Nach den Anforderungen der Gegenwart von Dr. C. Beyer. ──────
Erster Band. Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1882.
EAI:cK. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
EAI:bSeiner Majestät dem regierenden Könige von Württemberg Karl I. dem hohen Beschützer der Werke des Friedens und der Humanität mit Allerhöchster Bewilligung ehrfurchtsvollst zugeeignet.
EAI:aRIWohl an fünfundzwanzig Jahre beschäftige ich mich neben meinen dem Lesepublikum bekannten dichterischen, litterarhistorischen und philosophischen Arbeiten vorzugsweise mit den Wesensgesetzen der deutschen Poetik. Das interessevolle Eindringen in die Rückertschen Dichtungen, die auf den Gebieten poetischer Technik als gesetzgebende gelten können, förderte dieses Studium in hervorragender Weise und verlieh ihm einen individuellen Reiz. So gestaltete sich die Absicht, ein Lehrmittel zu schaffen, welches die Ausstellungen über Dürftigkeit und theoretisierende Einseitigkeit der meist doktrinären, unmethodischen und undeutschen Hülfsmittel der Poetik verstummen mache, die (wie Heyses veraltete Verslehre) Modernes und Antikes vermischend meist auf der Basis der alten Sprachen aufgebaut sind, oder die (wie Ph. Wackernagels Auswahl) den altgriechischen und fremden Formen weit über die Hälfte des Umfangs einräumen und obendrein manche unrichtige Bezeichnungen bieten, was ich da und dort (z. B. § 107, 109, 184 &c.) nachzuweisen vermochte. Der universelle, sprach - und reimgewandte Heros poetischer Form, Fr. Rückert, welcher in mir die Erwägung anregte, ob denn nicht die litterarischen Reichtümer aller Völker bald an Stelle der Nationallitteraturen die von ihm angebahnte Weltlitteratur schaffen würden, schien mir am meisten geeignet, die Abstraktion der Gesetze einer Poetik zu ermöglichen und durch seine mehr als 200,000 Verse umfassenden Dichtungen in das Geheimnis der deutschen Verskunst einzuführen. Da ich mir jedoch vornahm, keinen Lehrsatz ohne Beispiel zu lassen, so hätte ich mir durch starres Beschränken auf Rückertsche Beispiele den Vorwurf der Einseitigkeit zuziehen müssen, indem bei Rückert doch so Manches fehlt, was als ein Vorzug anderer bedeutenderRII Dichter und Zeitgenossen angesehen werden muß. Auch hielt ich einzelne Formen bei anderen Dichtern ─ mehr als bei Rückert ─ geeignet, neben Pflege des Sinnes für das Schöne formale wie materielle Bildung anzuregen, oder wenigstens das regelnde Gesetz schärfer erkennen zu lassen. Jch entschloß mich also schon frühe, neben Rückert alle Dichter unserer deutschen Gesamtlitteratur bis in die Gegenwart in das Bereich meiner Studien und Beispiele zu ziehen, was bis jetzt in gleichem Maße von keiner Poetik versucht wurde, so daß gerade das, was die meisten Poetiken zum praktischen Gebrauche vermissen lassen, in reichem Maße und nach sorgfältigster Auswahl im vorliegenden Werke geboten ist, wodurch dem letzteren der Charakter eines durchaus brauchbaren Lehrmittels für Schule und Selbstunterricht gegeben werden sollte.
Es schien mir nach jahrelangem Arbeiten allmählich zu gelingen, das ganze weite System der hiehergehörigen wissenschaftlichen Wahrheiten darzulegen, nämlich die Gesamtheit der Lehren lückenlos vorzutragen, die in ihrer Folge seit Opitz, seit Erscheinen der deutschen Zeitmessung von J. H. Voß bis zu den Arbeiten von Minckwitz, Gottschall, Kleinpaul, Wackernagel &c. eben die Wissenschaft der Poetik bilden.
Wenn es die römischen Dichter nicht wagten, die schwierigen Versmaße der Griechen in ihrem vaterländischen Jdiom nachzubilden (weil es ihnen zu schwer war, wie die Ausnahme Horaz bestätigt, oder weil sie sich vor dem Schimpfnamen Græculi fürchteten, womit man die Verletzung des gewöhnlichen Accents bestrafte), so mußte es wohl gerechtfertigt sein, wenn der deutsche Litterarhistoriker ─ angesichts unserer überwiegend die antike Metrik und Nomenklatur behandelnden Hülfsmittel der Poetik ─ aus ästhetischen Gründen, wie aus Begeisterung für deutsch = nationale Poesie den nachäffenden Græculis entgegentrat, um deutsche Accentuation, deutsche Strophik und Phonetik und die dem deutschen Geiste entquollenen und angemessenen Formen zu pflegen. Ja, es mußte verdienstlich erscheinen, wenn ich in einer deutschen Betonungslehre, in einem deutschen Vers = und Strophensystem die Befreiung von der überlebten schablonenhaften Schulregel zu proklamieren vermochte, wenn die von unseren besten Dichtern aus natürlichem oder ererbtem Gefühl beachteten prosodischen Gesetze in ein zusammenhängendes System gebracht werden konnten undRIII der praktische Nachweis möglich wurde, daß diese Gesetze in unserem Sprachgeist und Sprachbau von jeher begründet waren. Das Jahr 1870 / 71, das unserer politisch = patriotischen Lyrik einen gewissen Aufschwung verlieh und uns ein neues Deutschland gab, sollte doch auch eine allem Nachäffen feindliche, echt deutsche Poetik im Gefolge haben und zeigen, daß Deutschland auch in der Poesie auf eigenen Füßen zu stehen vermag, daß es in seiner urdeutschen Betonung und in seinen nationalen Metren, Strophen und Formen alles besitzt, was durch Nachbilden antiker und moderner fremder Metren vergeblich erstrebt wurde. Die meisten unserer besseren und besten Dichter haben, wo sie sich von der Form beengt fühlten, ihrem natürlichen, deutschen Wohllauts - und Rhythmusgefühle nachgegeben und wohl im Hinblick auf die Minnesinger und auf die Dichter des Volkslieds ziemlich häufig das Wagnis begangen (vgl. § 116─122), mit den herkömmlichen Schulbegriffen zu brechen und zwar unbekümmert um den Tadel der Pedanten und Halbwisser, die aus übertriebenem Respekt vor der herkömmlichen Autorität die Schönheit freier Verse (§ 120 ff. ) als Fehler bemäkelten, um ja nicht in den Verdacht der Unkenntnis der Schulgesetze zu kommen. Bei Schiller läßt sich z. B. der Einfluß des deutschen Accentgesetzes in all seinen jambischen Stücken (mit Ausnahme der Jungfrau von Orleans und der Braut von Messina) nachweisen; ebenso bei Goethe im Faust. Aber erst Heinrich Heine war der Erste, welcher erhaben über die Kritik der Pedanten die herkömmliche Metrik kühn durchbrach. Er gehörte zu den wenigen, die das Wesen der deutschen Rhythmik fühlten und sich praktisch gegen die griechisch = deutsche auflehnten (vgl. Strodtmanns Dichterprofile 1879, I. S. 246). Fr. Rückert in Kind Horn, Geibel in Sigurds Brautfahrt, A. Grün in Der treue Gefährte, Hamerling im Vaterlandslied, Uhland in Taillefer, Wilh. Jordan im Nibelunge, Scheffel u. A. (vgl. § 119, 120, 191, 219) haben sich absichtlich von der Schulregel des modernen zwängenden Versrhythmus frei gemacht. Mit Heine haben nunmehr für den Sehenden alle besseren Dichter das nicht mehr zu unterdrückende Recht des deutschen Sinn-Accents beansprucht, der sein Gesetzbuch gebieterisch fordert. Der Übersetzer des Cajus Silius Italicus klagt mit Recht: „ Wir besitzen unleugbar eine große Anzahl schöner, phantasievoller, erhebender Gedichte und hochbegabter Dichter, allein eine vollständig reine SilbenmessungRIV kann keinem derselben nachgerühmt werden, ─ und während die Dichter des Altertums, weil sie regelfest in der Quantitierung übereinstimmen, sämtlich als prosodische Autoritäten gelten, fehlt unserer poetischen Litteratur noch immer ein Werk, welches an Mustergültigkeit den Alten zur Seite gestellt werden könnte. “ ─ Der verdiente Rud. v. Gottschall geht in seiner Poetik über die Prosodik ziemlich rasch hinweg. Aber seine Blätter s. lit. Unterh. (1854. Nr. 50) beklagen den Mangel eines Werks, in welchem die Gesetze der Prosodie und Metrik mit Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit zu einem sicher leitenden Lehrbuch zusammengestellt und verarbeitet wären. ─ Auch Freese (Griech. = röm. Metr. p. 138) und Minckwitz (Lehrb. VIII) betonen das Fehlen einer deutschen Metrik. ─ Platen nennt unsere Metrik roh, da wir, an das monotone Geklapper von Jamben und Trochäen gewöhnt, beinahe den Sinn für eigentlichen Rhythmus verloren hätten, und sich unsere ganze Metrik in einem beständigen Langkurz oder Kurzlang auf das einförmigste fortbewege. ─ Goethe, durch Wilh. v. Humboldt auf die Fehler in Hermann und Dorothea aufmerksam gemacht, erkennt das Bedürfnis einer deutschen Prosodik rückhaltlos an und fordert Humboldt auf, im Verein mit Brinkmann eine solche zu schaffen; „ es wäre “─ so ruft er im Briefwechsel mit Humboldt S. 57 aus ─ „ kein geringes Verdienst, besonders für Poeten von meiner Natur, die nun einmal keine grammatische Ader in sich fühlen “. ─ ─
Die vorliegende Poetik strebte dieser Aufgabe nach Maßgabe unserer Kraft im Sinne des elementaren Systems der Synthesis nahe zu treten. Sie suchte ein Scherflein zu liefern, um in die Hallen der deutschen Poesie selbst einzuführen, damit für die Folge kein Gebildeter sei, welcher die Kunstpoesie in ihrem Aufbau nicht kenne, damit kein talentvoller Naturalist, kein begabter Volksdichter ungerügt an den Gesetzen des deutschen Versbaues vorübergehe, ja, damit auch unsere besseren Dichter von den genialsten unserer poesiekundigen Großmeister abstrahierend lernen, ihr Rhythmus - und Wohllautsgefühl bilden und einer feineren Wägung in der rhythmischen Poesie sich befleißigen, um für die Folge nicht nur die regellose oder schulmäßige Poesie für die geniale oder vollendete zu halten. ─ ─
Jch begann diese Poetik mit Entwickelung der auch für jeden Dichterfreund unentbehrlichen Vorbegriffe, woran ich unter PräcisierungRV des Geistes und Jnhalts der Perioden unserer Litteratur einen erschöpfenden Überblick über dieselben in chronologischer, streng sachlicher Folge in der Absicht reihte, den Lernenden, der ja im Verlauf dieses Werkes mit allen namhaften Erscheinungen der deutschen poetischen Litteratur bekannt wird, zu befähigen, die Stellung der letzteren in ihrer Zeit bestimmen zu können. Man soll nach meinem Vorgang für die Folge keine Poetik ohne Litteraturgeschichte lehren!
Sodann ließ ich zum erstenmal in einer Poetik einen Grundriß der Ästhetik mit Bezug auf Poesie und auf poetische Sprache folgen, um für das ideale Geistesleben zu befähigen, neben dem, was die Poesie in technischer Beziehung Großes schuf, auch das äußerlich und innerlich Schöne beachten und empfinden zu lernen. (Jch erfreue mich in diesem Punkte der ausgesprochenen Übereinstimmung und Anerkennung eines der geistvollsten Ästhetiker der Gegenwart.) Nach dieser mehr analytischen Propädeutik ging ich in synthetischer Weise in die eigentliche Materie der Poetik ein. Jch entwickelte die Lehre von den Tropen und Figuren unter Klassifizierung, Benennung, Erläuterung und Herleitung der Metaphern aus dem Wesen der Sprache (§ 36) und belegte sie mit den bezeichnendsten Beispielen aus allen Dichtern. Sodann gab ich eine auf deutsche Accentgesetze basierte deutsche Prosodik und Rhythmik als Betonungslehre, wobei ich u. a. zum erstenmal ein deutsches Quantitätsgesetz im Gegensatz zu den nicht ganz zutreffenden Ansichten Westphals und Schmidts aufstellte und im § 80 begründete. Daran reihte ich eine deutsche Metrik, welche nach Darlegung des Verhaltens der antiken Maße zum deutschen Versbau in einer eingehenden Studie (§ 116─122) die noch nirgends genügend gewürdigten deutschen Accentverse behandelte. Die Lehre vom Reim und namentlich die nur von wenigen für möglich gehaltene Entwickelung einer eigenartigen deutschen Strophenlehre entrollte ich in einer Form, welche eine Vergleichung zuläßt und den überraschenden Reichtum deutsch = nationaler Strophenformen zum erstenmal dem erstaunten Blicke erschließt. Die von mir vorgeschlagenen Strophenbenennungen, die ja einer Vervollkommnung fähig sind, möge man als berechtigte Neuerung anerkennen und zugeben, daß unsere deutschen Strophen mindestens das Recht haben, im neuen Deutschland ebenso benannt und bekannt zu werden, als dieses Vorrecht bis jetzt nur die mit klingendem Namen versehenen antiken und fremden Strophen für sich ausschließlich inRVI Anspruch nahmen. Die Benennung unserer Strophen hat nebenbei den nicht zu unterschätzenden didaktischen Zweck, durch bekannte Namen sofort die Vorstellung von der Strophenform mit dem verständnisweckenden Lichte der Erinnerung zu übergießen. Man möge an der einzigen S. 682 mit dem Namen Geibelstrophe belegten Form, welche eine von mir nachgewiesene ganze Litteratur hervorrief und durch Dichter wie Berend, Solitaire, Prutz, Droste-Hülshoff und Fitger bearbeitet wurde, die Bedeutung einer endlichen wissenschaftlichen Betrachtung der deutschen Strophik erkennen! Dieser Strophik, welche nebenbei bemerkt den ermutigenden und begeisterten Beifall namhaftester Dichter und Gelehrter fand, wird sich im zweiten Bande die Darstellung und Entwickelung sämtlicher Dichtungsgattungen und = formen unter Berücksichtigung der gesamten Bearbeiter anreihen und den theoretischen Auf - und Ausbau einer echt deutschen Poetik zum Abschluß bringen. Ein dritter kurzer Supplementband endlich soll mit Erfolg in die Technik der Poesie durch eine praktische Anleitung zum Versebilden einführen, wodurch ich mindestens der Legion jener Gebildeten und Strebenden einen Dienst zu erzeigen hoffe, welche sich im Gelegenheitsdichten versucht haben oder versuchen möchten. Es lag der ernst didaktische Zweck zu Grunde, durch diese streng methodischen Übungen den Sinn für Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu wecken, Überhebung oder Tändelei im sog. Versemachen abzuschneiden, das Jnteresse für die Form der edlen Poesie zu begründen und durch praktisches kritikforderndes Schaffen und Begreifen der Gesetze zu befähigen, auch die zur Bescheidenheit mahnenden Vorzüge und Feinheiten alter und neuer Muster zu ahnen. Der Kenner fremder Sprachen wird außerdem noch eine präzise Anleitung zur Übersetzung, z. B. aus dem Englischen, Französischen, Jtalienischen, Schwedischen &c., vorfinden.
So habe ich denn lebensvolle Theorie mit selbstthätiger Praxis zu verbinden gesucht und ein allseitiges Gesetzbuch der deutschen Poesie zu entwerfen gestrebt, welches von dem durch Fischart (S. 215) angedeuteten, von Opitz (S. 231) ausgesprochenen Gesetz ausgehend auf urdeutscher Metrik aufgebaut, in Geist und Wesen unserer heutigen Poesie durch ihre Materie einführt und sich seine eigenartige Stellung durch methodische Anlage sowie durch Anschaulichkeit und pädagogische Brauchbarkeit sichern möchte. Möge es als ein Beitrag erkannt werden, im neu erstandenen DeutschlandRVII auch in der Poesie die Befreiung vom deutschwidrigen Fremdentum zu erringen und Vorschub zu leisten der Pflege und Verallgemeinerung deutschen Geistes! ─
Die Lernenden werden es mir Dank wissen, daß ich nach dem bewährten Satze „ exempla docent “im Gegensatz zum unerquicklichen Regelwerk dürrer Abstraktionen jeden Satz, jeden Reim, jede Versart, jede Strophenform &c. von den Anfängen unserer Litteratur bis in die Gegenwart durch vorzügliche Beispiele unserer besten Dichter unter Ausschluß der geringeren belegte und zu allen Übungen und Aufgaben des dritten Bandes poetische Lösungen gab. ─ Die Lehrenden aber mögen bemerken, daß ich den wesentlichen Teil eines jeden Paragraphen gewissermaßen als Lehrsatz und als das für Repetition und für Diktat Geeignete mit größerer (Garmond =) Schrift drucken ließ, wozu das jeweilige Kleingedruckte die Erläuterung oder die Ausführung bietet, ─ daß ich somit dem Werke jene methodische Einrichtung zu wahren suchte, die ich in meinen philosophischen Grundlinien „ Erziehung zur Vernunft “(Wien, Braumüller. 3. Aufl. ) forderte. Den Lehrern und Schülern höherer Unterrichtsanstalten und den Freunden der alten Klassiker wird es erwünscht sein, daß ich auch die alten und fremden Bezeichnungen (zumeist mit Übersetzung für den Nichtsprachkundigen) beigab, und alle wichtigen Aussprüche und Erklärungen aus den alten Klassikern berücksichtigte. Ein Verzeichnis der von mir gewissenhaft benützten Quellen aus der gesamten einschlägigen Litteratur bieten die Paragraphen 3 und 4 d. B., wobei ich ausdrücklich bemerke, daß einige kleinere im Buch verarbeitete Citate aus den von mir ebenso sorgfältig verfolgten Fachblättern, Vorträgen, Zeitungen &c. im Register des II. Bandes erwähnt sind.
Die Schwierigkeit meiner umfassenden Arbeit wird der Wissende würdigen. Diese ist das Werk unermüdlichen, opfervollen Forschens, Ringens, eigener Selbstbelehrung und Selbstvertiefung, wie des ehrlichen Strebens, der Wissenschaft der Poesie ein umfassendes, festbegründetes Werk zu liefern. Sie wurde nur möglich durch Benützung der besten deutschen Bibliotheken, von denen ich besonders der Stuttgarter gedenke, deren zuvorkommende Beamten mir manchen Vorschub leisteten, sowie durch thätige Ermutigung bedeutender deutscher Dichter, gelehrter Freunde und eines für diesen Gegenstand ehrlich begeisterten Verlegers.
Sollte ich hie und da meine Kräfte überschätzt haben, so rechneRVIII ich auf die Nachsicht Besserwissender und schärfer Kombinierender, die frei vom Dünkel splitterrichtender oder verdienstloser neidischer Halbwisser den guten Willen mit der Erwägung anerkennen, daß etwas in dieser Art Zusammenhängendes und Erschöpfendes in unserer Litteratur noch nicht vorhanden ist!
Alle Dichter und Gelehrte aber bitte ich dringendst, etwaige Verbesserungen in Anordnung und Materie für eine neue Auflage mir zugehen zu lassen, oder mich auf Unrichtigkeiten aufmerksam zu machen.
Mein schönster Lohn würde es sein, wenn auch Fachmänner wahrhaft bereichernde Daten in meiner Arbeit finden und dieselbe als Lehrmittel empfehlen möchten, damit die Schulbehörden des deutschen Reiches endlich Veranlassung nehmen, dem Unterrichte in der deutschen Poetik mit Litteraturgeschichte eine oder zwei wöchentliche Lehrstunden in den oberen Klassen aller besseren Anstalten einzuräumen. Jch verspreche mir ein Aufblühen des Geschmacks unseres Volkes im Großen, wenn schon die strebende Jugend befähigt wird, die Feinheiten der Kunst in unseren Dichtungen zu empfinden, die Formen und Mittel zu verstehen, die Technik zu handhaben oder zu durchschauen, wie ich insbesondere die Poetik bei richtiger Behandlung für geeigenschaftet halte, in die obersten und letzten Disciplinen aller höheren Unterrichtsanstalten einzuführen: in Logik und Psychologie!
Zweifelsohne wird der Lernende, welcher den erfrischenden Gang durch eine begriff - und lebenzeugende Poetik erfolgreich gemacht hat, mindestens die Poetik als Philosophie der Poesie und ihrer Geschichte auffassen lernen: als die ─ so zu sagen ─ ein historisch entwickelndes Verfahren beobachtende Naturgeschichte der Poesie, die dem ganzen Fache konkreten Gehalt, Leben, Gestalt und Reiz verleiht!
Stuttgart, am Enthüllungstage des Hamburger Lessing-Denkmals 1881.
Dr. C. Beyer.
RIXHeinrich Heine.
Platen.
Poetik ist die Lehre von dem Wesen, von den Grundsätzen, Regeln, Formen und Formeln der Dichtkunst, oder die wissenschaftliche Betrachtung der Poesie. Als Wissenschaft der Dichtkunst ist sie ein Teil der Ästhetik, nämlich die auf Poesie angewandte Ästhetik.
Schon in frühester Zeit hat man versucht, aus den Gebilden der Poesie Regeln zu abstrahieren und die Formen und Formeln der Poesie zu untersuchen, um sich ihrer Gesetze klar zu werden. Das auf diese Weise entstandene Regelwerk ist die Poetik. Sie abstrahiert ihre Gesetze ebenso aus der Philosophie der schönen Künste, wie aus der Betrachtung mustergültiger Dichtungen.
Demgemäß macht uns die Poetik mit den Gesetzen des Schönen, mit der Lehre des poetischen Stils und mit der äußeren Form und den Gattungen der Poesie &c. bekannt.
Die Kenntnis der Poetik erleichtert dem Dichter vor allem seine schöpferische Thätigkeit. Die Poetik erschließt aber auch demjenigen, der nicht Dichter ist, ein tieferes Verständnis der dichterischen Schöpfungen; sie macht es möglich, das Schöne und Erhabene leichter erkennen und würdigen zu können; sie strebt, den Sinn für das Schöne zu wecken und zu beleben; sie sucht ästhetische Bildung zu fördern. Jhre Kenntnis ist das unerläßliche Vorstudium zur Einführung in einen Dichter, wie in die gesammte Litteratur.
Bisher waren unsere Poetiken nur denen genießbar und verständlich, die schon besaßen, was ein Dichter braucht. Eine Poetik der Neuzeit soll aber ─ angesichts des hohen Bildungsstandes unseres Jahrhunderts ─ nicht nur ein Unterricht im Dichten für Dichter sein, (was früher etwa die Skaldenschulen, oder die Dichterschulen zur Zeit der Minnesinger oder die Tabulaturen der Meistersänger &c. waren); sie soll auch nicht nur eine Einweisung in das Verständnis der fertig gestalteten poetischen Formen bieten: sondern sie soll2 auch in letzter Jnstanz ein Mittel bilden, die Philosophie der Poesie und ihre Geschichte zu begreifen und eine Vorstufe (Propädeutik) der höchsten Disciplinen (Psychologie und Logik) zu werden.
Lateinisch heißt Poetik: ars poetica, griechisch ποιητική sc. τέχνη.
Der Jnspirationsglaube und das Vorurteil der älteren Philosophie, daß der Dichter und der Künstler geboren werden, sind auf ein bestimmtes Maß zurückzuführen. Die Dichtkunst ist Allen je nach dem Grade der menschlichen Urvermögen zugänglich. Einführung in dieselbe ist Bedürfnis für denjenigen, der die Geistesschätze seiner Nation verstehen und genießen will, der ein Gefühl vom Werte deutscher Dichterschöpfungen und deutschnationales Selbstgefühl erlangen soll.
Eine jede aus Jntuition hervorgehende Arbeit, ─ sei sie ein Bildwerk, ein Gebäude, eine musikalische Komposition, eine Dichtung ─ erscheint in ihrer Vollendung selbst gebildeten Personen nicht selten als die Ausführung einer höheren Eingebung. Und doch ist sie meist weiter nichts, als die spekulative Einheit oder das Produkt der tiefsten Kenntnis der bezüglichen Empirie oder des vollständigen Details einer Sache. Gerade der klarste Empiriker ist nicht selten auch der klarste spekulative Philosoph, oder, wie Rückert, der bedeutendste Weisheitsdichter. Man darf eben nicht vergessen, daß zwischen dem ersten Gedanken und der vollendeten Ausführung einer jeden Aufgabe ein oft lebenslängliches Studium, die vielseitigste technische Ausübung, ein eminenter Fleiß und eine gewaltige Lebenserfahrung in der Mitte liegen muß.
Bis in die Neuzeit glaubte man an das geborene Genie, das man wie ein höheres Wesen, wie eine besondere Gattung des Menschen ansah, und dem man Nichtbeachtung der äußeren hergebrachten Formen in Kleidung und Manieren gern nachsah. Aber nur der angehende Künstler wird geboren, nicht der vollendete. (Vgl. Goethe, Werke Bd. XXII, S. 222. Lessing B. IV S. 310, sowie in meinen philosophischen Grundlinien „ Erziehung zur Vernunft “[Wien, Braumüller 3. Aufl. S. 22] das Kapitel „ Genie “.) Es giebt eine Krystallisation des Werdens, aber es giebt keine Wunderkinder. Nur in der Kräftigkeit der Urvermögen oder Anlagen ist ein Unterschied, ebenso wie in der äußeren körperlichen Gesundheit. Anlage zur Poesie ist in jedem Menschen, sie äußert sich aber bei Verschiedenen verschieden, also bei dem Jndianer anders, als bei dem Europäer, bei dem Bauernburschen anders, als bei dem Studierenden, beim Handlanger anders, als beim Gelehrten, bei der gebildeten Jungfrau in ebenen Gegenden anders, als bei der naturwüchsigen Sennerin auf hoher Alp. Aber nur bei Wenigen erscheint die Poesie als Kunst ausgeprägt. Um als Kunst sich äußern zu können, muß das Können d. h. die Geschicklichkeit erreicht sein. Dazu gehört Unterricht, Studium, Arbeiten. (Vgl. Rückerts Ringen und seinen Ausspruch in meinen „ Neuen Mitteilungen “3Bd. I. S. 55, ferner noch Hüffers Mitteilung aus dem Leben H. Heines [Berlin, 1874], nach welcher Heine außerordentliche Mühe auf die Form seiner Schöpfungen verwandte und gerade die scheinbar am flüchtigsten hingeworfenen Lieder am meisten gefeilt habe u. s. w.) Wie der Lernende an Wohllaut und an ästhetisch Schönes gewöhnt werden kann, so auch an eine äußere poetische Sprachweise, wenn die betreffenden Regeln und Gesetze verständnisvoll aus der Sprache selbst entwickelt werden. Da jedem normal angelegten gesunden Menschen ein richtiges Denken und Fühlen anerzogen werden kann, (jede Schule hat dies Klassenziel im Lehrplan) da ihm ferner die Form mitgeteilt wird, in der er sein Denken und Fühlen äußert, so muß jeder gut beanlagte Mensch so weit fortgebildet werden können, um den Dichter nicht nur dem Jnhalt, sondern auch der Form nach würdigen und verstehen zu lernen. Freilich gehört hierzu Kenntnis der seither in allen Lehrbüchern der Poetik übersehenen Ästhetik, der wir das 2. Hauptstück dieses Buches gewidmet haben, und die wir so wichtig erachten, weil eine Wirkung wie eine Kritik des Kunstwerks ohne absichtsvolle ästhetische Bildung dem Zufall anheimgegeben ist.
Wie bei den Griechen und Römern eine Wissenschaft der Poesie erst möglich wurde, nachdem die Poesie im Drama zur Blüte gelangt war, so mußte auch in andern neueren Staaten ─ namentlich in Deutschland ─ die Poesie verschiedene Stadien durchlaufen, bevor die Poetik erstand und gepflegt wurde. Die hauptsächlichsten Begründer der Poetik bei den Alten waren Aristoteles und Horaz.
Aristoteles von Stagira (384─322 v. Chr.) war der erste, welcher die Grundsätze der einzelnen Dichtungsgattungen auseinandersetzte und in seiner Poetik namentlich den Unterschied zwischen der epischen und dramatischen Poesie darlegte. Er ist der Euklides der Poesie. Nach ihm wurde die Poetik nur eine Art ‘Receptirkunde '. Eine solche schrieb wenigstens Horaz († 8 v. Chr.) in seiner „ Epistola ad Pisones “oder „ ars poetica “. Sie behandelt hauptsächlich die Aufgabe der Dramatik, giebt reiche Fingerzeige über die dichterische Technik und weist die damaligen Dichterlinge in Rom ernst humoristisch zurecht. Nach ihm schrieb u. a. Longin 250 n. Chr. „ Über das Erhabene “(Ausgabe von Jahn, 1867) und gleichzeitig Plotin „ Über Schönheit “. Mehr als 1200 Jahre später wurde erst in Frankreich, dann England, den Niederlanden und Deutschland die Poetik gepflegt, und zwar infolge der humanistischen Studien, die nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 sich verbreiteten und der Roheit und Unwissenheit des Mittelalters bald wirksam entgegentraten. Der römische Bischof Vida († 1566) gab am Anfang des 16. Jahrhunderts eine Poetik in Hexametern heraus, in welcher er hauptsächlich Virgil citirt. Darauf folgte die Poetik des Franzosen Boileau - Despréaux (de l'art poétique 1674), ein Codex des guten Geschmacks, der4 lange Zeit der bezüglichen Litteratur als Richtschnur diente und seinem Verfasser den Ehrennamen „ législateur du Parnasse “einbrachte. Der Jtaliener Scaliger, der sich 1528 in Frankreich naturalisieren ließ, gab 1561 in Lyon 7 Bücher „ De arte poetica “heraus.
Von den Deutschen war ─ abgesehen von dem § 1 erwähnten Versuch der Meistersänger ─ Friedrich Spee von Langenfeld (1591─1635, einer der ersten Lyriker seiner Zeit) darauf bedacht, der deutschen Poesie eine Metrik zu schaffen. Sodann gab das Haupt der Schlesischen Dichterschule Martin Opitz 1624 eine kleine Poetik: „ Buch von der deutschen Poeterei “heraus. (Diese vielgenannte Schrift, von der ein Neudruck 1876 in Halle erschien, umfaßt 60 Seiten und lehrt u. A.: „ Kap. 1. Die Poeterei wurde eher getrieben, als man je von derselben geschrieben. Die Schriften der Poeten kommen aus göttlichem Antrieb her. Kap. 2. Die Poeterei war anfänglich eine verborgene Theologie und Unterricht von göttlichen Sachen. Die ersten Väter der Weisheit haben die bäuerischen und fast viehischen Menschen zu einem höflicheren und besseren Leben angewiesen. Nach Strabo haben die Alten gesagt, die Poeterei sei die erste Philosophie, eine Erzieherin des Lebens von Jugend auf, welche Sitten &c. lehre. Ein Weiser sei allein ein Poet. Der Sittsamkeit und nicht der Erlustigung wegen unterwiesen die Griechen in den Städten die Knaben in der Poesie. Kap. 3. Entschuldigung der Vorwürfe. [Man nenne Poeten denjenigen, welchen man verächtlich machen wolle. Grund: die Gelegenheitsgedichte. Es werde kein Buch, keine Hochzeit, kein Begräbnis ohne solche gemacht. Äschylus habe Sophokles vorgeworfen, der Wein habe seine Tragödien gemacht. Nachlässiger Wandel der Poeten. Die Poeterei ist nicht gegen den Glauben &c.] Kap. 4. Wir sollen nicht vermeinen, daß unser Land unter einer so rauhen und ungeschlachten Luft liege, daß es nicht zur Poesie tüchtige ingenia tragen könne. Tacitus bezeuge, daß die Deutschen alles Merkenswerte in Reime und Gedichte faßten. Opitz erinnert an Walther von der Vogelweide. Es sei eine verlorene Arbeit, wenn sich jemand an unsere Poeterei machen wollte, ohne in den griechischen und lateinischen Büchern bewandert zu sein und aus denselben den rechten Griff erlernet zu haben &c. Kap. 5. Dichtungsgattungen: heroisches Gedicht, Tragödie, Komödie, Epigramm, Eklogen, Hymnen, Lyriken &c. Kap. 6. Von der Zubereitung und Zier der Wörter [Fremdwörter, neue Wörter, Figuren, Tropen &c.]. Kap. 7. Von den Reimen, ihren Wörtern und Arten der Gedichte. Bei Belehrung über den jambischen und trochäischen Vers giebt Opitz die Grundlage unserer accentuierenden Metrik: „ Wir können nicht auf Art der Griechen und Lateiner eine gewisse Größe der Silben in Acht nehmen, sondern wir erkennen aus den Accenten und dem Tone, welche Silbe hoch und welche niedrig gesetzt soll werden. “ Dieser von ihm zum erstenmal ausgesprochene Satz sei so wichtig, als es nötig war, daß die Lateiner nach den quantitatibus oder Größen der Silben ihre Verse richten und regulieren. Kap. 8. Er erwartet von seiner [in 8 Tagen niedergeschriebenen] Schrift, daß sie beitragen werde, der Poesie den berechtigten Glanz zu geben. 5Die Bevorzugten, die mit Ovid sagen können: „ Est Deus in nobis, agitante calescimus illo “[deutsch: Es ist ein Geist in uns und was von uns geschrieben, gedacht wird und gesagt, das wird von ihm getrieben,] müssen Übung und Fleiß anwenden. Auch Übersetzungen aus griechischen und lateinischen Poeten empfiehlt Opitz, um Eigenschaft und Glanz der Wörter, Menge der Figuren kennen zu lernen und das Vermögen zu erlangen, dergleichen zu erfinden &c. Plinius gestehe in der 17. Epistel des 7. Buches, daß ihn diese Gewohnheit nicht reue; er nennt es den schönsten Lohn des Poeten, in fürstlichen Zimmern Platz zu finden, von großen und verständigen Männern getragen, von schönen Leuten geliebet [denn auch das Frauenzimmer lese den Dichter und pflege ihn oft in Gold zu binden], in Bibliotheken einverleibet, öffentlich verkauft und von jedermann gerühmt zu werden. Hiezu komme die Hoffnung künftiger Zeiten, in welchen sie fort und fort grünen und in der Nachkommen Herzen bleiben. Diese Glückseligkeit erwecke bei aufrichtigen Gemütern solche Wollust, daß Demosthenes sagt, es sei ihm nichts Angenehmeres, als wenn auch nur zwei wassertragende Weiblein sich zuflüstern: „ Das ist Demosthenes “. Neben dieser Hoheit des guten Namens ist auch die unvergleichliche Ergötzung, welche wir empfinden, wenn wir der Poeterei wegen so viel Bücher durchsuchen: wenn wir die Meinungen der Weisen erkundigen &c. Für diese Ergötzung haben Viele Hunger und Durst gelitten und ihr Vermögen daran gesetzt. Zoroaster hat für Aufsetzung seiner Gedanken in poetischer Sprache 20 Jahre in Einsamkeit zugebracht. Alle Wollüste zergehen unter den Händen, Reue und Ekel zurücklassend; nur der Umgang mit der Poesie schafft ein Vergnügen, das uns durchs ganze Alter begleitet, das unsern Wohlstand ziert und in Widerwärtigkeiten ein sicherer Hafen ist. Die Verächter der göttlichen Wissenschaft der Poetik haben das Schicksal jener Personen in der Tragödie, die ob ihres Unverstandes und ihrer Grobheit weinen und heulen müssen.)
Dieses mit Sachkenntnis errichtete Gebäude von Opitz stellte Regeln hinsichtlich des Versbaus auf, die heute noch gelten, weshalb er als Vater der deutschen Poesie immerhin Beachtung verdient. Jhm folgten Phil. Harsdörffer (der poetische Trichter; die deutsche Reim - und Dichtkunst in 6 Stunden einzugießen. 2 Teile 1647─48. Jnhalt: 1. Die Poeten, 2. Die deutsche Sprache, 3. Der Reim, 4. Die Reimarten, 5. Erfindung neuer Reimarten, 6. Zierlichkeit der Gedichte und ihre Fehler). ─ Sigm. v. Birken (Deutsche Rede =, Bind - und Dichtkunst, Nürnberg 1679). ─ Christ. Rotth (Vollständige deutsche Poesie, 1688). ─ Christian Weiße (Kuriose Gedanken von deutschen Versen, 1691). ─ Christoph Gottsched (Versuch einer kritischen Dichtkunst, Leipzig 1730 und verbessert 1751. Beiträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, 1744. Nötiger Vorrat zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst, 1757). ─ Joh. Jak. Breitinger (Kritische Dichtkunst, Zürich 1740). ─ Joh. Jak. Bodmer (Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, 1741).
Nachdem Prof. Alex. Gottl. Baumgarten in Frankfurt a. O. als Vollender der Wolff'schen Philosophie durch seine Schriften: „ Anfangsgründe aller6 schönen Wissenschaften “, 3 Bde. 1750, sowie besonders „ Ästhetica, Frankfurt 1750─58. 2 Bde. “, die Ästhetik als Wissenschaft begründet hatte und seine Nachfolger J. G. Sulzer (Allgemeine Theorie der schönen Künste. Leipzig 1786), F. A. Eberhard (Handbuch der Ästhetik in Briefen. Halle 1803─1805), sowie Friedr. Bouterwek (Ästhetik 1806; Jdeen zur Metaphysik des Schönen, 1807; Geschichte der Poesie und Beredsamkeit &c., 1819) der Ästhetik ein weites Feld erobert hatten, waren es die Jdentitätsphilosophen Kant, Fichte, Hegel, Schelling, welche ihre Kraft auf Begründung der Schönheitsgesetze richteten und der Ästhetik neue Bahnen öffneten. Gleichzeitig traten unsere klassischen Dichter mit ihren Meisterwerken auf: ein Lessing, Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul &c. und ermöglichten eine klassische Poetik. Herder, der in den zugänglich gemachten Werken fremder Völker zur Vergleichung anregte, stellte (namentlich in „ Fragmente über die neuere deutsche Litteratur, 1767 “und „ Vom Geist der hebräischen Poesie, 1782 &c. “) neue Prinzipien auf, ebenso Lessing (in „ Abhandlungen über die [äsopische] Fabel, 1759. “ „ Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766. “ „ Hamburgsche Dramaturgie, 1767. 1768. “ „ Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, 1771 “).
Schiller und Goethe brachten die Jdee der Schönheit zur Geltung und gaben durch ihre Dichtungen wie durch ästhetisch = theoretische Arbeiten (Schiller: Über die tragische Kunst, Über das Erhabene, Über Anmut und Würde &c. ; Goethe: Die Propyläen, Über Kunst und Altertum, vgl. auch seine Briefe und die von Eckermann 1836 herausgegebenen Gespräche) neue Gesichtspunkte, indem sie zugleich die Grundsätze künstlerischen Schaffens und des künstlerischen Produkts vermittelten. Jean Paul lieferte in seiner humoristisch gehaltenen „ Vorschule der Ästhetik “(1804) neue originelle Beiträge für Erkenntnis des dichterischen Stils und der dichterischen Produktion. Von den Romantikern, die uns Shakespeare einbürgerten und lebensfähige Bilder unseren Dramaturgen lieferten, wirkte besonders der ästhetischkritische Vertreter der romantischen Schule A. W. Schlegel durch seine „ Vorlesungen über dramatische Kunst “, sowie der Vollender dieser Schule Ludw. Tieck durch seine dramaturgischen Arbeiten (1826).
Außer Ferd. Solgers Vorlesungen über Ästhetik (1829), Christian Herm. Weißes Ästhetik (1830), Krauses Abriß der Ästhetik (1837), Rosenkranz 'Geschichte der Poesie und Ästhetik des Häßlichen (1853), Ferd. Schleiermachers Ästhetik (1842), Hegels Ästhetik (1840), Börnes dramaturgischen Blättern (in denen er wie Lessing neben Jnhalts-Tiefe zugleich Natur und Wahrheit der dramatischen Gedichte fordert), Wienbargs ästhetischen7 Feldzügen (1833) und Dramatikern der Jetztzeit (1839), Theodor Mundts Dramaturgie (1847) und Ästhetik (1845), Schopenhauers, Laubes, Gutzkows Arbeiten sind für unser Jahrhundert besonders nennenswert: des bahnbrechenden Fr. Theod. Vischers Ästhetik (4 Teile, 1846 bis 1857), Über das Erhabene und Komische (1837), Kritische Gänge (1844. Neue Folge, 1875. 6 Teile), Kuno Fischers Diotima, die Jdee des Schönen (1849), Die Entstehung und Entwicklungsformen des Witzes (1871), Moritz Carrieres Das Wesen und die Formen der Poesie (1854), Ästhetik (1859), Die Kunst im Zusammenhang mit der Kulturentwickelung und die Jdeale der Menschheit (1874, 3 Bde. ), Rudolph Gottschalls verdienstliche Poetik (1858), und mehr oder weniger die nachstehend in chronologischer Folge aufgezählten, von uns beim Aufbau dieses Werkes benützten Bücher:
1800. Hermann, J. Gottfr. Jak., Handbuch der Metrik. ─ 1802. Voß, Joh. Heinrich, Zeitmessung der deutschen Sprache. ─ 1809. Petri, Vorkenntnisse der Verskunst für Deutsche (Pirna). ─ 1811. Wolf, F. Aug., Über ein Wort Friedrichs II. von deutscher Verskunst (Berlin). ─ 1812. Bothe, F. G., Antikgemessene Gedichte, eine ächt deutsche Erfindung (Berlin). ─ 1813. Besseldt, Beiträge zur Prosodie und Metrik (Halle). ─ 1815. Moritz, Karl, Deutsche Prosodie (2. Aufl., Berlin). ─ Grotefend, Georg Friedr., Anfangsgründe der deutschen Verskunst (Gießen). ─ 1816. Apel, Aug., Metrik (Leipzig). ─ 1817. Meinecke, Verskunst der Deutschen (Quedlinburg). ─ 1820. Heyse, Karl, Kurzer Abriß der Verskunst &c. (Hannover). ─ Gotthold, Kleine Schriften über die deutsche Verskunst (Königsberg). ─ 1826. Döring, Lehre von der deutschen Prosodie (Dresden). ─ 1827. Garve, der deutsche Versbau (Berlin). ─ 1831. Grimm, Jakob, Deutsche Grammatik (Göttingen). ─ 1834. Zelle, Kritische Geschichte der Prosodie, cf. Programm d. Berl. Gymnas. z. grauen Kloster, Untersuchg. z. deutsch. Metrik. ─ 1835. Hoffmann, K. J., Principien der wissenschaftlichen Metrik (Berlin). ─ Erk, M., Zeitmessung (Wiener Jahrb. d. Lit. Bd. 71. p. 102─143). ─ 1836. Poggel, Grundzüge einer Theorie des Reims &c. mit besonderer Rücksicht auf Goethe. ─ 1837. Freese, Deutsche Prosodie (Stralsund), ferner: Griechisch = römische Metrik (Dresden 1842). ─ 1838. v. d. Hagen, Minnesinger. ─ 1839. Dilschneider, Deutsche Verslehre (Köln). ─ 1842. Edler, Deutsche Versbaulehre (Berlin). ─ 1843. Büttner, Friedr., Bemerkungen über die Quantität der deutschen Sprachlaute (Havelberg). ─ 1845. Knüttel, Aug., Die Dichtkunst und ihre Gattungen. ─ 1845. Wackernagel, Phil., Auswahl deutscher Gedichte. 4. Aufl. (Berlin). ─ 1846. Thiersch, Allgemeine Ästhetik (Berlin). ─ 1854. Minckwitz, Joh., Lehrbuch der deutschen Verskunst. 3. Aufl. (Leipzig). ─ 1859. Gruppe, Deutsche Übersetzungskunst (Hannover). ─ 1860. Viehoff, Heinr., Vorschule der Dichtkunst. ─ 1862. Benedix, Roderich, Das Wesen des deutschen Rhythmus (Leipzig). ─ 1863. Köstlin, Karl, Ästhetik. ─ 1864. Freytag, Gust., Die Technik des Drama. ─ 1865. Lemcke, K., Populäre Ästhetik. ─ 1865. Zeising, Ad., Ästhetische Forschungen. ─ 1866. Cajus8 Silius Jtalikus, Punika, metrisch übersetzt mit Vorwort über deutsche Vers - und Silbenmessung (Braunschweig). ─ Jordan, Wilh., Strophen und Stäbe. ─ 1868. Jordan, W., Der epische Vers der Germanen &c. ferner Nibelunge (1874 und 1875). ─ 1870. Bonnell, H. C., Auswahl deutscher Gedichte im Anschluß an ein Lehrbuch der Poetik. ─ Vilmar, A. F. C., Die deutsche Verskunst, bearb. von Grein. ─ 1872. Wagner, Rich., Gesammelte Schriften und Dichtungen (Leipzig). ─ 1873. Wackernagel, Wilh., Akademische Vorlesungen (Halle). ─ 1874. Seyd, Wilhelm, Beitrag zur Charakteristik und Würdigung der deutschen Strophen, (eine treffliche, die 2─8zeiligen Strophen behandelnde Schrift). ─ 1876. Fechner, Th., Vorschule der Ästhetik. ─ Goethes Briefwechsel mit den Gebr. v. Humboldt (Leipzig). ─ Simrock, Edda. ─ Keiter, H., Versuch einer Theorie des Romans. ─ 1877. Westphal, Rudolf, Theorie der neuhochdeutschen Metrik (Jena). ─ Huß, Hermann, Lehre vom Accent (Altenburg). ─ 1878. Brinkmann, Friedr., Die Metaphern, Studien &c. ─ König, Robert, Deutsche Litteraturgeschichte (Leipzig). ─ 1879. Hahn, Werner, Deutsche Poetik (Berlin). ─ Kleinpaul, Ernst, Poetik (1. Aufl. 1852). ─ Bartsch, Deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrhunderts. 2. Aufl. ─ 1880. Palleske, Emil, Die Kunst des Vortrags. ─ Du Prel, Karl, Psychologie der Lyrik. ─ Andere Schriften sind im Text genannt.
Das Verhältnis des Stoffes zur darzustellenden Schönheitsidee (vgl. §§. 20 und 31) und der Unterschied der Anschauungsorgane bedingt die Abstufung der Künste, die sich in zwei Gruppen von je drei ebenbürtig gegenüberstehenden Stufen gliedern. Die erste Gruppe, welche auf der Raumanschauung fußt und Werke von bleibender Dauer bietet, umfaßt die bildenden Künste: a. Die Baukunst, b. die Bildhauerkunst und c. die Malerei. Die zweite Gruppe, welche auf der Zeitanschauung fußt und ihre Werke in successiver Folge zur Darstellung gelangen läßt, umschließt die musischen Künste: a. Die Mimik, b. die Musik und c. die Dichtkunst.
Für das Verständnis der Stellung der Poesie als Kunst haben wir einen orientierenden Blick auch auf die entfernter verwandten Künste zu werfen. Nach alter Praxis teilt man die Künste a. in niedere Künste ein, wie Reitkunst, Fechtkunst &c., b. in nützliche Künste, wie Goldschmiedekunst, Gartenkunst, Bergbau &c., welche nur insoweit auf künstlerischer Basis beruhen, als sich mit dem praktischen Ziele die Richtung auf die ästhetisch schöne Form verbindet. Von diesen niederen und nützlichen Künsten, die man füglich als Techniken bezeichnen sollte, scheidet man c. die obigen schönen Künste im engern Sinn ab, da diese (die niedere Baukunst ausgenommen,) kein praktisches Ziel9 haben, vielmehr lediglich die Darstellung des Schönen (vgl. 2. Hauptstück) durch menschliche Thätigkeit erstreben.
Das Wort Kunst (griechisch τέχνη von τεκεῖν) ist von können abzuleiten, wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen. Die Resultate der niederen Künste nennt man Kunststücke, Produktionen, Aufführungen, Darstellungen, Leistungen, die der schönen Künste Kunstwerke, Kunstschöpfungen.
Die schöne Kunst der Poesie kann nur mit ihresgleichen in Verhältnis gebracht werden. Betrachten wir das Verhältnis der schönen Künste, so entspricht die Baukunst oder Architektur (welche Schlegel gefrorene Musik nennt) der Musik in ihrem entwickelnden Werden. Der Bildhauerei (Skulptur) mit ihren ideenreichen, den menschlichen Körper darstellenden Formen entspricht die bewegliche Plastik der Mimik. Der im Material so leichten, in den Jdeen so reichen Malerei entspricht nur die Poesie im Ganzen wie in den Teilen, nämlich der Historienmalerei das Drama, der stimmungsvollen Landschaft die stimmungsreiche Lyrik, dem deskriptiven Genre das Epos. Den Mangel an natürlichem Leben in den Kunstschöpfungen verdeckt der künstlerische Schein, d. h. ein Hindurchschimmern der Jdee durch die Form (§§. 19 und 20), welche nach Hegel das Wesen der Kunst bildet. Das poetische Kunstwerk, wie auch das musikalische und das mimische wird erst durch Aufführung und Recitation wirklich. Hierzu ist eine sekundäre Reihe von Künsten nötig, die wir reproduktive Künste nennen. Der Komponist bedarf des praktischen Musikers, der Dichter des Deklamators und des Schauspielers. ─ Bei den räumlichen Künsten bedeutet reproduktiv die Übertragung eines Originalwerks in eine andere Technik, z. B. eines Ölgemäldes in Holzschnitt - oder Kupferstichnachbildung. Eine Kopie als Nachbildung im gleichen Material ist nicht unter den Begriff des Reproduktiven zu subsumieren. ─ Den Zusammenhang der Kunst mit der Kulturentwicklung eines Volks hat die Kunstgeschichte nachzuweisen, die somit bestimmte Kunstepochen verzeichnet. Die Philosophie der Kunst als Abteilung der Ästhetik erforscht das Wesen der Kunst in ihrer Beziehung zum geistigen Organismus des Menschen und stellt den gedanklichen Jnhalt ihres auf die Verwirklichung des Schönen gerichteten Umfangs systematisch dar.
Freie Künste im eigentlichen Sinne sind: 1. Bildhauer-Kunst oder Plastik (aus dem griech. πλαστική sc. τέχνη von πλάσσω bilden, formen, gestalten, lat. ars statuaria, franz. sculpture). 2. Malerei (griech. ζωγραφική Zeichenkunst). 3. Musik und 4. Poesie.
Jnsofern die Baukunst den praktischen Jnteressen der Bequemlichkeit, der Sicherheit und der Annehmlichkeit dient, wird sie abhängig und verwirkt ─ freilich nur in dieser Beziehung ─ die Ausnahmestellung einer freien Kunst gleich der10 Mimik, welche weder durch Schrift noch durch Farbe bleibend gemacht werden kann und zur künstlerischen Technik oder zur sekundären Kunst herabsinkt. Die freien Künste der Bildhauerei und Malerei darf man im Hinblick auf ihre Beziehung zum Stoff reale Künste (von res = = Sache) nennen. Dagegen sind Musik und Poesie ideale Künste (von idea = = Bild, Begriff, Vergeistigung in der Seele). Die realen Künste (Bildhauerei und Malerei) beschränken sich auf Darstellung eines fertigen Zustandes oder eines bestimmten Moments in einer Entwicklung oder in einer Bewegung. Die idealen Künste (Musik und Poesie) dagegen charakterisieren Gefühlszustände und Gedanken in ihrem Werden, in ihrer Entfaltung. Die obigen realen Künste sind objektiv, insofern sie die räumlichen Objekte in bestimmten Erscheinungen zur Anschauung bringen. Die idealen Künste dagegen sind subjektiv, sofern sie inneren subjektiven Empfindungen, Gefühlen und Betrachtungen im Tone und Worte als den formalen Darstellungsmitteln von Gedanken und Empfindungen Ausdruck verleihen. Die realen Künste sind an die Körperwelt, an den Stoff und die Verhältnisse nach Ausdehnung und Form gebunden. Die idealen Künste hängen nur vom Subjekt und seinem Geistesleben ab, vom Grade der inneren Empfindung, von Freude, Lust, Schmerz, Erhebung, Begeisterung, Erregung &c.
Poesie ist die Darstellung des Schönen in Worten und hörbaren Gedanken: das freie Spiel der schöpferischen Phantasie und des Gemüts durch die Rede und die sinnlichen Formen derselben, ─ ein Jdeales in solch vollendeter Form, daß es auch im Beschauer oder Hörer angenehme Empfindungen hervorruft und ihm Genuß bereitet.
Wir gehen mit dieser Definition einen Schritt weiter, als Schiller, der unter Poesie die Kunst versteht, uns durch einen freien Effekt unserer produktiven Einbildungskraft in bestimmte Empfindungen zu versetzen, ─ denn diese Definition paßt ebenso auf die Malerei wie auf die Musik.
Die bildenden Künste der Malerei, Bildhauerei und Baukunst führen ihre Anschauung in unbelebten, plastischen Stoffen vor. Die Musik fixiert ihre Anschauung fürs Ohr in bewegten Tönen, der Tanz und die Schauspielkunst fürs Auge in beweglicher Gestalt des lebenden Körpers. Die Poesie oder die Kunst der idealen Vorstellungen bedient sich des Abdrucks der innern Anschauung ─ der Sprache. Schiller sagt von ihr in „ Huldigung der Künste “:
und Goethe (in Torquato Tasso 5. 5) meint, dem Dichter allein unter den Künstlern habe ein Gott gegeben zu sagen, was er leide.
11Da die Poesie die plastische Anschaulichkeit der sämmtlichen bildenden Künste mit der Jnnerlichkeit der Musik vereint, muß sie als Perle unter den schönen Künsten gelten oder, wie Vischer sagt, als Totalität der Künste, als die Kunst der Künste. Die Verbindung des leichtesten Darstellungsmittels (Sprache) mit dem umfassendsten Darstellungsinhalt (der gesammten Vorstellungswelt) erhebt sie zur höchsten aller Künste. Lemcke sagt treffend von ihr (an den Dialog „ Phädrus “von Platon erinnernd):
Die Sprache der Poesie gleicht dem sonnenbeglänzten blumigen Wiesenteppich; sie schmückt sich mit jeder Zier, um das vollendete Bild des Schönen zu sein. Daher sind die Ausschmückungsmittel: Tropen, Figuren, Reim &c. Gegenstände der Poetik.
Der Naturmensch stimmte mit dem ersten Gebrauch der Töne sein Lied an, zu welchem ihm die Natur den Text lieferte. Die erste Poesie war also rein lyrisch und individuell. Die epischen Formen entfalteten sich, als die Ereignisse des Lebens Stoff zum Besingen boten. Diese erste Poesie war Natur = oder Volkspoesie. Erst nach langer Übung gewann man die Fähigkeit, das ewig Schöne regelrecht darzustellen, die Jdee des Schönen kunstvoll zu verkörpern. Es entstand die Kunstpoesie. Sie ist die zielbewußte Poesie, die einen idealen Gedanken erfaßt und ihn darstellt. Ein solcher idealer Gedanke ist z. B. die wunderbare Macht des Gesanges, welche göttlichen Ursprungs ist und über Vernichtung und Unsterblichkeit gebietet. Uhland hat diese herrliche Jdee veranschaulicht in der einfachen, aber großartigen Komposition seiner Ballade „ Des Sängers Fluch “, welche durch ihre plastische Anschaulichkeit, sowie durch das Erschütternde des Stoffes und der mit anmutendstem Wohllaut vereinten Gewalt der Sprache jeden fesseln wird. ─ Ein solcher idealer Gedanke ist beispielshalber auch die Anschauung Rückerts, daß Deutschlands Macht in seiner Einheit liege. Er verkörpert diesen Gedanken z. B. in „ der hohlen Weide “, wie namentlich in den „ drei12 Gesellen “, in welchen er zeigt, daß wir weder Preußen noch Österreicher, sondern eben nur Deutsche sein dürfen, wenn wir andern Nationen ebenbürtig gegenüber stehen wollen.
Zum Kunstwerk des Kunstgedichts gehört beides: Die schöne Form und der schöne Jnhalt.
sagt Rückert. Und Geibel:
Die Poesie nimmt ihre Stoffe aus allen Gebieten der Welt, wie des Geistes - und Gefühlslebens. Jhr weites Feld ist vor allem der Menschengeist, das große Gebiet der Gedanken und des Gemüts. Jndem sie solche Stoffe wählt, will sie nicht belehren, nicht erklären, nicht begründen, nicht einteilen, wie es der Denker erstrebt. Nicht dem Wahren dient sie, wenn sie es auch keineswegs verletzen will. Es ist ihr nur nicht Zweck, nur Konsequenz, denn aus Schönheit erblüht die Wahrheit. Die höchste Wahrheit anderseits ist die höchste Schönheit. Die Poesie will vor allem der Spiegel des Herzens sein, der Widerschein des verklärt entgegen tretenden Lebens. Dadurch erreicht sie doch indirekt die nicht beabsichtigte Belehrung, dadurch wirkt sie anregend auf unser Thun, sittlich = bildend, verschönend = versöhnend. Dadurch gewährt sie reinen Genuß.
Das Darstellungsmittel der Sprache gestattet die Aufrollung des im stäten Werden begriffenen Poesiebildes, dessen Zweck ist, erhalten zu bleiben, um in seiner Darstellungsform bei dem Betrachtenden wieder die schöpferisch bewegende Anschauung zu erzeugen, ─ um zu erfreuen. Zweck der Poesie ist also ─ Hinführung zum Schönen. ─ Eine Hauptforderung ist das Maßhalten, denn durch das Maß verkörpert sich das Schöne in der Begrenzung. Sophokles wußte das klassische Maß inne zu halten. Die Dichter der schlesischen Schule (§ 18) und die Romantiker wie auch die Jungdeutschen überschritten es zuweilen. Goethe, Schiller, Rückert, Platen, Uhland, Gottschall, Geibel &c. zeigten, daß unsere Sprache, wie die griechische, zur Höhe des Schönen recht wohl gelangen könne. ─ Die Darstellungsform verlangt rhythmische Gliederung und metrische Gestalt. Die metrische Gestalt ist die Verbindungskette zwischen Poesie, Musik und Tanz. Da wo sich Poesie und Musik trennten, sind prosaische Romane und Dramen entstanden. Jn der antiken Poesie herrscht Einheit, bei uns deckt Mannigfaltigkeit die Einheit. Den Griechen genügte der Rhythmus (gesetzmäßiger Wechsel von Längen und Kürzen); wir verlangen noch dazu die bunteste Ausschmückung z. B. durch Allitteration, Assonanz, Reim &c. Die Alten konnten etwa ein Epigramm mit einer Zeile bilden; bei uns verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, weshalb infolge13 dieses zweigliedrigen Gleichklangs der Parallelismus der Gedanken bei uns weit vorherrschender ist, als bei den Alten. (Die hebräische Poesie kannte kaum eine rhythmische Gliederung der poetischen Rede, wohl aber den auf Tautologien und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken. Den Reim übt sie nur als Wortspiel. Vgl. hiefür Gesenius-Rödigers hebr. Grammatik § 15.)
Poesie (lat. poësis, franz. poésie, engl. poetry) stammt vom griechischen ποίησις = = Bilden, Schaffen des Dichters, ferner Dichtwerk, Dichtkunst. Daher Poet, Poetin = = Dichter, Dichterin. Poeta laureatus = = lorbeergekrönter Dichter. Poetaster = = schlechter Dichter. Poeterei bei Opitz soviel als Poetik, sonst auch Fertigkeit im Versebilden.
Mit der Baukunst hat die Poesie architektonische Gliederung gemein, (man spricht von Bau und Architektonik der Dichtungen), mit der Skulptur festumgrenzte plastische Gestalten (Homers poetische Gestalten nennt Schlegel Skulpturbilder), mit der Malerei aber farbenvolle Behandlung des gesammten Stoffes und Beachtung des anschaulichen Prinzips; endlich mit der Musik, die wie die Poesie dem Gefühle sinnlichen Ausdruck verleiht, rhythmische Bewegung und Wohlklang. Nach diesem ist die Poesie der Malerei und der Tonkunst am nächsten verwandt.
Was zunächst die Musik anbetrifft, so ist zwar der Zauber und der Reichtum der Töne für des Dichters Absicht und Zweck nicht da; aber ihm tönt musikalisch die Anmut der Form, der Wohlklang des Reims, die bestimmte Abwechslung betonter und unbetonter Silben, die Mannigfaltigkeit des symmetrischen Accents, der Artikulation, der Modulation, der taktmäßige Rhythmus. Wenn sich die Musik mit der Dichtkunst verbindet, wie das z. B. beim Gesang der Fall ist, erreicht sie durch unendliche Steigerung und Modulation die größte Wirkung; durch Töne erhöht sich die Macht der dichterischen Worte, durch Töne erhält die dichterische Empfindung einen kräftigeren, herzinnigeren Ausdruck. Ein Lied, ein Hymnus zwar bedarf scheinbar keiner Musik; aber doch ist die Musik nur für denjenigen unnötig, der beim Lesen in seinem Jnnern die Musik der Worte ertönen hört, der sich seine eigene Melodie macht, ohne es zu beabsichtigen. Für die Übrigen ist die Musik etwas recht Wesentliches, ─ ein Mittel des verstärkten Ausdrucks.
Eine noch höhere, den Eindruck vermehrende Aufgabe hat die Malerei, wenn sie sich mit der Poesie vermählt. Sie macht den Gegenstand so anschaulich = plastisch, daß er unserer Jllusion in einem Grade nahegebracht wird, dessen nur das materielle Gemälde fähig ist, oder aber auch, dessen das materielle Gemälde nicht fähig ist.
Als selbständige Kunst stellt sich nämlich die räumliche Malerei der zeitlichen Dichtkunst insofern entgegen, als sie eben nicht im Stande ist, das Nacheinander14 in der Zeit, das Fortschreitende zur Geltung zu bringen, insofern sie ─ um ein Beispiel zu geben ─ den belvederischen Apoll nur darstellen kann, wie dieser Gott so eben geschossen hat und nun, in stolzer Ruhe zurückgetreten, dem Pfeil nachblickt, es dem Zuschauer überlassend, ob er im Geiste den Drachen sieht, dem der Pfeil zufliegt. ─
Das ausgeführteste, täuschendste Gemälde des Pandarus im 4. Buche der Jlias (Δ 105 ff. ) wird für den Maler unmöglich sein. Von dem Ergreifen des Bogens bis zu dem Fluge des Pfeils ist jeder Moment gemalt, und alle Einzelheiten sind in ihrer Folge so unterschieden, daß, wenn man nicht wüßte, wie mit dem Bogen umzugehen wäre, man es nach Lessing (vgl. Laokoon XV) aus diesem Gemälde lernen könnte. Pandarus zieht seinen Bogen hervor, legt die Sehne an, öffnet den Köcher, wählt einen ungebrauchten, wohlbefiederten Pfeil, setzt den Pfeil an die Sehne, zieht die Sehne mit dem Pfeil unten an dem Einschnitt zurück, die Sehne nähert sich der Brust, die eiserne Spitze des Pfeils dem Bogen, der große gerundete Bogen schlägt tönend auseinander, die Sehne schwirrt; ab springt der Pfeil, und gierig fliegt er nach seinem Ziele.
Das ist ein vortreffliches Gemälde, das aber trotz der sichtbaren Gegenstände nur der Dichter liefern kann, weil er die sichtbar fortschreitende zeitliche Handlung darzustellen hat, während der Maler lediglich eine sichtbar stehende, im Nebeneinander des Raumes sich fixierende Handlung darstellen kann. Um dies noch an einem anderen Beispiele zu zeigen, so kann z. B. ein Maler den Bogen des Pandarus treu malen, wie er vollendet in der Hand desselben ruht, nimmermehr aber, wie er entstanden ist. Homer fängt mit der Jagd des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht wurde; Pandarus hatte dem Steinbocke in den Felsen aufgepaßt und ihn erlegt; die Hörner waren von außerordentlicher Größe; deshalb bestimmte er sie zu einem Bogen; sie kommen in Arbeit, der Künstler verbindet sie, poliert und beschlägt sie. (Il. Δ 105─111.) Und so sehen wir beim malenden Dichter entstehen, was wir bei dem malenden Maler nicht anders als entstanden sehen können (vgl. Lessing a. a. O. XVI): Wir sehen das Koexistierende in ein Konsekutives sich verwandeln.
Die poetische Malerei versteht am besten Walter Scott, weniger die nachahmenden Genies, die ihre Helden von Kopf zu Fuß ohne Ziel malen und bei den Schuhschnallen länger verweilen als beim Antlitz. Um ein Beispiel der Malerei eines deutschen Dichters zu bieten, erinnern wir an die Entstehung des Drachenbildes in Schillers „ Kampf mit dem Drachen “in der 9. Strophe (Auf kurzen Füßen wird die Last des langen Leibes aufgetürmet u. s. w.), besonders aber an folgende Strophe Schillers:
Hier ist anschauliche Malerei, dichterische Malerei, die in jeder Zeile den ganzen Menschen zeigt, in jeder Zeile ein Bild giebt. Der Maler kann nur Teile aus der Schlacht geben, der Dichter schildert die Schlacht in ihrer Vorbereitung, in ihrem Beginn, ihrem Werden und Verlauf. Er hat den Vorzug, den objektiven Gegenstand mit der subjektiven Anschauung überhauchen zu können.
Wie ergreifend weiß der Dichter selbst Einsamkeit und Stille und deren Eindruck auf Gemüt und Phantasie seinem Gemälde aufzuhauchen: Wie anschaulich weiß er dem Bewußtsein nahe zu bringen: 1. leise, meist unbeachtete Klänge (Die Grillen noch im Stillen zirpen. Salis), 2. jenes laute Geräusch, das in der Regel überhört wird (z. B. fernes Glockengeläute)!
Beispiel zu 1.
(Rückert.)
Vgl. noch den Löwenritt von Freiligrath, dieses anschauliche Gemälde einer mondbeglänzten öden Sandwüste mit der so schauerlichen Episode aus dem Tierleben (Und das Herz des flüchtgen Tieres hört die stille Wüste klopfen). Ebenso: Die Vögelein schweigen im Walde. (Goethe.)
Beispiel zu 2.
(Uhland.)
Der Maler bedarf eines materiellen Stoffes, während der Dichter seine Anschauung in hörbar werdenden Worten bildet, die selbstverständlich wohllautend sein müssen.
Dafür ist das dichterische progressiv und successiv fortschreitende Kunstwerk verhallend, vorübergehend, während das fixierte Gemälde, wie alle bildende Kunst, Dauer im Wechsel hat. Die Malerei, deren sich der Dichter bedient, teilt das Schicksal des poetischen Kunstwerks. Dafür ermöglicht sie die Verbindung mit der Musik in der sog. rhythmischen Malerei.
Wie auf der griechischen Bühne Musik, Poesie und Tanz insofern verbunden waren, als der tanzende Chor seine Lieder sang, und wie es in früheren Jahrhunderten auch mit der deutschen Poesie war, so treten Musik und Malerei zur Poesie in der rhythmischen Malerei in ein Verhältnis, den Empfindungen und Gefühlen der Poesie ein sinnliches Substrat verleihend.
16Lessing hat in seinem Buche „ Laokoon, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) “den Unterschied der bildenden Kunst und insbesondere der Malerei und der Poesie dargethan und die umfassende Aufgabe der letzteren gezeigt; namentlich hat er darauf hingewiesen, wie die bildende Kunst nur einen einzigen Moment festhalten kann, um denselben der äußeren Anschauung vorzuführen, wie dagegen die Poesie eine ganze Reihe solcher in ihrem Nacheinander den Verlauf einer Handlung bildender Momente zur inneren Anschauung zu bringen vermag, wie sie ebenfalls Bilder schafft, die wir mit der Phantasie umfassen und reproduzierend in uns wiederbilden, wie also die Poesie zugleich auch als eine Art Malerei auf dem malerischen Prinzip beruhe. Man lese ihn!
Dem Worte Poesie (gebundene Rede = = oratio alligata metris) setzt man gewöhnlich die Prosa entgegen. Sie ist der durch Phantasie wenig veränderte sprachliche Ausdruck der Lebenswirklichkeit, der Begriffe und des Willens. Das Wort Prosa kommt her von prorsa (aus proversa oratio, geradeausgehende, durch die Hemmnisse der Metrik nicht gehinderte Rede), d. i. = = ungekünstelte Rede, ungebundene, gelöste (oratio soluta), zu Fuß gehende (oratio pedestris). Prosa ist also die Rede, wie sie im gewöhnlichen Leben gesprochen wird.
Poesie und Prosa haben mit einander das Darstellungsmittel ─ die Sprache gemein. Aber bei der Poesie wird von der sprachlichen Darstellung insbesondere Schönheit gefordert, während das Hauptgesetz der Prosa Verständlichkeit und Deutlichkeit ist; dort ist die Phantasie, hier der Verstand vorherrschend. Die Poesie will mehr auf Gemüt und Phantasie wirken als auf Verstand und Willen. Die Poesie giebt das Empfundene, die Prosa das Gedachte. Deshalb zeichnet sich auch die Poesie durch schöne metrische Gestaltung aus. Bei der Prosa ist metrische Form ausgeschlossen; die Perioden und Sätze haben sich lediglich durch Klarheit auszuzeichnen, wozu allerdings bei einer stilvollen Prosa (z. B. in Reden) auch ein Analogon des Rhythmus (der oratorische) und eine architektonische Gliederung des Satzbaues kommt.
Das Jdeale ist für die Poesie; ─ das Reale, Verstandesmäßige für die Prosa. Wer nicht im Stande ist, das Leben von seiner idealen Seite zu malen, ideal zu sehen, ideal zu denken, der schildert eben in Prosa. Ein Schriftsteller, der sich alle erdenkliche Mühe giebt, uns ein nacktes Bild der Stube, der Küche, des Stalles und der Düngergrube zu geben, in die sich noch die Dienstmädchen hineinstoßen (vgl. Jeremias Gotthelf: Uli der Knecht), schreibt Prosa. Der Romanschriftsteller, der in 4 Bänden ein Religionsgeheimnis entrollt und mit derselben umständlichen Breite ohne idealen Geistesflug erzählt, ─ er schreibt Prosa. Der Historiker, der nicht erfindet, dessen17 Ziel eben lediglich die Wahrheit ist, und der daher Bedeutungsloses neben Bedeutungsvolles setzen muß, dessen Grenzen vom Zufall abhängen, ─ er schreibt Prosa, die erst der wirkliche Dichter (wie im historischen Drama) durch ideale Auffassung und Gruppierung eines bestimmten Stoffes für ein harmonisches Ganzes zur Poesie gestaltet, nicht aber jener Dichter, der die historische Treue höher hält als die poetische. (Damit soll nicht gesagt sein, daß der Dichter das historisch entscheidende Faktum oder auch nur die historische Wahrscheinlichkeit verletzen dürfe.) Der Redner, dessen Prosa halbe Poesie ist, (man vgl. z. B. die Prosa des Demosthenes) steuert am meisten zu einer Gemeinsamkeit in der Gefühlsäußerung hin. Daher haben Dichter und Redner Tropen und Figuren gemeinsam, obwohl die Tropen mehr der Poesie, die Figuren mehr der Rhetorik angehören. Der Redner hat es eben mehr auf den Willen durch das Medium des Verstandes abgesehen, der Dichter auf die Anschauung durch Vermittelung der Phantasie. Allerdings wendet sich der Dichter in gewissen Gattungen, z. B. in manchen politischen Gedichten an den Willen (man vgl. die bezüglichen Gedichte eines Pindar, Tyrtäos, Arndt, Körner, Schenkendorf, Rückert, Freiligrath, Herwegh). Nicht selten sind wesentliche Stellen von hervorragenden Dichtungen rhetorisch (man vgl. Schillers und Shakespeares Tragödien). Jmmerhin ist dieses Rhetorische, das zur Charakteristik der betreffenden Person nötig ist, nicht direkt an uns gerichtet, sondern an die Personen im Drama, und es geht der Appell an den Willen in den politisch patriotischen Lyriken nicht direkt uns an, sondern den Kreis, für den eben geschrieben ist.
Das Unterscheidende von Poesie und Prosa liegt besonders in ihren Zwecken und in der Wahl der zu denselben führenden Mittel. Die Prosa hat es mit wissenschaftlichen Gegenständen aller Art zu thun. Jhr Zweck ist, durch Gründe und Beweise zu überzeugen und das Wahre zu erstreben, ganz abgesehen davon, ob es schön und gut sei, während die Poesie, wie erwähnt, das rein Verstandesmäßige flieht und keinen andern Zweck verfolgt, als Versinnlichung des Schönen. Deshalb wählt die letztere nur diejenigen Gegenstände, die einer dem Prinzip des Schönen entsprechenden Behandlung fähig sind. Sie hat es eben mit Empfindung und Phantasie zu thun. Abstrakt Verstandesmäßiges umkleidet die Sprache der Poesie mit Bildern, und anstatt ethischer Anregungen und Sentenzen giebt sie Gleichnisse, Handlungen, dem einzelnen es überlassend, sich seine Lehre selbst auszuziehen. Trotz ihrer anschaulichen Sprache wird sie freilich in ihren Gemälden nicht so anschaulich bilden können als die Natur oder die Künste der Plastik, Malerei, Architektonik. Das ist aber auch nicht ihr Zweck. Nicht wiedergeben oder ersetzen und verdrängen will sie die Natur, sondern lediglich veranschaulichen, Vorstellungen übertragen und das thätige Seelenleben und seine Äußerung zum Ausdruck bringen. Daher strebt sie nach größtmöglicher Lebhaftigkeit, Sinnlichkeit und Anschaulichkeit der Rede und des Ausdrucks, um in schöner Form den Reiz des Schönen zu veranschaulichen. Bindewörter, Formwörter, welche die Prosa nötig hat, verträgt sie nicht. Sie liebt kurze,18 klare Sätze, während die Prosa nicht selten lang ausgesponnene Perioden bringt u. s. w.
Die Gesetze der Prosa werden durch die Rhetorik erörtert, wie die der Poesie durch die Poetik. Freilich haben beide, da ihr Ausdrucksmittel die Sprache ist, in dieser Richtung viele Regeln mit einander gemein, welche in der Stilistik zu behandeln sind.
1. Die Poesie ist so alt als die Einbildungskraft der Menschen. Spuren der Poesie finden sich in der mythischen Geschichte eines jeden Volkes. Die meisten Völker leiten nachweislich die Poesie von den Göttern her.
2. Die Prosa trat erst nach der Poesie auf.
1. Es ist wahrscheinlich, daß die Poesie mit der Sprache selbst entstanden ist. Ohne Zweifel haben schon die ersten begabten Menschen sich poetisch geäußert, wenigstens ist nachweislich Poesie die älteste Sprache der Menschen. Jst doch auch in der Jugend des einzelnen Menschen die Sprache nicht selten mehr Gesang als Sprache im bestimmten Sinne. Bei der Menschenfamilie im Ganzen und Großen war es ebenso: Dichten und Singen ging mit einander Hand in Hand; eines bedingte das andere. Bei den Griechen übte der kaum geborene Hermes schon als erster Musiker Poesie. Seine Gesänge auf die Liebe des Zeus und der Maja und auf seine eigene Geburt begleitete er auf einem Jnstrument, das er sich herstellte, indem er die Schale der Schildkröte mit Saiten bezog, die durch ein Plektron geschlagen wurden.
Ein sagenhaft ältester Dichter der Griechen, Linos, Sohn Apollo's und einer Muse, soll die ersten Trauerlieder gesungen und damit den dichterischen Gesang und den dichterischen Rhythmus erfunden haben.
Gräber dieses Linos fanden sich in Theben, Chalkis, Argos und an andern Orten. Der alte Sänger Pamphos soll den Klaggesang am Linosgrab zuerst angestimmt haben. Nach der Sage der Argiver war Linos ein Knabe göttlichen Geschlechts, der bei Hirten unter Lämmern aufwuchs und von wütenden Hunden zerfleischt wurde. (Otfr. Müller, Geschichte der griech. Litter. 2. Aufl. Band I. S. 28 u. 29.) Aus einem Verse Homers (Jl. XVIII. 569) ist bekannt, daß der Linosgesang bei der Traubenlese angestimmt wurde. Auch bei Festen wurde Linos von den Sängern und Kitharoden beklagt, wobei der Ausruf: „ Ailine “Anfang und Schluß des Gesanges bildete. (Nach einem Fragment Hesiods bei Eusthatius S. 1163. edit. Gaisford. Nach neuerer Erklärung soll dies ein Mißverständnis des Refrains orientalischer Klaggesänge um den hinsterbenden Sommer sein, welcher hebräisch
„ wehe uns “lauten würde, dialektisch ai line. Daraus machten die Griechen den Namen des Beklagten.) Ein Analogon zu dem griechischen Linoslied (αἴλινος oder19 οἰτόλινος von ὁ οἶτος Geschick, Unglück; beide überall nur den Trauergesang bezeichnend, während λίνος z. B. bei Euripides allgemein nur Lied bedeutete) fand sich in dem Lityerses (Λιτυέρσης) der Phrygier, sowie dem Manerosgesange der Ägypter und dem Bormos der Mariandyner. (Die Mariandyner, östliche Nachbarn der Phrygier, klagten um den schönen, in der Jugendblüte vom Tod entrafften Knaben Bormos, der den Schnittern Wasser bringen sollte, aber von den Nymphen