterungen oft fehlgreift. Dennoch bedarf gerade eine Literaturgeschichte der Gegenwart mehr als jede andere der Volständigkeit; denn nur eine sich überhebende Dreistigkeit kann in einer so naheliegenden Epoche von der Unfehlbarkeit ihrer Urtheile überzeugt sein. Das Auslassen und Uebergehn von Autoren, die irgend ein Publikum haben, ist aber immer ein Act kritischer Anmaßung, wenn es nicht eine Folge der Nachläßigkeit und Trägheit ist.

Was nun aber jene Behauptung betrifft, unsere deutsche Nationalliteratur sei im Verfall begriffen oder habe mit Schiller, Goethe und den Classikern den geistigen Boden so erschöpft, daß er, um sich zu erholen, einige Zeit brach liegen müsse, so befinden wir uns, ohne die neueren literarischen Entwicklungen zu überschätzen, doch mit ihr im vollkommensten Widerspruch. Seit Schiller und Goethe hat sich der Völkerverkehr und der Umsatz der Jdeen in seltener Weise vermehrt. Durch großartige Erfindungen der Jndustrie und ihre Anwendung haben die Beziehungen der Völker, hat der Pulsschlag des ganzen socialen Lebens eine Frische und Kraft erhalten, wie sie jener Zeit fremd war. Jn der Philosophie sind neue Bahnen gebrochen worden; in der Politik hat, wenn auch oft mit verkehrten Tendenzen, oft resultatlos, doch der Aufschwung einer principiellen Begeisterung die Nationen erfaßt, der zu allen Zeiten dem Gedeihen der Poesie günstig war. Mag auch das allgemein Menschliche der wahre und dauernde Stoff der echten Dichtung sein und ebenso dauernd das Gesetz der Schönheit und der künstlerischen Form: so ist doch der Wechsel der Erscheinung der frische Quell, aus welchem die Dichtung den Reiz immer neuer Verjüngung schöpft. Jn der Flucht der Zeiten, der Geschlechter, der Nationen erhält das allgemeine Gesetz den wechselnden Jnhalt für seine dauernde Bewährung, und jede neue Gestaltung des geistigen Lebens giebt der Dichtung neuen Boden und neue Kraft. So reich, so reizvoll das Spiel der dichterischen Jndividualitäten ist, der einzelnen Talente und ihrer unberechenbaren Mannichfaltigkeit: so reich ist der Wechsel der Gewandung, in die jede neue Zeit die Schönheit hüllt. Die unsrige giebt der Dichtung ein weiteres Feld, größere Perspectiven und reicheren Stoff, als die Zeit Schiller's und Goethe's ihren Poeten gab. Dies deutet aber eine neue Epoche an, welche die Talente beginnen, und der Genius wird nicht fehlen, der sie zum Abschluß bringt. Sehen wir uns um in den einzelnen poetischen Gattungen, so hat besonders die Lyrik seit Schiller und Goethe einen vollkommenen und bedeutenden Umschwung erlebt. Die Volksthümlichkeit der Schiller'schen und Goethe'schen Lyrik beruht auf dem Genie der Dichter, keineswegs auf den Stoffen, die sie behandelten. Diese Stoffe gehören, mit wenigen Ausnahmen, in das Reich der Kunst - und Gelehrtenpoesie, und Niemand wird behaupten wollen, daß der mythologische Ballast, den sie mit sich führen, ein wesentliches Jngredienz der deutschen Nationaldichtung sei. Die Anlehnung an die antike Bildung war der Entwickelung ohne Zweifel förderlich; aber viel Bewundertes, was sie schuf, gehört mehr in die Künstlermappe, als in das Nationalmuseum und erhebt sich nicht über den Werth der Studie. Und mit Studien sollte eine nationale Entwicklung abschließen? Die neue Lyrik verschmäht es mit Recht, die früher für unentbehrlich gehaltene Mythologie in ihre Schöpfungen aufzunehmen und dadurch die Dichtung dem Volke zu entfremden. Welchen Reichthum von neuen Stoffen hat sie uns erschlossen, und wahrlich, nicht gering sind die Talente, welche sich dieser Stoffe bemächtigt! Platen's marmorne Formschönheit, Heine's aristophanische Grazie, Lenau's originelle Gefühls - und Gedankentiefe, der Schwung der politischen Lyriker, und alle diese Dichter aus uns'rem eigensten Leben schöpfend und eine neue und ideale Volkspoesie gestaltend sind sie nicht mehr, als Epigonen unserer Classiker, weisen sie nicht in die Zukunft hinaus? Man spricht vom Verfalle des Drama; und in der That ist hier noch viel blindes Umhertappen, das Suchen der Form zu den neuen Stoffen vorherrschend. Aber ist es nicht ein wesentlicher Fortschritt, daß unsere neuen Talente Stoffe wählen, denen die Sympathie des Publicums entgegenkommt, daß sie die von den Romantikern aufgegebene Bühne wieder für ihre Bestrebungen zu erobern suchen? Und wenn sie die Herrschaft über dieselbe mit den gedankenlosen Routiniers der Dramenfabriken theilen müssen haben nicht Kotzebue und Jffland neben Schiller und Goethe das Repertoire beherrscht? Ja, sind nicht die meisten Stücke Goethe's nurE477 mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe Ausnahmen, ein Kunstfest der Auserwählten gewesen? Die poetische Grenzgattung, der Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am deutlichsten, welch 'eine Fülle von Gedanken, von Problemen, von geistigen und gesellschaftlichen Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur zur Geltung gekommen ist. Und diesen Thatsachen gegenüber können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß unsere Literatur in eine neue Epoche getreten, deren erste Entwickelungskrankheiten sie bereits glücklich überstanden hat, deren Bedeutung darin besteht, eine vollkommenere Versöhnung der Gelehrten - und Volkspoesie anzustreben, als unseren Classikern möglich war, und die von ihnen überlieferte Kunstform mit allem Reichthum des modernen Lebens zu erfüllen. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf allen Gebieten der Kunst und des Wissens die Erbschaft des achtzehnten angetreten; aber, weit entfernt, dieselbe zu verschleudern, hat es Capital und Zinsen verdoppelt. Freilich stimmt diese Behauptung nicht mit der hypochondrischen Art und Weise überein, mit der man sich gewöhnt hat, auf alle neueren literarischen Bestrebungen herabzusehn und schon durch dies vornehme Herabsehn seinen hohen Standpunkt an den Tag zu legen. Am wenigsten läßt sich die Entwickelung einer Literatur nach den Regeln der Dreifelderwirthschaft bestimmen, wie es Gervinus gethan, welcher den Rath ertheilt, nun die Poesie brach liegen zu lassen und die Politik zu bearbeiten. Die Ansicht eines Einzelnen kann hier, bei aller sonstigen Berechtigung und Befähigung, nicht maaßgebend sein, indem sie durch den productiven Drang der Nation und thatsächliche Leistungen ihre schlagendste Widerlegung erhält.

Dem Literarhistoriker der Gegenwart bietet sich eine doppelte Betrachtungs - und Darstellungsweise dar: er kann epochenweise den Jnhalt der geistigen Bewegungen zusammenfassen und weniger den Entwickelungsgang der einzelnen Autoren berücksichtigen, als ihr Eingreifen in die gesammte Entwickelung der Nation, das er stets in dem entscheidenden Zeitpunkte darstellt; oder er stellt die Entwickelung der einzelnen bedeutsamen Autoren in den Vordergrund, mag sie auch verschiedene Richtungen umfassen; er läßt diese Entwickelung in sich selbst austönen und weist nur auf ihren Zusammenhang mit den allgemeinen geistigen Strömungen hin. Für die Literaturgeschichte der Vergangenheit ist der erste Standpunkt ohne Frage der richtige, weil dort umfangreiche Epochen eine in's Große gehende Charakteristik gestatten; doch die Gegenwart mißt ihre Epochen nur nach Decennien; die chronologischen Einschnitte sind hier ohne Wichtigkeit; die geistigen Richtungen gehen der Zeit nach meistens neben einander her und sondern sich nur nach ideellen Gesichtspunkten. Goethe lebte noch, nachdem die romantische Schule schon verblüht; Tieck ist noch ein Zeitgenosse der jungdeutschen Bestrebungen, der modernen Lyrik und des modernen Drama gewesen. Mit wenigen Ausnahmen sind daher im vorliegenden Werke die bedeutenden Autoren wohl dort eingereiht, wo der Schwerpunkt ihres geistigen Wirkens zu suchen ist, aber dort auch in ihrem ganzen Entwickelungsgang, mag er auch in andere Richtungen übergreifen, behandelt worden. Ebenso sind die Uebergänge der einen Richtung in die andere weniger in chronologischer Reihenfolge, als nach ihrem begrifflichen Schwerpunkte aufgefaßt. Das Vorwiegen des kritischen Elements, das indeß von einer Verzettelung des Werkes in einzelne Kritiken wohl zu unterscheiden ist, läßt sich bei der eingehenden Darstellung einer kurzen und naheliegenden Epoche, welche keine großen historischen Perspectiven gestattet, gewiß rechtfertigen, denn hier sind durch Tradition keine feststehenden Gesichtspunkte gegeben; es kommt darauf an, durch Analyse der einzelnen Autoren erst ihren geistigen Extract zu gewinnen und, was in ihnen verwandt und gemeinsam ist, zur Bezeichnung einer literarischen Richtung zusammenzustellen.

Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtung behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die ideelle Gliederung des Werks war durch die scharfen geistigen Einschnitte bestimmt, welche der Fortgang der deutschen Nationalliteratur in unserem Jahrhundert bedingte. Die Classiker schufen uns die künstlerische Form nach antikem Vorbild und mit humanem Geiste; die Romantiker zerstörten diese Form wieder, um die Phantasie von gegebenen Traditionen zu emancipiren und die Dichtung volksthümlich zu machen, verfielen aber dabei in eine chaotische Urpoesie und in die Abhängigkeit von nurE478 scheinbar volksthümlichen, mittelalterlichen Ueberlieferungen. Jhr Streben, die Poesie mit dem Leben der Gegenwart zu vermitteln, wurde von der modernen Richtung wieder aufgenommen, welche gleichzeitig im Ringen nach künstlerischer Vollendung an unsere Classiker anknüpfte. Das Alterthum, das Mittelalter und die Neuzeit wurden so nach einander die geistigen Arsenale unserer Literatur, welche aber erst den wahrhaft volksthümlichen Boden fand, als sie dem Geiste ihres Jahrhunderts huldigte und ihn bei der Wahl der Stoffe und bei ihrer Auffassung zum entscheidenden Kriterium machte. Sie that damit nur dasselbe, was Homer und Sophokles, Dante, Calderon und Shakespeare gethan, und wodurch sie groß und unsterblich geworden. Unsere Classiker hatten dies Princip oft instinctiv erfaßt und ausgeführt, niemals als maaßgebend anerkannt, sonst wären ein Achilleïs und eine Braut von Messina eine Unmöglichkeit gewesen; die Romantiker ebensowenig man denke an Heinrich von Ofterdingen und Kaiser Octavian. Die principielle Anerkennung, daß die Poesie nicht experimentiren, sondern im Geiste ihres Jahrhunderts dichten solle, um echte Volksthümlichkeit und ewige Dauer zu gewinnen, schafft erst die moderne Poesie. Von der hellenischen Plastik überkommt sie die Klarheit der Form; von der romantischen Jnnerlichkeit die Blüthe des Gefühls; aber sie versöhnt beides auf dem neutralen Boden des rein Menschlichen, dessen Emancipation eben der Geist dieses Jahrhunderts ist. Sie kennt weder Homer's Olymp, noch Dante's Hölle und Paradies sie stellt den Menschen auf seine eigenen Füße, und seine Kraft, seine Schönheit, seine Größe wird ideal ohne transcendente Beleuchtung. So wird die Humanität unserer Classiker zur schönsten Blüthe gezeitigt und das Streben der Romantiker, die Poesie überall im Leben zu suchen, zur Vollendung geführt. Die Vergangenheit wird durch die Gegenwart bestimmt, nicht die Gegenwart durch die Vergangenheit. Jhr Duft gehört sowenig zur Poesie, wie der mystische Höhenrauch des Jenseits. Das nächste Leben der Gegenwart zu schildern, entadelt nicht mehr die Kunst; sie gipfelt in ihrem Geiste. Formelle Aneignungen und Nachbildungen bleiben ein Spiel des Dilettantismus; der echte moderne Geist bildet und durchdringt von selbst die moderne Form, mit Achtung vor dem ewigen Gesetze der Schönheit, aber ohne Anlehnung an fremde Muster.

So fällt nach den leitenden Jdeen dieses Werkes von selbst der Hauptaccent auf die moderne Poesie. Doch auch äußerliche Gründe lassen ihre ausgedehnte Behandlung begreifen. Unsere Classiker gehören in ihrer Entwickelung mehr dem vorigen Jahrhundert an; sie bilden nur den Ausgangspunkt unseres Werks. Die Exegese ihrer Schriften ist unerschöpflich bis zur Ermüdung, und nutzlos wär 'es, das oft und gut Gesagte zu wiederholen. Uns kam es darauf an, die noch fortlebenden Resultate ihres Wirkens unter die Beleuchtung zu rücken, in welcher uns der Fortgang der Literatur erscheint, und so vielleicht hin und wieder einen neuen Reflex auf ihre Bedeutung fallen zu lassen. Die Größe ihrer Verdienste wird allgemein mit solcher Ueberschwänglichkeit anerkannt, daß es uns, ohne die Pietät zu verleugnen, doch mehr darauf ankommen mußte, die Lücken in ihren Leistungen nachzuweisen, welche das Streben einer späteren Generation zu ermuthigen im Stande sind. Dasselbe gilt von der romantischen Poesie. Nach den Untersuchungen des graziösen Hermann Hettner, des scharfsinnigen Julian Schmidt, nach der fulminanten Polemik der deutschen Jahrbücher, den frivolen, aber schlagenden Lakonismen Heine's, welche die früheren Darlegungen eines so bedeutenden Literarhistorikers, wie Gervinus, und die vermittelnde Auffassung des geistvollen Rosenkranz ergänzen, ist das Gesammtbild der romantischen Schule so abgeschlossen, daß nur in einzelnen Erörterungen neue Gesichtspunkte geltend gemacht werden können. Anders verhält es sich mit der modernen Poesie. Hier konnte sich eine wesentlich neue Auffassung des Entwickelungsganges und der einzelnen Erscheinungen Bahn zu brechen suchen; hier mußte, da die Zahl der Vorgänger auf diesem Gebiete gering und ihre Richtung verschieden ist, das zerstreute Material gesammelt und gesichtet werden; hier mußten die Fäden, die in die Vergangenheit zurückführen, mit denen verknüpft werden, die in die Zukunft hinausweisen. Jn der That herrscht auch hier die größte Ergiebigkeit an Talenten und Productionen, an neuen Gattungen und Bestrebungen, eine außerordentliche Rührigkeit und Lebendigkeit, eine allseitige Ausbreitung der Poesie über alle Gebiete des Lebens, so daß die Masse des Stoffes eine ebenso ausführliche Berücksichtigung, wie sorgfältige Gliederung nöthig macht.

Daß auch die wissenschaftlichen Bestrebungen, besonders aber die Philosophie, mehr in den Vordergrund treten, als es in ähnlichen Literaturwerken der Fall ist, mag seineE479 Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung, obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben.

Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene Gegenwart enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über die moderne deutsche Philosophie und Poesie.

Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen, das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben seiner Nation.

Breslau. Dr. Rudolph Gottschall.

Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren Anpreisung. Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen desselben zu rechtfertigen.

Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: » Der Hauptvorzug der Gottschall'schen Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet (etwa Mundt's durch ihre » weltliterarischen Tendenzen « außerdem interessante » Geschichte der Literatur der Gegenwart « ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat. Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen, wie wegen geistreicher Auffassungs - und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen, zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung. «

Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der Julian Schmidt'schen Literaturgeschichte anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: » Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist, die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, das ist die Weise, zu » charakterisiren, « und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten,E480 lebensvolle Darstellungen, die alle Empfindungen für sich in Anspruch nehmen, die der Dichter zu erwecken im Stande ist, die bei uns Sympathie oder Antipathie, Liebe oder Haß, Bewunderung oder Verachtung, Begeisterung oder endlich auch Erheiterung hervorrufen müssen. «

Nicht minder anerkennend spricht sich die Jllustrirte Zeitung (XXV. Bd. Nr. 645) aus: » Bei allem fast erstickenden Ueberfluß an Literaturgeschichten in Deutschland halten wir die Gottschall'sche doch deshalb nicht für überflüssig, weil sich ihr Verfasser vorgenommen hat, die Literatur vom Standpunkte des modernen Bewußtseins zu beleuchten und in ihrer gegenwärtigen Entwickelung die elementarischen Keime hervorzuheben, welche Blüthe und Frucht für die Zukunft versprechen. Fast alle übrigen Literaturgeschichtschreiber sind ungerecht gegen die modernen Tendenzen gewesen; der Eine hat sie vom conservativ-orthodoxen Standpunkte verworfen; ein Zweiter hat sie ignorirt, weil sie eben noch mit uns leben, noch nicht einer Vergangenheit angehören, die sich in gelehrt-pragmatischer Weise behandeln läßt; ein Dritter endlich zeigt ihnen seine Mißachtung, weil ihm ihre Repräsentanten nicht gefallen oder weil es überhaupt in seiner süffisanten Natur liegt, über Alles von oben herab abzusprechen. Nichtsdestoweniger bilden diese modernen Tendenzen eine Macht, die sich wohl bekämpfen, aber nicht von vornherein verwerfen oder ignoriren läßt. Zudem werden sie jedenfalls von zum Theil bedeutenden Talenten vertreten, deren Leistungen, ohne gerade Meisterwerke zu sein, doch auch manche glänzenden Seiten bieten, in denen sich ein erfreulicher Fortschritt bald in formeller, bald in individueller Hinsicht nicht verkennen läßt. Jndem nun Gottschall's Literaturgeschichte vorzugsweise diese Seiten hervorhebt, ohne deshalb das Verfehlte zu übersehen und zu verschweigen, ist sie recht eigentlich als ein theils berichtigendes, theils ergänzendes Werk zu den vorhandenen Literaturgeschichten anzusehen. Die kritische Methode waltet vor, Gottschall geht dabei sehr gründlich zu Werke und charakterisirt und kritisirt jedes einzelne Produkt der Autoren, die in den Kreis seiner Betrachtung fallen, so daß der Leser eine vollständige Uebersicht ihrer Leistungen und wenigstens eine annähernde Schätzung des Werthes dieser Leistungen gewinnt. Das Publikum darf ihm für diese mühsame Arbeit ohne Zweifel Dank wissen, da es bei dem großen und immer mehr anwachsenden Reichthum der deutschen Literatur gewiß nur noch Wenige giebt, welche Zeit genug übrig haben, alle Schriften auch nur der namhafteren deutschen Dichter und Autoren zu lesen. Die Darstellung ist geschmackvoll und klar, wenn auch hier und da vielleicht etwas zu gekünstelt und bilderreich. «

Die Vossische Zeitung (1856. Nr. 29) schließt ihre ausführliche Besprechung mit folgenden Worten: » Wir unsererseits aber können nicht unterlassen, ihm (Gottschall) das Zeugniß zu geben, daß er mit Fleiß, Ausdauer und liebevoller Hingebung seine schwierige Aufgabe zu lösen versucht und mit Unparteilichkeit, frei von jedem Vorurtheil sein kritisches Amt verwaltet hat. Weichen unsere Ansichten auch in vielen Einzelheiten von den seinigen ab, finden wir auch manches Urtheil nicht genügend motivirt, hier und da eine Erscheinung mehr hervorgehoben, als sie es verdient, andere Persönlichkeiten dagegen nur flüchtig und ihre Bedeutung nicht entsprechend abgethan, so ist doch der Gesammteindruck dieses Werkes ein überwiegend günstiger: er legt ein glänzendes Zeugniß für die Befähigung Gottschall's als Literaturhistoriker ab. Anch der Styl zeichnet sich durch Wärme und Fülle aus, gegenüber dem trockenen Tone, welchen die deutschen Gelehrten häufig als ein Attribut der Wissenschaftlichkeit zu betrachten pflegen. Wir schließen uns von ganzem Herzen den letzten Worten des Verfassers an. » Wer unsere Nationalliteratur verurtheilt, verurtheilt die Nation selbst, wir aber glauben an ihre freudige Entwickelung und haben die Aktenstücke zu derselben auf literarischem Gebiete so treu und erschöpfend wie möglich gesammelt. «

K. Gutzkow nennt in seinen Unterhaltungen am häuslichen Herde (Neue Folge 1. Bd. Nr. 11.) den Verfasser » einen denkenden und selbstständig urtheilenden Geschichtsschreiber der deutschen Nationalliteratur « und das obige Werk » ein geist - und gedankenreiches. «

Die Kölnische Zeitung sagt in ihrem Feuilleton vom 30. Dezember 1855; » Während Julian Schmidt's Literatur-Geschichte so eben in zweiter Auflage erschien, ward gleichzeitig die Literatur-Geschichte von Rudolph Gottschall vollendet. Beide Werke bestehen sehr wohl neben einander, da sie zwar denselben Gegenstand, aber auf eine sehr verschiedene Weise behandeln. Julian Schmidt ist es hauptsächlich um die geistigen Richtungen zu thun, die sich im Leben und also auch in der Literatur der deutschen Nation offenbaren. Er hat also eine Reihe Studien und Kritiken ausgearbeitet, in welchen diese Richtungen an ihren Haupt-Repräsentanten entwickelt werden, und man kann sagen, daß Schmidt in seinem Werke so ziemlich Alles geleistet hat, was ein scharfer historisch und philosophisch geschulter Verstand, verbunden mit einem gründlichen Studium und einem großen sittlichen Ernste zu leisten vermag. Auf eine vollständig in's Einzelne gehende eigentliche Geschichte unserer heutigen Schriftsteller und ihrer Werke hatte er es nicht abgesehen. Eine solche liefert uns Gottschall, der Hunderte von Schriftstellern eingehend bespricht, die in jenem Werke gar nicht oder nur obenhin erwähnt werden. Er ist bei diesem Unternehmen unterstützt durch ein feines, ästhetisches Gefühl, welches die Eigenthümlichkeiten jeder literarischen Erscheinung lebendig empfindet und wiedergiebt. Jst er doch selbst ausübender Künstler, und das kommt dem Kunstrichter immer zu Gute. «

Die Berliner Feuerspritze (III. Jahrg. Nr. 50) empfiehlt Gottschall's Literaturgeschichte mit folgenden Worten: » Von den Classikern unseres Jahrhunderts beginnend, entwirft Gottschall die General - und Specialkarte des literarischen Gebietes klar, geordnet und übersichtlich, scharf in der Zeichnung, berechnet in der Eintheilung und jede, auch die kleinste Quelle der Poesie, auch die untergeordneten, einseitigen Ansiedelungen poetischer Ackerbürger genau verzeichnend. Er tritt in seiner Literaturgeschichte mehr als geistreicher Sammler, denn als Forscher auf, seine Urtheile verrathen mehr den Dichter als den Kritiker: sie sind bilderreich, schwunghaft und brillant, aber selten hart und scharf. Er steht vielen der besprochenen Personen zu nahe, um sich rücksichtslos äußern zu dürfen; seine Kritik verletzt Niemand, sie ist wohlwollend, und ihr letzter Zweck Förderung geweckter und erwachter Kraft und Edles anstrebenden Talentes. Beide Bände des Gottschall'schen Werkes lesen sich leicht, da sich die Darstellung eben so fern hält von gelehrter Phraseologie, als von dürrer Zusammenstellung, an welchen Fehlern leider so viele Literatur-Historiker laboriren. Ein kampfbereiter Gegner der Ansicht vom Verfalle der deutschen Literatur, weist Gottschall Schritt für Schritt an der historischen und ideellen Entfaltung des Zeitgeistes den Aufschwung und den Reichthum der geistigen Gegenwart und in den Keimen die Blüthen einer herrlichen, fruchtreichen Zukunft nach. Möge denn Gottschall's Werk dem Laien zu belehrender Anleitung, den Schülern der Musen aber zur geistigen Erhebung gereichen. «

Das ganze Werk, vollständig in 2 Bänden mit angefügtem alphabetischen Register kostet 5 Rthlr. und ist für diesen Preis durch alle Buchhandlungen des Jn - und Auslandes zu beziehen.

Breslau. Eduard Trewendt, Verlagshandlung.

E481E482E483E484E485E486

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TextPoetik
Author Rudolph Gottschall
Extent508 images; 174131 tokens; 39709 types; 1317330 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Technische Universität Darmstadt, Universität StuttgartNote: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-09-30T09:54:39Z TextGrid/DARIAH-DENote: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe Stefan AlscherNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs Hans-Werner BartzNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung Michael BenderNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung) Leonie BlumenscheinNote: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung David GlückNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript Constanze HahnNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung Philipp HegelNote: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung Andrea RappNote: ePoetics-Projekt-Koordination Sandra RichterNote: ePoetics-Projekt-Koordination CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationPoetik Die Dichtkunst und ihre Technik Rudolph Gottschall. . TrewendtBreslau1858.

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LanguageGerman
ClassificationWissenschaft; Literaturwissenschaft; ready; epoetics

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