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WISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGSBERICHTE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE REIHE HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR DR. KARL HÖNNBand 3

MAX WEHRLI Professor an der Universität Zürich

ALLGEMEINE LITERATURWISSENSCHAFT

Zweite, durchgesehene Auflage FRANCKE VERLAG BERN UND MÜNCHEN

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WISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGSBERICHTE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE REIHE HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR KARL HÖNNBAND 3

MAX WEHRLI Professor an der Universität Zürich

ALLGEMEINE LITERATURWISSENSCHAFT

Zweite, durchgesehene Auflage FRANCKE VERLAG BERN UND MÜNCHEN

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© A. Francke AG. Verlag Bern, 1951 Zweite, durchgesehene Auflage 1969 Alle Rechte, insbesondere Übersetzungsrecht, vorbehalten

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INHALT

  • Vorbemerkung4
  • Bibliographische Hilfsmittel und Handbücher7
  • I. Allgemeines
    • 1. Zur Situation der Literaturwissenschaft9
    • 2. Systematik der Literaturwissenschaft25
    • 3. Geschichte der Literaturwissenschaft30
  • II. Textkritik und Editionstechnik33
  • III. Poetik
    • 1. Die Dichtkunst
      • a) Ästhetik und Poetik40
      • b) Die Dichtung im Kreis der Künste43
      • c) Literatur und Sprache45
      • d) Poesie, Literatur, Nichtpoesie51
    • 2. Das dichterische Kunstwerk
      • a) Allgemeines53
      • b) Stil und Werk57
      • c) Typen und Gattungen71
      • d) Einzelprobleme von Gattungen und Arten77
      • e) Die Aspekte des dichterischen Werks93
      • f) Die Wertung107
  • IV. Werk, Dichter, Gesellschaft
    • 1. Leben und Existenz des Dichters114
    • 2. Psychologische Erschließung des Werks119
    • 3. Soziologie der Literatur123
  • V. Literarhistorie
    • 1. Literarhistorie und Poetik132
    • 2. Stilgeschichte136
    • 3. Die Periodisierung139
    • 4. Literaturgeschichte nach einzelnen Aspekten144
    • 5. Nationale, europäische, universale Literatur
      • a) Allgemeines149
      • b) Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft153
      • c) Die Einheit der literarischen Tradition156
  • Register163
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VORBEMERKUNG

Arbeiten wie die folgende sind vielleicht notwendig, aber für den Verfasser wie für den Leser unerfreulich, denn sie können weder umfassend und gründlich sein noch sich einer fruchtbaren Einseitigkeit verschreiben. Zudem hat es der Verfasser gewagt, zwei Herren zu dienen: er sucht einen auswählenden, kommentierenden bibliographischen Bericht zu geben und hofft zugleich, es möge daraus eine Art bescheidener Einführung in die Wissenschaft und ihre Probleme werden, soweit dies bei dem chaotischen Zustand dieser Wissenschaft überhaupt sinnvoll ist. Er glaubt aber, daß ein solcher Kompromiß, bei der ohnehin bestehenden Notwendigkeit einer Auswahl und Stellungnahme einerseits und der Unmöglichkeit einer runden Systembildung andererseits, der Sachlage der Wissenschaft und den Bedürfnissen des Lesers am besten entspricht. Wenn so unser Referat einen geordneten Gedankengang innehalten wird, so kann doch nur eine Einführung in die Problemlage und nicht deren Ausführung und Lösung beabsichtigt sein, nicht einmal die Zukunftsvision einer Synthese.

  Unter Allgemeiner Literaturwissenschaft wird im Folgenden die Wissenschaft von Wesen, Ursprung, Erscheinungsformen und Lebenszusammenhängen der literarischen Kunst verstanden; sie ist dadurch, in einem engern Sinn, speziell die Wissenschaft von den Prinzipien und Methoden der wissenschaftlichen Literaturbetrachtung. Die Grenzen sollen weit und nicht scharf gezogen sein. Fester, greifbarer Anhaltspunkt ist zunächst das Phänomen des sprachlichen Kunstwerks. Als ein geradezu konstitutives Element des kulturmenschlichen Daseins reicht aber das Problem des Gestaltens weit hinein in die Probleme jeder sprachlichen und jeder künstlerischen Äußerung und betrifft schließlich das Menschsein, als einzelnes wie als kollektives, in seinem Wesen wie in seiner Geschichte, überhaupt. Wir rechnen also ausdrücklich zur Literaturwissenschaft auch die Methodenprobleme der Literatur geschichte (Historik der Literatur) und halten es für einen irreführenden und unsachlichen Sprachgebrauch, wenn Literaturwissenschaft bloß der Poetik gelten soll und der Literaturhistorie gegenübergestellt wird.

   Es wird dem modernen Literarhistoriker nicht leicht, seine Aufgabe zu erfüllen, ohne überall in methodischer Hinsicht Anstoß zu erregen dieser rührende Stoßseufzer eines Germanisten (Neophilologus 1938, 319) deutet auf die fast neuralgische Empfindlichkeit der Literaturwissenschaft in Dingen5 der Methode, speziell in der deutschen Literaturwissenschaft. Das ist anormal und hängt mit den speziellen deutschen Gegebenheiten zusammen; Forschung kann auch ohne explizite Methodologie fruchtbar sein, und diese kann nur vom realen Widerstand ihres Gegenstandes her bestimmt werden. Anderseits ist Wissenschaft Begriffsbildung, sowie sie mitteilbar und verbindlich sein will. So vollzieht sich auch Literaturwissenschaft als dialektisches Geschehen zwischen Vorentwurf, konkreter Begegnung mit dem Gegenstand und methodischer Besinnung. Wenn aber Methodologie nicht im leeren Raum sich entwickelt, so müßte unser Referat nicht nur die reine Literaturtheorie, sondern auch die in jeder praktischen Arbeit wirksamen Leitgedanken und - vorstellungen berücksichtigen. Hiefür sind aber natürlich enge Grenzen gezogen.

  Die Literaturwissenschaften und überhaupt die Geisteswissenschaften mit ihrer philosophischen Begründung wie ihrer gelehrten Tradition sind zu einem guten Teil eine Schöpfung der klassischen Periode des deutschen Geistes; bis in die neueste Zeit hinein sind ihre Grundfragen am lebhaftesten in Deutschland diskutiert worden. Und innerhalb der deutschen Geisteswissenschaften war naturgemäß die Wissenschaft von der muttersprachlichen Literatur, also die Germanistik, das Feld der meisten Auseinandersetzungen. So ist es wohl bei der unumgänglichen Not der Beschränkung nicht am ungünstigsten, wenn der Bearbeiter dieses Forschungsberichtes in deutscher Sprache ein Germanist ist und besonders bei den angewandten Beispielen die germanistische Literaturwissenschaft in den Mittelpunkt stellt. Er hofft dabei, den Blick auf die andern Kulturkreise und die andern Wissenschaften der Literatur soweit offenzuhalten, als es ohne die Aufgabe eines einigermaßen zusammenhängenden Gedankenganges möglich ist. Und er glaubt, es sei kein großes Übel, wenn naheliegenderweise dabei die schweizerische Forschung häufig zu Worte kommt.

  Die Epoche, über die zu berichten ist, sind die Jahre seit Kriegsausbruch. Da diesem aber bereits ein kalter Krieg und eine Blockierung des wissenschaftlichen Gesprächs innerhalb Deutschlands und zwischen den Nationen schon lange voranging und die Aktualität wissenschaftlicher Arbeiten sich nicht nach dem Kalender richtet, so wurde z. T. weit in die 1930er Jahre zurückgegriffen. Das Manuskript wurde im Sommer 1950 abgeschlossen; auf seither erschienene Publikationen konnte nur in wenigen Fällen Rücksicht genommen werden.

  Zu den Schwierigkeiten prinzipieller Natur kamen schließlich noch die technischen Hindernisse, die der Beschaffung wissenschaftlicher Literatur aus dem Ausland oft entgegenstehen und bei der notwendigerweise kurz bemessenen Frist in vielen Fällen unüberwindbar waren.

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  So muß der Verfasser die vergessenen oder übergangenen Autoren um Nachsicht bitten und erst recht die erwähnten Autoren, wo er in Referat und Urteil ungerecht gewesen sein sollte.

  Anregungen und Beistand mannigfacher Art hat der Verfasser von verschiedenen Seiten erfahren. Zu herzlichem Dank verpflichtet ist er besonders dem allzu früh verstorbenen Werner Milch (Marburg), den Herren Hermann Boeschenstein (Toronto), Karl J. Hahn (Bilthoven), Julius Schwietering (Frankfurt a. M.), Fritz Ernst, Heinrich Straumann und Fritz Wehrli (Zürich), der Leitung der Zürcher Zentralbibliothek und dem Assistenten des deutschen Seminars der Universität Zürich, Herrn Josef Keller.

M. W.

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BIBLIOGRAPHISCHE HILFSMITTEL UND HANDBÜCHER

I. Zeitlich umfassende Bibliographien:

1. Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich, Bibliography of Comparative Literature. Chapel Hill 1950.

(Vgl. unten S. 151 f.) Gibt in seinen allgemeinen Abschnitten eine umfassende Auswahl von Titeln.

2. Josef Körner, Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums. 3. Aufl. Bern 1949.

Unentbehrliches Werk für die germanistische Einzelforschung, gibt in seinem allgemeinen Teil eine ausgezeichnete auswählende Bibliographie, vor allem deutscher Schriften, zur allgemeinen Literaturwissenschaft.

3. Rene Wellek and Austin Warren, Theory of Literature. New York 1948.

(S. unten S. 28) In Text, Anmerkungen und Bibliographie reiche Auswahl aus der internationalen Literatur.

4. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948.

(S. unten S. 55 ff.) Enthält ausführliche Bibliographie zu den Fragen der Poetik.

5. Dictionary of World Literature. Criticism Forms Technique. Edited by Josef T. Shipley. New York 1943.

(S. unten S. 29 f.) Reallexikon literaturwissenschaftlicher Begriffe und ihrer Erforschung. Artikel wechselnder Qualität und Ausführlichkeit, je mit Bibliographie.

6. Wilhelm Kosch, Deutsches Literaturlexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. 2. Auflage, Bern 1949 ff.

Lexikon nach Namen (auch von Gelehrten) und z. T. auch Sachen mit ausführlicher Bibliographie.

II. Zeitlich begrenzte Bibliographien

1. Deutsche Bücher 1939 1945. Eine Auswahl. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt a. M. 1947.

2. Deutsche Nationalbibliographie. Verzeichnis der Schriften, die infolge von Kriegseinwirkungen vor dem 8. Mai 1945 nicht angezeigt werden konnten. Leipzig 1949. Verzeichnis der Schriften, die 1933 45 nicht angezeigt werden durften. Leipzig 1949.

3. Clair Baier, German Literary and Linguistic Publications during the War Years 1939 1944. Modern Language Review 42 (1947) 82 ff.

4. Otto Springer, Germanic Bibliography 1940 1945. Journal of English and Germanic Philology 1946, 251 ff.

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5. Henry C. Hatfield and Joan Merrick, Studies of German Literature in the United States 1939 1946. Modern Language Review 43 (1948), 353 ff.

III. Fortlaufende Literaturberichte in Zeitschriften (Auswahl)

Abkürzungen

Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Afda Berlin 1876 1944. Wiesbaden 1948 ff.

Deutsche Literaturzeitung. Berlin 1880 1944, 1947 ff.

DLZ

Dichtung und Volkstum. Stuttgart 1934 1944

DuV

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft undDV Geistesgeschichte. Halle 1923 1944; Tübingen 1949 ff.

Erasmus. Speculum scientiarum. Bruxelles usw. 1947 ff.

Erasmus

Etudes Germaniques. Paris, Lyon 1946 ff.

Etudes

Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bamberg 1894; Euphorion Stuttgart 1933; Marburg 1950 ff. (Vgl. DuV)

The Germanic Review. New York 1926 ff.

GR

Helicon. Revue internationale des problèmes généraux de laHelicon littérature. Amsterdam und Leipzig 1939 ff.

The Journal of (English and) Germanic Philology. UrbanaJournal Ill. 1897 ff.

Literaturblatt für germanische und romanische Philologie. Lbl Leipzig 1880 1944.

Modern Language Notes. Baltimore 1886 ff.

MLN

The Modern Language Review. Cambridge 1906 ff.

MLR

Publications of the Modern Language Association of Ame-PMLA rica. New York 1886 ff.

Revue de littérature comparée. Paris 1921 ff.

Revue

Trivium. Schweizerische Vierteljahresschrift für Literatur-Trivium wissenschaft (und Stilkritik). Zürich 1942 ff.

Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft. ZfAesth Stuttgart 1906 1943.

Zeitschrift für deutsche Philologie. Halle 1869 1945; Stutt-ZfdPh gart 1947 48 ff.

E9

I. ALLGEMEINES

1. zur situation der literaturwissenschaft

Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder - und Fachwissenschaft. Sie gedeiht nur in der engsten Wechselwirkung mit den Nachbarwissenschaften und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte wesentlich nicht die Geschichte eines internen Fortschritts und einer Perfektion der Methoden, sondern zum guten Teil die Geschichte von Funktionen und Reaktionen geistiger Ereignisse außerhalb ihres engeren Bereichs. Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen bestimmt ist.

  Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder zu einer Besinnung auf jene erste glänzende Position in der Zeit von Kant und Herder werden. Seit diesem Ursprung ist umgekehrt die Literaturwissenschaft in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, an inverted pyramid of theory on a pin-point base of reality zu konstruieren (R. H. Fife) oder grandiose theories and pretentious verbalisms zu produzieren (Wellek - Warren). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde.

  Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft strahlte tief ins 19. Jahrhundert hinab, ja wurde im Raum der Geistes -10 und Geschichtswissenschaft durch Hegel zum imponierenden System verfestigt. Von allen Seiten aber regten sich auch die Kräfte, die es unterhöhlten, erschütterten und schließlich ins Unabsehbare sprengten, so sehr, daß nach zwei Weltkriegen nicht gesagt werden kann, ob sich das nach allen Seiten ins Offene zerfahrene Antlitz des Menschen in neuen Linien finden wird. Der Naturalismus, als symmetrische Gegenform dem Idealismus seit dem 18. Jahrhundert verbunden, übernimmt immer mehr die Rolle, den Menschen zu entlarven und ihm den Charakter des freien Vernunftwesens zu nehmen. Die mächtigen wirtschaftlichen, sozialen, technischen Umwälzungen drängen dieses jedenfalls in die Defensive, machen es zur Funktion unkontrollierbarer Mächte und lassen die Idee als Ideologie erscheinen. Mit Nietzsche tritt an die Stelle der Vernunft das Leben und eine entsprechende Umwertung der Werte, eine Verdächtigung des historischen Horizontes als ideologisch oder lebenshemmend und die forcierte Vision eines Übermenschen. Wenn schon Nietzsche in der menschlichen Seele eine Wirklichkeit sieht, die Vernunftsgesichtspunkten entrückt ist, so hat die Tiefenpsychologie durch die Entdeckung des Unbewußten und vor allem der niemals abgetanen, schichtenhaft in der Tiefe gelagerten und jederzeit wirksamen kollektiven, primitiven Welten des Seelischen die Grenzen des Wesens Mensch ins Unabsehbare ausgeweitet. Von entgegengesetzter Seite her, aber gegen das selbe Zentrum, stellt schließlich der Existentialismus Kierkegaards und seiner theologischen und philosophischen Nachfolger den Menschen in Frage, stellt ihn in die Bedrohung des Todes und des Nichts; sie sehen sein Wesen nicht im vernünftigen Erkennen oder schönen Gestalten, sondern in der Aktualität des sich einsam entscheidenden Daseins. Auch hier zerbricht die Geschichte als sinnvoller, objektiver Zusammenhang der Tradition, zerbricht Wahrheit als objektives geistiges System zugunsten einer nur im Gelebtwerden sich ereignenden Wahrheit; an Stelle der Tradition tritt die Wiederholung . Der Mensch findet seine Wirklichkeit nur in der Not des Augenblicks, in die er geworfen ist: hier aber bleibt der Weg offen, einerseits vielleicht in eine neue Glaubens - und Personlehre, anderseits in einem Nihilismus z. B. Jüngerscher Prägung, wo der Geist, auf dem magischen Nullpunkt , sich selbst in die Luft sprengt.

  Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall der idealistischen wie der positivistischen Erkenntnissysteme allerdings nicht nur ein Negatives: Der Weg wird frei für neue Erkenntnismöglichkeiten, sei es im Sinn einer phänomenologischen Wesensschau im Allgemeinen, sei es in der konkreten Erfahrung und Begriffsbildung der angewandten Wissenschaften. Die alte Kluft von Natur - und Geisteswissenschaften beginnt sich zu schließen; Begriffe wie Gestalt oder Symbol werden hier wie dort fruchtbar; hier wie dort wird der Standortbedingtheit des Erkennens11 ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler Ergründung der menschlichen Lebens - und Kulturerscheinungen ein physiognomisches Erkennen treten, wenn etwa bei Rudolf Kassner die Lehre von der Einbildungskraft zum Schlüssel einer umfassenden Erkenntnisweise eigener Art entwickelt wird1Eva Siebels, Sprache und Dichtung im physiognomischen Weltbild Rudolf Kassners. DV 19 (1941) 218 ff. Theodor Wieser, Die Einbildungskraft bei Rudolf Kassner. Studie mit Abriß von Leben und Werk. Diss. (Zürich) Lausanne 1949..

  Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration und Beleg zur Geistes - und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen mindestens gleich ursprünglich die Veränderungen an. Daß der klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des 19. Jahrhunderts, ihre Grundtrauer und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt, sich im naturalistischen Dichten tumultuarisch auflöst, bedarf keiner Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten, impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug der Dichtung vom Leben. Sie ist mißtrauisch geworden gegen die Kraft des Wortes und kann nur noch hoffen, sich selbst wie die entgleitende Welt wenigstens im schwebenden Hinhören auf die Empfindungen und Gefühle zu wahren und durch diese Rücknahme der Front wenigstens das Wort reinzuhalten und ihm die Möglichkeit einer Wiedergeburt von innen zu sichern. Wenn demgegenüber eine künstlerisch nicht allzufruchtbare Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des starken Lebens, der trotzigen Persönlichkeit oder gar der entfesselten Triebe frönte, so vermochte diese Überkompensation die fortschreitende Auflösung der menschlichen Person und allgemein ein pessimistisches Grundgefühl nicht zu verbergen. In den Explosionen des Expressionismus, der im ersten Weltkrieg seine äußere Bestätigung findet, ist beides: die Berufung auf die Ursprünglichkeit einer rational nicht mehr kontrollierbaren dichterischen Aussage wie auch der Aufweis einer in alle Elemente chaotisch zerstobenen Welt, in beidem die Rücknahme auf die dichterische Existenz als alleinige Wirklichkeit. Die großen dichterischen Werke der Zeit sind zu einem guten Teil Darstellungen von Untergängen, Höllenfahrten ins Reich12 des Todes, des Unterbewußten, des Kollektiven, des Zeitlosen, der religiösen Abgründe von Th. Mann und Hesse bis zu Rilke und Kafka, von Proust zu Joyce und doch überall zugleich in der verbissenen Hoffnung auf einen Umschlag , eine Transzendenz der Verzweiflung , im Glauben, daß die Tiefenfahrt zugleich eine Initiation bedeute und eine neue Integration des Menschen im Einzelnen und Ganzen einleiten könnte. Die Dichtung bringt sich vor unendliche neue Möglichkeiten und traut sich selbst hermetische, totenführerische Kräfte zu. Walther Rehm1Walther Rehm, Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis, Hölderlin, Rilke. Düsseldorf 1950. hat das Symbol vom Totenführer Orpheus in seinem Zusammenhang mit der Geschichte des dichterischen Selbstverständnisses beschrieben; die Beziehung des Dichters zum Tode ist nicht mehr ein Problem stofflich-gedanklicher Art, sondern für die moderne Dichtung seit 1800 unmittelbar konstitutiv, soweit diese sich selbst zum Gegenstand wird, sich selbst absolut setzt und damit ihre Größe wie ihre krisenhafte Grenze enthüllt. Wir sind damit schließlich hingewiesen auf einen innersten Kreis dichterischer Betätigung seit dem späteren 19. Jahrhundert, der sich vor allem in der Lyrik auftut: die Idee der poésie pure, der absoluten Poesie, die in exklusivster, strenger Arbeit die alchemistische Läuterung und Verwandlung der dichterischen Sprache und damit des Menschen unternimmt2Paul Valéry, Introduction à la poétique. Paris 1938, u. a. Werner Günther, Über die absolute Poesie. Zur geistigen Struktur neuerer Dichtung. DV 23 (1949) 1 ff. Dazu Carl Augstein und Replik Günthers a. a. O. 24 (1950) 144 ff. Ernst Howald, Das Wesen der lateinischen Dichtung. Erlenbach-Zürich 1948. Thierry Maulnier, Introduction à la poésie française. Paris 1939. Pierre Beausire, Essai sur la poésie et la poétique de Mallarmé. Lausanne 1942. Claude Roulet, Eléments de poétique Mallarméenne. Neuchâtel 1947. Claude - Louis Estève, Etudes philosophiques sur l'expression littéraire. Paris 1939.. Sie lebt ja nicht nur im Symbolismus, auch in der Kunst der Neuromantik, im Kult der Georgeleute, bei Rilke, in der Wortakrobatik des Expressionismus, im Surealismus. Und sie weiß um die Entdeckungen der Psychoanalyse vom offenbarenden Wesen des Symbols wie um die Einsamkeit der Existentialisten. Es entstehen dichterische Werke, die weder von der Idee noch von der Natur aus gerechtfertigt werden können, sondern nur phänomenologisch zu umschreiben sind als Manifestationen einer neuen Wirklichkeit, als neue Welt . Der Anspruch, daß das Werk ein absolut in sich selber ruhendes Phänomen sei, reine Form , ohne den Willen zu einer Aussage oder einer Wirkung, nur mit sich allein (Rilke), in der Spiegelung seiner selbst, als Rückzug auf die Poesie der Poesie , ist zweifellos ein Symptom für die Grenz - und Krisensituation eines weltlos gewordenen Geistes,13 in tiefer dialektischer Beziehung zum Nicht-Sein, zur Ohnmacht, zum Schweigen. Aber es ist auch unbestreitbar, daß damit die Aufgabe, Dichtung angemessen zu verstehen, radikal neu gestellt worden ist und der Literaturbetrachtung ganz neue Perspektiven eröffnet wurden.

  So hat, zwischen den Wandlungen des allgemeinen Welt - und Menschenbildes einerseits und den neuen dichterischen Sprach - und Gestaltungsformen andererseits, auch die Literaturwissenschaft als Vermittlerin zwischen dem theoretischen und dem gestalterischen Bereich einen weiten Weg zurückgelegt. Die moderne deutsche Literaturwissenschaft sieht sich immer wieder zurückverwiesen auf den Gründer einer neuen, ihrer selbst bewußten Geisteswissenschaft, Wilhelm Dilthey1O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie. Leipzig 1936. Wolfgang Erxleben, Um Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften. Kant-Studien . N. F. Bd. 42 (1942 / 43) 217 ff.. Sie orientiert sich am Gegensatz zu einer als positivistisch, empiristisch, kausalitätsgläubig verstandenen Naturwissenschaft. Gegen die positivistische Schererschule mit ihrer mechanischen Formel des Erlebten, Erlernten, Ererbten beharrt sie auf der Eigenart des geschichtlichen Geistes und klärt das Wesen historischen Verstehens als eines im fruchtbaren Kreislauf von Einfühlen und Auslegen erfolgenden, selbst geschichtlichen Prozesses. Dichtung wird im Sinne Goethes als Auslegung des Lebens aus ihm selbst verstanden, und das Erlebnis im weitesten Sinne erscheint als ihr eigentlicher, nicht mehr reduzierbarer Quellpunkt. Die Literarhistorie hat in sorgsamer Betrachtung der Werke und ihrer Entstehung im Zusammenhang der Lebensgeschichte des Dichters wie seiner Zeit die zentrale Erlebnisweise zu formulieren, ja schließlich auch gewisse Typen des Erlebens und der Weltanschauung herauszustellen und ihre Geschichte im Lauf der Jahrhunderte zu schreiben. Diltheys Rückgriff auf die Positionen der Goethezeit und des Idealismus wurde für die Literaturwissenschaft schicksalhaft. Der mysteriöse Begriff des Erlebnisses, zunächst nur ein Name für den Einheits - und Beziehungspunkt eines Werks oder eines Stils, verlockte zu einer unhaltbaren Systematisierung (z. B. Ermatingers Stoff -, Gedanken - und Formerlebnis, Gundolfs Ur - und Bildungserlebnis) oder verführt zum Abgleiten in rein biographische Erklärung . Anderseits liegt es nahe, die dichterische Äußerung zum Beleg von Weltanschauungen, die Dichtungsgeschichte zur bloßen Illustration einer an sich abstrakten Bewegung des objektiven Geistes, d. h. zu Ideen - und Problemgeschichte (Rudolf Un - ger, August Hermann Korff) werden zu lassen. Trotz des Versuchs, das Geschehen durch eine weltanschauliche Typologie zu organisieren, bleibt ein gewisser Wertrelativismus und Historismus bestehen und wird vor allem14 auch das eigentliche ästhetische Phänomen nach Art und Rang vernachlässigt. So hat man das harte Wort sprechen können, die geistesgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft die man außerhalb Deutschlands oft als spezifisch deutsch und metaphysisch empfunden hat sei das letzte Aufflackern eines senilen Idealismus (K. Vietor)1Karl Viëtor, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. PMLA 60 (1945) 899 ff. gewesen, und es werden nun dieser stolzen deutschen Wissenschaftstradition von existentialistischer (E. Lunding)2Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn 1946. wie von philologischer (E. R. Cur - tius) Seite aus Steine nachgeworfen.

  Während die Dilthey-Schule durch den Neukantianismus nur gestärkt werden konnte, wurde die Literaturwissenschaft von anderer Seite her betroffen von den Entdeckungen und Wandlungen, die das idealistische Menschenbild sprengten und damit auch das Dichtwerk in neue Zusammenhänge rückten. Damit sind die mannigfachen Tendenzen gemeint, die weniger die Vernunftidee hinter dem Kunstwerk erblicken als vielmehr Mächte kollektiver Art. Es wurde zum Exponenten sozialer Zusammenhänge im Einzelfall wie auch in der geschichtlichen Entwicklung gemacht, im Grenzfall schließlich, allerdings erst in neuerer Zeit, gar im marxistischen Sinn. Das Gegenüber einer empiristisch-naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Psychologie wurde durch die Tiefenpsychologie (Literatur siehe unten) überwunden. Auch wenn die schulmäßige Psychoanalyse mit ihren literaturwissenschaftlichen Anwendungen (z. B. O. Rank) mindestens in Deutschland wenig erfolgreich war, so wurde doch gerade im Zusammenhang mit dem Expressionismus das Gewicht auf die anonymen, primitiven, kollektiven Gründe gelegt. Entweder wird der Dichter selbst zum Ekstatiker, zum Mystiker oder Magier gemacht (etwa bei Muschg) oder der Einzelne sinkt zurück zur bloßen Oberfläche eines Kollektivs fast biologischer Art, wie bei Nadler oder gewissen Formen volkhafter Literaturwissenschaft. Fruchtbarer wurden die Ansätze der Schule C. G. Jungs mit ihrer Lehre von den Archetypen und dem Individuationsprozeß.

  Auch bei diesen Methoden ist die Gefahr gegeben, daß nun wiederum der eigentliche Gegenstand: das dichterische Werk und die Gesamtheit der dichterischen Werke, im Grunde verfehlt, d. h. mit kunstfremden Kategorien betrachtet wird. Der wohl entscheidende Anstoß dazu, die Dichtung wieder an sich und in sich selbst ernst zu nehmen, kam aus der Literatur15 selber. Die Schule Stefan Georges1H. Rössner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1938. (Friedrich Gundolf, Ernst Bertram, Max Kommerell u. a.) kam einerseits vom französischen Symbolismus, anderseits von der antihistorischen Lebensphilosophie Nietzsches her, fühlte sich aber, über Dilthey, auch dem Idealismus verpflichtet. Sie erwarb sich das Verdienst, mit dem größten Nachdruck hinzuweisen auf die Unbedingtheit der reinen dichterischen Gestalt, ihre maßgebende, werthafte Bedeutung. In Konzentration auf verhältnismäßig wenige, aber z. T. neu entdeckte monumentale Figuren gibt sie ihre Darstellung von einem archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters her, ja deklariert sie sogar schließlich als Mythus . So überspringt sie das Problem der Historie. In ihren monumentalen, von innen geschriebenen Biographien werden allerdings Werk und Person, als die eine Gestalt, kaum getrennt. Sie läuft zwar Gefahr, im Stil ihrer Darstellung Wissenschaft und dichterischen Mythus zu verwischen, aber hat dafür bis auf weiteres der literaturwissenschaftlichen Sprache eine neue Würde und ein neues Verantwortungsgefühl mitgeteilt.

  Inzwischen wirkten innerhalb der Wissenschaft selbst andere Kräfte in ähnlicher Richtung. Hatte die Dichtung selber versucht, die Urspünglichkeit und Unersetzbarkeit des Kunstwerks zu legitimieren, so trat dieses auch dem Betrachter als Gebilde eigenen Rechts entgegen. Es war zuerst in der Kunstgeschichte der Fall, wo der Werkcharakter des Kunstgebildes sich unmittelbarer aufdrängte als in der Literaturwissenschaft, die dem Wesen des Wortes entsprechend eher dazu neigen mußte, das Mitgeteilte anstelle der Mitteilung, den Dichter anstelle des Werks und die Idee anstelle der Form zu betrachten. So waren es Wölfflins Grundbegriffe, die zu Analogien literaturwissenschaftlicher Art verlockten, sei es zu einer entsprechend entwickelten Typologie der Stile (Strichs Klassik und Romantik), sei es überhaupt zur Parole einer wechselseitigen Erhellung der Künste (O. Walzel). Ein neues Sehen-Können, einen Sinn für das Kunstgebilde der dichterischen Gattung und die Gehörgröße des Verses hatte inzwischen ein Andreas Heusler gleichsam in aller Stille praktisch bewährt. Eine bloße Übertragung literaturfremder Kategorien aus der Kunstgeschichte konnte allerdings auch zur Verwirrung, d. h. einer bloß metaphorischen Terminologie führen; auch hat die Dichtung andere Formen der geschichtlichen Tradition als die bildende Kunst (worüber neuerdings E. R. Curtius handelt). So war der eigene Werkstoff der Dichtung, d. h. die Sprache, mit ihren spezifischen Leistungen und Gesetzmäßigkeiten in Untersuchung zu ziehen; stilistische Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie (Bally, Vossler, Cassirer) wurden zur Grundlage auch der Literaturkritik. 16Darüber hinaus wurde das Problem der dichterischen Gattungen und Arten wieder aktuell, sei es, daß man historisch das Walten morphologischer Gesetzmäßigkeiten in Gattungsgeschichten aufzuzeigen suchte oder eine solche Morphologie systematisch erstrebte. Daß dabei Goethes naturwissenschaftliche Morphologie und Typenlehre so bei Ermatinger und neuerdings wieder bei G. Müller zu Gevatter stand, war für die Germanistik naheliegend, aber doch eine Art Rückfall in den Idealismus.

  Stärkere Anstöße gingen wohl von den modernen philosophischen Bewegungen aus. Die phänomenologischen Untersuchungen über die Seinsweise des Dichtwerks und des dichterischen Gegenstandes (z. B. Roman Ingarden) oder überhaupt über die Struktur des personalen, objektiven und objektivierten Geistes (Nicolai Hartmann) zeigten, welche Problemfülle hier verborgen lag. Der Existentialismus schließlich hat nicht nur zu einer politisch-volksmäßigen Aktualisierung geführt, sondern auch zu legitimeren Ergebnissen. Entscheidend geworden ist hier die Wendung, die Martin Heidegger1Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a. M. (1944). Ders., Holzwege. Frankfurt a. M. (1950). Martin Heideggers Einfluß auf die Wissenschaften. Festschrift aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages. Bern 1949. seit den Dreißigerjahren von der Metaphysik zur Interpretation des Phänomens Dichtung geführt hat, in seinen Erläuterungen zu Hölderlin als dem Dichter des Dichters wie in seiner Abhandlung zum Ursprung des Kunstwerks. Die Dichtung erhält selbst eine Schlüsselstellung in der Auslegung des menschlichen Daseins; jenseits idealistischer oder psychologisch-historischer Ansätze wird Dichtung wieder radikal als ursprunghaftes Geschehen, als worthafte Stiftung des Seins und nicht nur als Ausdruckserscheinung oder Kulturleistung unter anderen begriffen. Die phänomenologische Beschreibung des Kunstwerks erhält damit eine neue Begründung, traditionelle literaturwissenschaftliche Termini wie Stil, Gattung, Stimmung erhalten im Rahmen der Existentialphilosophie einen neuen Inhalt. Diesen zu umschreiben war die Leistung verschiedener selbständig fortschreitender Gelehrter, die innerhalb der Literaturwissenschaft selbst eine neue poetische Stilkritik begründeten, die über die bisherige kunstgeschichtliche oder linguistische Stilistik hinausging (J. Pfeiffer, Kom - merell, Staiger u. a.). Es fehlte auch nicht an Versuchen, das Problem einer existentialistischen Ästhetik wieder direkt von Kierkegaard aus zu stellen2Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn 1946. Willi Perpeet, Kierkegaard und die Frage einer Ästhetik der Gegenwart. Halle 1940.. Schließlich muß auch J. P. Sartre erwähnt werden. Wenn hier17 an die Stelle der absoluten Poesie die littérature engagée tritt, als Tun des sich jederzeit aus dem Nichts selbst verwirklichenden Menschen, so rückt doch auch von hier aus der Gedanke des Stils und der Stilkritik in den Vordergrund1Erich Brock, Zum Problem der Stilkritik. Trivium III (1945) 72 ff. (Zu L'être et le néant ). J. P. Sartre, Qu'est-ce que la littérature. 10. Auflage. Paris 1948..

  Daß es die Dichtung zu tun hat mit dem Grundvorgang des menschlichen Daseins selbst (Th. Spoerri), ist heute wohl zu einer fast allgemeinen Überzeugung oder doch zu einer allgemeinen Arbeitshypothese geworden. Daß Dichtung verstehen auch sich selbst zu verstehen heißt, ist wohl nirgends so energisch betont worden wie eben bei Spoerri2Theophil Spoerri, Die Formwerdung des Menschen. Berlin 1938. Die Struktur der Existenz. Zürich 1951., der ausgehend von Kierkegaard, Kassner, Heidegger sein Programm einer interpretatorischen Methode in unmittelbarer Bezugnahme auf die religiöse und kulturelle Krise der Gegenwart erhebt und das Kunstwerk als Schlüssel, Vorbild und Anruf zur Selbstverwirklichung des Menschen deutet. Er trifft sich darin mit Gaston Bachelards3Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière. Paris 1942. Ders., La Psychanalyse du feu. Paris 1938. Ders., L'air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement. Paris 1943. Bestimmung der Einbildungskraft, der Imagination als menschliche Existenz selbst, als force d'unité de l'âme, als principe totalisant du monde. Bachelard entwickelt daraus eine geistreich-dichterische cosmologie du rêve, indem er die Materialisation der Einbildungskraft in den dichterischen Bildwelten der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft verfolgt. Diese Bücher sind kennzeichnend für den nicht mehr systematischen, sondern physiognomischen, dichterisch-dynamischen Charakter, den die moderne Kunstinterpretation in vielen Fällen annimmt. Einbildungskraft muß als ein Geschehen nachvollzogen werden, ist nicht als ein Sein zu begreifen.

  Auch wo die Literaturwissenschaft als Schultradition nicht soweit ging, folgte sie doch im allgemeinen dem Ruf, zu den Sachen selbst zurückzukehren, und widmete sich in steigendem Maß einer interpretierenden, stilkritischen Werkbetrachtung. Sie bleibt freilich meistens nicht bei der bloßen Werkerhellung stehen, weniger als sie es gelegentlich wahrhaben will; es werden Kategorien entdeckt und erprobt, die für die Erkenntnis des poetischen Gebildes überhaupt und damit für eine grundsätzliche neue Poetik wesentlich sind.

  Eine gewisse Begriffsverwirrung ist hier allerdings bei den verschiedenartigen Existentialismen der Gegenwart offensichtlich, wenigstens dort,18 wo es sich um abstrakte Programme und nicht um die konkrete Arbeit an der Dichtung selbst handelt. Horst Oppel1Horst Oppel, Die Literaturwissenschaft in der Gegenwart. Methodologie und Wissenschaftslehre. Stuttgart 1939. hat 1939 die verschiedenen methodischen Positionen der Literaturwissenschaft im Rahmen einer allgemeinen Wissenschaftslehre beredet und diskutiert, ohne allerdings ein eigenes System zu entwickeln. Er orientiert sich ähnlich wie Pongs am Begriff einer existentialistischen Forschung, d. h. der Erforschung der symbolischen Existenz des Dichtwerks , also gleicherweise einer Untersuchung des Lebens der künstlerischen Form , wie der darin zu findenden Gestaltung von Mensch und Menschenwelt in ihren tragenden Kräften, von der unaufhebbaren Verzweiflung des Einzelnen bis zur richtenden und ordnenden Gewalt des in Volk und Staat verkörperten Miteinanderseins 2Hermann Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. DuV 38 (1937) 1 ff., 273 ff.. Es ist amüsant zu sehen, wie dies von nazistischer Seite3ZfdPh 65 (1940) 194 ff. als überwundener Standpunkt eines neugierigen Individualismus abgelehnt wurde, wogegen E. Lunding darin einen Verrat am echten Kierkegaardschen Existenzbegriff feststellte.

  Hier ist nun auch der Ort, auf das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft zwischen 1933 und 1945 einzugehen. Vor allem in der germanistischen Wissenschaft ist hier von außen durch staatliche Gewalt und von innen durch eine Art Psychose das freie Spiel der Kräfte gelähmt worden. Innerhalb einer seit der Neufundierung der Geisteswissenschaften besonders im Laufe der 1920er Jahre reich und verwirrend entwickelten Fülle der Gesichtspunkte und Methoden bildet sich eine mehr oder weniger offizielle, der politischen Macht konforme Richtung immer stärker aus. Die Suggestion einer volkhaften oder politischen Orientierung als Gebot der Stunde bemächtigt sich auch ehrenwerter Gelehrter; die problematisch gewordene Vielfalt der Gesichtspunkte, die in Deutschland typische Überlastung der Geisteswissenschaften mit Metaphysik verführt zu einer Überkompensation: man findet im volksmäßigen Gedanken den Ausweg und setzt anstelle des wissenschaftlichen Selbstzwecks den Dienst an der Nation (Heinz Kindermann). Der freiwillige Abbau der Kultur wird durch äußere Eingriffe verstärkt. Entlassungen, Emigration, Drohung, physische Vernichtung zerstören und verfälschen das Leben der Wissenschaft vollends.

  Bei dem nun einsetzenden Zwischenspiel einer volkhaften Literaturwissenschaft oder wie immer sie sich nennt, handelt es sich um zwei19 mannigfach verquickte und oft sich widersprechende Haupttendenzen, die den beiden ideologischen Hauptrichtungen des Nationalsozialismus entsprechen. Die eine ist mehr romantischer Art (Stamm und Landschaft, Blut und Boden, Rasse), die andere ist mehr politisch-aktivistisch und macht auch die Wissenschaft zur Waffe im imperialistischen Kampf.

  Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften1Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (= 4. Aufl. ), 4 Bände. Berlin 1939 1942. Gisela von Busse, Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. DV 16 (1938) 258 ff. war zunächst, als ein Repertorium der Obskuren, als Enthüllung vergessener Zeiten, Zonen und Mächte, scheinbar das Zeugnis eines katholisch-romantisch orientierten Föderalismus. Bei aller Fragwürdigkeit der Prinzipien Mythologie statt Wissenschaft, Geopolitik statt Literaturgeschichte, Verlust jedes Wertstandpunktes, trügerische Zirkelschlüsse im Verhältnis von Einzelerscheinung und Stammes - oder Landschaftsgeist verlieh es doch dem Geschehen der Literaturgeschichte einen neuen Zauber, eine neue Atmosphäre und Dynamik, die selbst einen Hofmannsthal fesselten. Die Verschwommenheit der Prinzipien und die Willkür der Synthese machten es aber möglich, daß die zweite Auflage mit verändertem Titel nun plötzlich den politischen Aspekt enthüllen konnte. Jetzt ist vom Weltvolk der Deutschen , seinem Weg zum Staat die Rede, ein Judenkapitel kommt hinzu, und es ist versäumte Welt , was wie die Schweiz nicht mitmachen wollte. So gleitet, was sich zunächst als Erbe großer Herderscher Konzeptionen zeigen mochte, ab in Rassenlehre und Biologie und wird zum Handlanger der totalitären Ideologie. Nachdem schon früher, u. a. von Muschg2Walter Muschg in Basler Nachrichten 1937 Nr. 359., die Schwächen Nadlers enthüllt worden sind, ist neuerdings ein heftiges Strafgericht erfolgt3Otto Nickel, Literaturgeschichte hintenherum etc. Die Wandlung I (1945 / 46) 383 ff. Kurt Rossmann, Über nationalistische Literaturgeschichte. a. a. O. 870 ff..

  Als Vertreter einer fast biologischen Mystik des Volkstums und seines Plasmas tritt ein E. G. Kolbenheyer in den Vordergrund. Sein weltanschaulicher Jünger Franz Koch4Franz Koch, Geschichte deutscher Dichtung. Hamburg 1937. bezieht den weit wirkenden Berliner Lehrstuhl und organisiert eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Unternehmungen, die dem Deutschen der deutschen Dichtung gelten, wobei schon die Unterscheidung von deutsch und artgemäß deutsch alles besagt. Einer Deutschen Literaturgeschichte folgt ein nicht mehr vollendetes20 Handbuch des deutschen Schrifttums1Handbuch des deutschen Schrifttums, herausgegeben von Franz Koch, Ludwig Wolff, Clemens Lugowski, J. Obenauer. Potsdam 1939 ff. und das große Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung2Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Herausgegeben von Gerhard Fricke, Franz Koch u. Clemens Lugowski. 5 Bde., Stuttgart 1941., mit dem Auftrag, dem Erz unserer Sprache und Dichtung, dieser Selbstoffenbarung der deutschen Seele, deutscher Art, das reine Gold ihres Wesens abzugewinnen . Der Anblick gehört zum Bemühendsten, wie hier nicht nur die neue Garde, sondern auch beste Namen und mit ehrlich-wissenschaftlichen Mitteln sich an der großen petitio principii beteiligen. Daß somit in diesen Bänden auch beste Tradition steckt, gilt ebenso vom Handbuch .

  In programmatischen Erklärungen und Darstellungen auf deren Titelangabe hier verzichtet sei , haben gleichzeitig u. a. Walther Lin - den, Helmut Langenbucher, K. J. Obenauer und vor allem Heinz Kindermann den volkheitlichen Gedanken für die Literaturwissenschaft propagiert. Völkische Lebenswissenschaft heißt das Schlagwort Kin - dermanns, des Leiters des großen Sammelwerks Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, welches seinerseits zeitgemäß umorganisiert wurde. Es ist unverkennbar, wie gefährlich hier der Begriff Lebenswissenschaft ausgeweitet wird. Er geht weit über das hinaus, was bisher im Gefolge Diltheys oder selbst Nietzsches als Wissenschaft vom geschichtlich-seelischen Leben verstanden war, denn Leben ist hier Leben der Nation und nicht als Gegenstand, sondern als Zweck der Wissenschaft begriffen. Literaturwissenschaft wird ideologische Begleitmusik zur Politik. Ebenso ist die vom Expressionismus herkommende lebenswissenschaftliche Theorie Herbert Cysarz '3Herbert Cysarz, Das Unsterbliche. Die Gesetzlichkeiten und das Gesetz der Geschichte. Halle 1940. Ders., Das deutsche Schicksal im deutschen Schrifttum. Leipzig (1942). in diesem Sinne radikalisiert; der Barock - und Schillerdarsteller huldigt einem geradezu ekstatischen Einsgefühl zwischen geschichtlichpolitischem Leben und wissenschaftlichem Erkennen und hier wieder zwischen Natur - und Geisteswissenschaft, zwischen Ich und Gemeinschaft; die Sprache der Wissenschaft selbst wird unkontrollierbar und enthusiastisch verzückt.

  Auch bei dem existentialistischen Ansatz freilich war bei dem zunächst rein formalen Ruf nach einer Literaturwissenschaft, die ihren Nachdruck von einem selbst in die Entscheidung gerissenen Tun (Fritz Dehn)

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empfangen sollte, die Gefahr eines Sprungs in die völkische Dynamik naheliegend. Die Zeitschrift Dichtung und Volkstum, zeitgemäß und eilig umgetauft aus dem ehrwürdigen Euphorion (wie er inzwischen von neuem heißt), widmete 1937 mehrere Aufsätze den neuen Aufgaben der Literaturwissenschaft . Hermann Pongs setzt da der krisenhaften Einsamkeit der dichterischen Existenz die Geborgenheit des Dichters im Existenzgrund gegenüber, der sich zeigt als gewachsenes Gefüge, das den Einzelnen trägt, Sippe, Stamm, Volk , und er will damit der existentialistischen Literaturforschung einen volkhaften Sinn verleihen. Es eröffneten sich hier die gleichen Gefahren und Mißverständnisse, denen die Heideggersche Philosophie und ihr Schöpfer selber anheimfielen. Was Pongs betrifft, so spricht Werner Richter1Werner Richter, Strömungen und Stimmungen in den Literaturwissenschaften von heute. GR XXI (1946) 81 ff. nicht ganz zu Unrecht von seiner tragikomischen Vergewaltigung, seinem totalen Mißverstehen des, Existentiellen‘ , und das beträfe zum Teil auch den genannten Horst Oppel.

  Es ist klar, daß sich die Kritik am Volkstumsgedanken nur gegen einen unwissenschaftlichen oder böswilligen Mißbrauch einer an sich durchaus legitimen Fragestellung richtet; die Bemühung um Wesen und Art des gemeinschaftlichen Geistes, speziell des Volkstums und seiner Beziehung zum Einzelnen, wird durch ideologische Verabsolutierung nicht prinzipiell als Irrweg erwiesen, sowenig wie mit einer marxistischen Literaturbetrachtung auch schon die legitime Frage nach sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen der Kunst abgelehnt ist. Im übrigen ist festzuhalten, daß trotz der geräuschvollen Proklamation einer offiziellen Literaturwissenschaft, trotz aller Eingriffe in die Lehrfreiheit und trotz aller Hindernisse die methodologische und sachliche Forschung zum Teil fortgehen konnte, innerhalb Deutschlands und außerhalb, wo manche Vertriebene, z. B. Richard Alewyn, Karl Viëtor, Erich Auerbach, Werner Richter, Leo Spitzer, Werner Milch, die Tradition deutscher Wissenschaft fortsetzen und neue Verbindungen mit der außerdeutschen Forschung knüpfen konnten.

  Es ist nicht ganz unrichtig, wenn für das Debakel der deutschen Literaturwissenschaft deren allzu geistes - wissenschaftliche Tendenz verantwortlich gemacht wurde und selbst Linien von Herder zur nazistischen Literatur gezogen werden konnten. Die eingetretene Ernüchterung kann nun umgekehrt eine größere Offenheit und methodische Unbefangenheit gegenüber den wissenschaftlichen Traditionen anderer Länder befördern. Um so mehr, als diese ihrerseits, vor allem im angelsächsischen Bereich, eine lebendige und vielfältige Forschung gerade in den letzten 20 Jahren entwickelt haben.

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  Ein Blick in das noch zu besprechende Buch von Hyman1Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. New York 1948. (vgl. unten S. 27 f.) zeigt die erfrischende Originalität und metaphysische Unbelastetheit der angelsächsischen Forschung2Literary History of the United States. Edited by Robert E. Spiller, Willard Thorp (u. a.) 3 vols. New York 1948 (Bibliographie!). Fred B. Millett, Contemporary American authors. A critical survey (Kapitel über Criticism). New York 1940. J. H. O'Leary, English Literary History and Bibliography. London 1928. Max Ertle, Englische Literaturgeschichtsschreibung. Ästhetik und Psychologie in ihren Beziehungen. Ein Beitrag zur Methodik der englischen Literaturwissenschaft. Diss. Berlin 1936. H. W. Häusermann, Studien zur englischen Literaturkritik 1910 1930 (Kölner anglistische Arbeiten 34). Bochum - Langendreer 1938., die sich nicht scheut, dem lebendigen menschlichen Phänomen der Literatur von allen, auch den nichtliterarischen Seiten her, auf den Leib zu rücken. Als die grundlegenden Mächte werden dabei von Hyman die vier Namen Darwin, Freud, Marx und Frazer genannt (mit welcher Ansicht er freilich kaum repräsentativ sein dürfte). Aber trotzdem geht es dabei nicht um eine Auslieferung der Literaturwissenschaft an einen Soziologismus und Psychologismus, sondern gerade um die Erfassung der Literatur als lebendiger Realität in dem immer sozialen Ganzen der menschlichen Kultur. Unter dem von R. C. Ransom geprägten Begriff eines New Criticism festigt sich das Bewußtsein einer Literaturwissenschaft, die mit exakten, aber nicht mehr positivistischen Methoden ihren eigenen Gegenstand, die Dichtung als solche, erforscht und zwar in unmittelbarer Beziehung zu den neuen Aspekten der zeitgenössischen Dichtung selber. Auch in Amerika besteht ein Konflikt zwischen Criticism und Scholarship, d. h. einer Arbeit, die kritisch-pädagogisch den Werten lebendiger Literatur gewidmet ist, interpretieren, verstehen, werten will, und einer akademisch-historischen Forschung im engeren Sinne. Über diesen Gegensatz und das methodologische Malaise, das damit verbunden ist, orientieren u. a. Lange-Boeschenstein3Victor Lange und Hermann Boeschenstein, Kulturkritik und Literaturbetrachtung in Amerika. Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker. B. Germanistische Reihe XXIX, Breslau 1938. und das von Norman Foerster herausgegebene Werk4The Study of Letters. Literary Scholarship. Its Aims and Methods. By Norman Foerster, John C. Mc Galliard, R. Wellek, A. Warren, W. R. Schramm. Chapel Hill 1941.. Große Gestalten der deutschen Dichtung haben auch in englischer Sprache ihre moderne, werknahe Interpretation gefunden, vor23 allem Goethe durch Barker Fairley, dann Stifter durch Blackall oder Hölderlin durch Peacock1Barker Fairley, Goethe as revealed in his Poetry. London-Toronto 1932; A Study of Goethe. Oxford 1947. Ronald Peacock, Hölderlin. London 1938. E. A. Blackall, Adalbert Stifter. Cambridge 1948..

  In Frankreich2Fernand Baldensperger, La critique et l'histoire littéraire en France au 19e et au début du 20e siecle. New York 1945. Philippe van Tieghem, Petite histoire des grandes doctrines littéraires en France: de la Pléjade au surréalisme. Paris 1946. blieb die methodologische Diskussion im allgemeinen im Hintergrund, aber eine schulmäßige Tradition der stilistischen explication des textes und ein hoher Stand der freien und unmittelbaren literarischen Kritik hat die Forschung trotz aller positivistischen Erbschaften in der sachnahen Beschäftigung mit dem Werk und der lebendigen Dichtung gehalten. Die theoretische Diskussion der symbolistischen und surrealistischen Dichtung bat ihrerseits den Boden zum Verständnis des absoluten Wortes bereitet, und Bergson und der Existentialismus sind die Voraussetzung einer geistreichen Interpretation mit modernen Kategorien, wie sie z. B. Gaston Bachelard vertritt. Im historischen Bereich ist es der Komparatismus, der die Sprachgrenzen offenhielt und ein für die Zukunft wesentliches Programm begründete. Wenn schließlich in Italien3Luigi Russo, La critica letteraria contemporanea. 3 vol. Bari 1942 f. Giovanni Getto, Storia delle Storie Letterarie. Milano 1942. (Idee Nuove XVI). wohl die Schule B. Croces die große Dominante ist, bleibt damit auch hier die Kritik auf die unersetzbare Eigenleistung der Poesie gerichtet.

  So ist es wohl kein Wunschdenken, wenn man im allgemeinen4Vgl. auch die Artikel French Criticism, Italian Criticism usw. in Shipleys Dictionary of World Literature. , trotz aller Katastrophen der letzten 15 Jahre, eine gewisse Konvergenz der literaturwissenschaftlichen Forschung in den verschiedenen Ländern feststellen kann. Es ist, vorsichtig umschrieben, eine gefestigte Überzeugung von der Eigengesetzlichkeit und der Aktualität der Dichtung; es ist der Wille, in enger Fühlung mit der zeitgenössischen Dichtung selbst Dichtung um ihrer selbst willen zu begreifen und doch den Blick für ihre Funktion im ganzen menschlichen Dasein offenzuhalten, und es ist das Bewußtsein von der Notwendigkeit, Ideologien irgendwelcher Art zu vermeiden und vor allem auch das bloß nationale Denken in der Organisation der Wissenschaft selbst zu überwinden.

  Wenn heute die Theorie der Literatur zweifellos mehr dem Wesen als der Geschichte der Dichtung gilt und Literarhistorie in den Hintergrund24 getreten ist, so ist damit das Problem einer historischen Synthese keinswegs überholt. Gewiß sind Begriffe wie Fortschritt oder Entwicklung für die Literaturgeschichte fragwürdig geworden; die geschilderten Wandlungen im Bild des Menschen, die neue Fassung des Begriffs der Zeit und die Relativierung des Bewußtseins lassen keine schön konstruierte Geistesgeschichte mehr zu. Aber die Existenz eines höheren Zusammenhangs, zu welchem sich die dichterischen Werke in zeitlichen Verläufen und zusammengehörigen Gruppen vereinigen, ist damit nicht widerlegt; die geschichtliche Dimension des Einzelwerks selbst ist nicht zu übersehen. Von der bloßen Geschichtlichkeit der geworfenen Einzelexistenz ist wieder zur Geschichte selbst vorzudringen. Ein Neuaufbau der höheren geschichtlichen Einheiten wird erfolgen müssen, sowahr dieser Neubau auch in den übrigen Bereichen des menschlichen Lebens erstrebt wird. Als negativer Anstoß dazu wird wirken, daß die traditionellen Ordnungsprinzipien der nationalen Literaturhistorien nicht nur auf Grund politischer Erfahrungen, sondern im Lauf der Forschung selbst zweifelhaft geworden sind. Positiv aber die Einsicht, daß die Literatur eine ist, Weltliteratur ist und mindestens europäische Literatur nicht nur eine Idee, sondern eine konkrete geschichtliche Wirklichkeit bedeutet. Die beiden Aspekte des Kunstwerks, seinen unerklärlichen Ursprung und sein Angewiesensein auf die soziale Welt und auf seinen geschichtlichen Traditionszusammenhang, seinen Werk - und seinen Wirkungscharakter zusammenzusehen als Dauer und Wechsel, Sein und Werden zugleich, das ist höchste einheitliche Aufgabe der Literaturwissenschaft.

  In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß die Entfaltung einer einzigen Literaturwissenschaft nach verschiedenen Aspekten, die aber zusammengehören, so wie beim Menschen Leib, Seele und Leben zusammengehören.

  Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am konkreten Text, d. h. Philologie im engeren Sinne von Textkritik und Editionstechnik (II).

  Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs - und Seinsweise, von den Strukturen und Erscheinungsformen des dichterischen Werks, d. h. Poetik (III).

  Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, von ihrer zeitlichen und räumlichen Gruppierung, d. h. Literarhistorie (V).

  Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, die das Werk auf seine persönlichen und kollektiv-seelischen und sozialen Funktionen hin erkennen und damit teilweise über den Rahmen der Literaturwissenschaft im strengen Sinne hinausführen, aber auch, da sie den Träger der Dichtung, den Menschen, ins Auge fassen, sowohl die25 Poetik wie die Historie der Dichtung auf einen gemeinsamen Hintergrund beziehen (IV).

2. systematik der literaturwissenschaft

Die moderne Literaturwissenschaft ist als einer der wichtigsten Exponenten des geschichtlichen geistigen Lebens in steter Bewegung und Offenheit nach allen Seiten. Sie hat dies selbst gerechtfertigt durch den Aufweis ihres existentiellen Charakters. Aber wenn sie auch auf eine Systembildung verzichten zu müssen meint, so ringt sie doch immer um den Begriff ihrer selbst und organisiert sich mit einem Programm immer wieder praktisch im Betrieb von Studium, Lehre und Forschung. So darf zunächst die Frage nach einer Gesamtdarstellung ihrer Prinzipien und Ziele, ihrer Methoden und Hilfsmittel erhoben werden. Ohne weiteres nützlich und möglich sind Gesamtdarstellungen als Übersicht über die wissenschaftliche Literatur, als Charakteristik wissenschaftlicher Schulen oder als lexikalisches Verzeichnis ihres Fachvokabulars und seiner Inhalte; problematischer aber ist es nun eben, eine umfassende und systematische Synthese der verschiedensten Gesichtspunkte und Methoden der Literaturforschung zu unternehmen. Selbst die Beschränkung auf die philosophischen Voraussetzungen der Literaturwissenschaft ist nur möglich im Rahmen einer bestimmten Philosophie; so unternimmt die Dissertation von H. Schweizer1Hans Schweizer, Die theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft. Diss. Zürich 1944. zwar den löblichen Versuch, die Gesamtheit der literaturwissenschaftlichen Probleme des Werks, des Schaffens, der Geschichte einheitlich zu klären, bewegt sich aber im Bereich der geisteswissenschaftlichen Schule von Dilthey bis Ermatinger und bleibt damit doch wohl zurück hinter den heute aktuellen Problemstellungen.

  Der Berliner Ordinarius Julius Petersen hat als Abschluß eines reichen Lebenswerkes, das nicht zuletzt der Organisation der deutschen Literaturwissenschaft gewidmet war, den bisher umfassendsten Versuch eines solchen Systems vorgelegt2Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. Bd. 1: Werk und Dichter. Berlin 1939.. Es ist im Ziel nur vergleichbar Ernst Elsters zweibändigen Prinzipien der Literaturwissenschaft (1897 u. 1911), einem Werk, das von der Psychologie Wundts her einen umfassenden Aufriß der Wissenschaft geben wollte, sich allerdings dann im engeren Rahmen einer psychologischen Poetik und Stilistik halten mußte. Andere methodologische Werke griffen zur Form einer Behandlung ausgewählter Probleme26 durch verschiedene Fachleute (Emil Ermatingers Philosophie der Literaturwissenschaft, 1930) oder gaben bloß eine Orientierung über die Lage durch eine Diskussion der aktuellen Strömungen und einen historischen Rückblick (so Werner Mahrholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, Leipzig 1932). Petersens monumentales Werk ist nicht zu Ende gekommen; dem ersten Band, der nach einem historischen Rückblick die Probleme des Werks und des Dichters behandelt, sollte ein zweiter folgen, dessen drei Hauptteile den Ordnungen (Raum, Zeit, Gesellschaft, Geist), dem Problem Völker und Zeiten (nationale Literaturgeschichte, Geistesgeschichte und Stilgeschichte, Literaturvergleichung, Weltliteratur) und schließlich den Fragen der Darstellung (Standort, Einfühlung und Intuition, Aufbau, Sinn der Literaturwissenschaft) gewidmet sein sollten. Petersens Tod hat die Vollendung des Werks verhindert.

  In seinem Buch Wesensbestimmung der deutschen Romantik hatte Pe - tersen an einem Beispiel unternommen, die verschiedensten Erkenntnisse und Methoden der Forschung zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Auf breitester Front wird jetzt versucht, dies für die Literaturwissenschaft überhaupt zu leisten: Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe , Ausgleich zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen , Kritischer Überblick über alle Methoden , in einer Verbindung von Rückschau, Umschau und Ausschau , so heißt das Programm. Ein ungeheures Material ist scharfsinnig und glänzend in wohlproportionierten Teilen und Stufen geordnet, von den einzelnen technischen Fragen der Textherstellung über Werk und Dichter zu den großen historischen Ordnungen, worauf im letzten Abschnitt Darstellung die Wissenschaft gleichsam in sich selbst zurückkommen sollte. Historische Darstellung, Referat der verschiedenartigen Forschungen, Diskussion der Widersprüche und eigener Systembau sollen in Einem gegeben werden.

  Eine systematische Bibliographie hat Petersen zwar nicht beabsichtigt. Dennoch liegt der unmittelbarste Nutzen des Werks im Erschließen der Hilfsmittel und im gewonnenen Überblick über die Möglichkeiten literaturwissenschaftlicher Forschung überhaupt. Problematischer ist die systematische Seite, denn Handbuch und System sind nicht dasselbe. Auch wenn keine Wissenschaft möglich ist ohne Gespräch, ohne Ausgleich und Verständigung, so ist doch die Vorstellung eines Systembaus, in welchem auch noch das abgelegenste Steinchen seinen Platz fände, zweifelhaft geworden. Ein solcher Kosmos der Methoden bleibt eine Abstraktion, ja eine Illusion; es ist eine rein formale Kombinatorik, der die vorliegenden Methoden und Ergebnisse gleichsam post festum unterworfen werden, ohne auf eine gemeinsame Mitte bezogen zu werden; manche Positionen und Begriffe werden durch ihre Einordnung ins System geradezu um ihren27 Sinn gebracht (z. B. Existenz, Stil). Wenn Petersen von den Begriffen der Ermatingerschen Poetik meint, es sei möglich, beinahe den ganzen Schaffensvorgang an diesen Anhaltspunkten wie einen Rosenkranz herunterzubeten , so erweckt er selbst wohl dasselbe Mißverständnis als ob die vollkommene wissenschaftliche Arbeit im sukzessiven Anwenden aller stufenweise geordneten Gesichtspunkte geleistet wäre. Das Buch läßt ratlos, sowie es über das an sich hervorragende Referat hinausgeht: denn es muß diesem nachträglichen System der Einheits - und Mittelpunkt fehlen. Das Werk ist so schließlich das letzte Monument einer Wissenschaftsgesinnung, die dem 19. Jahrhundert zugehört, jetzt aber merkwürdig entleert wirkt: idealistisch im Glauben an das harmonische und universale System, positivistisch im Verzicht auf Spekulation zugunsten eines undogmatischen Aufbaus aus den Elementen (z. B.: Aus der Analyse der Einzelwerke sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer Darstellungen zusammengewirkt werden kann ).

  Petersens Werk zieht zwar auch nichtdeutsche Forschungen heran, lebt aber doch im wesentlichen ganz aus der deutschen, der germanistischen Forschungstradition. Eine völlig andere Luft weht in dem glänzenden Buche Stanley Edgar Hymans, der überragenden Darstellung angelsächsischer Literaturwissenschaft1Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. A Study in the Methods of Modern Literary Criticism. New York 1948.. Hyman scheint einerseits die deutsche Literatur und Literaturwissenschaft kaum zu kennen, aber in seinem Bereich gibt er nicht nur eine äußerst reichhaltige, sondern auch eine sprühende, kluge und witzige Diskussion der verschiedensten modernen Methoden der Literaturkritik ( Literary Criticism wird dabei abgegrenzt einerseits gegen Reviewing , anderseits gegen Aesthetics ). In zwölf, je mit einem Schlagwort gekennzeichneten Kapiteln charakterisiert er je einen führenden Kritiker oder Wissenschafter in der ganzen Breite seiner Werke, um dann von hier nach den verschiedensten Seiten vorzustoßen. Ist so durch ein lockeres und der Intention der verschiedenen Forschungsrichtungen angepaßtes Verfahren jeder Systemzwang vermieden, so versucht Hyman in einem Schlußkapitel doch eine Art Synthese zu geben, zunächst im ironischen Ausmalen des idealen Wissenschafters, der sämtliche Methoden eklektisch verbinden und mit einem Literaturwerk alles nur Denkbare unternehmen würde, also über ein lyrisches Gedicht mehrere Bände und über eine Novelle ein Lebenswerk zu schreiben hätte, dann aber ernsthaft mit dem Programm einer planmäßigen Zusammenarbeit der verschiedenen Spezialisten in echtem dialektischen Kampf und Wettkampf. So wird vom amerikanischen Gelehrten der Gedanke der Kooperation ausgespielt gegen eine deutsche Forschung,28 die sich entweder im irrealen Systembau oder in der existentialistischen Vereinzelung verliert. Hier liegt auch die Begründung dafür, daß Hyman zwar eine Erkenntnis der Literatur als solcher erstrebt, aber gerade von nicht-literarischen Wissenschaften die wesentlichen Aufschlüsse erwartet, vorab von den Sozialwissenschaften und der modernen Psychologie. Wenn das dem Adepten deutscher Wissenschaft fragwürdig vorkommt, so wird er sich doch gerne angesichts der Offenheit und Unbefangenheit der hier entwickelten Haltung der großen Gefahren eigener wissenschaftlicher Inzucht bewußt werden.

  Vorsichtiger, schulmäßiger ist die Theory of Literature von Wellek und Warren1Wellek-Warren s. oben S. 7., die zweifellos die beste und umfassendste Orientierung über moderne Prinzipienlehre bietet und jedenfalls David Daiches2David Daiches, A Study of Literature. For Readers and Critics. Ithaca N. Y. 1948. einfachere Einführung in die Probleme weit übertrifft. Ihr großer Wert liegt darin, daß hier zur angelsächsischen auch die kontinentaleuropäische Forschung, selbst die Rußlands, einbezogen ist und sich so die Traditionen alter und neuer Welt fruchtbar begegnen. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der ausgezeichneten Bibliographie ausgewählter Werke. Der Aufbau erfolgt weder in strenger Systematik noch von einzelnen Forscherpersönlichkeiten aus, sondern nach einer mehr oder weniger systematischen Folge von Problemkomplexen, unter den nicht unbedingt überzeugenden zwei Hauptgruppen des Extrinsic Approach (biographische, psychologische, soziologische, ideengeschichtliche, kunstgeschichtliche Methoden) und des Intrinsic Approach (Poetik und Literaturgeschichte). Eine Synthese wird nicht gegeben, es sei denn die Forderung, den Atomismus, Positivismus und Relativismus der alten Schule einerseits, den verbalism der abstrakten Geisteswissenschaft anderseits zu verlassen zugunsten einer übernationalen sachnahen Wissenschaft der Literatur, angeregt und geleitet von moderner Kritik und zeitgenössischer Literatur selbst, from participating in literature as a living institution . Wir werden im Folgenden die klugen und umsichtigen Erörterungen von Wellek und Warren immer wieder heranziehen müssen. Nur für elementare Bedürfnisse bestimmt ist die kleine Einführung Richard Newalds3Richard Newald, Einführung in die deutsche Sprach - und Literaturwissenschaft. Lahr 1947..

  Den systematischen Schwierigkeiten enthoben und für den praktischen Gebrauch oft geeigneter ist die lexikalische Anordnung der Begriffs - und Methodenlehre. 1925 1931 hatten Paul Merker und Wolfgang29 Stammler ihr Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (4 Bände) herausgegeben. Dieses noch heute unentbehrliche Werk brachte auf Grund der neuen Gesichtspunkte der allgemeinen Literaturwissenschaft eine nach Schlagworten alphabetisch geordnete Darstellung der Gattungen, Formen, Sachkomplexe und Probleme wenigstens des deutschen Literaturbereichs und seiner Wissenschaft. Die Beschränkung auf verhältnismäßig wenige, aber umfassende Stichworte und dafür deren systematische und wissenschaftlich selbständige Bearbeitung samt reichhaltiger Bibliographie führte zu einer in hohem Grad gleichmäßigen, geschlossenen und repräsentativen Zusammenfassung des damaligen Standes der deutschen Literaturwissenschaft. Diese Vorteile sind in einem neuern amerikanischen Werk zugunsten einer unendlich reicheren Fülle und Vielfalt preisgegeben: das Dictionary of World Literature, das Joseph T. Shipley 1943 mit Hilfe von 260 Fachleuten (meist amerikanischen) herausgab, ist nicht in erster Linie ein Nachschlagewerk zur Weltliteratur als solcher; im Vordergrund steht die Literaturtheorie und Prinzipienwissenschaft mit ihren Begriffen und Problemen samt deren Geschichte. Es will eine Darstellung sein der Kritiker und der Kritik, der literarischen Schulen, Bewegungen, Formen, Techniken mit Einschluß von Drama und Theater in der östlichen und westlichen Welt seit den frühesten Zeiten, von literarischen und wissenschaftlichen Begriffen und Ideen, mit anderem Material ... Der Überreichtum der Stichwörter und Gesichtspunkte, die in einem Band zusammengedrängt sind, kann nur gehen auf Kosten der Vollständigkeit im einzelnen und bringt manche Willkür und Ungleichmäßigkeit mit sich. Schon in jeder einzelnen nationalen Literaturwissenschaft ist die Terminologie ein Bestand aus geschichtlich völlig heterogenen, sich überschneidenden, halb konventionellen, halb individuellen Namen oder Definitionen, niemals das eindeutige Instrumentarium einer bestimmten wissenschaftlichen Technik. Wo sich das Material aus sämtlichen Literaturen und Literaturwissenschaften zusammenfindet, wird die Sprachverwirrung potenziert oder wird die Übersicht erst recht lückenhaft (spezifische Begriffe der deutschen Literaturwissenschaft kommen z. T. gar nicht vor z. B. Idee , Weltanschauung oder unzulänglich unter deutschem Titel als ob , Stimmung oder werden im übersetzten Titel bedeutungslos und kaum gewürdigt z. B. experience = Erlebnis ). Dennoch bietet das Werk eine solche Fülle von leicht erreichbaren Auskünften sachlicher und bibliographischer Art, daß es für die allgemeine Literaturwissenschaft und speziell auch eine Weltliteratur-Wissenschaft ein überaus nützliches Handbuch bleiben wird. Daß es bewußt auf praktische und allseitige Verwendbarkeit angelegt ist, entzieht dieses erstaunliche Wörterbuch weithin dem Vorwurf einer unsystematischen Kompilation von Materien und Gesichtspunkten.

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  Für die deutsche Literatur mag stellenweise die zweite Auflage des deutschen Literaturlexikons von Kosch zu Rate gezogen werden; obwohl die Absichten dieses Namenlexikons durchaus biographisch-historisch gerichtet sind, sind zahlreiche Artikel über literaturwissenschaftliche Begriffe eingestreut, die vor allem mit ihrer Bibliographie wichtig sind. Daß schließlich ein Kleines literarisches Lexikon1Kleines Literarisches Lexikon. (Bd. 3: Literarisches Sachwörterbuch) 3 Teile. Bern 1946 48. nur den elementarsten Bedürfnissen genügen kann, ist selbstverständlich2Nicht mehr berücksichtigt werden konnte Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-Leipzig 1951 ff. Darin für unser Thema wichtig: 1) Sp. 39 ff. Horst Oppel, Methodenlehre der Literaturwissenschaft (d. h. eine kurze Übersicht über die Probleme des Schaffens, des Werks, des Verstehens ohne Berücksichtigung der methodologischen Probleme der Literarhistorie) und 2) Sp. 215 ff. Fritz Martini, Poetik (mit historischer Entwicklung der Probleme). Das Werk gilt der deutschen Philologie, meist nur im deutschen Sprachgebiet, mit einer Auswahl bibliographischer Angaben..

3. geschichte der literaturwissenschaft

Ein Lexikon wie das von Shipley zeigt eindrücklich, wie im Querschnitt des Wörterbuchs ein Wirrwarr heterogener Begriffe und Theorien erscheint, die aus den verschiedenartigsten sprach - und wissenschaftsgeschichtlichen Prozessen hervorgegangen sind und somit ihre geschichtliche Dimension nicht verleugnen können.

  Wissenschafts geschichte als historische Entfaltung der möglichen Methoden kann selber Methodologie sein, wird dann aber doch eine umfassend geschichtsphilosophische Besinnung voraussetzen. Auch ohne solch hohen Anspruch kann sie zur Bestimmung und Abklärung des eigenen Standorts beitragen, zur Einsicht führen in die zeitliche und räumliche Bedingtheit der jeweiligen wissenschaftlichen Positionen und Vorsicht lehren im Gebrauch einer immer geschichtlich vorbelasteten Terminologie. In diesem Sinne gibt Petersen zu Eingang seiner Methodenlehre eine wertvolle Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Aufgaben.

  Die Literaturwissenschaft ist selbst so jungen Datums, daß sie noch kaum das Bild einer geschlossenen Tradition bieten kann. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hat sie jahrhundertelang ihr Dasein als Anhängsel zu anderen Wissenschaften gefristet (Lempicki). Literaturkundliches Wissen wurde zunächst im Rahmen einer allgemeinen Bücherkunde (Bibliographie,31 Historia litteraria ) gepflegt. Die Philologie im engern Sinn fand ihre Entwicklung an den Texten des klassischen Altertums seit den textkritischen und editorischen Unternehmungen der Alexandriner. Literaturkritik gibt es seit je als lebendige Praxis und, systematisch vertieft, in Form von Rhetoriken und Regel-Poetiken; der Übergang zu einer philosophischen Ästhetik und einer wissenschaftlichen, eventuell historischen Literaturbetrachtung, wird wesentlich erst im 18. Jahrhundert angebahnt. Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie helfen schließlich zu einer systematischen Literarhistorie. Zugleich mit dem Zusammenfluß dieser Traditionen seit 1800 erfolgt aber teilweise eine neue Aufspaltung in nationale Literaturwissenschaften. So ergeben sich für Wissenschaftsgeschichten die verschiedensten Möglichkeiten der Auswahl und Begrenzung. S. v. Lem - pickis noch unübertroffene Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (1920)1Vgl. inzwischen die ausführliche Darstellung von Joseph Dünninger: Geschichte der deutschen Philologie, in Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-München 1951 ff. Sp. 79 ff., sowie den oben S. 30 zitierten Beitrag von Fritz Martini, Poetik, a. a. O. Sp. 215 ff. schließt Philologie, Kritik und Poetik aus, verfolgt aber auch die Beiträge der deutschen Wissenschaft zur allgemeinen europäischen Literatur, während umgekehrt etwa G. Getto's (s. oben S. 23, Anm. 3) Darstellung sich auf Geschichten der italienischen Literatur beschränkt, aber auch außeritalienische Beiträge heranzieht. Im allgemeinen wird eine Darstellung der neueren Epochen sich eher auf strenge Wissenschaftsgeschichte konzentrieren können als etwa eine Darstellung zum Mittelalter, wo in erster Linie die Lehrbücher und die Praxis des poetischen Unterrichts und allgemein die Auffassungen vom Wesen der Dichtung und des Dichters zur Sprache kommen werden. Eine umfassende Geschichte von dem, was man das Bewußtsein des Dichters von sich selbst (beim Dichter und beim Publikum) nennen kann, wäre eine der höchsten Aufgaben, die u. W. noch nicht gelöst ist. Immerhin führt Böckmanns Stilgeschichte auf sie hin (unten S. 137 f.).

  Was die neuere Geschichte der Literaturwissenschaft betrifft, so können wir hier auf die in unserem einführenden Abschnitt genannte Literatur verweisen, und für die Einzelprobleme werden unten jeweils auch historische Arbeiten zitiert. Wir beschränken uns auf zwei eindrückliche Werke zur Poetik früherer Epochen (die hier mit Literaturwissenschaft zusammenfällt). Ein ganz neu aus den Quellen gearbeitetes Werk ist Bruno Markwardts2Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik. Bd. I. Barock und Aufklärung (Grundriß der germanischen Philologie 13 / I) Berlin und Leipzig 1937. Geschichte der deutschen Poetik, die in ihrem ersten Band32 den großen Bestand an poetischen Lehrbüchern sichtet und durch sachliche und alphabetische Register übersichtlich erschließt. Dabei wird die Entwicklung von der alten Anweisungs - und Lehrpoetik (samt Metrik und Rhetorik) zu einer Wirkungsästhetik und schließlich zu Schöpfungs - und Gestaltungsästhetik, zu Literaturwissenschaft und Literaturphilosophie sichtbar gemacht.

  Wenn schon hier überall der größere, seinerzeit von Borinski maßgebend untersuchte Zusammenhang einer allgemeinen antiken, mittel - und neulateinischen Poetik zugrundeliegt, so gilt das erst recht für die mittelalterliche Auffassung von Poesie und poetischer Praxis. Hier sind die Ansätze von E. Faral und H. Brinkmann systematisch erweitert worden. Die Literarästhetik des Mittelalters hat 1937 H. H. Glunz1H. H. Glunz, Die Literarästhetik des Mittelalters. Wolfram-Rosenroman - Chaucer-Dante. Bochum-Langendreer 1937. in einem kühnen Buch zu charakterisieren versucht, das vor allem auf dem Zusammenhang der mittelalterlichen Dichtung und ihrer Selbstauffassung mit der Theorie der Bibelexegese, d. h. der theologischen Lehre von der Bibel als dem vollkommensten Kunstwerk, insistiert. Vor allem fällt damit Licht auf die seit dem 12. Jahrhundert sich verstärkt entwickelnde allegorische Dichtkunst, die erst mit Dante transzendiert wurde. E. R. Cur - tius hat in einer ausführlichen Kritik (Zfrom Phil. 58, 1 50) den konstruktiven und einseitigen Charakter des Buches scharf kritisiert und anschließend Arbeiten zur mittelalterlichen Poetik publiziert, die seither in sein zusammenfassendes Buch (s. unten S. 156 ff. ) eingegangen sind. Die Geschichte der Allegorie und mit ihr die Geschichte der mittelalterlichen Literatur und Poetik überhaupt gehört danach in das umfassende Thema des Nachlebens der Antike und damit des jahrtausendelangen europäischen Literaturzusammenhangs. Eine Zusammenstellung und Interpretation der mittelhochdeutschen Äußerungen zur dichterischen Theorie bietet Bruno Boesch2Bruno Boesch, Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang. Bern 1936..

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II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK

Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung, Restauration und editorischer Darstellung dichterischer Texte, eine mehr technische Hilfswissenschaft zur Literaturwissenschaft im weiteren Sinne sei, oder ob diese selbst ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in der Arbeit am Text finde. Für die erste Meinung spricht, daß Textkritik und Editionstechnik nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern jeder mit überlieferten schriftlichen Dokumenten arbeitenden Wissenschaft Historie, Theologie, Jurisprudenz usw. den Weg bereitet, und zweitens, daß, wenn irgendwo, so hier gewisse Aufgaben mehr oder weniger gelöst werden können, worüber dann die Forschung zur Tagesordnung übergeht: große wissenschaftliche Gesamtausgaben können und sollen nicht alle 30 Jahre neu gemacht werden. Anderseits ist Arbeit an dichterischen Texten nur möglich aus dem Gesamthorizont der Literaturwissenschaft in allen ihren Disziplinen heraus und wird sie durch den ästhetischen Charakter ihres Gegenstandes, der nicht nur Dokument, sondern Kunstwerk ist, komplizierter und zentraler. Hier zeigt sich am konkretesten die Kreisstruktur der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis: das Gesamtwissen beruht auf den einzelnen Texten und Textstellen, diese aber werden nur aus dem Gesamten deutlich. Gegenüber schöngeistiger Verachtung textkritischer Kärrnerarbeit ist neuerdings eine deutliche Aufwertung einer exakten, umsichtigen Philologie festzustellen; eine ästhetisch-kunstwissenschaftliche Interpretation bedarf erst recht des sicheren Buchstabens und hat oft feststellen müssen, wie fragwürdig manchmal die Unterlagen sind. Selbst die wissenschaftlichen Leistungen des philologischen 19. Jahrhunderts werden im Licht einer erweiterten Literaturwissenschaft gelegentlich bedenklich z. B. einzelne Bände der Sophienausgabe von Goethes Werken , ganz zu schweigen von älteren, völlig unzulänglichen Ausgaben etwa im Fall Hölderlins, Brentanos, Gotthelfs usw. Daß auch neuere und neueste Dichter selbst in guten und angesehenen Händen sehr rasch von textlicher Verderbnis befallen werden, dafür bieten ein gutes Beispiel die Werke Rilkes: Ernst Zinn, ein Altphilologe, hat an den Ausgaben von Rilkes Werken die erstaunlichsten Mängel feststellen können1Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff.. Aber auch bei mehrfach edierten, ehrwürdigen Texten der älteren Literatur kann es Überraschungen geben; so, als Friedrich Ranke im altbekannten Codex neue34 Fragmente des ältesten deutschen Dramas entdeckte und damit auch für das Bekannte eine neue und sicherere Grundlage schuf1Friedrich Ranke, Das Osterspiel von Muri, nach den alten und neuen Fragmenten herausgegeben. Aarau 1944..

  So ist es denn auch zu begrüßen, wenn Petersen und Kayser in ihren Gesamtdarstellungen je eine ausführliche Übersicht den Problemen der Textphilologie widmen. Darauf und speziell auf die beigefügten Literaturangaben darf hier nochmals verwiesen werden. Hier können nur ein paar beispielhafte Probleme und Leistungen der jüngsten Zeit erwähnt werden, unter Ausschluß paläographischer, bibliothekarischer, bibliographischer, druckgeschichtlicher u. ä. Probleme.

  Was die Textkritik betrifft, so ist die Philologie der modernen Sprachen in besonderem Maße die Schülerin der klassischen Altertumswissenschaft. So hat der Altphilologe Karl Lachmann, der Begründer einer eigentlichen Lehre der textkritischen Methoden, für die Germanistik maßgebende Bedeutung gewonnen. Dies war wenigstens möglich, solange die germanistische Philologie vorwiegend den mittelalterlichen Texten galt. Überall, wo nicht ein vom Autor überwachter Druck die legitime Fassung darstellt, wo vielmehr eine durch Jahrhunderte oder Jahrtausende reichende Überlieferung von Handschriften die Texte bietet, geht der Weg der Textkritik von den variierenden Texten rückwärts zu den Wurzeln des Handschriftenstammbaums, zu einem zu erschließenden Archetypus, der praktisch meist auch das Original zu vertreten hat (vgl. Pasquali2Giorgio Pasquali, Storia della tradizione e critica del testo. Firenze 1934.). Für die antike Literatur ist freilich mit den Papyrusfunden ein ganz neuer Quellenbereich erschlossen worden, der auch eine völlig andere textkritische Methode und Technik nötig gemacht und oft den Wert der älteren Quellenkritik relativiert hat; als Beispiel einer solch neuen editorischen Meisterleistung sei Rudolf Pfeiffers Kallimachos-Edition genannt3Callimachus ed. Rudolfus Pfeiffer, 1. Fragmenta. Oxonii 1949.. Aber auch abgesehen von neuen Funden hat sich der Verdacht verstärkt, daß das Bild vom Stammbaum häufig trügt, insofern Kreuzungen von Handschriften durch Abschreiber, Interpolationen, Bearbeitungen aller Art und jeden Rangs das Bild unabsehbar komplizieren. Der Begriff des Archetypus und selbst des Originals kann fraglich werden, wo mehrere antike Exemplare ins Mittelalter eintraten oder wo der Autor selbst verschiedenen ersten Reinschriften zu Gevatter stand. So hat G. Jachmann4Günther Jachmann, Der Platontext Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen , Phil. -Hist. Kl. N. F. Fachgr. I, 4. Bd. (1940 / 4). Göttingen 1942. an Platon gezeigt,35 daß nicht nur die Papyrus-Funde die alte Stemmatologie über den Haufen werfen, sondern daß die Verhältnisse nach rückwärts immer komplizierter werden: Mit der Einheitlichkeit des Textes (war es) wenige Jahrzehnte nach Platon, wenn nicht schon zu seinen Lebzeiten, vorbei worauf dann Jahrhunderte intensiver antiker und byzantinischer Textmischung folgten. Methodisch heißt das eine notwendige Rückkehr zu eklektischer Kritik; die isolierte Lesart im jüngsten und mißachtetsten Codex kann die wahre sein! In kleinerem Maßstab kann dies auch für mittelalterliche Texte gelten, und selbst noch zur Zeit des Buchdrucks gibt es sachlich und methodisch so verwickelte Fälle wie das Werk Shakespeares: es ist mit verschiedenartigen Kanälen der Überlieferung und unter Umständen von Anfang an mit dem Fehlen eines definitiven Urtextes zu rechnen1W. W. Greg, The editorial problem in Shakespeare. Oxford 1942..

  Als hervorragende Beispiele moderner textkritisch-editorischer Arbeit an mittelalterlichen Handschriften seien nur zwei Werke aus germanistischem Bereich genannt: Die Ausgabe von Minnesangs Frühling durch Carl von Kraus2Des Minnesangs Frühling, neu bearbeitet von Carl von Kraus. Leipzig 1940. Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, Untersuchungen. Leipzig 1939. bildet, zusammen mit der 1935 erschienenen 10. Auflage der Gedichte Walthers von der Vogelweide, das großartige Ergebnis der Lebensarbeit eines glänzenden Kritikers, hinter welcher die Arbeit von Generationen, beginnend mit dem Begründer, Karl Lachmann, steht. Da es sich um verhältnismäßig wenige Sammelhandschriften von Liedern handelt, tritt hier die Stammbaumfrage in den Hintergrund und kann auch nur für das einzelne Lied selber, wenn überhaupt, gültig entschieden werden; ebenso tritt die Frage der Sprachgebung zurück, sofern es sich um sprachlich verwandte Handschriften handelt und eine Rekonstruktion der gesprochenen bzw. beabsichtigten Sprachform der Autoren sowieso zu äußerst hypothetischen Lösungen führen würde. Um so voller kommt die höhere Kritik zu ihrem Recht; selten kann so eindrücklich wie in den Untersuchungen Kraus 'verfolgt werden, wie ein umfassendes Wissen über das Sachliche, die Metrik, die Sprachform, den Wortschatz, die Überlieferung, die Paläographie und, vor allem andern, künstlerischer Takt und Einfühlungsgabe sich verbinden, um in immer neuer Kombination der Argumente kranke oder verdächtige Textstellen zu erkennen und zu heilen, die Fragen der Echtheit, der Strophenfolge, der Strophenzusammengehörigkeit usw. zu entscheiden. Als Beispiel sei etwa die Behandlung Hartmanns von Aue genannt; am Problem, wo im Verse 218, 19 des berühmten Kreuzlieds ein Komma zu setzen sei, wird die36 ganze Chronologie von Hartmanns Leben und Dichten akut; zusammen mit dem Echtheitsproblem der Totenklage 217, 14 und an Hand eines minutiösen Vergleichs mit der Lyrik Reinmars erscheint das Verhältnis Hartmanns zu diesem Dichter nun in überzeugender Weise gerade umgekehrt, als es bisher angenommen wurde. Das Maß, in welchem man die immer noch gelegentlich kühnen Konjekturen akzeptiert, d. h. sie einer, wenn auch unbefriedigenden, so doch dafür real überlieferten Form vorzieht, bleibt im übrigen weithin Sache des Temperaments.

  Das zweite Beispiel sei Josef Quints Ausgabe der deutschen Schriften Meister Eckharts1Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke. Stuttgart 1936 ff.. Die Predigten Eckharts haben eine im Ganzen hochproblematische Überlieferung die zum Teil sehr hohe Zahl stark abweichender, in verschiedenen Formen der Nachschrift, des Exzerpts, der Bearbeitung gehaltenen Handschriften erlaubt höchstens Gruppenbildungen, keinen Stammbaum; es ist schon prinzipiell fraglich, ob auch im besten Fall mehr als eine bloße Nachschrift rekonstruiert werden kann; das echte Werk ist auch prinzipiell nicht durch eine klare Linie einzugrenzen, sondern kann nur in Graden der Echtheit vom besser zum immer schlechter bezeugten Text dargestellt werden. Dem Herausgeber stellt sich im wesentlichen die Alternative, entweder eine Rekonstruktion zu versuchen, wie und soweit es eben geht, oder im Sinn einer auch bei dichterischen Texten z. B. in den Deutschen Texten des Mittelalters immer mehr angewandten Methode, die einmal als beste erkannte Handschrift mit allen ihren mundartlichen und orthographischen Eigentümlichkeiten diplomatisch abzudrucken. Quint hat die erste Lösung gewählt und allerdings auf Grund der relativ besten Handschrift der besten Gruppe in bewundernswerter Arbeit das Gesamtmaterial zu einer Rekonstruktion benutzt, die zwar immer nur eine Annäherung bedeutet und auch in der sprachlichen Form eines normalisierten oberdeutschen Mittelhochdeutsch niemals der unerkennbaren Originalsprache Eckharts entsprechen wird, dafür aber insgesamt und vor allem sachlich einen hohen Grad an Ursprünglichkeit erreicht. Auch hier freilich liegt die letzte Autorität der textkritischen Entscheidungen im Ganzen einer aus Wissen, Erfahrung und Begabung gebildeten Gelehrtenpersönlichkeit. Über die verschiedenartigen Probleme, die überhaupt die Edition altdeutscher Texte stellt, finden sich grundsätzliche Bemerkungen bei Wolfgang Stammler2Wolfgang Stammler, Von mittelalterlicher deutscher Prosa. Rechenschaft und Aufgabe. Journal XLVIII (1949) 15 ff..

  Wenn hier überall die Richtung des textkritischen Blicks eine retrospektive ist, d. h. nach einem Ursprünglichen gesucht wird, so gibt es doch auch37 schon in der älteren Literatur Fälle, bei denen nicht nur ein Original, sondern die Geschichte des Werks interessiert, weil diese selber wesentlich für das Dichtwerk und seine Wirkung ist. Vor allem dürfte dies beim Volkslied der Fall sein. Zwar hätte man auch hier immer gern eine älteste, eine Ur - Fassung (wobei allerdings jede Stemmatologie prinzipiell fragwürdig ist); zugleich aber muß der Bearbeiter den auch in der Tradition charakteristischen, oft sogar schöpferischen Gang des Liedes wenigstens in gewissen Grenzen verfolgen. Das bringt auch editionstechnisch neue Aufgaben mit sich. Die 1935 begonnene große Publikation der deutschen Volkslieder, der Ertrag der Lebensarbeit John Meiers und seiner Mitarbeiter, darf darum hier genannt werden1Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien, herausgegeben vom deutschen Volksliederarchiv, Berlin und Leipzig 1935 ff.. Sie bringt nun eben keine Rekonstruktionen, sondern jeweils eine Reihe von Fassungen je im genauen Abdruck, worauf dann an Hand einer stofflichen Inhaltsangabe die sachlichen Varianten aller Quellen verzeichnet und eine Entwicklungsgeschichte das Ergebnis der wissenschaftlichen Erschließung formuliert. Daß sich das Problem durch Publikation auch der Melodien sozusagen potenziert, sei nebenbei vermerkt.

  Wieder eine andere und diesmal ganz nach vorwärts gerichtete Perspektive zeigt die Textkritik bei neuzeitlichen Texten, speziell etwa im Gebiet der wissenschaftlichen Gesamtausgaben neuerer Klassiker. Hier tritt die Suche nach der ursprünglichen Lesart, nach Originalen und Archetypen zurück, da der Dichter ja gewöhnlich einen selbst autorisierten Drucktext vorgelegt hat. Dafür tritt dieses dichterische Werk nun sehr oft auseinander in eine Stufenfolge: Manuskripte, Erstdruck, Ausgabe letzter Hand sind ihre wichtigsten Etappen, die nun nicht nur zur Korrektur später hereingekommener Fehler und Irrtümer zu vergleichen sind, sondern nun im Bereich des Dichters selbst als Entstehungsgeschichte und Fingerzeige für die Deutung in hohem Maß wichtig werden. Die Ausgabe wird zur historisch-kritischen Edition. Welche Stufe ihr zugrundegelegt werden soll, ist von Fall zu Fall zu entscheiden; es geschieht heute nicht mehr so unbedingt wie früher zugunsten der Ausgabe letzter Hand: der letzte Wille des Dichters ist schließlich nicht mehr als ein juristisches Argument, das mit dem ästhetischen in Konflikt kommen kann (es ist der Extremfall, wenn Max Brod die Werke seines Freundes Kafka nicht, dessen Willen gemäß, vernichtete, sondern herausgab). Vor allem aber verlangt der textkritische Apparat hier eine völlig andere Gestaltung als etwa bei einem mittelalterlichen Text. Das übliche Lesartenverzeichnis nach klassischem Muster, wie es z. T. noch die Weimarer Goethe-Ausgabe bietet, wird sonst u. U. (z. B. im Apparat zu Stifters38 Studien in der großen Pragerausgabe) zum unabsehbaren Leichenfeld . M. a. W.: der Herausgeber hat die Entwicklung des Textes selber zur Darstellung zu bringen, etwa durch zusammenfassende und dann eventuell nur in Auswahl spezifizierte Anführung stilistisch zusammengehöriger Änderungen oder durch einen fortlaufenden Kommentar. In diesem Sinne hat etwa die von Jonas Fränkel begründete große Ausgabe der Werke Gottfried Kellers1Gottfried Keller, Sämtliche Werke, herausgegeben von Jonas Fränkel, Bern - Bümpliz 1926 ff., von Carl Helbling 1942 ff. die energische Wendung zu einem lesbaren, organischen Apparat vollzogen, auch wenn damit der Herausgeber eine größere Verantwortung übernahm und in vielen Fällen (z. B. bei den Gedichten) die Kritik herausfordert. Zum Thema der Kellerphilologie, ihrer besonderen Schwierigkeiten und Verantwortlichkeiten, aber auch der Würde editorischer Arbeit überhaupt, bringt der schöne, bekenntnishafte Vortrag Carl Helblings2Carl Helbling, Arbeit an der Gottfried-Keller-Ausgabe, Bern-Bümpliz 1945., des Fortsetzers der Keller-Ausgabe, reiches Material. Die Herausgabe gesammelter Werke ist nicht nur ein textkritisches Problem. Die Fragen der Textauswahl, der Wahl unter verschiedenen Fassungen und vor allem der Gesamtdisposition der Ausgabe beschäftigen den Herausgeber oft ebenso sehr; darüber spricht Fritz Strich3Fritz Strich, Über die Herausgabe gesammelter Werke. Festschrift Edouard Tièche, Bern 1947, 103 ff.), indem er vor allgemeinen Regeln warnt und den stilistisch-ästhetischen Hintergrund auch dieser Probleme betont.

  Am glänzendsten stellt sich aber wohl heute die große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe4Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgart 1943 ff. dar, deren methodische und sachliche Durchführung durchaus der makellosen äußeren Gestalt entspricht. (Vgl. dazu den Arbeitsbericht von Friedrich Beissner5Die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Ein Arbeitsbericht. Stuttgart 1942. und das Referat von Hans Pyritz6Hans Pyritz, Der Hölderlin-Text. Zu Beißners Edition und zum Neudruck der Propyläen-Ausgabe. DV 21 (1943), Referatenheft 88 ff.). Das Schwergewicht fiel bei dieser Ausgabe des Dichters der Dichter (Heidegger) auf die Bearbeitung der Handschriften. Beissner machte sich den Blick frei, indem er zunächst alle späteren Ausgaben beiseitelegte und den Text grundsätzlich vollkommen neu aus den Handschriften und Erstschriften zu gewinnen suchte, ohne die Suggestion von seiten der späteren Lesungen. Es galt dabei nicht nur den schon in den ersten Drucken oft verlesenen und entstellten Text richtigzustellen, was39 bei den späten Gedichten gelegentlich die Rettung eines ganzen, bereits dem Konto der geistigen Umnachtung gutgeschriebenen Gedichtes bedeutet, es galt nicht nur, aus dem handschriftlichen Material neue Fragmente zu gewinnen und ganze Dichtungen zu rekonstruieren. Es galt vor allem auch, in die durch Streichungen, Korrekturen, Überarbeitungen unendlich kompliziert gewordenen Manuskripte einzudringen, die Schichten und Etappen der Niederschrift voneinander zu lösen, den Werdegang des Gedichts zu erfassen, dem eigentlichen Schöpfungsprozeß nachzuspüren und damit oft das Gedicht erst in seinem Sinn zu erhellen. Das Ergebnis ist nun aber erst noch editionstechnisch darzustellen. Beissner findet einen überzeugenden neuen Weg, das immer synchronische Manuskript diachronisch lesbar zu machen: durch eine Numerierung und entsprechende typographische Anordnung werden die Etappen und Varianten wort -, wortgruppen -, vers - oder versgruppenweise in ihren Entstehungsrelationen übersichtlich. So wird diese Hölderlinausgabe zu einem Werk, das nicht nur einen überraschend neuen Text bietet, sondern methodisch epochemachend ist. Es ist darüber hinaus die schönste Dokumentation der Unzertrennlichkeit von ästhetischer Interpretation, historischer Forschung und philologischer Technik in der einen Literaturwissenschaft.

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III. POETIK

1. die dichtkunst

a) Ästhetik und Poetik

Literaturwissenschaft steht und fällt mit der Überzeugung, daß Dichtung als ein Schaffen, ein Werk und ein Verstehen etwas Wirkliches darstellt, das nicht durch ein Anderes ersetzt oder auf ein Anderes reduziert werden kann. Die Lehre vom dichterischen Phänomen in diesem dreifachen Aspekt heißt Poetik und stellt nach heute vorherrschender Überzeugung den systematisch grundlegenden Teil der Literaturwissenschaft dar. Es wird dabei noch nicht berücksichtigt, wieweit dieses Phänomen an außerkünstlerische Wirklichkeiten (d. h. die geschichtliche Menschenwelt in ihrem individuellen und kollektiven Leben aller Stufen) gebunden ist, es sei denn, daß diese Bindungen selbst sich als unmittelbar konstituierend für die Dichtung und speziell das Dichtwerk selbst erweisen.

  Die Lehre von der ars poetica hat schon längst den normativen Charakter einer sog. Regelpoetik abgestreift und ist zur beschreibenden und begründenden Wissenschaft geworden, auch wenn damit eine sekundäre Verwendung zum praktischen Zweck in bewußter und unbewußter Weise nicht ausgeschlossen ist (sonst würde sie nicht gerade von den Dichtern selbst sehr oft gepflegt). Nachdem durch den Neuidealismus, vor allem bei Dilthey und seiner geistesgeschichtlichen Schule, aber auch bei Croce und seinen Nachfolgern das Wesen der Dichtung vom Begriff des Lebens oder des schöpferischen Geistes aus als ein Ausdrucksphänomen ergründet wurde und Poetik damit vorwiegend als Schaffens - bzw. Verstehenspoetik erschien, gaben Phänomenologie und Existenzphilosophie die Möglichkeit, das literarische Werk an sich nicht nur als Funktion, sondern selbst als Wirklichkeit sui generis zu begreifen und in seinem Aufbau und Geschehen zu beschreiben.

  Bevor wir den von der Literaturwissenschaft in zahllosen Einzelforschungen grundsätzlicher oder praktischer Art erarbeiteten Fragen der Poetik nachgehen, ist die Stellung und der Gegenstand der Wissenschaft selbst nach außen abzugrenzen. Dichtung ist ein ästhetisches Phänomen, und damit erscheint die Poetik im Rahmen einer umfassenden Ästhetik; Dichtung ist eine Kunst unter andern Künsten, womit sich das Problem einer vergleichenden Kunstwissenschaft stellt; und Dichtung ist schließlich Kunst41 der Sprache, womit die Poetik in ihren Beziehungen zur Sprachwissenschaft zu beleuchten ist.

  Ästhetik1Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906 bis 1943. The Journal of Aesthetics and Art Criticism. Baltimore 1941 ff. wird herkömmlicherweise als Lehre vom Schönen gefaßt, wobei dieser Begriff des Schönen freilich im weitesten Sinn, ohne allen normativen Charakter und ohne inhaltliche Bestimmung, zu nehmen ist. Als ästhetischer Gegenstand kann dabei nicht nur ein Kunstwerk, auch eine Landschaft, eine Menschengestalt, ja irgendein Ding oder ein Geschehen erscheinen. Poetik als Lehre vom dichterisch Schönen und vom dichterischen Kunstwerk ordnet sich dann einer umfassenden Ästhetik unter. Ästhetik der Dichtkunst wäre dann Poetik von ihrer umfassenden, philosophischen Begründung her, Poetik dagegen ein Teil der Literaturwissenschaft, d. h. das System der aus den dichterischen Phänomenen selbst erarbeiteten Prinzipien. Die Abhängigkeit der Poetik von einer philosophischen Ästhetik ist denn auch heute kaum sehr eng, da die poetischen Grundbegriffe, wenn überhaupt, meistens direkt auf allgemeinere philosophische Anliegen bezogen werden unter Umgehung einer philosophischen Ästhetik, bzw. sich eklektisch einzelner passender Lehrstücke der Philosophie bedienen, was man von philosophischer Seite her denn auch als unsystematische Schießbudentechnik schon gehörig gerügt hat (Perpeet).

  In den neueren Werken zur philosophischen Ästhetik lassen sich verschiedene führende Richtungen der modernen Philosophie wiederfinden. So der Neoidealismus Croces2Benedetto Croce, La poesia. Introduzione alla critica e storia della poesia e della letteratura. Bari 1936. 4. Aufl. 1946. bei Gaetano Chiavacci3Gaetano Chiavacci, La ragione poetica. Firenze 1947., dessen Werk der poetischen Vernunft und ihrem schöpferischen Akt noch vor allem sprachlichen Ausdruck gilt. Das Werk des Amerikaners M. C. Nahm4Milton C. Nahm, Aesthetic Experience and its Presuppositions. New York 1946 (mit Bibliographie). ist eine historisch fundierte Theorie und Kritik der ästhetischen Erfahrung im Rahmen eines Systems des Empirical Idealism . Bergson gewidmet ist Duvals5Maurice Duval, La poésie et le principe de transcendance. Paris 1935. Werk, das dem Geheimnis einer oft in Frage gestellten, aber unverändert aktuellen und notwendigen schöpferischen Kraft der Dichtung nachgeht. In Albert Görlands sehr schwieriger Ästhetik6Albert Görland, Ästhetik. Kritische Philosophie des Stils. Hamburg-Harburg 1937. ist dieser Begriff42 erweitert zu einer Lehre vom Stil überhaupt, der in Kunstphilosophie, Religionsphilosophie, Ethik, Metaphysik, Bildungsphilosophie, d. h. überall wo die unverwechselbare Haltung des einzelnen Menschen und nicht die strenge Systematik der Wissenschaft bestimmend ist, zur Geltung gebracht werden soll. Schließlich tritt die Ästhetik unter die religiöse Fragestellung der philosophia perennis, wenn bei Theodor Haecker1Theodor Haecker, Schönheit. Ein Versuch. Leipzig 1936. Vgl. auch Eckart Peterich, Das Maß der Musen. Überlegungen zu einer Poetik. Freiburg i. Br. 1944. Schönheit als eine ewige und unveränderliche Eigenheit des Seins bestimmt und bezogen wird auf die Frage nach dem Wesen einer christlichen Kunst, die jene Schönheit natürlich und übernatürlich zu offenbaren vermag.

  Die Wendung zur scharfsinnig unterscheidenden phänomenologischen Untersuchung des vielschichtigen dichterischen Kunstwerkes und der ästhetischen Wahrnehmung ist wohl immer noch am eindrücklichsten durch das Buch Roman Ingardens2Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. Ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Lwow 1937. (Polnisch. Vgl. Helicon I [1939] 300). Günther Müller, Über die Seinsweise von Dichtung. DV 17 (1939) 137 ff. vertreten. Wichtig ist seine Unterscheidung zwischen dem literarischen Kunstwerke selbst und dem literarisch-ästhetischen Gegenstande (d. h. derjenigen Konkretisation des literarischen Werkes, die im ästhetischen Erlebnis zur Konstitution gelangt ). Das Werk weist nicht nur über sich hinaus in die schöpferischen Akte des Künstlers, es ist, als schematisches Gebilde , notwendig unerfüllt und erfüllungsbedürftig in der Konkretisation durch den Leser. Die ästhetische Wirklichkeit, der ästhetische Gegenstand , wird als ein Sein besonderer Art ähnlich bei Donald Brinkmann3Donald Brinkmann, Natur und Kunst. Zürich-Leipzig 1938. bestimmt.

  Die Heteronomie der Dichtung in bezug auf den Dichter und in bezug auf die Welt wird in der schwer befrachteten philosophischen Ästhetik der Dichtkunst von Ernst Georg Wolff4Ernst Georg Wolff, Die Ästhetik der Dichtkunst. Zürich 1944. (Ausführliche Besprechung von Bruno Markwardt DLZ 69 [1948] 257 ff.) als auszeichnend für den poetischen Werkcharakter gegenüber den Werken der bildenden oder musikalischen Kunst aufgewiesen. Dichtung ist Dichtung, weil und sofern sie mehr als Dichtung ist. Aber dieser Nachweis erfolgt im Rahmen einer strengen Werk -, nicht einer Schöpfungs - oder Wirkungsästhetik. Das Dichtwerk ist absolut wirkliches Phänomen . In seinem Charakter als Schöpfungsakt,43 als lebensnotwendig , ist es bezogen auf die personale Welt des dichterischen Subjekts, aber dieses erscheint eben nur in der Transsubstantiation des Werks; der Diltheysche Erlebnisbegriff scheidet damit auch hier aus. In seinem Charakter als Schöpfung aber, als seinsnotwendig , ist es bezogen auf eine außerkünstlerische Welt, aber nur in der Transfiguration wiederum des Werks. Diese Werkpoetik basiert auf erkenntniskritischer Grundlage in Anknüpfung an Kant, Phänomenologie und Existenzphilosophie d. h. auf der Besinnung darauf, was es heißt, von der Philosophie her und vor aller konkreten Literaturwissenschaft eine Poetik aufzubauen. Es ist wohl die Bedeutung dieses eigenwilligen und schwer übersehbaren Werks, daß es den unersetzlichen Offenbarungscharakter der Dichtkunst im Werk untersucht, ohne bei bloßer Phänomenbeschreibung zu verharren oder zu einer L'art pour l'art-Poetik zu kommen.

b) Die Dichtung im Kreis der Künste

Die spezielle Bestimmung des dichterisch Schönen gegenüber dem Schönen der Kunst überhaupt und der andern Künste führt hinein in die Probleme einer vergleichenden Kunstwissenschaft bzw. einer allgemeinen Kunstwissenschaft , wie sie seit Max Dessoir und E. Utitz von der Ästhetik unterschieden wird. Schon die auf die Künste bezüglichen Termini der alltäglichen wie der wissenschaftlichen Sprache praktizieren eine Vermischung und Vergleichung der verschiedenen Sinnes - und Geistesbereiche (z. B. Aufbau einer Dichtung, Farbton, Klangfarbe, dichterisches Bild) oder sind zum vornherein gemeinsam (wie z. B. Rhythmus, Symbol, Stil). Ist eine systematische Übertragung oder Vereinheitlichung der Begriffe und Methoden möglich nicht nur im Bereich einer Kunstpsychologie1O. Sterzinger, Grundlinien der Kunstpsychologie, Graz-Wien, L. 1938, 2 Bde., sondern der Kunstwissenschaften selbst? Oder bleibt es bei unverbindlichen, ja verwirrenden Metaphern? Vor allem die Wissenschaft von der bildenden Kunst hat mit der Typologie der Stile, die Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen entwickelte, auf die Literaturwissenschaft eingewirkt. Aber diese wechselseitige Erhellung der Künste , wie sie Os - kar Walzel und Fritz Strich propagierten, ist nicht recht gediehen oder bleibt auf der Ebene bloßer summarischer Beziehungen stecken (wie etwa bei J. Gebsers2Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Stuttgart 1950 ff. Betrachtung nicht nur der Künste, sondern aller Ausdrucksformen unter dem Begriff der Perspektive). Es ist hier eine gewisse Reaktion eingetreten; man vergleiche etwa die vorsichtige Darstellung des Problems bei Wellek und Warren. Es kann sich keinesfalls um ein durchgehendes44 analogisches Verhältnis der Künste handeln. Auch wenn man nur die gleichzeitigen Künste eines und desselben Kulturträgers berücksichtigt, wird es sich um ein kompliziertes System der komplementären Ergänzung, der Beeinflussungen, der verschiedenen Eigengesetzlichkeiten, bis zu einem gewissen Grad auch um zeitliche Phasenverschiebungen, ja vielleicht selbst um Pseudomorphosen, d. h. künstlerische Ausdrucksversuche mit untauglichen Mitteln oder widerspenstigen Mitteln, handeln (z. B. Programm - Musik, barocke Bildgedichte). Das Problem hat natürlich damit auch nicht nur seine stilistische, sondern auch seine werthafte und historische Seite, von der psychologischen und semasiologischen (s. u.) ganz abgesehen. Über das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste orientiert noch immer ausgezeichnet Fritz Medicus1Fritz Medicus, Das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste (in: Philosophie der Literaturwissenschaft, herausgegeben von E. Ermatinger, Berlin 1930). Neuerdings Kurt Berger, Die Dichtung im Zusammenhang der Künste. DV 21 (1943) 229 ff., seither auch Kurt Wais2Kurt Wais, Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, Bild und Tonkunst, Stuttgart 1936.. Aufschlußreiche praktische Versuche geben u. a. Richard Benz3Richard Benz, Die deutsche Romantik. Die Geschichte einer geistigen Bewegung, Leipzig 1938. Ders., Deutsches Barock, Leipzig 1949. Vgl. dazu Wilhelm Werkmeister, Der Stilwandel in der deutschen Dichtung und Musik des 18. Jahrhunderts (Neue deutsche Forschungen, Abt. Musikwissenschaft Bd. 4). Berlin 1936., Emil Staiger4Emil Staiger, Musik und Dichtung, Zürich 1947., Georg Weise5Georg Weise, Die geistige Welt der Gotik und ihre Bedeutung für Italien. Halle 1939..

  Einen zusammenfassenden prinzipiellen Versuch, das tertium comparationis der verschiedenen Künste zu bestimmen, gibt Max Nussberger6Max Nussberger, Die künstlerische Phantasie in der Formgebung der Dichtkunst, Malerei und Musik. München 1935.. Er unterscheidet vier allgemeingültige Prinzipien der Formung, welche das Vorgehen der schaffenden, gestaltenden Phantasie überall bestimmen. Ein vorliegender Stoff wird in allen Künsten in den Formen der Steigerung, der Häufung, der Schlichtung (sinnvolles Auswählen) und der Ordnung verarbeitet. Nussberger erwägt anschließend auch die Tragweite dieser Gesichtspunkte für die Erkenntnis der künstlerischen Persönlichkeiten und für die Organisation einer Geschichte der Künste. Es scheint nur, daß45 mit solchen weiten und groben Maschen (auch wenn sie systematisch vollständig und schlüssig wären) nur Stoffliches und Technisches, nicht aber das eigentliche Wesen des künstlerischen Vorgangs und der verschiedenen Künste selbst erfaßt wird. M. a. W.: die Analogie ist nur möglich durch eine Aufspaltung des Werks in Einzelelemente (Inhalt, Form, usw. ), die gerade dadurch in ihrer Bedeutung, ihrem Stellenwert im ganzen, vernachlässigt werden. Ähnlich wie Nussberger versucht auch T. M. Greene1Theodor M. Greene, The Arts and the Art of Criticism. Princeton 1940., eine Reihe gleichbleibender Gesichtspunkte (complexity, integration, rhythm) für alle Künste zur Geltung zu bringen.

c) Literatur und Sprache

Dichtung ist und das unterscheidet sie von den andern Künsten worthafte Stiftung , Sprachkunst, Wortkunst. Diese ist aber nicht mit Sprache und Sprechen identisch. Sie unterscheidet sich vom Sprachgebrauch des Alltags, der Wissenschaft usw. durch ihren literarischen oder speziellen poetischen Charakter. Damit sind zwei Problemkreise gegeben, welche die moderne Poetik und Stilkritik in besonderem Maße beschäftigen: 1. die Abgrenzung von Sprache und Sprachkunst gegen andere, künstlerische oder nichtkünstlerische Ausdruckswelten und Zeichensysteme, und 2. die Abgrenzung der Poesie gegen andere Formen des Sprachlichen, nicht nur gegen die Sprache als solche, sondern auch gegen das, was im weitesten Sinne als Literatur erscheint und innerhalb des Sprachlichen in den Bereich des Nicht-Poetischen reicht. Zuerst sollen uns Grenzen und Beziehungen zwischen der Sprache und der Literatur im weitesten Sinne beschäftigen.

  Mehr und fruchtbarer als von den Wissenschaften der Nachbarkünste ist die Literaturwissenschaft von der neueren Sprachwissenschaft2Bibliographie linguistique des années 1939 1947; publiée par le Comité international permanent des linguistes. 2 vols. Utrecht-Bruxelles 1949, 1950. Vgl. inzwischen auch: Leo Weisgerber, Sprachwissenschaftliche Methodenlehre. In: Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin - Bielefeld-München 1951, Sp. 1 ff. angeregt und gefördert worden. Je mehr sich die Sprachwissenschaft wieder auf ihren geisteswissenschaftlichen Charakter besann und die ausschließlich historisch-positivistische Methode der Junggrammatiker verließ, um so enger ist sie wieder in die ursprüngliche Nachbarschaft der Literaturwissenschaft gerückt; und umgekehrt betont die Literaturwissenschaft den46 konkreten Charakter ihres Gegenstandes, indem sie es liebt, statt von Werken der Dichtung von Werken der Sprache (Staiger) oder vom sprachlichen Kunstwerk (Kayser) zu reden. Daß der Geist der Sprache einer Nation auch der Geist ihrer Dichtung sei, ist ja die grundlegende Konzeption Herders und der jungen Geisteswissenschaften überhaupt gewesen. Wie darüber hinaus die Sprache allen Kulturbereichen und die Sprachwissenschaft allen Wissenschaften aufs engste verbunden ist, hat Leo Weisgerber1Leo Weisgerber, Die Stellung der Sprache im Aufbau der Gesamtkultur (Wörter und Sachen 15, 16). Heidelberg 1934. in dem umfassenden Rundgang seiner eindrücklichen Abhandlungen neuerdings dargetan; auch ihre Funktion für das physische und psychische Selbstverständnis des Menschen ist bedeutend2Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde. Zürich 1948. Ernst Jünger, Sprache und Körperbau. Zürich (1947)..

  Das Hauptverdienst für die neue Annäherung von Sprach - und Literaturwissenschaften3W. v. Wartburg, Einführung in die Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft. Halle 1943. gebührt der sog. Genfer Schule der Linguistik (Fer - dinand de Saussure und Charles Bally4Charles Bally, Linguistique générale et linguistique française. 2. Auflage. Bern 1944.), die vor allem im romanistischen Bereich gewirkt hat (neuere Werke von Marouzeau5J. Marouzeau, Traité de stylistique latine. Paris 1946., Spit - zer6Leo Spitzer, Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics. Princeton 1948. Ders., A Method of Interpreting Literature. Northampton, Mass. 1949., Winkler7Emil Winkler, Sprachtheoretische Studien (Berliner Beiträge zur roman. Philologie III, 2). Jena und Leipzig 1933.). Die synchronistische Betrachtung eines Sprachzustandes enthüllt die Sprache als lebendiges System von Ausdruckszeichen, das im Zusammenhang wieder des sozialen Lebens steht. Dabei ist Sprache, langue, von der Rede, parole, des einzelnen in ihrer aktuellen Verwendung zu unterscheiden. So wird auch der Blick frei für die ganz verschiedenartige Funktion der sprachlichen Mittel ihre mehr rationale oder mehr emotionale Verwendung , und die Aufgabe einer Unterscheidung der verschiedenen möglichen Symbolfunktionen des Sprachzeichens auf den verschiedenen Ebenen des Lautes, des Wortes, des Satzes neu gestellt. Sprache wird selbst ein Stilphänomen und tritt als solches, besonders wo es um die Untersuchung der gefühls - und willensmäßigen Aspekte geht, unter ähnliche Gesichtspunkte wie die dichterische Sprache. Ja man kann u. U. von der Einheit von Sprach - und Literaturwissenschaft sprechen, sofern ein47 kontinuierlicher Übergang von umfassenden zu immer spezielleren Sprachsystemen und schließlich zum Einzeltext besteht. Besonders wenn im Sinne Croces echte Poesie eingeschränkt wird auf die bloß momentan eintretende Transfiguration (so auch in den Essays Giulio Bertonis1Giulio Bertoni, Lingua e poesia. Saggi di critica letteraria. Firenze 1937.), bleibt der Stilkritik im wesentlichen die Sprache als Untersuchungsfeld, mit ihren mannigfachen halb oder ganz außerpoetischen Verwendungen; ein Werkganzes aber wird kaum damit erfaßt sein. Auch L. Spitzer hat die Sprachstilistik zu einer Stilistik der literarischen Sprache entwickelt und dringt von exakten Grundlagen des linguistischen Befunds (vor allem im Bereich des Wortes) zum inward life center vor; aber auch hier ist es weniger das Einzelwerk als eine größere sprachliche Welt, die erschlossen wird, und nicht unbedingt eine dichterische im strengen Sinne etwa bei der Untersuchung der amerikanischen Reklamesprache explained as popular art .

  In die Nähe einer solchen, von der Linguistik herkommenden Stilkritik ist auch die angelsächsische Sprach - und Literaturkritik zu stellen, die sich an den Namen von I. A. Richards knüpft und ebenfalls vom Problem des sprachlichen Zeichens und seiner Leistungen ausgeht2W. M. Urban, Language and Reality. The Philosophy of Language and the Principles of Symbolism. London 1939. Charles Morris, Signs, Languages, and Behaviour. New York 1946. William Empson, Seven types of ambiguity. 2nd edition. London 1947. Irving J. Lee, General Semantics and Public Speaking. The Quarterly Journal of Speech XXVI (1940) 594 ff.. Zeichencharakter, Symbolcharakter im allgemeinsten Sinne haben nicht nur auch die andern Künste, sondern jede Art von Ausdruck, Mitteilung, Verständnis und Selbstverständnis des Menschen. Zeichenwissenschaft, Semantik wird wesentlich für Logik und Erkenntnistheorie, Psychologie, Anthropologie und überhaupt alle Kulturwissenschaften. Semantics wird eine für England und Amerika kennzeichnende wissenschaftliche Bewegung, welche auf die Verbindung und Einheit der Wissenschaften ausgeht. Das Standardwerk dieser Bewegung lieferten Ogden und Richards unter dem programmatischen Titel Meaning of Meaning (1923). Es ist eine Wissenschaft vom Zeichen und speziell vom Wortzeichen in seinen verschiedenen Verwendungstypen (z. B. referential oder symbolic gegenüber emotive oder evocative), auf Grund vor allem soziologischer und psychologischer Gedankengänge und Experimente, mit den Mitteln genauer Wortdefinitionen und mit dem Zweck, die zwischenmenschliche Verständigung zu verbessern. (Eine praktische Anwendung ist Ogdens Basic-English geworden.) Die Anwendung der Methode auf die Erkenntnis der Literatur hat schließlich auch zu dem Werk von Richards 'Principles of Literary Criticism48 geführt, das die moderne angelsächsische Literaturtheorie eigentlich begründete, im wesentlichen aber ohne Einfluß auf die deutsche Forschung blieb. (Vgl. darüber Hyman.)

  Sprache wie Literatur sind lautliche Zeichensysteme, an beiden ist ergon und energeia , ein soziales und ein individuelles Element, eine äußere und eine innere Form zu unterscheiden. Beide können stilkritisch, physiognomisch betrachtet werden bei beiden aber macht wohl die synchronistische Betrachtung nach wie vor die diachronistische, d. h. historische nicht überflüssig. Literaturgeschichte und Sprachgeschichte haben vielleicht sogar parallelen Verlauf. Das Verhältnis besteht nicht in bloßer Analogie, sondern ist ein enges Ineinander der Entsprechungen und Wirkungen. Seit Herder weiß man, daß im Grunde jedes Wort ein Gedicht darstellt. Umgekehrt spielt aber die Dichtung auch auf der festen Klaviatur der grammatischen Systeme. Man kann die grammatischen Kategorien sogar bis in die dichterischen Werkstrukturen hinein verfolgen. So hat man etwa die Grundbegriffe lyrischer, epischer und dramatischer Dichtung mit den grammatischen Dreiheiten Subjekt, Objekt, Prädikat oder der ersten, dritten und zweiten Person oder Laut, Wort und Satz in Beziehung gesetzt (Staiger, Petersen S. 119). Die Sprache ist zugleich Material, Werkzeug und Werk der Dichtung. Damit ist sie immerhin mehr als eine bloße Schicht im Dichtwerk. Dennoch ist der Werkcharakter eines künstlerischen Wortgebildes ein rangmäßig anderer als der Werkcharakter einer Sprache; Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft sind aufeinander angewiesen, aber nicht identisch.

  Der Übergang wird vor allem dort deutlich, wo nicht die Stilganzheit des Werks, sondern seine einzelnen Aspekte (s. unten S. 93 ff. ) des Lautlichen, Vorstellungshaften, Gedanklichen in Frage stehen. Hier sei vorläufig nur an ein paar Möglichkeiten des sprachwissenschaftlichen Zugangs zur Dichtung von den drei entsprechenden Kategorien des Lautes, des Wortes und des Satzes her erinnert.

  Lautmalerei und Lautsymbolik werden heute von beiden Seiten in ihrer sprachlichen wie literarischen Funktion wieder ernst genommen; darüber referiert ausgezeichnet Erich Brock1Erich Brock, Der heutige Stand der Lautbedeutungslehre. Trivium II (1944) 199 ff. Wilhelm Schneider, Über die Lautbedeutsamkeit. ZfdPh. (1938) 63, 138 ff. E. Fenz, Laut, Wort, Sprache und ihre Deutung. Grundlegung einer Lautdeutungslehre. Wien 1940.. Vom Lautlichen ins Rhythmische führt die Analyse der Schallformen, die Eduard Sievers zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat, die aber an ein persönlich-geniales Stilgefühl gebunden waren.

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  Im Gebiet des Wortschatzes hat die Wortfeldtheorie1F. Scheidweiler, Die Wortfeldtheorie. Zeitschrift für deutsches Altertum LXXIX (1942) 249 ff. Jost Triers die Erkenntnis des Gefügecharakters und das heißt des Stilcharakters der Sprache auch für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht, auch wenn ihre Geltung sie ist eine übertreibende Konsequenz ebenfalls Saussurescher Gedanken nicht unbegrenzt anerkannt worden ist. Wieviel ungehobenes Material auch für die Literaturgeschichte in einer Geschichte der Wörter und ihrer Bedeutungen liegt, das hat die deutsche Wortgeschichte2Deutsche Wortgeschichte, herausgeg. von Friedrich Maurer u. Fritz Stroh. 3 Bde., Berlin 1943. von Maurer und Stroh eindrücklich gezeigt; diese ist trotz ihres uneinheitlichen Charakters ein wichtiges Hilfsmittel der literarischen Forschung, ja selbst ein Teil Literaturgeschichte. Die Untersuchung von Wortschatz und Wortfeld wird natürlich besonders im Rahmen eines persönlichen dichterischen Oeuvres wichtig3Beispiele: Werner Kohlschmidt, Der Wortschatz der Innerlichkeit bei Novalis (Festschrift für Paul Kluckhohn u. Hermann Schneider, Tübingen 1948, 396 ff.). F. Maurer, Leid. Bern und München 1951.. Hier sind z. T. auch für andere Zwecke Wörterbücher, Konkordanzen usw. einzelner Dichter oder Werke entscheidende Hilfsmittel; was für die Bibel oder für Thomas a Kempis schon lange unternommen ist, wird in breitem Umfang für Goethe von der Berliner Deutschen Akademie der Wissenschaften geplant4Wolfgang Schadewaldt, Das Goethe-Wörterbuch, Trivium VII (1949) 60 ff. Vgl. A. R. Hohlfeld, Martin Joos and W. F. Twaddell, Wortindex zu Goethes Faust. Madison 1940.. Eine spezielle Anwendung sind die für die ältere Literatur gebräuchlichen Reimwörterbücher. Über die bloße Katalogisierung schreitet die sprachstatistische Auswertung hinaus, indem sie die Häufigkeitsverhältnisse und die Proportionen bestimmter Spracherscheinungen vor allem des Wortschatzes, aber auch syntaktischer Merkmale zahlenmäßig feststellt, um so die individuelle Sprachgestalt eines Autors zu bestimmen, eventuell bei diesem wieder in Unterschieden von Werk zu Werk. In diesem Sinn spricht die methodisch interessante, sehr gedrängte Untersuchung von Gaitanides von Sprachphysiognomik5Hans Gaitanides, Georg Rudolf Weckherlin. Versuch einer physiognomischen Stilanalyse. Diss. München 1936.. Sie stellt zunächst, am Beispiel Weckherlins, die Gliederungsverhältnisse des Satzes, den Grad der Dichtigkeit des hypotaktischen Gefüges (Zahl der Satzeinheiten auf eine bestimmte Verszahl,50 Zahl der Hauptsätze, Zahl der Nebensätze, Arten und Verhältnisse von Hypotaxe und Parataxe) fest und bringt ebenso den Gebrauch des Wortes nach Wortstellung, Proportion und Behandlung der einzelnen Wortgattungen auf zahlenmäßige Form. Diese Analyse wird dann aber in einem zweiten Teil in den Dienst einer synthetischen und allgemeinen Umschreibung des persönlichen Stils Weckherlins gestellt und auf sprachgeschichtliche, psychologisch-metaphysische, soziologische, bildungs - und konfessionsgeschichtliche Zusammenhänge hin bezogen. Ein viel enger umrissenes Ziel steckt sich der statistische Fachmann G. Udny Yule1G. Udny Yule, The Statistical Study of Literary Vocabulary. Cambridge 1944. am Beispiel der Imitatio Christi. Er beschränkt sich auf die Untersuchung des Wortschatzes und hier wieder fast nur des Substantivs in diesem Text und passenden Vergleichstexten, ausgehend von Tabellen über die Häufigkeitsverteilung (Anzahl der 1, 2, 3 usw. mal gebrauchten Substantive) und von Tabellen über das Vorkommen jedes einzelnen Substantivs; in einem späteren Kapitel wird auch die alphabetische Verteilung berücksichtigt. Vor der mathematischen Auswertung der entsprechenden Tabellen und der Diskussion der damit aufgeworfenen Probleme statistischer Theorie überhaupt muß der Laie in dieser Wissenschaft allerdings rasch kapitulieren. Die Methode mag wenn die verglichenen Texte oder Textgruppen wirklich vergleichbar sind charakteristische Unterschiede herausarbeiten, aber diese werden höchstens für eine Bestimmung des Autors etwas hergeben (in diesem Falle ist es der Nachweis, daß die Imitatio sehr wohl von Thomas a Kempis, nicht aber von Johannes Gerson verfaßt sein kann), kaum aber für eine stilistische Deutung des Autors, geschweige denn des Einzelwerks. Die statistische Befragung müßte wie bei Gaitanides zum vorneherein von stilistischen Gesichtspunkten gelenkt und korrigiert sein. Eine Automatik der statistischen Methode kann es nicht geben.

  Im Bereich der syntaktischen Sprach - und Redeformen wird die Verquickung von Sprach - und Literaturwissenschaft besonders deutlich, denn der Satz ist in höherem und reicherem Maße Stilträger als das Wort. Den besten Einblick in die Schwierigkeit, aber auch die Wichtigkeit dieser syntaktisch-stilistischen Probleme gibt wohl für den deutschen Bereich noch immer Hermann Gumbels Werk2Hermann Gumbel, Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa. Strukturanalyse deutscher Prosa im 16. Jh. Frankfurt a. M. 1930.; das Zeitalter von Spätmittelalter und Renaissance ist gerade für diese Forschungen das wichtigste Untersuchungsfeld, da es sich hier um die Zeit der entscheidendsten Umwandlungen und51 Neuschöpfungen der Sprach - wie der Literaturgeschichte handelt. (Den gewagten Versuch einer Parallelisierung von Sprach - und Geistesgeschichte an ausgewählten Vorgängen dieser Entwicklungsepoche gibt Hannes Mae - der1Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von Sprachgeschichte und Geistesgeschichte. Zürich 1945., wobei er sich auf die Wandlung der gemeinsam zugrundeliegenden Struktur der Zeit-Raum-Anschauungsformen bezieht.)

  Aber es gibt schließlich auch ein ganz allgemeines Sprachproblem des Dichters, soweit nicht die Einheit von Dichtung und Sprache, sondern die Spannung zwischen dichterischem Wollen und sprachlicher Leistung, sprachlichem Mittel, hervorgehoben wird. Die Grenzen der Sprache sind die Not des Dichters, nicht nur als Schall und Rauch gegen die Himmelsglut des Gefühls, auch als Grenze gegen das Schweigen im Sinn der absoluten Poesie und des Existentialismus, als Ringen der dichterischen Sprache um die Ermöglichung ihrer selbst2Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche (In: Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt a. M. 1940). H. P. Jaeger, Hölderlin-Novalis. Grenzen der Sprache. Zürich 1949. Fritz Strich, Der Dichter und die Sprache (In: Der Dichter und die Zeit. Bern 1947). Marcel Raymond, Le poète et la langue. Trivium II (1944) 1 ff. Helmut Presser, Das Wort im Urteil der Dichter. Beiträge zu einer Sinndeutung des dichterischen Wortes (Bonner Beiträge zur deutschen Philologie 10). Würzburg 1940. Otto H. Olzien, Nietzsche und das Problem der dichterischen Sprache (Neue deutsche Forschungen 32 / 301). Berlin 1941.. Hier sei speziell auf die Arbeit von Jaeger hingewiesen.

d) Poesie, Literatur, Nichtpoesie

Ebenso wichtig wie die um das Verhältnis zwischen Sprache und Literatur (im allgemeinen Sinn) kreisende Forschung ist die Bemühung, das Wesen der literarischen und besonders der im strengen Sinn dichterischen Welt von den andern sprachlichen Ausdrucksformen auszusondern. In dem konzentrischen Kreissystem Sprache Literatur Schöne Literatur Poesie müssen diese letzten und innersten Bereiche bestimmt werden. Die Ausklammerung kann dabei von den zwei entgegengesetzten Seiten aus unternommen werden.

  In Nachfolge und Korrektur Richards und seiner semasiologischen Methode untersucht z. B. Pollock3Thomas Clark Pollock, The Nature of Literature. Its Relation to Science, Language and Human Experience. Princeton 1942. die Natur des sozialen Phänomens52 Literatur . Neben der Alltagssprache (der bloßen phatic communion ) stehen sich als zwei speziellere Entwicklungsformen der sprachlichen Leistung gegenüber einerseits die wissenschaftliche Sprache mit ihrem referential symbolism und anderseits die literarische Sprache mit ihrem evocative symbolism . Diese wird als evozierende Mitteilung einer aktuellen, individuellen Erfahrung bestimmt. Wo dabei das Erfahrungselement fehlt, spricht Pollock von Pseudoliteratur. Praktisch ist die Scheidung sehr viel schwieriger. Literaturwissenschaft wird sich, mindestens für gewisse Epochen der Literaturgeschichte, nicht nur auf schöne Literatur beschränken, sondern auch sachlich und stilistisch immer wieder auf die Texte der alltäglichen und der wissenschaftlichen Sphäre zurückgreifen. Herbert Cysarz sagt einmal, er habe in keiner modernen Dichtung soviel ästhetische Potenz erlöst gefunden wie in einem gewissen Lehrbuch der Augenheilkunde. Immerhin ist ein schlechtes Gedicht prinzipiell andern Ranges als ein Lehrbuch mit noch soviel Mitgift an ästhetischer Potenz; auch jenes ist noch primär ausgezeichnet durch den mindestens intendierten Charakter der ästhetischen Ganzheit und des Abgelöstseins zu eigenständiger poetischer Wirklichkeit. Beim Problem der Pseudoliteratur ist jedenfalls der kategoriale Rang von der normativen Beurteilung zu unterscheiden. Ob ein Text ein Gedicht ist, ist noch keine Wertfrage.

  Gewöhnlich wird das Problem von der andern Seite her gefaßt, im Versuch, den innersten Kreis der Poesie abzugrenzen nicht nur gegen die schöne Literatur , sondern auch gegen alle Nicht-Poesie. Am radikalsten geschieht es bei Benedetto Croce1Benedetto Croce, La poesia. Bari 1936 (vgl. oben S. 41)., wo dann allerdings Poesie nur noch als momentane Erfüllung erscheint und dieser stato di grazia selbst im größten Kunstwerk sich nur stellenweise verwirklicht, wogegen alles andere als Literatur ins Feld des Zivilisatorischen und Sozialen (Rhetorik, Unterhaltung, Gefühlsausdruck, Lehre) abgedrängt wird. Da Croce die Kunst als eine Einheit auffaßt und alle Unterscheidung von Gattungen und Kunstarten als sekundär und bloß empirisch ablehnt, fällt die kategoriale mit der normativen Unterscheidung zusammen. Das ist zweifellos unzulässig; denn Dichtung ist zunächst kein Wertbegriff; auch minderwertige Dichtung ist Dichtung, auch die Obskuren gehören zur Literaturgeschichte. Eine radikale Unterscheidung großer, zeitentrückter Poesie und geschichtlich bedingter, in sozialer Funktion aufgehender Literatur , zwischen Symbol und bloßem Ausdruck , hat im übrigen schon Wer - ner Mahrholz vorgenommen und damit zweifellos den Tatbestand vergewaltigt und die Literaturwissenschaft in zwei völlig verschiedene Wissenschaften, eine Systematik der Dichtung und eine (allein kausale)53 Literarhistorie unzulässig aufgespalten. Im Hintergrund steht das alte, klassische Gegenüber von Mythos und Logos, Dichtung und Rhetorik. So hat Oskar Walzel1Oskar Walzel, Poesie und Nichtpoesie. Frankfurt a. M. 1937. das Problem in historischer Form an der Tradition der klassischen deutschen Ästhetik verfolgt und dabei speziell auf die Bedeutung von Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie hingewiesen.

  Wenn Donald Stauffer2Donald Stauffer, The Nature of Poetry. New York 1946. das Wesen der poetry zu bestimmen sucht durch eine Reihe von ziemlich heterogenen Merkmalen (nämlich exact, intense, significant, concrete, complex, rhythmical, formal), so führt das systematisch kaum weiter. Es liegt nahe, in der Lyrik das Phänomen der Poesie in seiner ursprünglichsten, unmittelbarsten und abgelöstesten Form zu erkennen. Hier ist auch ein formales Prinzip, das konventionellerweise mit dem Begriff der Poesie verknüpft ist, am lebenskräftigsten: der Vers, die gebundene Form. In diesem Sinne den Vers als Hinweis auf den Wesenscharakter der Poesie kategorial wieder ernst zu nehmen, ist das Anliegen von L. Berigers3Leonhard Beriger, Poesie und Prosa. DV 21 (1943) 132 ff. sachlich und terminologisch klärender Abhandlung. So ist alle Prosadichtung, der Sprachform nach, ein Abweg vom Wesen der Dichtung, ein Abfall ; die Versform mit ihrer Spannung zwischen dem musikalischen und logischen Element ist nur der sinnfälligste und reinste Ausdruck des Wesens der Dichtung selbst, welches die Verbindung und Durchdringung von Geist und Kunst, Wahrheit und Schönheit ist . Was natürlich nicht heißen soll, daß nicht auch Prosa Dichtung sein kann; vielmehr kann sie unserer Zeit sogar viel mehr entsprechen: es handelt sich hier eben nicht um eine Frage der Wertung.

2. das dichterische kunstwerk

a) Allgemeines

Es wurde bereits ausgeführt, daß und warum in der heutigen Literaturwissenschaft, aufs Ganze gesehen, der Wille zu einer Werkpoetik, zur Stilkritik und zur Werkinterpretation zum beherrschenden Merkmal geworden ist, eine Wendung, die nach ihren positiven Vorzeichen als Neubesinnung aufs Wesentliche, auf die Sache selbst , und als Ausdruck eines Wertwillens gesehen werden kann. Aber auch ihre negativen Bedingungen der Verlust eines fraglosen, überzeugten Geschichts - und Wertbewußtseins sind wohl nicht zu übersehen: nach dem Wesen54 eines Dings wird wohl erst gefragt, wenn nicht mehr klar ist, wozu es dient (Max Kommerell). Nicht so sehr dichterisches Leben und Schaffen als das Gedicht, das Dichtwerk selbst wird zum Gegenstand der Bemühung. Daß wir begreifen, was uns ergreift, das ist das eigentliche Ziel aller Literaturwissenschaft (E. Staiger). Die Kunst des Lesens , der Werkauslegung, der stilkritischen Untersuchung vor allem des Einzelwerks wird Parole. So verschiedene Geister wie der von Stefan George herkommende Max Kommerell, wie die sei es von Heidegger, sei es von Kassner inspirierten Herausgeber der stilkritischen Zeitschrift Trivium, wie der katholische Theologe Romano Guardini1Romano Guardini, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939. Ders., Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Leipzig 1942, 2. Aufl., Bern 1946., wie Johannes Pfeiffer, Erich Auerbach, Wolfgang Kayser, Kurt May2Kurt May, Faust II. Teil, in der Sprachform gedeutet. (Neue Forschung Bd. 30). Berlin 1936. Ders., Friedrich Schiller, Idee und Wirklichkeit im Drama. Göttingen 1948., im Bereich der klassischen Philologie Wolfgang Schadewaldt3Wolfgang Schadewaldt, Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe. Potsdam 1950. und viele andere finden sich im Ruf nach wissenschaftlicher Beschreibung und Auslegung des ganzheitlichen Kunstwerks, nach dem geduldig hinhörenden Umgang mit der Dichtung selbst. Der Übergang von einer mehr sprachanalytischen (K. May) zu einer werkstilistischen Betrachtung wird dabei natürlich in verschiedenem Maß vollzogen.

  Heinz Otto Burger4Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Herausgegeben von Heinz Otto Burger. Halle 1942. hat in seinem instruktiven Sammelwerk von Interpretationen durch 28 verschiedene Beiträger einen Überblick über die verschiedensten Methoden und Techniken in praktischer Anwendung gegeben; neben imposanten Beispielen wahrhaft erhellender Interpretationskunst fehlen hier auch nicht Beispiele, wo der Interpret im bloßen Applaudieren des Werks oder im Nachweis der Kongruenz von Inhalt und Form stecken bleibt. Und es zeigt sich auch, wie solche Interpretationen fast immer nicht nur dem konkreten Gedicht gelten, sondern gewollt oder ungewollt größere Zusammenhänge geschichtlicher oder systematischer Art im Auge haben, daß es vor allem um die Gewinnung und Bestimmung allgemeiner Kategorien der Poetik geht.

  Einen Überblick über die im Bereich der Werkpoetik und Werkinterpretation vorliegenden Publikationen, über deren Problemlage und Terminologie zu geben, ist besonders schwierig. Gerade der ganzheitliche Charakter55 des dichterischen Kunstwerks bringt es mit sich, daß jeder Einzelaspekt das Ganze repräsentiert, daß es kaum möglich ist, Einzelprobleme herauszulösen, weil der Sinn und die Funktion jedes Einzelelements nur im immer wiederholten hermeneutischen Kreislauf zwischen Teil und Ganzheit deutlich werden kann. So ist schon aus sachlichen Gründen die Terminologie im Umkreis der Poetik kein System statischer Begriffe, ganz abgesehen von der hier noch besonders im Fluß befindlichen Situation der Wissenschaft; nicht einmal ein zentraler Terminus wie das Wort Stil wird gleichmäßig und eindeutig verwendet.

  Mit dieser gegenseitigen sachlichen Verquicktheit der Probleme hängt es zusammen, daß Interpretation einer Dichtung noch weniger als jede andere geisteswissenschaftliche Arbeit über eine feste tradierbare Methode und ein sauber abgestecktes Forschungsfeld verfügt. Man spricht daher, z. T. wohl notgedrungen, von der Kunst der Interpretation, von dem intuitiven oder von dem existentiellen Charakter jedes Versuchs einer Werkerhellung; Erich Auerbach braucht den Ausdruck vom Spiel mit dem Text , von dem er sich führen läßt. Zahlreiche der hier vorliegenden Arbeiten sind weniger wissenschaftliche Abhandlungen schulmäßigen Stils als literarische Essays, Gestaltungen mit eigenen künstlerischen oder bekenntnishaften Ansprüchen. Wenn man hier von Dichtung über Dichtung spricht oder den Literaturwissenschafter als verhinderten Dichter denunziert, so ist das die übelwollende Umschreibung eines sachlich durchaus begründeten und legitimen Verhältnisses. Schließlich macht sich auch bei Kommerell, Pfeiffer, Kayser, Ackerknecht1Erwin Ackerknecht, Die Kunst des Lesens. 4. Aufl., Heidelberg 1949. z. B. eine pädagogische Note bemerkbar: anstelle der Theorie tritt die Anweisung, die Initiation. Eine amerikanische Entsprechung bilden die Bücher von Fred B. Millett2Fred B. Millett, Reading Fiction. A. Methode of Analysis with Seletions for Study. Reading Drama etc. Reading Poetry etc. 3 vols. New York 1950..

  Die beste Übersicht über die Probleme der Werkpoetik und Stilkritik gibt heute wohl das ausgezeichnete Werk Wolfgang Kaysers3Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948.. Der Untertitel Eine Einführung in die Literaturwissenschaft ist allerdings insofern mißverständlich, als es im wesentlichen nur um die Probleme der Werkinterpretation geht, in der die eigentliche Aufgabe, der innerste Kreis der Literaturwissenschaft überhaupt gesehen wird; das Einzelwerk und seine autonome Würde sollen davor bewahrt werden, in den Strudel eines psychologischen oder historischen oder nationalen Relativismus 56gerissen zu werden womit freilich die Möglichkeit eines poetischen Relativismus noch nicht ausgeschlossen ist! Gegenüber Julius Pe - tersens Werk ist hier ein Neues versucht. Wenn dort der Turmbau einer Wissenschaft von der Dichtung als Systembildung im Rahmen einer mehr technischen Organisation und Kompilation bleibt und vielleicht mit der Vielfalt an Möglichkeiten erst recht Verwirrung zurücklassen kann, so ist hier ein eigentlicher Lehrgang, eine Einführung in die Praxis der Auslegung dichterischer Kunstwerke gegeben, in mühelos faßlicher und spannender Entwicklung, in zurückhaltender, subtiler und doch beharrlicher Problembehandlung, mit eingelegten Musterinterpretationen und mit einer Fülle von Belegmaterial aus allen europäischen Literaturen. Es ist ein meisterhaft pädagogisches Werk eher als ein Werk der systematischen Forschung. Von einer Diskussion der wissenschaftlichen Literatur hat Kayser das Buch entlastet, indem der Text nur wichtigere Vertreter berücksichtigt, wogegen im Anhang eine umfangreiche Bibliographie geboten ist, die wiederum keine Sprachgrenzen kennt. Es zeigt sich, wie im Zeichen des sprachlichen Kunstwerks die Schlagbäume zwischen den einzelnen Nationalliteraturen aufgehen hier bringt gerade die Poetik entscheidende Anstöße auch zur Revision der Literaturhistorie.

  Um dem dynamischen und ganzheitlichen Charakter des Dichtwerks Rechnung zu tragen, schreitet Kayser seinen Gegenstand in zwei übereinanderliegenden Kreisen ab. In einem ersten, analytischen Teil behandelt er jene Elemente des Werks, die sozusagen diesseits des Stilganzen oder von außen her herauslösbar ins Auge fallen: (stofflich-motivischen) Inhalt, Versform, sprachliche Formen (in der Stufung Laut, Wort, Satz), Aufbau (im Sinn äußerer Bauformen). Es sollen damit die elementaren Sachverhalte vermittelt sein, die mit der Seinsweise des Werkes als eines literarischen Werkes gegeben sind . Die zweite, höhere Runde ist dagegen synthetischer Art und betrifft, in vier entsprechenden Stationen oder Schichten , den ganzheitlichen Charakter des Werkes; die Isolierung jener vier Elemente der Analytik ist hier aufgehoben, sie wirken hier zusammen, weisen in bestimmter Richtung über sich hinaus als Gehalt, Rhythmus, Stil, Gattungsgefüge vom letzten, dem Gattungshaften her lassen sich die verschiedenen vorangehenden Schichten gerade in ihrem Zusammenwirken verstehen. Zwischen die beiden Hauptteile ist ein Zwischenteil geschaltet, der unter dem Titel Formen der Darbietung einzelne, etwas heterogene Fragen der Technik behandelt (z. B. rhetorische Schemata in der Lyrik, Bühnenprobleme des Dramas, Zeitbehandlung in der Erzählung).

  Es handelt sich hier also wohl weniger um Schichten einer Werkarchitektur, als um Aspekte eines Ganzen, die sich nur gegenseitig erhellen und57 immer wieder in eins zu sehen sind. Daß diese Disposition Kaysers als Vollzug einer Bewegung und nicht als eigentliches System zu fassen ist, mag es auch verständlich machen, daß sich die einzelnen Problembezirke überschneiden. Die umfassende Kategorie Stil z. B. erscheint als eine Stufe im Lehrgang, ist aber dennoch die umfassende Bezeichnung aller Strukturmerkmale des Werkes und der Gattungstypen. Kayser widmet sich ganz der Beschreibung des literarisch-sprachlichen Gegenstandes und verzichtet auf eine ästhetisch-philosophische Begründung und Diskussion der Phänomene, der Begriffe und Kategorien. Das ist ein Vorteil im Sinn einer unbefangeneren und ungezwungeneren Einführung in die Vielfalt der unterscheidbaren Erscheinungen, bedeutet aber auch wieder den Mangel einer gewissen methodischen Kohärenz. Trotz des unbestreitbaren Fortschritts gegenüber Petersens Darstellung scheint auch Kaysers Werk, dessen Stärke die liebevolle, nüchtern-gespannte Werknähe ist, zu zeigen, daß auch heute noch ein Lehrbuch der Poetik als echtes und einheitlich begründetes System nicht möglich ist.

  Erst recht kann ein kleiner Abriß, wie ihn Josef Körner1) Josef Körner, Einführung in die Poetik. Frankfurt a. M. 1949. für die Hand des Studenten bietet (mit drei Kapiteln über Stilistik als die Lehre von Bildern und Figuren, Prosodik als die Lehre von den klanglichen Kunstformen und Generik als die Lehre von den Gattungen) keinen Anspruch auf grundsätzliche oder gar vollständige Behandlung der Probleme bieten. Umgekehrt leiden die weiter unten zu erwähnenden philosophischen Begründungen der stilkritischen Methode an der Schwierigkeit, sich die Vielfalt der bis jetzt erarbeiteten Einzelerkenntnisse einzuverleiben, und bleiben damit z. T. einseitige Vorstöße.

  Beginnen wir zunächst mit dem Versuch, ein paar zentrale Schlüsselbegriffe der heutigen Werkpoetik an Hand ausgewählter Literatur zu beleuchten. Es handelt sich zunächst um das übergeordnete Problem, den Ganzheitscharakter des Kunstwerks (als Stilganzes, als Werk, als symbolische Gestalt usw. ) zu bestimmen. Von hier aus wird sich dann das Problem der Gattungen und schließlich das des Aufbaus (der Aspekte ) des Einzelwerks stellen.

b) Stil und Werk

Wenn Stilkritik, Stilforschung die kennzeichnende Parole der heutigen Literaturwissenschaft ist, so erfordert wohl zuerst der Begriff des Stils eine nähere Umschreibung. W. Kayser gibt einen ausgezeichneten Überblick über die verschiedenen Wortbedeutungen und Möglichkeiten der modernen58 Stilforschung, deren Vertreter in dem reichen Literaturregister angeführt werden. Der ältere oder außerwissenschaftliche Wortsinn vom Stil als dem Aufputz der Rede mittels traditioneller rhetorischer Figuren oder vom guten Stil als einem richtigen und angemessenen Sprachgebrauch fällt hier außer Betracht. (Ein Beispiel dieser an sich durchaus nötigen und sinnvollen normativen Stilistik bietet z. B. das umfangreiche Werk von L. Reiners1Ludwig Reiners, Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. 2. Aufl., München 1949.). Wichtig wird dagegen die Stilistik der Sprachwissenschaft und ihre Auswirkungen in der Literaturbetrachtung, bei Voss - ler, Croce, Spitzer u. a., wo es vor allem um nationale oder persönliche Sprachstile in - und außerhalb der Dichtung geht und wo Sprache und Dichtung als im Grunde Eines gesehen sind wie schon einst bei Herder (vgl. darüber oben S. 46 ff.). Vielleicht noch entscheidender für die Literaturwissenschaft wurde die Stilforschung der Kunstwissenschaft, d. h. vor allem Wölfflins, dessen paarig-antithetische Kategorien auf Typenbildung ausgehen und zudem besonders auf geschichtliche Epochenstile oder auch nationale Stile gemünzt sind. Gemeinsam ist den verschiedenen Richtungen, daß Stil als Ausdruck, expressives System eines psychischen Innern erscheint und somit immer bezogen wird auf ein außerkünstlerisches Substrat menschlicher kollektiver oder persönlicher Art. Damit wird aber, nach Kayser, das Kunstwerk als eigentlicher Gegenstand der Wissenschaft verfehlt, bzw. dieses tritt immer nur als Indiz oder Beleg für ein Anderes in Erscheinung und meistens nur mit einzelnen seiner Merkmale. Dazu kommt bei der Übertragung kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe auf die Dichtung die Mißachtung des völlig andern Mediums der Sprache, die nie etwas bloß Formales ist. Epochenstile, Generationsstile und vor allem Personalstile sind nach Kayser überhaupt Konstruktionen sehr fragwürdiger Realität. Der Stil ist nicht der Mensch. Im strengen, legitimen Sinn könne nur der Werkstil Gegenstand der Literaturwissenschaft sein, d. h. Stil verstanden als einheitliche, nur in sich selbst und auf sich selbst bezogene Werkstruktur: die einheitliche Perzeption, unter der eine dichterische Welt steht .

  Wir werden unten Gelegenheit haben, die Gültigkeit dieser Ansicht einzuschränken, gerade im Namen der Sonderart sprachlicher Kunst und in der Absicht, den geschichtlichen Charakter der Dichtung und damit die Historie als ebenfalls legitime Literaturwissenschaft wieder zur Geltung zu bringen. Zunächst aber ist es sicher nützlich, den Stil in einem exklusiven Sinn als Werkstil zu betrachten, als die sich in sich selbst erhellende, auf sich selbst bezogene Einheitlichkeit des konkreten Werks in59 Rhythmus, Gedanke, Bildvorstellung, Lautlichkeit, Syntax, Aufbau usw., jenseits aller Aufspaltungen in Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt, Ausdruck und Ausgedrücktes, Symbol und Bedeutung, also als das, was von einer Poetik des Schaffens aus als Phantasie oder Einbildungskraft bezeichnet wird, in einer Werkpoetik aber nur am Werk selbst erscheint. Stil ist jene Einheitlichkeit, jene Stimmigkeit, jene Ganzheit, jene apriorische Welt des Werks, aus der allein das einzelne Merkmal Stelle und Sinn erhält.

  Damit ist der Begriff Stil allerdings zu einer erweiterten und totalen Bedeutung gekommen gegenüber einer spezielleren im Sinn von äußerer Form ; aber ähnlich wird auch das Wort Form gerne zur Bezeichnung des ganzen, einheitlichen Wesens des Werks gebraucht, als höhere Einheit aus Form und Inhalt, und ebenso schließlich Gestalt als die Einheit aus Gehalt und Gestalt im alten Sinne. Wir kommen auf diese Schwierigkeiten zurück, wo es die Form-Inhalt-Problematik im Aufbau des Werks selbst zu behandeln gilt. Zunächst halten wir uns am Begriff des Werks , denn dieses ist ja offenbar die geradezu wie ein rundes Ding faßbare Stilganzheit, die wir suchen. Was ist dieses Werk ?

  Gegenüber den oben schon genannten Untersuchungen R. Ingardens oder Ernst Wolffs mit ihren phänomenologischen oder erkenntniskritischen Ergründungen des äußerst komplizierten Gebildes, das im Kunstwerk erscheint, bedeutet Martin Heideggers existentialistische Untersuchung eine entscheidende und originale Wendung. Seine Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerks1) Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. (In: Holzwege. Frankfurt a. M. 1950). geht auf Vorträge aus früheren Jahren (1935 ff. ) zurück, die aber erst jetzt durch die gedruckte Zusammenfassung ihre eigentliche Wirkung erhalten werden. Die genannte Wendung besteht darin, daß das Werk nicht aus seinem Dingcharakter begriffen wird, sondern umgekehrt das Dinghafte aus dem Werk-Sein verstanden werden soll. M. a. W.: Dichtung wird wie auch das wesentliche Denken selbst als Ursprung, die Kulturleistungen erst ermöglichende, die Geschichte erst begründende Befreiung zur Existenz gesetzt. Das Werk gehört als solches einzig in den Bereich, der durch es selbst geöffnet wird , es ist nicht ein vom Dichter Gemachtes, vielmehr ein erst den Dichter machendes. Das Werk stellt als Werk eine Welt auf , hält das Offene der Welt offen . Unter diesem entscheidenden Begriff Welt ist nicht eine bloße Ansammlung der ... vorhandenen Dinge und nicht ein zur Summe des Vorhandenen hinzugedachter Rahmen zu verstehen, sondern das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen . Der Begriff der Welt hat sein untrennbares Gegenüber im Begriff der Erde : in der Erde, die vom60 Werk hergestellt wird , erfüllt sich und verbirgt sich zugleich der Sinnzusammenhang Welt . Im Gegeneinander von Lichtung und Verbergung, im Streit von Welt und Erde aber geschieht Wahrheit , wird Wahrheit ins Werk gerichtet. Und das Erscheinen der Wahrheit, als dieses Sein der Wahrheit im Werk und als Werk, ist die Schönheit. Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird . Das Wesen der Dichtung der ursprünglichsten, weil sprachlichen Kunst ist die Stiftung der Wahrheit .

  So ist bei Heidegger Dichtung und hier wieder das Werk zur höchsten Würde eines Ursprünglichen gekommen; das Gedicht ist nicht mehr bloßer Ausdruck oder Form eines Gehalts um die Überwindung dieses lähmenden Form-Inhalt-Schemas ringt im Grunde die ganze moderne Poetik aber es hat auch nicht die geschlossene Dinghaftigkeit des bloßen Ergons. Das Ergon ist in der Weise der Energeia.

  Was bedeutet nun für den Literaturwissenschafter die Interpretation so verstandener Dichtung? In dieser praktischen Hinsicht führen weiter wohl weniger Heideggers eigene kühne Interpretationen an Hölderlin oder Rilke als die neuen Ansätze von seiten der Literaturwissenschaft selbst. Gerade als Energeia kann Dichtung nicht analytisch-erklärend verstanden werden. Ein Kommerell möchte ausdrücklich den Schein einer Beweisführung vermeiden, er will seine innere Erfahrung verdeutlichen, für andere benutzbar machen, nicht mehr . Weniger ein Erkennen als ein Umgang mit Dichtung, ja ein Einüben in sie ist nötig, eine Hingabe . Um des Gedichteten willen muß die Erläuterung des Gedichtes danach trachten, sich selbst überflüssig zu machen (Heidegger) eine These, die für eine historische Literaturbetrachtung sicher nicht gilt, denn diese versteht sich nicht nur als Weg, sondern erstrebt ein Resultat in der Gestalt des wissenschaftlichen Werk - und Erkenntnisganzen.

  Verstehen ist für Heidegger nicht das Erkennen oder Anschauen eines Gegenüberstehenden, sondern ein Grundmodus des Daseins selbst. Ein Gedicht verstehen heißt daher selber in der Offenheit des Gedichtes stehen. Nur so, d. h. existentiell ist auch der hermeneutische Kreislauf, der Zirkel des Verstehens d. h. das Hin und Her zwischen Ganzem und Einzelnem, zwischen Vorentwurf und Sache selbst kein fehlerhafter, sondern legitimer Zirkel. (Auf die allgemeine Theorie des Verstehens, die damit angeschnitten ist, kann hier nicht eingegangen werden. Eine schöne, leichtfaßliche Darstellung des Problems gibt O. F. Bollnow1Otto Friedrich Bollnow, Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften. Mainz 1949. Ders., Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt a. M. 1941. Ders., Die Methode der Geisteswissenschaften. Mainz 1950. in Auseinandersetzung mit Dilthey und Heidegger. Indem er zwar dem61 geisteswissenschaftlichen Verstehen Allgemeingültigkeit abspricht, rettet er doch seine Objektivität und seinen Anspruch auf wissenschaftliche Strenge, auf Wahrheit im Sinne der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand . Der existentielle Charakter des Verstehens ist bei Boll - now nicht Gebundenheit an die Einzelexistenz in ihrer unentrinnbaren Geworfenheit im Sinne Heideggers, noch steht dem die bloße Uneigentlichkeit des Man gegenüber. Verstehen ist auch in einem positiven Sinne an eine gemeinsame Situation eines Kreises von Menschen gebunden und hat die Richtung auf ein umfassendes Verstehen auf immer breiterer Grundlage).

  Für die Stilinterpretation wird nun, vor allem bei Joh. Pfeiffer1Johannes Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Eine Einführung in das Verständnis des Dichterischen. Leipzig 1936. Ders., Zwischen Dichtung und Philosophie. Bremen 1947. und Kommerell2Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts. (In: Gedanken über Gedichte. Frankfurt a. M. 1943). Ders., Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt a. M. 1940., der Heideggersche Begriff der Stimmung wichtig. Verstehen ist Gestimmtheit, in der Gestimmtheit und durch die Gestimmtheit wird offenbar, woran es mit uns ist, wie es zuinnerst um uns steht . Stimmung steigt auf in uns und überkommt uns (Pfeiffer). Sie gehört zugleich dem Gedicht und dem Leser. Das Gedicht ist schön, heißt: es ist nichts in diesem Gedicht vorhanden, das nicht vollkommen in dieser Stimmung schwänge (Kommerell). Das Gedicht selbst und das Verstehen bedeutet Selbsterkennung . Die Seele will Kunst, um ganz eigentlich zu sein. Indem so die Offenbarkeit des Seins, die Wahrheit als ein Geschehen der Kunst und in der erschließenden Kraft der Stimmung gesehen wird, eröffnet sich die Möglichkeit, die Einheitlichkeit des Werks, seinen Stil , selber als diese so und so geartete Gestimmtheit zu fassen und zu beschreiben.

  Wo es nun aber gilt, die individuelle Verschiedenheit der Stile zu beschreiben und zu begründen, bedarf es weiterer Kriterien. Heidegger bestimmt in Sein und Zeit menschliches Sein, d. h. Dasein, als zeitlich-endliches Sein. Vom Horizont der Zeit aus, in der sich menschliches Dasein auseinanderspannt, muß es möglich sein, die wechselnden Weisen offenbarender Stimmung oder dichterischer Existenz zu unterscheiden und verständlich zu machen. In zwei für die moderne Stilbeschreibung und - typologie entscheidenden Büchern hat Emil Staiger3Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Brentano, Goethe, Keller. Zürich 1939. Ders., Meisterwerke deutscher Sprache im 19. Jahrhundert. Zürich 1943. Dazu jetzt Ders., Die Kunst der Interpretation. Neophilologus XXXV (1951). in selbständigen Folgerungen62 aus Heidegger diese temporale Interpretation begründet, es sind wohl seit den Zeiten des Idealismus die geschlossensten, wenn auch kühnsten Ansätze zu einer Poetik, deren Kategorien und Termini nicht mehr eklektischen oder zufällig empirischen Ursprungs sind, sondern eine systematisch-philosophische Begründung haben. Das erste Buch, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, geht induktiv von drei Gedichten Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers aus, um aus der konkreten Werkinterpretation zur Zeitproblematik vorzustoßen; es gestattet sich auch noch die Erleichterung, daß mindestens zwei der drei Texte die Zeit auch thematisch zum Gegenstande haben. Die verschiedensten Merkmale des in den Werken sich manifestierenden Stils Staiger bezeichnet Stil als literaturwissenschaftliche Fassung des Begriffs Welt , sprachliche Formen, Metrum, Gedankliches, Bildmäßiges usw. werden in ihrer Einheitlichkeit gefaßt und bezogen auf ein Allererstes , die Art, die Welt zu sehen , bevor ein Gegenstand da ist; und dieses Apriori, diese Anschauungsform im Sinne Kants, diese jeweilige Einbildungskraft, ist auf ihren zeitlichen Sinn hin zu bestimmen. Es sind noch individuelle Bezeichnungen, die sich damit für die verschiedenen Stile ergeben: die reißende Zeit bei Brentano, der Augenblick bei Goethe, die ruhende Zeit bei Keller. Es sind Bestimmungen, die dann über das Einzelwerk hinaus u. U. auch für Personal -, National - und Epochenstil gelten können, denn dieser weitere Umkreis des Einzelwerks bleibt hier zur Hilfe oder zur Bestätigung und Folgerung gegenwärtig. Darüber hinaus aber wird eine kommende systematische Stilistik auf temporaler Grundlage ins Auge gefaßt, eine auf die Zeit gerichtete Poetik, die imstande wäre, über den historischen Wirklichkeiten die Möglichkeiten der Poesie in klarer Ordnung aufzubauen . Es ist die Aufgabe des zweiten, systematischen Werkes, diese Möglichkeiten der Poesie, d. h. die verschiedenen möglichen Zeitstrukturen der Einbildungskraft als literaturwissenschaftliche Typologie im Rahmen einer Anthropologie zu untersuchen. Es werden sich dabei die seit der Antike unterschiedenen Dichtarten, die poetischen Gattungen als die fundamentalen Weisen der Zeit in der dichterischen Existenz herausstellen; sie würden gestatten, den Ort der individuell-geschichtlichen Erscheinungen systematisch zu bestimmen. Darüber soll unten beim Gattungsproblem gesprochen werden. Erst dann wird vielleicht der letzte Sinn dieser temporalen Auslegung deutlich. Es handelt sich um letzte Beziehungspunkte und gemeinsame Nenner, deren Wert vor allem in der Klärung der literaturwissenschaftlichen Terminologie besteht und in der Kraft, die stilkritische Fragestellung zu leiten. Die Bemühung um die immer individuelle Einmaligkeit des Einzelwerks oder gar dessen Wert wird dadurch nicht überflüssig. Denn wir fühlen selber allzu gut, wie die Gefahr der ödesten Formalisierung auf uns lauert, sobald das Zeitliche zu nackt erscheint und zu grell63 beleuchtet wird. Verstehen, Interpretieren läßt sich auch ohne explizite Theorie der Zeitformen, ja diese soll und kann aus dem eigentlichen Gegenstand der Forschung ... zu einem unauffälligen Prinzip der inneren Architektur werden. Staigers eigene Interpretationen sind selbst die besten Beispiele dafür.

  Ist die Zeit wirklich die einzige letzte Anschauungsform und die temporale Auslegung der grundsätzlichste Weg zum Stilganzen? Bei Kant steht daneben der Raum; Staiger spricht dagegen mit Hinweis auf Kant selbst und Heidegger der Zeit die höhere Würde zu. Auf alle Fälle aber sind beide so sehr aufeinanderbezogen, daß praktisch ebensogut von einer einheitlichen Zeit-Raumstruktur und ihrem je nachdem mehr räumlichen oder mehr zeitlichen Aspekt gesprochen wird. In diesem Sinn sind auch unabhängig von Heidegger oder Staiger, wenn auch ohne deren Systematik, Zeitlichkeit und Räumlichkeit als die letzten Bestimmungsmittel künstlerischer oder kultureller oder allgemein anthropologischer Stile benützt worden. Schon Spengler hat für seine Kulturmorphologie damit gearbeitet (Untergang des Abendlandes I III); heute ist, wie schon mehrfach angedeutet, von den verschiedensten Seiten, vor allem der Physik, der Psychologie und der bildenden Kunst her, eine Revolution unserer Raum-Zeit-Anschauungen bzw. - Formen eingeleitet und sind diese damit in ihrer Bedeutung erneut erkannt worden es sei hier nur auf S. Gie - dion1Siegfried Giedion, Space, Time and Architecture; the growth of a new tradition. 8. Aufl., Cambridge 1949. oder J. Gebser2Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. I, Stuttgart 1949 (vgl. oben). Ders., Der grammatische Spiegel, neue Denkformen im sprachlichen Ausdruck. Zürich 1944. verwiesen. In der Literaturwissenschaft hat schon Spoerri (s. oben) in eigenwilliger Weise die Kategorien des Raumes ( Die Verwandlung der Welt ) und der Zeit ( Die Bewegung der Seele ) zur Geltung gebracht, und seither ist bei Gaston Bachelard (vgl. oben) der Begriff der Einbildungskraft als vertikaler Bewegung wichtig geworden. Grundsätzliche Bedeutung beanspruchen auch die spezielleren Arbeiten von Maeder3Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von Sprach - und Geistesgeschichte (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach - und Stilgeschichte Nr. 1. Zürich 1945). ein Vergleich zwischen Texten Bertholds von Regensburg und Luther nach ihrem Zeit-Raum-Bild , Erwin Kobel4Erwin Kobel, Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen Dichtung (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach - und Stilgeschichte Nr. 4. Zürich 1951)., der verschiedene64 Raumtypen in mittelhochdeutscher Dichtung untersucht und z. B. eine Beziehung zwischen Mystik und Entdeckung der Perspektive erkennt, oder schließlich Werner Matz1Werner Matz, Der Vorgang im Epos. Interpretationen zu Kudrun, Salman und Morolf, Archamp und Chrestiens Erec mit einer Abhandlung über Aspekt und Aktionsart des Verbs im Aufbau der Erzählung (Dichtung, Wort und Sprache Bd. 12, Hamburg 1947)., der der noch unergründeten zeitlichen Ordnung im Sprach - und Erzählstil volksepischer Texte nachgeht.

  Nicht überall freilich, wo Zeit - oder Raumvorstellungen, Zeit - oder Raum - Erlebnis untersucht sind, sind letzte Strukturen des Daseins gemeint; aber die bestimmten thematischen, vorstellungsmäßigen, sprachlichen, aufbautechnischen Probleme von Raum und Zeit in der Dichtung können auch dann leicht auf den Zusammenhang der existenziellen Raum - Zeit-Struktur bezogen werden. So wird in Seckels2Dietrich Seckel, Hölderlins Raumgestaltung. DuV 39 (1938) 469 ff. Untersuchung von Hölderlins Raumgestaltung das Raumbild zum Ausgangspunkt für das Verständnis von Hölderlins Weltbild und Stil überhaupt. Günther Mül - ler3Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonn 1946. Ders., Über das Zeitgerüst des Erzählens, am Beispiel des Jürg Jenatsch . DV 1950 (24), 1 ff. verfolgt mit der Zeitbehandlung in der Erzählung zunächst aufbautechnische Prinzipien; das jeweilige Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit (Ausschnitt, Raffung, Reihenfolge) gestattet, im Rahmen von Müllers morphologischer Literaturbetrachtung verschiedene Gruppen und Typen der Erzählung zu unterscheiden. Wiegands4Julius Wiegand, Die Zeitform im lyrischen Gedicht. ZfdA 80 (1944) 199 ff. Untersuchung schließlich ist nur eine Umschau in den sprachlichen Zeitformen des Verbs (von denen sich keine als besonders lyrikgemäß hinstellen lasse) ohne stilkritische oder stiltypologische Auswertung.

  Neben der Zeit und neben dem Raum hat die Literaturwissenschaft auch andere letzte Schlüsselbegriffe der Stilinterpretation zu erarbeiten gesucht. Es ist hier wohl der Ort, des früh verstorbenen Clemens Lu - gowski5Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932. zu gedenken, der schon 1932 einen eigenartigen und eigenwilligen Vorstoß in dieser Richtung unternahm. Es geschah auch bei ihm im Willen, Dichtung ... ohne historische Erweichung ernst zu nehmen und literaturwissenschaftliche Begriffe nur als leichte Chiffren der Anschauung gelten zu lassen. In seinem ersten Buch geht Lugowski aus von der Problemgeschichte seines Lehrers Rudolf Unger, fragt nun aber nach65 dem Subjekt aller der verschiedenen Probleme (Liebe, Tod usw. ), d. h. nach ihrem Schnittpunkt, der sich in den individuellen Menschenfiguren der erzählenden Dichtung als den Gestalten eines Dichters darstellt. Die Art und Weise, in welcher damit die gesamte dichterische Welt auf die individuellen Problemsubjekte bezogen ist, macht nichts anderes als die gesamte Struktur der Erzählung aus, ist der Stil vor aller Form-Inhalt-Unterscheidung, um deren Überwindung es auch Lugowski geht. Jede Dichtung ist eine menschlich-gemachte, ihr Stil bedeutet also eine so und so geartete Künstlichkeit , die bis zu einem gewissen Grade vom Leser geteilt werden muß, und die auch ihre geschichtlichen Wandlungen erfährt. In der frühen deutschen Prosaerzählung kann nun, vom Gesichtspunkt der Individualität der Figuren aus, diese Stilwelt, diese geschichtliche Form von Künstlichkeit, in ihrer Art, ihren Wandlungen oder Auflösungen verfolgt werden. Dabei kommt u. a. auch etwa die Zeitstruktur zur Untersuchung.

  So wie hier Individualität der dichterischen Person aus einem thematischen Problem zu einem stilistischen wird, kann auch die jeweilige dichterische Auffassung der Wirklichkeit, die je zu einem Menschen und zu einem Dichter gehört, zum Hebel der stilkritischen Interpretation werden. Vielleicht, daß man diesen Begriff der Wirklichkeit etwa dem Heideggerschen Begriff der Erde gleichsetzen kann, wogegen Welt der Zeit - Raum-Struktur des Stils entspräche, Wirklichkeit also das, was in diesen Anschauungsformen sich erfüllt und erscheint. Lugowski greift in seinem zweiten Werk1Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrichs von Kleist. Frankfurt a. M. 1936. zwei gegensätzliche Typen, zwei große abendländische Möglichkeiten der Wirklichkeitserfahrung heraus. Die eine ist im wesentlichen romanisch und gibt sich als märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit , als Märchenroman und zugehöriger Antimärchenroman (vertreten durch den höfisch-idealistischen bzw. realistischen Roman des 17. Jahrhunderts); dazu gehört ein Stil der Distanz, der genauen Kausalmotivierung, des Gegenübers von zwanghafter Wirklichkeit und überwirklichem Jenseits. Auf der andern Seite gibt es die im wesentlichen germanische Form der Wirklichkeit als das Unmittelbare, wo das Objektive überwunden ist in der Einheit von Wirklichkeit und Wollen und einem bejahten Schicksal.

  Völlig unabhängig davon und auf viel breiterer Basis ist dieses Wirklichkeitsproblem der abendländischen Dichtung inzwischen von Erich Auerbach2Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946. aufgenommen worden, auch hier unter Ansetzen zweier66 gegensätzlicher Möglichkeiten abendländischen Stils. Auerbachs Werk ist sicher eine der bedeutendsten, anregendsten Publikationen der letzten Jahre. Sie ist für die moderne Methode kennzeichnend, indem sie aus 19 von einander unabhängigen Interpretationen von Texten aus zwei europäischen Jahrtausenden besteht, in chronologischer Anordnung, entstanden im freien Spiel mit dem Text , geleitet von einigen allmählich und absichtslos erarbeiteten Motiven . Die reichen und hellhörigen, meister - und musterhaften Beispiele moderner Interpretationskunst gelten an sich dem Stil im allgemeinsten Sinne. Dieser Stil wird nun aber näher gefaßt als Wirklichkeitsdarstellung ; das Buch gilt dem Problem und der Geschichte des Realismus. Realismus aber und hier sind Mißverständnisse möglich nicht im herkömmlichen Sinn eines bestimmten, etwa durch Sachnähe und rohe Stofflichkeit ausgezeichneten Literaturstils, nicht als realistische Nachahmung (trotz des etwas fragwürdigen Titels Mimesis ), sondern als jeweilige Interpretation der Wirklichkeit , als der aller Thematisierung vorausliegende Entwurf des Stils. Dies ist wohl auch der Grund, warum sich Auerbach ausdrücklich nicht auf eine Diskussion des Begriffes Realismus einlassen will. Nur gelegentlich und nachträglich deutet Auerbach denn auch eine Systematik an, unter der nun die Verschiedenheit der ausgelegten Stile zu sehen ist: statt Lugowskis romanisch-germanischer Typologie ist es ein der europäischen Gegebenheit zweifellos angepaßteres Gegenüber von antiker und christlicher Welt. Es sind zwei sich beständig auseinandersetzende oder verbindende Stiltraditionen, die die abendländische Literatur bestimmen: eine stiltrennende, d. h. bestimmte Höhenlagen unterscheidende und reine Formen erstrebende Tradition, und eine im wesentlichen christliche stilmischende Tradition, die keine Unterscheidung zwischen niederen und hohen Gegenständen und Formen kennt und auch im Alltäglichsten und Verächtlichsten das Hintergründige und Erhabene durchbrechen sieht (im Mittelalter läßt sie sich als figuraler Stil bestimmen). Trotz seiner ausdrücklichen Beschränkung auf zufällige Texte und deren in sich ruhende Interpretation setzt Auerbach also eine systematische Typologie voraus, ja er gibt mit der zeitlichen Reihung auch eine Geschichte der europäischen Wirklichkeit. Man mag sich darum gerade hier fragen, ob diese Bescheidenheit des Stilkritikers nicht eine falsche ist, ob nicht der systematische wie der historische Zusammenhang eine explizitere Darstellung erfordert hätten; die moderne, etwas preziöse Angst vor Systembildung scheint nicht gerechtfertigt, wenn ein dafür reichlich rohes Schema eben doch vorhanden ist.

  Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so ist dies eine Einschränkung oder gar Umdeutung der meistens üblichen andern Verwendung (als Epochenstil oder als äußere Form [Erma -67 tinger] im Gegensatz zum Inhalt u. ä.). Das Bedürfnis, die Einheitlichkeit, den Ganzheitscharakter des Werks mit einer genaueren Bezeichnung zu fassen, ist damit verständlich. Auch die Bezeichnung Struktur , wie sie von Psychologie und Poetik seit Dilthey gebraucht wird, scheint zu unverbindlich und allzu sehr ins Reich des Mineralischen oder Architektonisch-Starren zu verweisen. Schon Ermatinger spricht daher, wo es das Wesen künstlerischer Form zu bestimmen gilt, ausdrücklich von Organisation, Organismus, organisch, um nicht nur das Ganzheitliche, sondern auch das Lebendige und Schöpferische der Dichtung auszudrücken. Das empfahl sich um so mehr, als mit Begriffen wie Erlebnis oder Entwicklung die Literaturwissenschaft sich auch sonst an der Natur - und Kunstlehre Goethes orientiert hatte. Gerade in diesem Zusammenhang tritt nun aber neuerdings eine weitere Bezeichnung in den Vordergrund, die sich auch auf Goethe berufen kann und zudem in den verschiedensten Disziplinen der modernen Naturwissenschaft und der Psychologie, die ja ohne den Begriff der Ganzheit längst nicht mehr auskommen, eine bedeutende Rolle spielt: die Bezeichnung Gestalt (vgl. etwa die Werke des Philosophen F. Weinhandl1Ferdinand Weinhandl, Die gestaltanalytische Philosophie in ihrem Verhältnis zur Morphologie Goethes und zur Transzendentalphilosophie Kants. Kant - Studien N. F. Bd. 42 (1942 / 43) 106 ff., des Psychologen D. Katz2D. Katz, Gestaltpsychologie. Basel 1944. und des Physiologen Viktor v. Weizsäcker3Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. 3. Aufl., Stuttgart 1947.). Als Kriterien der Gestalt werden gewöhnlich angeführt, daß das Ganze mehr als die Summe der Teile sei und daß es unverändert in veränderte Bedingungen transponierbar (z. B. vererbbar) sei, Kriterien, die auf ihre Weise ja auch für das Dichtwerk zutreffen. Jene Ganzheit ist damit auch in jedem Teil oder in jedem Moment des Vollzugs gegenwärtig, was wiederum für die Dichtung als Bewegung, als Einheit von Dauer und Wechsel, wichtig ist. So ist denn Morphologie, morphologische Literaturwissenschaft ein neues Programm geworden, hinter das sich vor allem Günther Müller4Günther Müller, Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie. Halle 1944. (Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, Bd. 13). Ders., Morphologische Poetik. Helicon V (1943), 1 ff. gestellt hat.

  G. Müller beruft sich unmittelbar auf Goethes Definition der Gestalt als Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens und nennt Gestalt die anschauliche Erscheinung, in der die Dichtung spricht . Dichtung ist68 eine Gestaltwirklichkeit, die durch sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels von Bedeutungen gebildet wird. Dichtung ist sprachgetragene Wirklichkeit , die darüber hinaus als eine Wirklichkeit der Natur bezeichnet werden kann. Und nun versucht Müller auch die Goetheschen Begriffe von Typus und Metamorphose auf die Dichtung zu übertragen. Gestalt entsteht, wenn der Typus Dichtung sich in der Metamorphose zum Werk gestaltet, im Nacheinander der Worte und Sätze, in vertikaler und spiraler Tendenz, wobei aber in jedem Wachstumsstand je schon Gestalt da ist. Soweit nun zwischen den Metamorphosen, in denen sich die verschiedenen Werke bilden, typische Gleichläufigkeiten bzw. Verschiedenheiten sich zeigen, muß es möglich sein, auch die Gattungen und Arten der Dichtung herzuleiten. Und schließlich wird der morphologische Gedanke auch zum Wertmaß: je vollkommener, reiner und reicher die Ausgliederung als Einheit und Entfaltung ist, um so höher wäre das Werk zu werten. Damit ist durch den Rückgriff auf Goethe der Poetik ein neues Arsenal von Kategorien und Termini angeboten und ein Forschungsprogramm aufgestellt, auf eine ebenso einfache wie anregende, ja verwirrende Weise.

  Horst Oppel1Horst Oppel, Morphologische Literaturwissenschaft. Goethes Ansicht und Methode. Mainz 1947. hat es unternommen, die methodischen Grundfragen einer morphologischen Literaturwissenschaft von verschiedenen Ansatzpunkten her und in wiederholtem Einsatz enger einzukreisen , d. h. in beständigem Rückblick auf Goethe zu diskutieren und zu ergänzen, ohne selber ein eingehenderes System zu wagen. Anderseits hat Emil Staiger2Emil Staiger, Morphologische Literaturwissenschaft. Trivium II (1944), 223 ff. ziemlich energisch abgewinkt. Es stimmt an sich mißtrauisch, wenn die Literaturwissenschaft, nachdem sie sich seit Generationen um eine sacheigene Methode bemüht, ihr Heil bei einer wenn auch noch so geistvollen analogischen Übertragung Goethescher, im wesentlichen naturphilosophischer Gedanken finden soll, wobei zudem Goethes Ansätze in Urpflanzenlehre bzw. Osteologie kaum einheitlich sind. Staiger ist der Ansicht, daß überhaupt umgekehrt die deutsche Literaturwissenschaft gerade in dem engen Anschluß an Goethes Begriffe krankt . Weder ist das Dichtwerk ein Organismus nach der Art von Pflanze und Tier, noch sind die Verhältnisse der Teile zum Ganzen hier und dort ohne weiteres vergleichbar, noch ist der Vollzug eines Gedichts eine Metamorphose im Goetheschen Sinn. Die Analogie verwischt gerade das, worauf es ankommt, es ist überhaupt fraglich, ob der Begriff der Gestalt dem des Stils vorzuziehen sei.

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  Im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff ist noch ein weiterer Aspekt zu erwähnen, der dem des Gestalthaften und darüber hinaus dem Wesen der Dichtung überhaupt zugeordnet zu werden pflegt: der Symbolcharakter der Dichtung, wie er ebenfalls von der deutschen Klassik ergründet wurde und nach Goethe eigentlich die Natur der Poesie darstellt1Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in Goethes Naturanschauung. (Palaestra 211) Leipzig 1937. Fritz Strich, Das Symbol in der Dichtung (In: Der Dichter und die Zeit. Bern 1947).. Es ist in letzter Zeit stiller geworden um diesen vielseitigen und darum problematischen Begriff des Symbols, der außerhalb der Literatur, vor allem in der Psychologie, neue Inhalte gefunden hat, anderseits in der Literatur selbst im Zusammenhang mit dem französischen Symbolismus 2Emeric Fiser, La théorie du symbole littéraire et Marcel Proust. Paris 1941. Louis Cazamian, Symbolisme et poésie. L'exemple anglais. Neuchâtel 1947. seines ursprünglichen Sinnes weitgehend entkleidet wurde. Der Symbolbegriff scheint entbehrlich zu werden, wenn man das Kunstwerk nicht mehr als Ausdruck oder Form irgendeines Gehaltes, sondern als in sich ruhendes Werkgebilde verstehen will, und wenn man Dichtung nicht mehr ohne weiteres gleichsetzt mit dem Ausdruckssystem der Sprache schlechthin. Denn der Name Symbol scheint als sein Korrelat ein Symbolisiertes vorauszusetzen der Dichter gibt etwa nach Emil Ermatinger ein Bild des Sinnes ... den er in der Wirklichkeit gefunden hat und damit die autonome Würde des Kunstwerkes zu verletzen. Diese heute unbeliebte Konsequenz, d. h. schließlich die Form-Inhalt-Aufspaltung, erscheint hier noch deutlicher als beim Begriff der Gestalt, der ja z. T. ebenfalls auf einen gestalteten Gehalt bezogen war. Dagegen ist wieder zu sagen, daß es trotz allem Werkcharakter zum Wesen der Dichtung gehört, auch über sich hinauszuweisen, daß also schon darum der Symbolbegriff auch in einer richtig verstandenen Werkpoetik Platz finden könnte; Symbol bedeutet ja gegenüber andern Bedeutungsverhältnissen, daß sich das Bedeutete selbst erst im Bedeutenden vollzieht, daß das Symbol nicht ersetzbar ist. Die Seinsweise von Dichtung ließe sich gerade als symbolische von der Welt realer Wirklichkeit abheben. Zudem könnte, ähnlich wie bei der Gestalt, auch von dem immanenten Symbolcharakter des Dichtwerks gesprochen werden, sofern seine Elemente (Aspekte, Stilzüge) wie Satz, Rhvthmus, Laut, Fabel etc. ihre stilistische Einheitlichkeit dadurch erhalten, daß jeder Stilzug alle andern und zugleich das Ganze repräsentiert, daß einer im andern symbolisch erscheint. Es wäre in diesem eingeschränkten Sinn eben gerade der Symbolcharakter, der die Einheit und Ganzheit namens Stil oder Gestalt konstitutiert.

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  In anderer, etwas schematischer Weise hat Leonhard Beriger1Leonhard Beriger, Der Symbolbegriff als Grundlage einer Poetik. Helicon V (1942) 33 ff. den Symbolbegriff wieder zur Basis der Poetik machen wollen. Symbolik bedeutet nach Goethe das Hervortreten des Allgemeinen im Besonderen. Das gilt aber auch für außerkünstlerische Symbolik. Es bedarf der Ergänzung durch den korrelativen Begriff der Gestalt, der Gestaltung als der Einheit von Gestalt und Gehalt , damit die speziell künstlerische Symbolik entsteht. Dann ist Dichtung ... Offenbarung des allgemeinen Menschenwesens und Menschengeschicks als individuelle Existenz, künstlerisch verwirklicht als Einheit Gehalt-Gestalt . Die Gleichnisdichtung, speziell die Allegorie die von Goethe bekanntlich dem Symbol entgegengestellt wird als der Weg vom Allgemeinen zum Besonderen wäre dann nur eine bestimmte Ausdrucksart, ein bestimmtes Verhältnis von Bild und Sinn, und dem Symbolhaften untergeordnet. Im übrigen versucht auch Beriger, den Symbolbegriff nicht nur zur Grundlage einer Morphologie, sondern auch zu einem Wertkriterium (größere oder geringere Spannweite, Reichtum etc.) zu machen.

  Am hartnäckigsten hat wohl Hermann Pongs2Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. II. Voruntersuchungen zum Symbol. Marburg 1939. die Probleme dichterischer Symbolik und ihres das ganze Werk bestimmenden Charakters untersucht. Die Aufsätze im zweiten Band seines Werks Das Bild in der Dichtung gelten diesem umfassenden Geheimnis des Symbols, das einem Gemeinschaftsgrund und einer übergreifenden Ordnung des Daseins entspringt. Einerseits in Auseinandersetzung mit den Problemen der von der Tiefenpsychologie entdeckten unbewußten Symbolik, anderseits in Untersuchung der bewußten Symbolik vor allem in der deutschen Novelle gelangt Pongs zu einer Symbolik der Existenz, in der Bewußtes und Unbewußtes zusammengefaßt ist. Das Ding-Symbol als konstruktives Element etwa einer Novelle wird mehr und mehr hineingenommen in das Ganze einer symbolisch gefaßten Existenz (welche dann bei Pongs einen dämonischen oder tragischen Akzent erhält). Wir sind damit auch verwiesen auf die spezielleren Erscheinungen, in denen sich der allgemeine Symbolcharakter der Dichtung besonders zu konkretisieren scheint, in Bild, Metapher, Gleichnis, Symbol , Mythos usw., Aufbauelementen des Werks, von denen aus sich dessen Ganzheit aber Schicht um Schicht erschließt und die daher von einzelnen Forschern zum Ausgangspunkt einer Gesamtinterpretation gemacht werden (vgl. Emrich, unten S. 105). Note: Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943.Auch von den Versuchen, der Dichtung von einem spezielleren, nämlich tiefenpsychologischen71 Symbolbegriff her einem wesentlich inhaltlich gefaßten Element also auf den Leib zu rücken, ist unten noch zu reden; wenn z. B. der Dichter Joachim Maass1Joachim Maaß, Die Geheimwissenschaft der Literatur. Acht Vorlesungen zur Anregung einer Ästhetik des Dichterischen. Berlin 1949. in seinen zwanglosen Vorlesungen das Symbol als die Fundamentalqualität von Kunst und Literatur bezeichnet, bleibt er praktisch bei der konventionellen Trennung von symbolischem Inhalt und sprachlichem Ausdruck.

c) Typen und Gattungen

Wie immer man die Einheitlichkeit und Ganzheit des dichterischen Stilganzen fasse, so stellen sich hier zwei Aufgaben als nächste Schritte im Aufbau der Poetik: einmal die Untersuchung der Teile (Glieder, Elemente, Schichten, Aspekte etc.), deren Einheitlichkeit und symbolische Ganzheit der Stil ist, die Frage also, was für Aspekte hier auseinanderzuhalten sind und in welcher Ordnung sie zu einander stehen. Und zum Zweiten die Untersuchung, ob jenseits dieser Aufgliederung des Einzelwerks und gleichsam senkrecht dazu sich verschiedene Weisen einheitlichen Stils, verschiedene Typen der Einbildungskraft, verschiedene Möglichkeiten dichterischer Anschauungsform unterscheiden lassen, denen dann bestimmte Gruppen von Werken als Repräsentanten zuzuordnen wären. Die erste Aufgabe ist also die Analyse des einzelnen Stilganzen als solchen, die zweite die Zusammenstellung und Gruppierung der Vielzahl der Dichtwerke zu einem System von Typen, Gattungen, Klassen oder wie man sie dann nennen mag. Eine Trennung dieser beiden scheinbar senkrecht zueinander stehenden Unterscheidungsmöglichkeiten ist allerdings praktisch schwierig, weil über Sinn und Reichweite des Gattungsbegriffs keine Einstimmigkeit besteht, d. h. weil wie zu zeigen sein wird Typus - und Klassenbegriff meist ineinanderfließen. Und vor allem auch, weil die Gattungen sich u. U. auf eine Struktur des allgemeinen Menschendaseins gründen, die sich auf anderem Wege wieder im Aufbau des Einzelwerks zur Geltung bringt.

  Beginnen wir mit dem allgemeinen Problem der Gattungen und hier mit der Frage einer Typologie der Dichtung überhaupt. Seit Schiller gibt es so etwas wie eine geisteswissenschaftliche Typenlehre in der Anwendung auf die dichterische Kunst. (Die Bedeutung von Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung für die literaturwissenschaftliche72 Methodik hat Heinrich Meng1Heinrich Meng, Naive und sentimentalische Dichtung. Prolegomena zu einer Typologie des Dichterischen (Wege zur Dichtung 25). Frauenfeld und Leipzig 1936. untersucht. Weniger vorsichtig ist Werner Plümacher2Walther Plümacher, Versuch einer metaphysischen Grundlegung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe aus Kants Antinomienlehre mit einer Anwendung auf das Kunstwerk Hermann Hesses (Bonner deutsche Studien, Heft 1, Würzburg 1936)., wenn er den Vorrang zweipoliger Typologien auf Grund von Kants Antinomienlehre nachzuweisen sucht.) Obwohl Schillers Lehre an bestimmte idealistische Voraussetzungen gebunden ist, so überragt sie immerhin als philosophisch verankerte und grundsätzliche Typologie doch wohl die meisten der späteren anthropologischen, psychologischen, ästhetischen Typenbildungen, von Friedrich Schlegel über Nietzsche und C. G. Jung bis zu Wölfflin, Strich und Wal - zel. Für das hoffnungslos verwirrte Bild dieser sich nach allen Seiten überschneidenden Typologien zwei -, drei - und mehrgliedriger Art sei auf die Aufzählung und Diskussion bei Petersen (S. 209 ff., 340 ff. ) verwiesen. Sie kranken meistens daran, daß sie teils außerhalb des Dichterischen stehen, teils nur einen bestimmten Aspekt des Dichtwerks treffen z. B. nur eine äußere Form , die Weltanschauung , die sinnliche Vorstellungswelt, das Seelenleben, die grammatischen Kategorien usw. und damit das dichterische Stilganze verfehlen. Sie können zwar zu ausgezeichneten Einzelbeobachtungen anleiten, aber bleiben als System nicht überzeugend.

  Auf der Suche nach einem durchgehenden und dichtungseigenen Organisationsschema der Poetik fällt nun der Blick auf eine Unterscheidung, die seit altersher praktiziert worden ist und sich nicht übel bewährt hat: die Unterscheidung der drei Gattungen oder Urformen Lyrik, Epik, Dramatik, die sich dann ihrerseits wieder verästeln in das, was man Arten nennen kann: in Lied und Epigramm, in Epos und Novelle, in Tragödie und Komödie, und dann immer weiter in speziellere Unterarten wie historisches Volkslied und Schelmenroman und Stegreifkomödie. Hier steigen wir erwünschtermaßen in die lebendig-konkrete Vielfalt der geschichtlichen Erscheinungsformen hinab, die von der abstrakten, ideellen Höhe der genannten Typologien schwer zugänglich schien. Freilich überwiegt nun hier dieser individuell-geschichtliche Charakter so sehr, daß man nicht mehr wagt, von dauernden dichterischen Möglichkeiten zu sprechen. In der Tat ist es auch nicht üblich, das Gattungs - und Artenproblem unter dem Gesichtspunkt der Typologie zu sehen; solange man induktiv, gleichsam von unten her, feste und individuelle Gebilde zu klassieren sucht, gelangt man zu keiner Idee des Typus.

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  Das Gattungsproblem, das uns von dieser Seite her zuerst zu beschäftigen hat, ist denn auch eine alte crux der Poetik, ja hat diese selbst, wo sie als Sammlung vorgeschriebener Gattungsmuster und - regeln auftritt, in Verruf gebracht. (Eine ausgezeichnete und reich belegte Geschichte der Gattungstheorien in der europäischen Literatur gibt die in der Schule von E. R. Curtius entstandene Arbeit von Irene Behrens1Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. bis 19. Ih. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen (Beihefte zur Zeitschrift für roman. Philologie 92, Halle 1940).. Über die Diskussion Goethes und Schillers, in der die Frage von Epos und Drama zentral wird, vgl. Karl Toggenburger2Karl Toggenburger, Die Werkstatt der deutschen Klassik. Goethes und Schillers Diskussion des künstlerischen Schaffens (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur - und Geistesgeschichte Nr. 1) Zürich 1948.). Wo die Gattungslehre nicht mehr als Grundeinteilung der Dichtkunst gilt, da wird es unsicher, wo sie eigentlich hingehört. Für diese Verlegenheit ist es z. B. bezeichnend, wenn sie bei Ermatinger unter den Kategorien der äußeren Form (als Aufbautechnik) erscheint, bei Petersen oder Petsch aber unter den Kategorien der inneren Form . So wird die vielberufene Radikallösung B. Croces verständlich, im Namen einer schöpferischen, einen und unteilbaren Poesie die Gattungsunterschiede als wesenhaft nichtexistent, d. h. als zufällige und nachträgliche Schematisierungen beiseite zu schieben. Das hat aber in keiner Weise verhindert, daß das Gattungsproblem wieder im Zentrum der neueren Poetik steht. Das Protokoll der Verhandlungen und Vorträge, die am dritten internationalen Kongreß für Literaturgeschichte ausschließlich dem Problem der genres littéraires galten, kann man im Helicon nachlesen3Actes du 3e Congrès international d'histoire littéraire, Lyon 1939. Helicon II (1940), 95 ff.. (Vgl. dazu van Tieghem4Paul van Tieghem, La question des genres littéraires. Helicon I (1939), 95.). Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, die Gattungen und Arten zu rehabilitieren als notwendige Leitformen und Ordnungen, deren sich die dichterische Sprache bedient und bedienen muß, um sich auszudrücken und mitzuteilen. Genannt sei speziell der Beitrag von Pierre Kohler zur Philosophie des Genres. Es werden sogar ihre ressorts psychologiques erwogen oder es ist gar die reine Form als Wertfaktor der Dichtung in Anspruch genommen. In der Richtung von Kohlers Bemerkungen geht auch der Satz N. H. Pearsons5N. H. Pearson, Literary Forms and Types. English Institute Annual 1940, 59 ff. New York 1941. James J. Donohue, The Theory of Literary Kinds. Dubuque, Jowa 1943. (Beide unzugänglich.), den Wel -74 lek-Warren S. 235 zitieren: Gattungen may be regarded as institutional imperatives, which both coerce and are in turn coerced by the writer .

  Den größten Teil seines Lebenswerks hat Robert Petsch1Robert Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. 2. Aufl., Halle 1942. Ders., Die lyrische Dichtkunst und ihre Formen (Handbücherei der Deutschkunde 4, Halle 1940). Ders., Wesen und Formen des Dramas. Allgemeine Dramaturgie. Halle 1945. Ders., Deutsche Literaturwissenschaft. Aufsätze zur Begründung der Methode (Germanische Studien Heft 222, Berlin 1940). den literarischen Gattungen und Arten gewidmet. (Eine zusammenfassende Würdigung dieser Werke gibt Paul Böckmann2Paul Böckmann, Die Lehre von Wesen und Formen der Dichtung (In: Vom Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch. Herausgegeben von Fritz Martini, Hamburg 1949).). Die allgemeine Literaturwissenschaft , und zwar deutscher Art, die Petsch zu begründen sucht, setzt sich ab gegen bloße Ästhetik und Werkbetrachtung einerseits und gegen eine bloß empirisch-beschreibende Historie andererseits. Sie will die Erscheinung aus dem Wesen klären , als reine Dichtungswissenschaft die Poesie als vorgängliche Wesenheit für sich, mit und in ihren Äußerungsformen ... begreifen , d. h. aus dem Verständnis der dichterischen Gestaltungskraft die unabsehbare dichterische Formenwelt durchdringen und ordnen. Dabei wird der alte Begriff der innern Form seit Shaftesbury im Grunde ein paradoxer Verlegenheitsbegriff wichtig. Die Wesenheit Dichtung entfaltet sich von innen her in die gestalthaften, wachstumshaften Gebilde bis zur äußeren Form . Es gibt nun aber Grundmöglichkeiten des menschlichen Verhaltens, die sich als durchgehende innere Form durchsetzen, und sie sind es, die die verschiedenen Gattungen bestimmen. Zum Beispiel der dramatische Mensch um uns auf das ausführlichste Werk von Petsch zu beziehen ist der Mensch, der imstande und gewillt ist, der den Mut und vielleicht die Verwegenheit hat, sein Ich und die Welt um ihn her unter dem Gesichtspunkt der dialektisch gespaltenen Idee zu sehen, von welcher Art der letzte Widerspruch, inhaltlich gesehen, auch sein möge . Die Entfaltung aber der Gattung Drama verfolgt nun Petsch, wenn auch in beständiger Befragung des geschichtlichen Materials, nicht etwa historisch, sondern systematisch. Er spricht von den primitiven Wurzeln und Urformen und von der inneren Form (dramatischer Mensch, dramatische Wirkung, dramatisches Kunstwerk, Bedeutung und Aufgaben des Dramas), um dann die verschiedenen Aspekte des Werks in (innerem) Vorgang und (äußerer) Handlung, in der Gestaltung der Umwelt, der Figuren, der Rede und der Versform zu behandeln. Ähnlich gliedert Petsch auch die Behandlung der Erzählformen nach Welt, Mensch und Geschehen. Bei allen Versuchen,75 nach dem Wesen vorzustoßen, bewegen sich diese Gattungspoetiken mit ihren vielseitigen, reichhaltigen Fragestellungen und Beobachtungen vor allem in der Fülle des Konkreten. Trotz der entscheidenden Wendung, ein Grundverhalten zu suchen, kommt es kaum zu einer systematischen Begründung der Typen, ja auch nur zu einer prinzipiellen Klärung der Terminologie. Auf der andern Seite bleibt aber auch, wie Böckmann betont, bei der systematischen Disposition die Entfaltung der Gattungen als Literaturgeschichte vernachlässigt.

  Was sind Gattungen? Emil Staiger hat die Frage neu gestellt1Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. und mit einer bei der heutigen Begriffsverwirrung willkommenen Entschiedenheit zu lösen gesucht. Die Entscheidung geht dahin, die Gattungsbegriffe Lyrisch, Episch, Dramatisch als fundamentale Stilbezeichnungen zu bestimmen, als poetische Grundbegriffe . Damit wird die Gattungspoetik, soweit sie überhaupt als sinnvoll bestehen bleibt, zu nichts anderem als zur Stiltypologie. Es interessiert also zunächst die adjektivische Fassung: lyrischer , epischer , dramatischer Stil. Und dieser Gebrauch ist grundsätzlich vom substantivischen zu scheiden. Denn dieser zweite insinuiert die gefährliche Vorstellung von Klassen, von Fächern, in die wir die Fülle der Einzelexemplare sauber verteilen könnten, wie etwa die Tiere in die festen Tiergattungen. Gerade dies geht aber nicht, wie Staiger mit einer Kritik an Petersens scharfsinnigem Radschema der vorkommenden Gattungen und Arten zeigt. Es gibt hier alle Übergänge, eine Zuweisung könnte nur nach vielleicht willkürlich bestimmten äußeren Merkmalen erfolgen; und vor allem: mit der Reinheit der Form hätte man nichts gewonnen, denn eine Gattungsform ist nicht ein Muster, das erfüllt sein muß, Gattungsbestimmungen sind wertindifferent. Als stilistische Grundbegriffe aber werden die Bezeichnungen sinnvoll; sie können nun verstanden werden als literaturwissenschaftliche Namen für Möglichkeiten des menschlichen Daseins , sie erhalten anthropologischen Sinn und erschließen im Einzelwerk neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Stilzügen. Stai - gers Gattungslehre ist somit eine Weiterbildung und Systematisierung der Befunde, die sein erstes Buch an verschiedenen individuellen Stilen beschrieben hat. Denn diese Gattungsstile erhalten nun ebenfalls ihre temporale Deutung. In glänzenden Charakteristiken wird das Lyrische (sein Zerfließen, sein Stimmungshaftes, Abstandloses, Punktuelles, Grundloses usw. ) vor allem an Hand des romantischen Liedes unter der Bestimmung Erinnerung gefaßt, das Epische (Vergegenwärtigung, Feststellung, Distanz, Selbständigkeit der Teile, Tradition und Gemeinschaft) am Beispiel Homers als Vorstellung , und das Dramatische als Spannung , einer pathetischen76 Spannung des Willens oder einer problematischen Spannung des entworfenen Gedankens; und jeder dieser zwei dramatischen Typen kennt eine tragische oder eine komische Lösung. Erinnerung, Vorstellung, Spannung sind aber die literarische Form der drei Ekstasen der existenziellen Zeit, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit sind die Gattungsstile auf ihren gemeinsamen Nenner gebracht; damit ist begründet, warum nur diese und nicht andere oder weitere zu unterscheiden sind; und damit ist schließlich auch erklärt, warum diese Typen niemals rein, sondern nur vorwiegend erscheinen können: wie Silbe, Wort und Satz in der Sprache, oder wie Seele, Leib und Geist beim Menschen nur ineinander da sind, so tritt, in genauer Entsprechung, ein Stiltypus nur als besondere Akzentuierung hervor1Schon Novalis hat gefragt: Sind Epos, Lyra und Drama etwa nur die 3 Elemente jedes Gedichts und nur das vorzüglich Epos, wo das Epos vorzüglich heraustritt, und so fort? . Darum ist z. B. das Dramatische auch an einer Novelle oder einem Epigramm zu demonstrieren und sind diese Formen poetisch legitim. (Schon vor Staiger hat übrigens Justus Schwarz2Justus Schwarz, Der Lebenssinn der Dichtungsgattungen. DuV 42 (1942) 93 ff. die Frage nach dem urphänomenalen Charakter der Gattungen gestellt und zum Ausgangspunkt ihr Verhältnis zur Zeitlichkeit unseres Daseins genommen. Ohne Bezugnahme auf Heidegger kommt er zu teilweise andern Zuordnungen: die Lyrik ist Gegenwart als die ursprunghafte Mitte, die sich nach entgegengesetzten Seiten entfaltet, als Epik im Raum der Vergangenheit, als Dramatik im Zeichen der Zukunft; auch hier sind die Gattungsprinzipien als immer gleichzeitig wirksame dynamische Momente aufgefaßt.)

  Das sind soweit ausgezeichnete Ergebnisse: 1. eine Klärung der Terminologie, die man ungestraft nicht mehr wird übersehen können, 2. die Begründung einer philosophisch fundierten, dichtungseigenen und geschlossenen Stiltypologie, die den Gesamtstil und nicht nur Einzelaspekte betrifft, und 3. die Befreiung des Gattungsproblems vom Wertgesichtspunkt (vgl. unten). Sind damit die Gattungen als Klassen, als das Drama, die Lyrik usw. abgetan? Was bedeutet es, wenn wir doch in Wirklichkeit solche wie es scheint nach einheitlichem Modell gebaute Gruppen von Werken antreffen? Sind substantivische Gattungsbezeichnungen wesenlose Nomina? Ist es belanglos, wenn z. B. der Typus Epik nur Homer, aber die gesamte herkömmlicherweise auch zur Epik gerechnete abendländische Erzählung nur teilweise deckt? Hier beschwert sich Staiger3Emil Staiger, Zum Problem der Poetik. Trivium VI (1948), 274 ff. über die seltsamsten Mißverständnisse , die seinem Buch widerfahren seien. Er gibt zu, daß er sich nicht getraue, jeden Zusammenhang zwischen dem Epischen und dem Epos,77 dem Lyrischen und der Lyrik in Abrede zu stellen. Ja er gesteht sogar unter gewissen Bedingungen die Möglichkeit einer Art Musterpoetik zu, die mit dem Begriff des Spielraums fragen würde: Was ist im Raum der Ode, der Elegie, des Romans, der Komödie möglich? Nur möchte ich mich weigern, dieses Geschäft zu übernehmen. Denn die Verhältnisse scheinen hier so kompliziert und schwierig zu sein, so groß ist mein Glaube an neue, ganz unerwartete Möglichkeiten der Dichter, daß ich von den Grundbegriffen lieber gleich zur Interpretation des einzelnen Kunstwerks übergehe. Das Recht zu solchem Verzicht wird niemand bestreiten, aber das Problem wird wegen seiner Schwierigkeit noch nicht hinfällig. Das Problem nämlich und die Aufgabe, den zwischen dem Typus und dem Einzelwerk stehenden Gruppeneinheiten, Stilganzheiten nachzugehen, ohne deren Berücksichtigung das Einzelwerk im geschichtslosen Raum bzw. einem geschichtlichen Chaos schweben würde. Es meldet sich für die Poetik die Tatsache, daß sich Dichtung nur in geschichtlichem Zusammenhang zeigt, wie sie Stai - ger selbst bei seinen Interpretationen (z. B. Kellers) auch berücksichtigt. Es zeigen sich über dem Einzelwerk Ordnungen, Stilschemata, stilistische Ganzheiten, mit denen und aus denen die Einzelwerke leben. Zu ihnen gehören auch die Gattungen und Arten bis hinein in ganz bestimmte Bautypen. Sie werden allerdings nicht a priori abzuleiten und nicht als Naturformen zu verstehen sein, sondern in ihrem spezifisch geschichtlichen Charakter, d. h. aus der Dialektik von fester Tradition und unberechenbarem Ursprung, wobei sich das Verhältnis von Typus und Individualität immer wieder umkehrt.

d) Einzelprobleme von Gattungen und Arten

Das zeigt sich bei dem von Staiger abgelehnten Versuch, die Typologie nun im einzelnen weiter zu verästeln: der Poetiker muß sich hier immer mehr auf das Feld der konkreten geschichtlichen Form und Form - Tradition begeben; die Poetik kommt hier nicht mehr ohne die Historie aus. Es wird sich darum auch im Folgenden nur um einzelne Hinweise handeln können, da hier die Prinzipienlehre in die historische Einzelbeschreibung übergeht und dadurch erst recht auch in das Gestrüpp einer Nomenklatur der Formen gerät, die von Sprache zu Sprache und von Epoche zu Epoche wechselt. Wir müssen aber auch hier schon Versuche berücksichtigen, das Wesen einer Gattung oder Art in einer Gattungs - oder Artgeschichte zu fassen, da hier das Ziel eher in der Erkenntnis der Gattung selbst als der Literaturgeschichte besteht.

  Die Lyrik wie immer ihr Typus bestimmt, wie immer ihre Zeitlichkeit gedeutet wird, erscheint als Ur-Dichtung , in der sich das dichterische78 Phänomen gleichsam an der Quelle zeigt; von ihr aus werden erst die zu größeren Strukturen ausgebauten und verfestigten epischen und dramatischen Dichtungen zugänglich. Dieser Gedanke liegt den Beschreibungen von Kommerell1Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts (In: Gedanken über Gedichte s. o.). und von Staiger oder Schwarz zugrunde und meist auch den zahllosen Interpretationen etwa bei Burger , die sich das einzelne lyrische Gedicht als bequemsten Zugang zur Erläuterung des Wesens Dichtung wählen. Aber dies ist eine wesensmäßige, nicht eine geschichtlich-entwicklungsmäßige Ursprünglichkeit. Denn die Innerlichkeit 2Johann Brändle, Das Problem der Innerlichkeit; Hamann, Herder, Goethe, Bern 1950., die Seelenhaftigkeit, die Spontaneität der Lyrik, wie sie heute in den Mittelpunkt gerückt werden, sind erst auf später geschichtlicher Stufe deutlich. Gerade die primitiven Formen der Lyrik (wie sie etwa Andreas Heusler3Andreas Heusler, Altgermanische Dichtung. 2. Aufl., Potsdam 1941. in der altgermanischen Literatur unterschied, unter erfolgreireicher heuristischer Verwendung des Begriffs von der Gattung als einem Formgebilde, oder wie sie systematisch Petsch4Robert Petsch, Spruchdichtung des Volkes. Vor - und Frühformen der Volksdichtung. Ruf, Zauber - und Weisheitsspruch, Rätsel, Volks - und Kinderreim (Volk. Grundriß der deutschen Volkskunde Bd. 4, Halle 1938). beschreibt), haben am wenigsten Lyrisches , sind eingespannt in eine feste Funktion, als Vorform (Petsch) der Volksdichtung noch unabgelöst von praktischen Verrichtungen, als Frühform festgelegt an Ort und Gelegenheit, in bestimmter sozialer Übung. Gerade Kommerell zeigt, daß das, was heute das Wesen der Lyrik ausmacht, mit einem Wort das Liedhafte, im Deutschen erst spät aus dem Verlust jener sozialen Funktion entstand, daß erst aus dieser schöpferischen Verlegenheit in der Goethe-Zeit das lyrische Gedicht spontan wurde, sich selbst bestimmen lernte und fortan nur noch der unwiederholbaren Schwingung der Seele, die es enthielt , gehorchte. Es nahm die das Lied ursprünglich begleitende Musik gleichsam in sich hinein.

  Damit ist auch bereits ein Ansatz zu weiterer Unterteilung der Lyrik gegeben. Günther Müllers5Günther Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik (Von deutscher Art in Sprache und Dichtung Bd. 5, Berlin 1941, 95 ff.). morphologische Erwägungen führen zu den zwei Haupttypen des sinnenhaften, singenden, malenden, lösenden Liedes, und der geistigen, sprechenden, zeichnenden, spannenden Ode. Dazwischen ordnet er weniger scharf unterscheidbare Formen an: den Gesang in die Nähe des Liedes, aber in der Richtung auf die Ode, und die Spruchdichtung (in einem allgemeinen Sinn) in die Nähe der Ode, aber mit79 freierem innerem Spielraum in der Richtung auf das Lied. In der Hymne erkennt er schließlich eine selten realisierte Synthese der verschiedenen Möglichkeiten. Petsch1Robert Petsch, Die lyrische Dichtkunst. Ihr Wesen und ihre Form (Handbücherei der Deutschkunde Bd. 4, Halle 1940). unterscheidet ähnlich neben dem Lied die Spruchdichtung (Gedankenlyrik, lyrischer Mythos, Idylle, Elegie, Satire) und die hymnische Dichtung also im wesentlichen eine gehaltmäßige Unterscheidung. Wie schwierig eine systematische und nicht nur nach einzelnen Aspekten vorgehende Gruppierung wird und erst recht Versuche, verschiedene Systeme zur Deckung zu bringen, mögen immer noch die Artikel Lyrik oder Lied in Merker-Stammlers Reallexikon lehren; Klassifikationen des Liedes wie Distanzlied und Ausdruckslied mögen innerhalb des Systems begründet sein, aber bleiben doch recht akademisch. Interessant und ungewohnt, aber etwas willkürlich, wirkt der Versuch von Julius Wiegand2Julius Wiegand, (Verschiedene Aufsätze) Zeitschrift für deutsches Altertum 73 (1936) 133 ff. ; ZfAesth XXXI (1937), 2 ff. Germanisch-Romanische Monatsschrift 26 (1938), 122 ff. ZfdPh 64 (1939) 27 ff., gerade bei der scheinbar so unarchitektonischen Gattung der Lyrik vom Aufbautechnischen her eine Typologie lyrischer Formen (z. B. Häufung, Gleichlauf, Gegenstand, Kette usw. ) aufzustellen.

  Selbst bei engeren und bestimmteren Arten ergeben sich große Schwierigkeiten. Dafür ist Beissners Geschichte der deutschen Elegie3Friedrich Beissner, Geschichte der deutschen Elegie (Grundriß der germanischen Philologie Bd. 14, Berlin 1941). wohl das bedeutendste Beispiel einer Gattungs - bzw. Art-Geschichte seit Vietors Geschichte der Ode, Günther Müllers Geschichte des Liedes, Wolfgang Kaysers Geschichte der Ballade4Wolfgang Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. sehr aufschlußreich. Eine Elegie kann sein ein Gedicht in Distichen, d. h. ein Gedicht elegischen Versmaßes (vgl. dazu Ludwig Strauss5Ludwig Strauß, Zur Struktur des deutschen Distichons. Trivium 6 (1948) 52 ff.); ein Gedicht bestimmten Aufbaues; ein Gedicht elegischen Stoffes oder elegischer Stimmung (z. B. ein Grabgedicht); ein Gedicht mit dem Titel Elegie ; und schließlich alle Gedichte, die der Darsteller auf Grund einer Theorie des Elegischen einzureihen für nötig findet. Nie werden alle möglichen Merkmale zusammentreffen oder ausschließlich vorhanden sein; je nach der Wahl des Gesichtspunktes, und das heißt zugleich je nach dem Sprachgebrauch oder den poetischen Leitvorstellungen einer Epoche, ergeben sich andere Gruppierungen. Beissner verzichtet allerdings resolut auf eine solche Leitidee oder Definition, denn er habe80 es als Historiker nur mit den geschichtlichen Verwirklichungen, nicht mit einer Idee zu tun. Nur für eine bestimmte Zeitlage lasse sich jeweilen eine Dichtgattung nach ihren Merkmalen beschreiben. Einheit und Durchgängigkeit und Zusammengehörigkeit dagegen seien trotzdem empirisch faßbar, weil sich der Sinnzusammenhang von selber herausstellen müsse; der Grund dafür ist nicht zuletzt die beständige Wiederaufnahme klassischer Vorbilder, durch die eine Auflösung und Selbstentfremdung der Gattung verhütet wird. Dann aber ist es vielleicht zu bedauern, daß Beissner nicht wenigstens nachträglich eine, wenn auch noch so weite, Bestimmung gibt. Auch verwirrt es den Leser wieder, wenn im Laufe der ausgezeichneten und sorgfältigen Ausführungen nun doch der Begriff der echten Elegie oder der Elegie im eigentlichen Sinne verwendet wird, oder umgekehrt ganze Arten wie etwa die mittelalterliche Weltklage ausgeschlossen bleiben. So wird die Einheit des Gegenstandes über so lange Zeiträume hin überhaupt fraglich. In bewußter Reaktion dazu untersucht dagegen Castle1Eduard Castle, Das Formgesetz der Elegie. ZfAesth XXXVII (1943) 42 ff. einen bestimmten, durch symmetrische Struktur gekennzeichneten Bautypus, nämlich die Elegie der alexandrinischen Dichter und ihrer lateinischen und deutsch-klassischen Nachahmer. Hier haben wir eine durchaus geschlossene Tradition eines wenn auch sehr künstlichen Gebildes. Aber Tradition hält sich besonders an solche äußerlich-formale, d. h. leicht abstrahierbare Merkmale äußerer Form. Eine solche, durch Aufbau und Funktion hoch spezialisierte und darum an eine bestimmte, zeitlich begrenzte Tradition gebundene Form ist auch die Sequenz, die uns heute durch das monumentale Werk von den Steinens2Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt. Bern 1948. 2 Bde. wieder nahe gebracht wird.

  Ebenfalls ein formales, strukturelles Problem, wenn auch höherer Ordnung, ist das Problem der zyklischen Struktur lyrischer Dichtungen, das in weitem Umkreis und sehr sorgfältig von H. M. Mustard3Helen Meredith Mustard, The Lyric Cycle in German Literature. New York 1946. untersucht worden ist; die im wesentlichen nur historische Darstellung erfolgt unter der Unterscheidung eines bloßen zyklischen arrangements oder echter composition .

  Im Bereich des Epischen wird der Übergang vom adjektivischen zum substantivischen Gebrauch der Gattungsnamen, der Übergang von der epischen Haltung zu den konkreten Formen der Epik noch schwieriger, die formale Einheit der Gattung noch fraglicher. Als reiner Vertreter des epischen81 Typus bietet sich immer nur das Epos des einen Homer1Wolfgang Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk. Leipzig 1944. Ernst Howald, Der Dichter der Ilias. Zürich 1946. an und hier besonders die Ilias, und dieser homerische Typus verschwindet gleichsam mit dem Beginn der Literaturgeschichte; umgekehrt bedeutet er selber keinen Anfang, da das Buch-Epos aus kurzepischen Formen hervorgeht und zudem die Persönlichkeit des Dichters schon stark hervortritt. Eine echte Ur - und Naturform scheint hingegen das Märchen2Friedrich Ranke, Märchenforschung. Ein Literaturbericht (1920 1934). DV 14 (1936) 246 ff. J. von der Leyen, Die Welt des Märchens. Köln-Krefeld 195 .. (angekündigt). zu sein, in welches die Romantik ja die Erzählung selber wieder zurückführen wollte. Gerade hier aber hat in Fortsetzung von Petsch u. a. das Buch von Max Lüthi3Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Bern 1947. Ders., Märchen und Sage. DV 25 (1951) 159 ff., eben auf Grund einer stilkritischen Untersuchung, gezeigt, daß das Märchen als Gattung eine hoch-künstliche Form ist, ja eine Spätform, die einen geistigen Abstraktionsprozeß und damit vielleicht auch eine Geschichte hinter sich hat; die innere Übereinstimmung des internationalen Märchengutes ist weniger aus zeitlos gleichen Voraussetzungen der Märchenerzähler als durch bestimmte geschichtliche Zusammenhänge zu erklären, als Schöpfung höchstens für Primitive, nicht von Primitiven. Hier ist es wohl der stilkritischen Betrachtung gelungen, tiefer zu sehen, als es eine stofflich-motivische Vergleichung vermochte. Was eine mehr motiv-geschichtliche, volkskundliche, psychologische Untersuchung als märchenhaft herausgestellt hat, etwa das Wunschdenken, noch 1939 in der anspruchslosen Dissertation von Spanner4Hanns Spanner, Das Märchen als Gattung (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 68. Gießen 1939). betrifft nur das Material, das erst im Stilzusammenhang des Märchens seinen Sinn bekommt; und da zeigt sich eben gerade eine Entleerung der verschiedensten Motive von ihrer ursprünglichen sozialen, psychischen oder magischen Bedeutung zugunsten einer freien Verwendbarkeit in dem mühelosen Spiel einer reinen Kunstform, die Lüthi mit den Stichworten Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter Stil, Isolation, potentielle Allverbundenheit kennzeichnet. Von dieser stilistischen Bestimmung aus ergeben sich auch die entscheidenden Grenzen gegenüber der Sage5Max Lüthi, Die Gabe im Märchen und in der Sage. Ein Beitrag zur Wesenserfassung und Wesensscheidung der beiden Formen. Diss. Bern 1943. Ernst Alfred Philippson, Über das Verhältnis von Sage und Literatur PMLA 62 (1947) 239 ff..

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  Was nun das Epos betrifft, so weicht es, im Grunde seit der Odyssee, dem Roman, also einer Form, deren Merkmal gerade die Formlosigkeit, die poetische Illegitimität zu sein scheint. Seit dem ritterlichen Mittelalter und nicht zuletzt unter christlichem Einfluß spielt der Roman eine entscheidende und repräsentative Rolle in der Bewegung des abendländischen Geistes und ist heute bei aller möglichen Vulgarität die durchaus herrschende Literaturart überhaupt. Das Bedürfnis, über dieses eigenartige Phänomen ins Klare zu kommen, ist offensichtlich nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen Gattungstheorie, sondern beschäftigt als allgemeines Kulturproblem auch die Dichter und die Philosophen1J. R. Frey, Bibliographie zur Theorie und Technik des deutschen Romans 1910 1938. MLN 54 (1939), 557 ff..

  Es ist leichter, das Unepische des Romans als das Romanhafte des Romans zu bestimmen (zur Geschichte des Terminus vgl. W. Krauss2W. Krauss, Novela-Novella-Roman. Zeitschrift für romanische Philologie 60 (1939) 16 ff.). Der Verlust des Mythisch-Gemeinschaftlichen zugunsten des Gesellschaftlichen und schließlich Persönlich-Privaten bedeutet eine Krise der Wirklichkeit, die nun immer neu als Abenteuer wieder gewonnen werden muß3Anton Szerb, Die Suche nach dem Wunder. Umschau und Problematik in der modernen Romanliteratur. Amsterdam-Leipzig 1938.. Die Totalität der Welt und damit die Erfüllung des Daseins ist nicht mehr als Wirklichkeit, sondern nur noch als Ziel vorhanden. Das läßt sich als ein Einströmen des dramatischen Elements ins Epische kennzeichnen. Dieses Dramatische scheint, geistesgeschichtlich gesehen, eine Folge der im späteren Griechentum beginnenden, vom Christentum vollzogenen Wandlung, in welcher die Welt fragwürdig und zwiespältig geworden ist. Über diesen Dramatismus des Romans spricht Koskimies4R. Koskimies, Theorie des Romans (Annales academ. scient. Fennicae XXXV, I). Helsinki 1935.. Der Prozeß verläuft allerdings in verschiedenen Stufen: noch der Ritterroman hält an der epischen Form der wenn auch verkürzten Verse fest. Die wohl noch immer gescheiteste Untersuchung der Gattung (durch Georg v. Lukacs, 1920) betrachtet den Roman in seiner vollen Ausbildung als spezifisch neuzeitliche Erscheinung und charakterisiert ihn einmal als Form der transzendentalen Obdachlosigkeit . Die Offenheit, die Formlosigkeit der Gattung entspricht in einem weiteren Sinn daher auch der Stilmischung , wie sie Auerbach beschreibt. Die reichhaltigste Darstellung der epischen Gattungsprobleme findet sich wohl immer noch bei Petsch und Koskimies, welch beiden mehr an einer beschreibenden und diskutierenden Darstellung als an einer strengen83 Systematik gelegen ist. Während Petsch nebeneinander die Bauelemente der Figuren, der Handlung und des Raumes untersucht, stellt Koskimies auf Grund einer allgemeinen Theorie des Erzählens die Fabel in die Mitte, als den eigentlichen Kern und die Energiequelle des erzählerischen Schaffens, auf welche die Art der Komposition wie auch das Ethos des Romans zurückgeführt werden kann. Ähnlich spricht das klassisch gewordene, in deutscher Übersetzung neu aufgelegte Werk von E. M. Forster1E. M. Forster, Aspects of the novel, London 1927. vom plot , das dem Roman nicht fehlen dürfe, auch wenn sein letztes Ziel a melody or a perception of truth sei; gerade dieses plot , die Intrige, die Fabel ist es aber, was im modernen Roman, etwa seiner Bewußtseinsanalyse und seiner Zeitgestaltung überhaupt, in den Hintergrund tritt und fragwürdig wird; Thomas Mann2Thomas Mann, Einführung in den Zauberberg (1939) (in: Der Zauberberg, Stockholm 1939). erläutert die Komposition seiner Romane mit musikalischen Begriffen.

  Einteilungen, Typologien des Romans sind die verschiedenartigsten versucht worden. Lugowskis bereits besprochene Unterscheidung von Märchen - Roman und Anti-Märchen-Roman hat den Vorteil, daß sie sich unmittelbar auf die Gesamtheit des Stils, d. h der Wirklichkeits-Auffassung bezieht und die dem Romane eigentümliche dramatisch-dialektische Entfaltung in der Literaturgeschichte in den Blick bekommt. Koskimies 'Unterscheidung von naiven und schizothymen Erzählertypen verschiebt das Problem nach der psychologischen Seite. Mehr äußerliche, aufbautechnische Gesichtspunkte liegen den Unterscheidungen von Günther Müller, Petsch, Kayser u. a. zu Grunde, wenn sie (nach dem jeweiligen Vorwiegen eines der nötigen Aufbau-Elemente jeder Erzählung) Geschehnis-Roman, Figuren-Roman, Raum-Roman unterscheiden. Zum Teil quer zu diesen Typen stehen die traditionellerweise unterschiedenen Arten3Christine Morrow, Le roman irréaliste dans les littératures contemporaines de langues française et anglaise. Toulouse-Paris 1941. Elisabeth Korrodi, Zeit und Bewegung im französischen Abenteuerroman des 20. Jahrhunderts. Diss. Zürich 1939. Berta Berger, Der moderne deutsche Bildungsroman. (Sprache und Dichtung 69) Bern 1942. Charlotte Kehr, Der deutsche Entwicklungsroman seit der Jahrhundertwende. Diss. Leipzig 1938. Hans Heinrich Borcherdt, Der deutsche Bildungsroman. (In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung V, 3 ff.). Max Wehrli, Der historische Roman. Versuch einer Übersicht. Helicon III. (1941) 89 ff. Robert Faesi, Dichtung und Geschichte (108. Neujahrsblatt der Gelehrten Gesellschaft Zürich 1945). Phil. Babcock Gove, The imaginary voyage in prose fiction, a history of its criticism and a guide for its study (mit Bibliographie) 1700 1800. New York 1941., die meist84 auf Grund inhaltlicher Gemeinsamkeit konkrete literaturgeschichtliche Traditionen verkörpern: Bildungs - und Entwicklungs-Romane (etwa von Bor - cherdt dem Handlungs - oder Ereignis-Roman entgegengestellt,) historischer Roman, Reiseroman, Utopie usw. Mit dem Anliegen einer Gattungspoetik haben sie nur indirekt zu tun.

  Heute ist von einer Krise oder gar dem Ende des Romans die Rede oder es wird die Rückkehr des Romans zum Mythus gefordert (Thomas Mann1Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Amsterdam 1949. Karl Kerenyi und Thomas Mann, Romandichtung und Mythologie; ein Briefwechsel. Zürich 1945.). Daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff des Menschen und der Persönlichkeit auf weitere Horizonte hin gesprengt worden ist, bedeutet allerdings eine tiefgreifende Umlagerung auch der Probleme des Romans, der bei diesem zugleich zerstörerischen und befreienden Abenteuer des Geistes selbst maßgebend beteiligt war. So wenig wie der historische Roman die im 19. Jahrhundert postulierte Rückkehr zum Epos vollzog, wird der mythologische Roman eine Rückkehr zum echten Mythus oder gar zum echten Initiationsmythus sein. Nicht die Gattung als solche, höchstens ihre zeitbedingte Erscheinungsform ist wohl von diesem Wandel betroffen. Hier zeigt die von über 50 französischen Autoren unter Leitung von Jean Prevost bestrittene Essai-Sammlung2Problèmes du roman, sous la direction de Jean Prévost par Paul Valéry, Edmond Jaloux (und andere). (Lyon) o. J. Claude-Edmonde Magny, Histoire du roman français depuis 1918. I. Paris 1950., die gegen Ende des Krieges erschien, nicht nur die Krise des Romans in allen möglichen Aspekten, sondern auch die neue Aktualität, die überraschende Wandlungsfähigkeit dieser Art selber.

  Auf andere epische Formen kann hier nicht eingegangen werden; sie kommen u. a. bei Petsch zur Sprache und stellen oft vorwiegend ein historisches Problem dar, abgesehen von den hier verstärkten terminologischen Schwierigkeiten (Erzählung, Novelle3E. K. Bennet, A History of the German Novelle (mit Bibliographie). Cambridge 1934. Kurzgeschichte usw. ); ein beherrschendes Phänomen vor allem der angelsächsischen neueren Literatur ist die short story, zu deren Entwicklung auch bestimmte soziale und wirtschaftliche Umstände beigetragen haben4Amerikanische Erzähler, ausgewählt und eingeleitet von Fritz Güttinger, Zürich 1946..

  Als höchster und letzter Gattungstypus ist immer wieder das Drama (vgl. die umfassende Behandlung durch Petsch und, wesentlich anspruchsloser85 und mit praktischer Absicht, A. R. Thompson1Alan Reynolds Thompson, The Anatomy of Drama. 2nd ed. Berkeley-Los Angeles 1946.) bezeichnet worden. Weniger vielleicht in einem historisch-entwicklungsmäßigen Sinne als in dem systematischen, daß die Dichtung vom Grund des Lyrischen, Monologischen als ihrer Urform aufsteigt zur breiten, ruhigen Welt des Epischen, und schließlich zur ideell und existentiell gespannten dramatischen Kunst, in der die geistigsten, umfassendsten Funktionen und Entscheidungen des Menschen zum Vollzug kommen, und wo in der tragischen oder komischen Auflösung letzte mögliche Grenzen des Daseins erreicht sind. (Vgl. E. Stai - ger S. 224 ff.). Wenn der Roman eine Art Experimentierfeld des abenteuerlichen abendländischen Geistes ist, so vollzieht sich im Drama und speziell in der Tragödie sein Schicksal. Vollziehen auch insofern, als das Dramatische im Drama selber agiert wird, sich zwar praktisch in der späten Abstraktion eines Lesedramas literarisch verselbständigt, aber im wesentlichen doch nach der Darstellung, nach der theatralischen Handlung strebt. Umgekehrt gesagt: das Drama hat sich weniger als Lyrik oder Epos von der sozialen, politischen, magischen, religiösen Funktion gelöst, und das gestaltende und distanzierende Wort kann immer wieder vor der reinen Handlung zurücktreten, ja verstummen. So reicht die Welt des Dramas als Feier und Spiel, als Mimus und Theater, weit über das Literarische hinaus. Dichtung und Theater haben unter Umständen ein problematisches Verhältnis2Ronald Peacock, The Poet in the Theatre. (Essays) London (1946).. Man kann zwar, und auch Petsch tut es, das dramatische Spiel als die Urform des Dramas bezeichnen, und das Spiel noch auf vordramatische Formen (Feier, kultische Handlung) zurückführen; aber das eigentlich Dramatische als geistige Spannung und Entscheidung hat oft wenig damit zu tun. Das Mittelalter etwa kennt daher in diesem strengen Sinne kaum ein Drama das haben erneut die zusammenfassenden Darstellungen von Young3Karl Young, The Drama of the Medieval Church. 2 vols. Oxford 1933. oder Hartl4Eduard Hartl, Das Drama des Mittelalters (in: Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, 4 Bde. ), Leipzig 1937 1942. gezeigt, und so sehr in der antiken Tragödie diese Ur-Funktion des kultischen Spieles noch mitbeteiligt ist, die ungeheure Tat des Aeschylus ereignet sich auf anderem Boden. Man hat so, um dem Wesen des Dramatischen nahe zu kommen, diese nach dem Theatralisch-Spielmäßigen oder letztlich Kultischen weisenden Feiern Spiele, Schauspiele, ausgeschieden aus dem Bereich des eigentlichen Dramatischen und des geistesgeladenen, gespannten Wortes, und hat damit diesem zugleich die strenge Alternative Tragödie oder Komödie gerettet. Ob jene dritte Form neben Komödie und Tragödie, das Spiel oder das86 Schauspiel, in gleichem Range bestehen kann, oder ob es als Mischform oder abgesunkene oder im Theatralischen steckengebliebene Form aufzufassen ist, die den geringeren dramatischen Bedürfnissen weiter Menschheitskreise entgegenkommt (Petsch), diese Frage betrifft mehr die historische und systematische Deutung als das zahlenmäßig herrschende Vorkommen dieser Form.

  Wir stehen damit bereits bei den Diskussionen um die Arten des Dramas , die in der deutschen Germanistik vor allem durch einen Aufsatz Kluckhohns1Paul Kluckhohn, Die Arten des Dramas. DV 19 (1941), 241 ff. ausgelöst und durch eine Reihe anderer Aufsätze in der Deutschen Vierteljahrsschrift fortgeführt worden sind. Es läuft hier schließlich auf ein ingeniöses Zusammenspiel von Typen in einem möglichst symmetrischen System hinaus, bei welchem übliche Bezeichnungen wie Tragödie, Komödie, Lustspiel, Spiel usw. teils verwendet, teils umgebogen und durch neue Namen (Gnadendrama, Humorspiel usw. ) ergänzt werden müssen. Dabei kommen zweifellos Unterschiede zwischen einzelnen Dramen und Dramen-Typen zutage, aber im ganzen wird doch eher ein abstraktes Systembedürfnis als eine Wesenserkenntnis befriedigt. Es ist gegen solche Gattungssysteme dasselbe zu sagen wie gegen die Schemata Pe - tersens. Auch sie rufen nach einer Entfaltung auf historischem Weg.

  Neben dieser, von den herkömmlichen, letztlich aristotelischen Scheidungen ausgehenden Systematik, ist wie bei der Epik auch eine andere Organisation denkbar und praktiziert worden, die sich nicht an zum vornherein getrennten Dramentypen, sondern am Vorwiegen der einzelnen Aufbau-Elemente orientiert und dann nachträglich einzelne bekannte Arten einbauen kann. So findet sich in der Dramaturgie von Petsch keine systematische Behandlung des Komischen oder des Tragischen ; das Drama wird als Ganzes besprochen nach seinen Elementen des Geschehens, der Umwelt, der Figuren und ihrer Reden. Nach diesem strukturellen Gesichtspunkt unterscheidet Kayser parallel zur Epik Geschehnis-Drama, Figuren - Drama und Raum-Drama; das Tragische und das Komische sind Phänomene, die quer durch die Literatur hindurchgehen , also nicht nur auf das Drama bezogen werden. Das Geschehnis-Drama findet immerhin seine dichteste Form im Handlungs-Drama und hat hier eine besondere Neigung zur Tragödie; das Raum-Drama dagegen verwirklicht sich besonders im Spiel . Umgekehrt aber und nicht gerade logisch widmet Kayser der Komödie einen eigenen Abschnitt und teilt sie wiederum in Geschehnis -, Charakter - und Raum-Komödie (Lustspiel). Diese Distinktionen sind wohl weder praktisch noch schlüssig. Daß Tragik und Komik quer durch die Literatur hindurchgehen, hindert nicht, sie als die beiden Möglichkeiten des87 Dramatischen aufzufassen und diesem zu unterstellen, denn dieses ist ja als Haltung, nicht als bestimmte Strukturform bestimmt worden; wenn aber schon die konkreten Art-Formen des Dramas in Frage stehen, wäre es wohl richtiger, sich auch direkt an konkrete geschichtliche Größen wie barockes Trauerspiel oder aristophanische Komödie zu halten; Geschehnis - Drama oder Raum-Komödie sind schließlich weder konkrete Größen noch Grundhaltungen im Sinne einer systematischen Poetik, weder Typen noch Klassen, sondern sekundäre Abstraktionen.

  Wenden wir uns zurück zu den reinen Typen des Tragischen und des Komischen. Hier kommen wir freilich in eine uferlose Problematik und eine sachliche wie terminologische Verwirrung, die bloß referierenderweise nicht zu durchdringen ist. Um so mehr, als es sich im Gebiet dieser Grundhaltungen weniger um literarische als um philosophisch-anthropologische, psychologische und sogar physiologische Fragen handelt. Sind Tragik und Komik wirklich reziproke, symmetrische Begriffe oder gehören sie verschiedenen Ebenen an? Ist das aristotelische Gegenüber von Tragödie und Komödie ein grundsätzliches oder sind damit zufällige geschichtliche Formen gefaßt? Wie verhält sich einerseits das Tragische zum Erhabenen, zum Ernsten, wie steht anderseits das Komische zum Lächerlichen, zu Witz, Ironie, Humor? Speziell die Stellung des Humors ist schwierig. Ist der Humor der wohl im Roman seine klassischen Verwirklichungen gefunden hat eine dritte Möglichkeit neben Komik und Tragik, etwa im Sinne einer Synthese (wie etwa Petersen die drei Wirkungsarten des Komischen, Tragischen und Humoristischen nebeneinander stellt), oder ist er an der Stelle des Komischen dem Tragischen gegenüber zu setzen, wobei Tragik und Humor gegenüber dem Komischen und dem Elegischen Grundbestimmungen sind, in denen Heiterkeit und Ernst, Härte und Weichheit, Freiheit und Gebundenheit wundersam durcheinander fließen (Emil Er - matinger)? Oder ist der Humor, wie es Staiger vorübergehend erwägt, der Kategorie des Lächerlichen unterzuordnen und dann das Lyrisch-Lächerliche gegenüber dem Episch-Lächerlichen der Komik und dem Dramatisch - Lächerlichen des Witzes? Schließlich stoßen wir auf die allgemeinen Phänomene von Lachen und Weinen, die zwar als physische Reaktionen sehr konkret faßbar sind, aber, wie H. Plessner1Helmut Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Arnhem 1941, 2. Aufl., Bern 1950. in seiner hervorragenden Untersuchung gezeigt hat, in letzte anthropologische Fragen führen, d. h. als Grenz-Reaktionen die exzentrische Position des Menschen seinem Leibe gegenüber beleuchten. Die Desorganisation des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner physischen Existenz wird zwar nicht gewollt,88 aber indem sie sich überwältigend einstellt doch nicht bloß hingenommen und erlitten, sondern in Lachen und Weinen als Gebärde und sinnvolle Reaktion verstanden . (L. Radermachers1Ludwig Radermacher, Lachen und Weinen. Wien 1947. gleichnamige Untersuchungen gelten der mannigfachen Verbindung von Ernst und Scherz in der antiken Literatur und belegen die Unausschließlichkeit der aristotelischen Scheidung). Auch auf dieser allgemein-menschlichen, außer - und vorliterarischen Ebene bestätigt sich eine Situation und ein Verhalten, die uns u. a. literarisch in Tragödie und Komödie entgegentreten; Tragödie und Komödie weisen auf einen letzten Grund des menschlichen Daseins hin und lassen dieses von der Grenze und von der Krise her deutlich werden. Es hat darum auch sehr wohl einen Sinn, unter all den eventuellen Möglichkeiten dramatischer Gestaltung die Idee des Tragischen und des Komischen zu verfolgen, wie immer nun Tragödie und Komödie in einer Systematik der Gattungen zu ordnen sind.

  Dazu nur ein paar wenige Hinweise: Im Rahmen der Poetik wird das Problem des Tragischen nicht so sehr in seiner weltanschaulich-materiellen Bestimmung zuerst interessieren als sozusagen in seinem formalen Charakter, als Möglichkeit des Dramatischen. Es ist wohl das Verdienst der Stilkritik, damit auch eine gewisse Befreiung von bestimmten Theorien des Tragischen, des tragischen Lebensgefühls usw. gebracht zu haben, die in meist normativer Weise von der Tragödie der deutschen Klassiker abstrahiert waren und umgekehrt wieder zu Fehlinterpretationen der antiken Tragiker führten; gerade diese hat man unbefangener sehen gelernt, auch wenn hier etwa Ernst Howalds (Die griechische Tragödie, 1930) rein künstlerisch-artistische Deutungen den Sinn der Tragödie nicht erschöpfen. Der echte existentialistische Ansatz erlaubt, das Phänomen in seiner daseinsmäßigen Wurzel zu fassen, ohne es einerseits voreilig zu verstofflichen oder anderseits bloß formal zu nehmen. Auch die Interpretation der klassischen Tragödientheorien selbst erfährt dadurch eine neue Vertiefung; Max Kommerells2Max Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchungen über die Theorie der Tragödie. Frankfurt a. M. (1940). überragende Studien zu der dreiseitigen Auseinandersetzung Lessings mit Aristoteles und Corneille (Seneca) bzw. Corneilles mit Aristoteles stellen die Theorie des Tragischen in den Zusammenhang der jeweiligen Auffassung vom Wesen und der Funktion der Dichtung und kommen daher auch zu einer Art Ehrenrettung von Lessings Glauben an die Gesetzlichkeit der Kunst und an das Kunstwerk als an eine Gesetzeserfüllung , gegenüber der späteren Hereinnahme des Tragödienproblems in die idealistische Genie - und Erlebnislehre.

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  Die klarsten Formeln hat hier wohl Emil Staiger gefunden. Wenn die Spannung des Dramatischen darauf beruht, daß der Mensch als solcher sich immer voraus ist , und wenn in dieser Spannung alles Einzelne auf ein Letztes bezogen ist und in steter Bewegung hindrängt, treibt das Dramatische zur Krise. Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt (im Heideggerschen Sinne) eines Menschen oder wohl gar eines Volkes oder Standes gesprengt . Der auf das Absolute blickende Held wird aus dem Hinterhalt überfallen, seine Endlichkeit fällt ihn, sie ist das, was allenfalls als tragische Schuld bezeichnet wird. Anderseits aber eröffnet das menschliche Geschick der Endlichkeit einen unerwarteten Ausweg: den Ausweg ins Behagen des Komischen . Hier wird nicht der Rahmen einer Welt gesprengt, sondern das Komische fällt aus dem Rahmen einer Welt heraus und besteht außerhalb des Rahmens in selbstverständlicher, fragloser Weise . Die Spannung reißt nicht, sondern wird plötzlich unnötig.

  Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich konsequenten Geistes. Das ist aber, nach Staiger, in der Dichtung nicht rein oder unmittelbar dargestellt. Die Tragödie kennt meistens eine sogenannte Versöhnung , den Eingang in einen gnadenhaften Zustand; der Dichter sprengt eine Welt weil sich ihm das Dasein in einer weiteren Welt zusammenfügt . Der tragische Untergang wird zum Übergang. In Staigers Definition gehört diese Versohnung nicht zur Tragik selbst, ist ein vorläufiges Ende, ein Ermatten, weil eben auch der Dichter nicht über ein Endliches hinauskommt. Wäre damit reine Tragik Verzweiflung?

  Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen im Gedanken des Tragischen einen Halt zu finden hoffen und damit das Tragische aus der Not zur freiwilligen Tugend machen wollen. So ist Ar - thur Pfeiffers1Arthur Pfeiffer, Ursprung und Gestalt des Dramas. Studien zu einer Phänomenologie der Dichtkunst und Morphologie des Dramas. Berlin 1943. Buch ein Beispiel pathetischen Feierns tragischer Gesinnung, verkündet im Geiste Nietzsches und eines deutschen Existentialismus die Religion des heldischen Tatmenschen und seiner Selbstbestimmung im Schicksal. Das Dramatische, die dramatische Wirklichkeit , wird deshalb nicht als dramatischer Konflikt, sondern als Existenzspannung bezeichnet, als Zusammensein von Lebensgegensätzen bis in die tiefste Wurzel der jeweiligen Gestalten oder Situationen oder Wirklichkeiten hinab ; durch seine Wertbezogenheit (Werte, Zwecke, Ideen) erhält es den Charakter des Tragischen. 90Daß im Dritten Reich der tragische Amor fati und das gefährliche Leben in der Bereitschaft zu Sieg oder Untergang gepriesen und als rassisch-seelische Verwandtschaft mit den Griechen verstanden wurde, bedarf keiner näheren Ausführung1Curt Langenbeck, Wiedergeburt des Dramas aus dem Geist der Zeit. München 1940. Gerhard Fricke, Erfahrung und Gestaltung des Tragischen in deutscher Art und Dichtung (Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Stuttgart und Berlin 1941, I, 57 ff.)..

  Friedrich Sengle2Friedrich Sengle, Vom Absoluten in der Tragödie. DV 20 (1942) 265 ff. hat sich gegen solche Ausprägungen tragischen Lebensgefühls und ihren nihilistischen oder relativistischen Hintergrund gewandt: Die Tragödie der Verzweiflung ist in Wahrheit der Untergang der Tragödie . Er setzt darum in der Tragödie jenseits einer Schicht des bloßen Konflikts eine erhebende oder versöhnende Schicht an. In ähnlichem Sinne untersucht Baden3Hans Jürgen Baden, Das Tragische. Erkenntnisse der griechischen Tragödie. 2. Aufl., Berlin 1948. das Verhältnis des Tragischen zum Religiösen, den tragischen Glauben in der griechischen Tragödie: Gott handelt unter der Maske des Tragischen am Menschen . Gegen Sengle hat W. Rasch4Wolfdietrich Rasch, Tragik und Tragödie. DV 21 (1943) 287 ff. wohl mit Recht betont, daß die Versöhnung nicht ein Zweites und Nachträgliches sein kann, sondern als notwendiger Aspekt des Tragischen selbst zu fassen ist. Der tragische Untergang ist selber sinnvoll, er ist der dunkle Triumph des Helden, ein Sich-selber-Finden, eine Überwindung des Konfliktes dadurch, daß er unerbittlich erlitten und in den Tod hinübergenommen ist. Diese tragische Versöhnung ist freilich nur als Grenzbegriff denkbar; je mehr die neue Welt benannt werden kann, um so mehr wird der dramatische Vollzug zum bloßen Übergang, um so weniger wird man von Tragik sprechen. So sind etwa die christlichen Dramen des 17. Jahrhunderts5Fritz Schaufelberger, Das Tragische in Lohensteins Trauerspielen. (Wege zur Dichtung 45) Frauenfeld-Leipzig 1945. Zum Problem im elisabethanischen Drama vgl. H. Baker, Induction to Tragedy. Louisiana 1939. Trauerspiele, Ausschnitte aus dem großen blutigen Trauerspiel der irdischen Geschichte. Wie wiederum Rasch betont, ist der materielle Sinn, der dem positiven Element gegeben wird, je nach der geschichtlichen Verwirklichung verschieden. So kann auch Benno von Wieses6Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 2 Bde., Hamburg 1948. Dazu vergleiche: Ernst Busch, Die Idee des Tragischen in der deutschen Klassik. Halle 1942. Hans Ulrich Voser, Individualität und Tragik in Goethes Dramen. Zürich 1949. Erich Brendle, Die Tragik im deutschen Drama vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Diss. (Tübingen) Nürtingen a. N. 1940. historische91 Entfaltung des deutschen Tragödienproblems, die auf einem zurückhaltenden und knappen grundsätzlichen Einleitungskapitel aufbaut, als ein gewisser Abschluß dieser Diskussionen betrachtet werden. Das Tragische bedeutet für uns eine Grenzsituation, deren eigentümliche, in der Tragödie sichtbar werdende Struktur nur auf paradoxe, das heißt rein logisch betrachtet, widerspruchsvolle Weise sich erfassen läßt. Diese Paradoxie kann nach verschiedenen Richtungen umschrieben werden, als Tragik zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Sinn und Sinnlosigkeit, Leid und Trost, Selbstbehauptung und Vernichtung. Entscheidend ist auch für Wiese das sinnhafte Wesen der tragischen Paradoxie, gegen Staiger, und das heißt wieder nichts anderes als das Verhältnis zum Religösen, das Tragische als der Weg, auf dem der Mensch seine Beziehung zum Göttlichen in paradoxer Weise zu leben vermag. In diesem Licht erscheint die Geschichte der modernen Tragödie unmittelbar als Geschichte der modernen Glaubenskrise.

  Über die fast ebenso verwickelten Theorien des Komischen von Hobbes bis zur Gegenwart hat Otto Rommel1Otto Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen, DV 21 (1943) 161 ff. Komik und Lustspieltheorie, a. a. O. 252 ff. eine gute Übersicht gegeben. Die neuere Lehre vom Komischen hat sich immer wieder mit Kants Definition als Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts auseinanderzusetzen, vor allem im Versuch, dieses Nichts zu korrigieren. Denn offenbar liegt die befreiende Wirkung der komischen Entspannung nicht in einem Nichts , sondern trägt ebenso wie die tragische Lösung einen positiven Akzent. In der Entspannung, im Herausfallen aus dem Rahmen kommt etwas zur Geltung, was in selbstverständlicher, fragloser Weise besteht und erfolgt die Umschaltung aus einer gespannten Zeit in ein nacktes, beharrliches Da (E. Stai - ger). Im Gegensatz zur tragischen Transzendenz bewegt sich das Komische nicht im Absoluten, sondern im Innerweltlichen, im Diesseitig-Realen (Janentzky2Christian Janentzky, Über Tragik, Komik und Humor. Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts , Frankfurt a. M. 1936 1940, 1 ff.).). Wo wie bei Ritter3Joachim Ritter, Über das Lachen. Blätter für deutsche Philosophie XIV (1940), 1 ff. am Begriff des Nichtigen festgehalten wird, da wird es doch gerade in seiner Bedeutung für das Dasein erfaßt: Was mit dem Lächerlichen ausgespielt und ergriffen wird, ist diese geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein. Komik ist einer der Wege, auf denen sich die menschliche Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt vollzieht (Ritter). Dem Lachen, das auf einen komischen Vorgang folgt, geht ein Akt der unterscheidenden Erkenntnis voraus ,92 sagt Friedrich Georg Jünger1Friedrich Georg Jünger, Über das Komische (1936), Zürich 1948. in seiner sehr anregenden Beschreibung des Phänomens. Mit dieser positiven Weltlichkeit des Komischen hängt der schon früh bemerkte soziale Zug zusammen: das Lachen ist ein geste social (Bergson). In diesem Sinne hat Fritz Güttinger2Fritz Güttinger, Die romantische Komödie und das deutsche Lustspiel, (Wege zur Dichtung XXXIV) Frauenfeld-Leipzig 1939. bestimmt einseitig das komische Lachen und Lachen-Erregen ausschließlich als soziale Leistung, als lautliches Alarmsignal bei Fehlleistungen im sozialen Verhalten und darum als etwas Zeit - und Ortsbestimmtes umschrieben. Wie das komische Lachen und vor allem das nicht mehr nur komische Lächeln nicht nur eine Fehlleistung korrigiert, sondern eine neue Gemeinschaft erst hervorbringt, zeigt Spoerri3Theophil Spoerri, Das Lächeln Molières (in: Eumusia, Festgabe für Ernst Howald. Erlenbach-Zürich 1947). an Molière.

  Das Phänomen des Humors4Hch. Lützeler, Die Philosophie des Humors. Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 1939. wird im Rahmen dieser Erwägungen verschieden interpretiert. Jünger faßt ihn neben Ironie, Witz, Paradoxie, Karikatur als Gattung des Komischen; dieses gewinnt im Humor seine größte Breite. Der Humorist geht am innigsten auf das Abweichende, auf den besondern Fall, auf die Ausnahme ein. Das humoristische Werk ... hat etwas Formloses, alle Form Sprengendes . Gerade darin aber hat der Humor die Tendenz, den komischen Konflikt zu schlichten, wird er nicht nur formlos und anarchisch, sondern, als versöhnlich-idyllischer Humor, flach. Das Vergolden alter und abgestandener Zustände bleibt immer ein zweideutiges Geschäft . Anderseits kann aber der Humor auch gegen das bloß Komische abgesetzt oder gar in Beziehung zum Tragischen gebracht werden: Komik erscheint dann u. U. als bloßes Mittel des Humors. Wie der christliche Geist das Tragische relativiert hat, so hat er auch, was Jünger nicht sehen kann, das Komische überwunden in einer neuen Transzendenz christlichen Humors5Galina Berkenkopf, Vom Humor. Studie. Freiburg i. B. 1944.. Auch nach Ritter enthüllt sich im Humor am tiefsten der verborgene Sinn, der dem Lachen überhaupt innewohnt ; wenn das komische Lachen festhält, indem es entwertet , so liegt darin eine Gefahr der Endlichkeit, die im humoristischen Lachen zugunsten des Unendlichen des Seins und Lebens beschworen ist. Selbst für die dem 18. Jahrhundert typischen Formen von Komik, Satire, Ironie und Witz ist der Humor als Oberbegriff im Sinne eines seelischen Gesamtzustandes in Anspruch genommen worden (H. Siebenschein6Hugo Siebenschein, Deutscher Humor in der Aufklärung. Praha 1939.). Neben dem Humor93 des Romans seit Wolfram1Max Wehrli, Wolframs Humor (in: Überlieferung und Gestaltung, Festgabe für Theophil Spoerri, Zürich 1950)., seit Cervantes und dem Schelmenroman stellt der Humor des Dramatikers Shakespeare2Louis Cazamian, L'humour de Shakespeare, Paris (1945). einen unabsehbaren Sonderfall dar.

e) Die Aspekte des dichterischen Werks

Die bisher besprochene Problematik der Gattungstypen beziehungsweise Klassen betrifft die Dichtwerke als Ganzes und insofern sie sich zu bestimmten Gruppen zusammenschließen oder wenigstens unter einheitlichem Gesichtspunkt betrachten lassen. Ein Anderes ist die Frage nach den Elementen oder Schichten , aus denen sich jedes Einzelwerk als Werk aufbaut (vgl. oben). Sie geht nicht nach der Ganzheit und Einheitlichkeit des Stilganzen, sondern nach den Mitteln, mit denen und in denen es sich verwirklicht und die sich bis zu einem gewissen Grade aus dem Werkganzen abstrahieren lassen: z. B. das Motiv oder der Vers oder eine gedankliche Mitteilung usw. Nur bis zu einem gewissen Grade: der Ganzheitscharakter des Werkstils, der immanente Symbolismus des ganzen Bedeutungsgefüges verbietet es, Teile oder Elemente oder Schichten zu isolieren; wir ziehen daher den Ausdruck Aspekte vor, weil er andeutet, daß das Werk als Ganzes bleibt und daß der Betrachter in jedem Aspekt das gleichsam transparente Ganze im Blick behält.

  Darum ist auch die systematische Untersuchung dieser Aspekte schwierig aber sie hat wohl auch praktisch mehr den methodischen Sinn, mögliche Zugangswege zu benennen und sich selbst aufzuheben, als den Sinn, den Gegenstand aufzuteilen; und sie wird gerade bemüht sein, populäre, in der Umgangssprache vorgebildete Auffassungen in ihre Grenzen zu weisen. Es kam schon mehrfach zur Sprache, wie die alte, unausrottbare Unterscheidung von Form und Inhalt3Roman Ingarden, Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk. Helicon I (1939), 51 ff. oder ebenso bloß metaphorisch die Unterscheidung von Innen und Außen die Crux jeder ganzheitlich gerichteten Stilkritik ist, ja jeder Physiognomik seit Goethe, die über die Nußknackervorstellung von Kern und Schale hinauskommen will. Sie wird auch keineswegs überwunden, indem man dafür in schamhaftem Euphemismus statt Inhalt Gehalt und statt Form Gestalt sagt. Das Problem wird dadurch kompliziert, daß Form (Gestalt, Stil) gerne auch in einem umfassenden Sinne verwendet werden, d. h. im Sinne der übergreifenden Einheit von94 Gehalt und Gestalt, Inhalt und Form, um anzudeuten, wie wenig der Inhalt etwas Herauslösbares und die Form etwas bloß Äußeres seien. (Ein Ausweg, der sich schon lange empfohlen hat, ist der neuplatonische, seit Shaftesbury wieder aufgenommene Begriff der inneren Form 1Reinhold Schwinger und Heinz Nicolai, Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstudien zu einer neuen deutschen Poetik. Herausgegeben von K. J. Obenauer. München 1935.; diese contradictio in adjecto ist zunächst nichts als ein sprachlicher Kompromiß, der das Problem nur scheinbar löst.) Ingarden hat nicht weniger als neun verschiedene Verwendungen des Begriffspaares unterschieden und für alle wieder eine Reihe verschiedener Betrachtungsweisen, und hat gezeigt, wie die Unterscheidung noch im letzten Element, im letzten Aspekt des Kunstwerks möglich ist, also niemals ein einfaches Aufteilen bedeuten kann. Die Form-Inhalt-Unterscheidung ruht aber offenbar so tief im Schematismus unserer Sprache und Vorstellung, daß sie kaum vermeidbar ist und auch nicht vermieden werden soll. Der doppelsinnige Gebrauch der Worte Form, Stil, Gestalt für das Ganze und zugleich für ein Element des Ganzen kann nur heißen, daß das Kunstwerk immer noch mehr ist als es selbst, daß es über sich hinausweist, daß menschliches Dasein überhaupt nur über symbolische Formen und symbolische Formen zu sich selbst gelangt. Diese Zeichenhaftigkeit wird sich auch im Folgenden bei jedem einzelnen Aspekt des Kunstwerks wieder herausstellen.

  Wenn wir selber hier in rein praktischer Absicht eine Aufgliederung wählen müssen, so stehen uns u. a. die Dispositionen von Petersen und Kayser zur Verfügung (Wellek-Warren unterscheiden beim Intrinsic study of Literature Euphony, Rhythm, and Meter; Style and Stylistics; Image, Metaphor, Symbol, Myth; the Nature and Modes of Narrative Fiction; Literary Genres was weniger eine Systematik als eine Organisation nach einzelnen wichtigen Gesichtspunkten bedeutet). Petersen folgt dem scharfsinnigen Schema eines pyramidenartigen Aufbaus, der aus den sieben Stufen Grundriß, innere Form, Plan, Gestaltung, Verknüpfung, Persönlichkeit, Geist besteht, auf jeder Stufe die drei Gesichtspunkte Stoff, Dichter und Form (sozusagen als Seiten der dreieckigen Plattform) zeigt und spiralartig erklommen wird bis zum Gipfel der Idee . Kaysers Vorgehen in einer vierstufigen analytischen und einer vierstufigen synthetischen Runde wurde bereits erwähnt (S. 56): Die Inhalt-Gehalt-Schicht und die Formschicht erscheinen hier durch die Schichten Sprache-Stil und Aufbau-Gattung zugleich begrenzt und ergänzt. Nachdem wir Stil als umfassenden und ganzheitlichen Begriff genommen haben und in der Gattung nicht einen Aspekt, sondern einen Stiltypus sehen, was hier nicht mehr zur Rede steht, wollen95 wir diesen kunstvollen Schemata nicht folgen. Wir gehen davon aus, daß Dichtung Sprachkunst ist und nehmen daher auch die drei Sphären zum Ausgangspunkt, nach denen herkömmlicherweise die Sprache gegliedert wird: Laut (bzw. Silbe), Wort und Satz, drei Größen, die wohl unterschieden, aber nicht ohne einander gedacht werden können, so wie Körper, Seele und Geist auf Erden zusammengehören. Die sinnlich-materiellen Größen von Laut und Silbe kehren auf der Ebene des Dichtwerks wieder in den Ordnungen des Klanglichen, des Rhythmischen und Metrischen; die vorstellungs - und gefühlsmäßige Größe des Wortes kehrt wieder in allem, was an Vorstellungen und Gefühlen, Bildern und Stoffen im Werk je schon in bestimmter Weise ausgeprägt und vergegenwärtigt ist; der Satz schließlich als Aussage und geistige Beziehung führt zum Gehalt des Werkes an Ideen und Gedanken. Erst damit schließt sich vielleicht auch ein letzter Kreis: Wenn diese Dreiteilung nun doch auch wieder den drei Typen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen zu entsprechen scheint vgl. E. Staiger, Grundbegriffe S. 220 ff. , so heißt das nur, daß die anthropologische Dreiheit sich in der Typologie der Gattungen sowohl wie in der Unterscheidung der Aspekte bewährt.

Die lautliche Welt

Auch wenn von der Bedeutungsseite der Sprache abgesehen wird, so ist die verbleibende Lautfolge niemals bloße, mechanisch-zufällige Masse. Schon der sprachliche Einzellaut steht mit den anderen Lauten in einem bestimmten Gefüge; das hat gegenüber der Phonetik die sogenannte Phonologie1Eugen Seidel, Das Wesen der Phonologie. Kopenhagen und Bucuresti 1943. J. Vendryes, La phonologie et la langue poétique. Proceedings of the 2nd International Congress of Phonetic Sciences. Cambridge 1936. zur Geltung gebracht, indem sie, als funktionelle Phonetik die verschiedenen Verhältnisse der Opposition der einzelnen Phoneme in der Struktur einer Sprache verfolgt. Was für die Dichtung wichtiger ist, das ist der lautsymbolische Wert des Lautes, der, bewußt oder unbewußt, im Rahmen eines sprachlichen Lautsystems vernommen wird und schließlich als Lautmalerei zu einem eigentlichen, wenn auch oft mißbrauchten, Stilmittel wird (vgl. Kaysers Untersuchung barocker Lautmalerei2Wolfgang Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Leipzig 1932., Ernst Jüngers Lob der Vokale 3Ernst Jünger, Lob der Vokale (In: Blätter und Steine, Hamburg 1934). u. a.). Erst recht hat jede Lautfolge, soweit sie96 nach Klangfarbe, Tonhöhe, Tondauer, Tonstärke individuell gegliedert ist, einen gestalthaften Charakter, eine bestimmt umrissene Schallform . Diese klanglich-melodisch-rhythmische Bewegung hat ihre tiefen Beziehungen zu körperlichen, biologisch-physikalischen Gegebenheiten. Nichts kann im Klang und Sinn der Sprache sein, was nicht vorher im Bewegungsverhalten unseres Körpers war (so z. B. Heinitz1Wilhelm Heinitz, Ein biologisch gerichteter Beitrag zur deutschen Versforschung. (In: Vom Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch, 326 ff. Hamburg 1949).). Es kann versucht werden, wie es Eduard Sievers mit seiner Schallanalyse tat, diese entsprechenden körperlichen Reaktionen zu messen und so bestimmte Typen des Sprechens zu unterscheiden. Im Zusammenhang der allgemeinen stilistischen Untersuchung könnten solche Schallformen ihren poetischen Sinn erhalten. In diesem Sinne verlangt Robert Petsch2Robert Petsch, Zur Tongestaltung in der Dichtung (In: Internationale Forschungen zur deutschen Literaturgeschichte, Julius Petersen zum 60. Geburtstag, 1 ff. Leipzig 1938). eine Untersuchung der Schallform der Seele , der Ton - oder Registerführung . Auch wenn dies problematisch bleibt, so gilt doch, wie einmal Heinrich Lützeler3Heinrich Lützeler, Die Lautgestaltung in der Lyrik. ZfAesth XXIX (1935) 214 ff. Vgl. dazu Karl Knauer, Die klangästhetische Kritik des Wortkunstwerks am Beispiel französischer Dichtung. DV 15 (1937) 69 ff. betont hat, daß die Lautgestaltung allein ein Gedicht tragen kann, in der tiefsten Schicht, der gegenüber alles andere weniger substantiell erscheinen kann . Das scheinbar Sinnlichste d. h. die gehaltfreie Lautgestalt kann unmittelbar existentielle, im Werk stilistische Bedeutung haben.

  Im Werkstil ist es unter den vier gewöhnlich unterschiedenen Merkmalen einer Lautfolge weniger das stimmliche oder klangmäßige Element als der sog. Rhythmus, der die höchstkomplexe Schallmasse organisiert. Die Bezeichnung Rhythmus ist noch immer so unbestimmt und wechselnd im Gebrauch wie die Sache selbst rätselhaft ist. Während Rhythmus in einem allgemeinen Sinne eine allgemeine Lebenserscheinung auch des organischen und kosmischen Lebens ist4Zum Problem des Rhythmus in den verschiedenen Wissenschaften: Studium generale 2 (1949) 67 ff. (Klages5Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus. 2. Aufl., Zürich-Leipzig 1944. z. B. definiert ihn als polarisierte Bewegung und ursprünglichsten Wellenschlag des natürlichen und seelischen Lebens) , wird der Begriff in der Literaturwissenschaft oft sehr eingeschränkt als Bezeichnung für einen bestimmten Gestaltcharakter speziell der Versdichtung. Wichtig sind wohl hier noch immer die vernünftigen97 und klärenden Ausführungen Dietrich Seckels1Dietrich Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus. Mit einer Einleitung über das Problem des Rhythmus und einer Bibliographie zur Rhythmusforschung. (Palaestra 207, Leipzig 1937). Besprechung von Friedrich Beissner DuV 39 (1938) 375 ff. und seine Definition des sprachlich-dichterischen Rhythmus als die individuell charakteristische, gestalthafte Bewegungsform, die sich in dem durch feinste dynamische Abstufungen unterschiedenen Akzenten (Schweregraden) eines sprachlichen Gebildes ausprägt . D. h., es wird erstens, für die deutsche Sprache wenigstens, das eigentlich führende Gestaltprinzip des Rhythmus in der Tonstärke gesehen, von welcher Tondauer und Tonhöhe meistens beeinflußt sind; auch damit bleibt der Rhythmus nur ein Element innerhalb der komplexen sprachlichen Gesamtform. Und zweitens wird von Seckel Rhythmus, mit Andreas Heusler, jeder prosaischen oder versmäßigen Redefolge zuerkannt. Auch dann ergeben sich für den Versrhythmus noch zwei verschiedene Verwendungen des Begriffs, da sich im Verse die schematische Ordnung des Metrums mit dem von der konkreten sprachlichen Füllung jeweils mitgebrachtem Rhythmus zu einer höheren Einheit verbindet. Dann kann man entweder von der Spannung zwischen Metrum und Rhythmus im Verse sprechen oder unter Versrhythmus diese höhere Resultante, diese höhere Art von Rhythmus verstehen. Und so möchte Kayser schließlich den Begriff Rhythmus am liebsten überhaupt auf die Verssprache einschränken, ohne freilich für die Prosagliederung einen eigenen Ausdruck zu prägen. Daneben bleibt der Name allerdings auch im allgemeinsten Sinne verwendet und wird, als sinnvolles Einswerden von Ruhe und Bewegung (Theophil Spoerri), als Urbewegung des Daseins (Emil Staiger), als Einheit von Dauer und Wechsel letztlich im Kunstwerk soviel wie Stil.

  Schon diese terminologischen Schwierigkeiten beruhen wohl darauf, daß das Rhythmische am deutlichsten in Erscheinung tritt dort, wo es in fester Weise geregelt und sozusagen bewußt zu einer eigenen Kunstsprache ausgebildet wird: im Vers. Hier wird im deutschen Vers durch Vereinheitlichung der Akzentabstände die Rede in Takte und Taktgruppen gezwungen, und werden rhythmische Formen zu bestimmten übertragbaren Schemata von Versen und Strophen abstrahiert. Wobei diese Schemata, dieses Metrum in rhythmisch wechselnder Weise realisiert werden, umspielt werden können. Takt (als schematische Erwartung) und konkreter Sprachrhythmus sind dann Gegensätze, die sich z. T. erst gegenseitig hervortreiben und in einem höheren Ganzen finden; Klages bezieht den Gegensatz auf den Grundgegensatz von Leben und Geist.

  Da es die Metrik als Lehre von Wesen und Geschichte dieser Schemata mit weithin abstrahierten, dem individuellen Stil entrückten Gebilden zu98 tun hat, hat sie auch eine selbständige Wissenschaft außerhalb der Poetik werden können. Sie ist wohl heute praktisch noch immer von der klaren und bequemen Begrifflichkeit Heuslers bestimmt, dem das Hauptverdienst zufällt, den Sinn für die künstlerische Gehörgröße des Verses wieder geweckt zu haben. Er bekümmert sich allerdings nur um die metrischen Schemata, nicht um den Vers überhaupt. Das betont Saran1Franz Saran, Deutsche Verskunst. Ein Handbuch. Berlin 1934. gegen Heusler sehr stark: daß nämlich der Unterschied von Prosa und Vers auf der ganzen Linie , nicht nur im Metrischen liege. Verslehre und Metrik sind für Saran nicht identisch. Aber es bleibt fraglich, ob die andern Determinanten Melodie, Klangart, Tongestalt, Sprechweise wirklich als Kunstformen faßbar sind und nicht nur physiologische oder allgemeine stilistische Merkmale darstellen. Das Versproblem stellt sich im übrigen natürlich von Sprache zu Sprache, ja vielleicht von Zeit zu Zeit wieder anders, und zwischen Theorie und Praxis können unvermerkt Unterschiede bestehen. So ist der Versuch W. Suchiers2Walther Suchier, Vortrag und Rhythmus des französischen Verses. Zeitschrift für franz. Sprache u. Literatur 64 (1940 / 42) 1 ff. interessant, der vier verschiedene Arten des Versvortrags in der modernen französischen Praxis feststellt ein Mehr oder Weniger an Berücksichtigung der Bindungen, die durch den Vers als rhythmisch-melodische Einheit gefordert sind und von da aus erst die Wesensfrage des französischen Verses3J. Suberville, Histoire et théorie de la versification française. Paris 1946. klären zu können glaubt. Zum englischen Vers sei wenigstens ein Aufsatz von E. H. Scholl4Evelyn H. Scholl, English Metre once more. PLMA LXIII (1948) 293 ff. angeführt.

  Auch Wolfgang Kaysers erfolgreiche Kleine deutsche Versschule5Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, 2. Aufl., Bern 1949. Ders., Vom Rhythmus in deutschen Gedichten. DuV 39 (1938) 487 ff. steht im Gefolge Heuslers und des von Otto Paul verfaßten Konzentrats der Heuslerschen Verslehre6Otto Paul, Deutsche Metrik. 3. Aufl., München 1951.. Sie beschränkt sich auf die leichtfaßliche Herausarbeitung der elementaren Begriffe und die Vorführung der wichtigsten noch aktuellen Formen der neueren Literatur, aber unter völligem Verzicht auf die Dimension der Versgeschichte. Dafür schärft sie aufs neue den Blick für die Funktion des Metrums im individuellen Ganzen. Das kommt dadurch zur Geltung, daß Kayser zu einer Darstellung von Grundbegriffen der Rhythmik fortzuschreiten versucht.

  Nicht dem Worte, wohl aber der Sache nach gehört zur Metrik auch die Erscheinung der sogenannten freien Rhythmen, die man wohl besser als freie Takte bezeichnen würde. L. Beriger, in der schon oben (s. S. 53)99 zitierten Abhandlung, betont ihren oft bestrittenen Verscharakter, sofern sie das Kennzeichen einer Verselbständigung des rhythmisch-melischen Elements gegenüber dem bloß logischen Tonfall der dichterischen Prosa zeigen. (Diese ihrerseits hat ihre sekundären poetischen Merkmale in Wortstellung, Wortgebrauch, sprachlicher Dichte und Anschaulichkeit mit der Versdichtung gemein.) Als Zwitterform muß ihm dagegen die sog. lyrische Prosa (z. B. Gessner, Novalis) gelten. August Closs1August C. Closs, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Versuch einer übersichtlichen Zusammenfassung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit. Bern 1947. hat den deutschen Vertretern freier Rhythmik eine Gesamtbetrachtung gewidmet, die im wesentlichen eine beschreibende Darstellung ist, in der theoretischen Erkenntnis aber kaum weiterführt. Als Wesenshalt der freirhythmischen Forschung bezeichnet auch er das Merkmal des Takts, bei freier Taktzahl und freier Taktfüllung , möchte aber darüber hinaus auch die freirhythmische Bewegung selbst als wesentlich erfassen. Hier führt Max Komme - rells2Max Kommerell, Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter (in: Gedanken über Gedichte, S. 430 ff.). Aufsatz wesentlich weiter.

  Im Reim wird innerhalb der Metrik das Element der Klangfarbe herangezogen, um die metrische Ordnung zu profilieren oder zu spannen, auch hier nach geschichtlich verschiedenen Formkonventionen und in verschiedenem Maß. Die Einführung des Endreims, die für die deutsche Literatur Ulrich Pretzel3Ulrich Pretzel, Frühgeschichte des deutschen Reims. I. (Palaestra 220, Leipzig 1941). verfolgt hat, ist zweifellos eine der größten Revolutionen der abendländischen Literaturgeschichte, deren geistige Hintergründe noch ungenügend erforscht sind. Hier ist K. G. Kuhns Herleitung aus den Gebeten der jüdischen Synagoge des ersten Jahrhunderts4Karl Georg Kuhn, Zur Geschichte des Reims. DV 23 (1949), 217 ff. ein sehr wichtiger Beitrag. Einzelne Probleme des Reims in der antiken und englischen Literatur sind von A. M. Clark5Arthur Melville Clark, Studies in Literary Modes. Edinburgh and London 1946. behandelt.

  Am einfachsten und naheliegendsten ist natürlich die Untersuchung des Rhythmus in der Vers dichtung; denn hier kann er unmittelbar in seiner wechselnden Spannung zum Metrum gemessen werden. Der Hauptgesichtspunkt bleibt zunächst die Art und Weise, wie die Satzgliederung der Rede mit ihren Kola und deren Stärkegraden auf das neutrale Schema des100 Metrums trifft. In diesem Sinne haben z. B. Elisabeth Spoerri1Elisabeth Spoerri, Der cherubinische Wandersmann als Kunstwerk. (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach - und Stilgeschichte Nr. 2) Zürich 1947. und Gerhard Storz2Gerhard Storz, Ein Versuch über den Alexandriner (Festschrift für Paul Kluckhohn u. Hermann Schneider, Tübingen 1948, 231 ff.). verschiedene Realisationen des Alexandriners in verschiedenen Epochen, bei verschiedenen Dichtern und je wieder in verschiedenen Sprachen verfolgt; Georg Seidlers3Georg Seidler, Musik und Sprache im Drama Schillers und Kleists. Versuch einer neuartigen Versforschung im Drama. DuV 42 (1942), 71 ff. Arbeit gilt entsprechend dem Blankvers Schillers und Kleists. Der abweichende Rhythmus aber kommt natürlich durch einen bestimmten Sprachgebrauch zustande, so daß schon hier überall allgemein stilistische Beobachtungen, vor allem syntaktischer Art, mitgegeben sind. Einen speziellen Gesichtspunkt, die Stellung des gewichtigen Wortes in den freien Rhythmen Hölderlins, hat Hannes Mae - der4Hannes Maeder, Hölderlin und das Wort. Trivium II (1944), 42 ff. hervorgehoben; der Rhythmus der Verse zeigt eine Spannung auf das gewichtige Wort hin, und die Zäsuren dienen dazu, es hervorzuheben; auch in den freien Rhythmen arbeitet der Rhythmus prinzipiell gegen das Metrum (Abbrechen der Zeile mitten im Takt). Die Analyse der Versgestaltung ermöglicht unmittelbar allgemein stilistische, weltanschauliche Befunde: Hölderlins Ringen um das göttliche Wort .

  Damit ist auch ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Untersuchung des Prosarhythmus gewonnen denn auch hier wird sich die kennzeichnende Grundgebärde aufweisen lassen müssen. Und zwar nicht durch ein Silbenmessen und Suchen nach einem allfällig versteckten Metrum, nicht im sog. Numerus bestimmt geregelter Satzschlüsse im Sinn der antiken Rhetorik, sondern, wie Beissner5Friedrich Beissner, Unvorgreifliche Gedanken über den Sprachrhythmus (Festschrift für Paul Kluckhohn und H. Schneider, Tübingen 1948, 427 ff.). gegen frühere Versuche betont, durch Beobachtung der je eigentümlichen Stellung von Worten und Wortgruppen zueinander, d. h. nach Art und Grad ihrer Ordnung, ihrer Zusammengehörigkeit oder Getrenntheit. Die Beobachtung des Rhythmus führt daher vom lautlichen zum allgemein sprachlichen, speziell syntaktischen Stil. Das tertium comparationis wird die normale Grammatik. Womit wieder nichts anderes sich bewährt als die Unmöglichkeit, dem Begriff des Rhythmus einen nur lautlichen Sinn zu geben, und das relative Recht, ihn als Stil, als Daseinsrhythmus schlechthin zu fassen.

  Ein letztes Problem ist die Frage, ob die an individuellen Dichtwerken sich zeigenden verschiedenen Arten des Rhythmus in einer Typologie des Rhythmus geordnet werden können. Die von der Sievers'schen Schallanalyse101 unterschiedenen Stimmtypen (nach Tonlage, Tonführung, Intervallen) und wohl auch Petschens Registerführung bedeuten schließlich doch eine Reduktion auf Physiologisches und führen damit mindestens vorläufig vom Künstlerisch-Stilistischen ab. Allerdings ist festzuhalten, daß auch sonst kaum der Rhythmus eines Werks, sondern der eines personalen oder gar epochalen Stiles herausgearbeitet wird. Kayser hebt rein empirisch an Versdichtungen vier verschiedene rhythmische Typen heraus, die er als fließenden, bauenden, gestauten, strömenden Rhythmus bezeichnet. Ähnlich hat Seckel an Hölderlins Versen und Prosa je eine Reihe verschiedener, sich eventuell ablösender rhythmischer Typen unterschieden und mit Bezeichnungen wie starr , schwingend , stoßhaft gehemmt usw. versehen. Man wird dagegen nichts einwenden als den Wunsch, solche zufällig wirkenden Bestimmungen aus größerem Zusammenhang begründet zu sehen. Dieser größere Zusammenhang kann aber nur der Stil überhaupt sein; es käme also auf eine rhythmische Fassung der allgemein-poetischen Typologien hinaus.

Die Vorstellungswelt

Jedes Stück Rede ist nicht nur Schallform, sondern entwirft das Bild einer bestimmten in Raum und Zeit vorgestellten Wirklichkeit äußerer oder innerer Art. Diese Wirklichkeit ist schon in jeder Wortprägung, wie man seit Herder weiß, immer eine bestimmte Konzeption der Wirklichkeit, ein Wort der Seele und insofern Stil, vorgezeichnet in der jeweiligen Sprache, individuell überprägt von der Individualität des Dichters. Speziell wird die spezifische Art der Sinnlichkeit, mit der nicht nur eine Sprache, sondern ein Dichter in seinen Werken die Wirklichkeit perzipiert und konzipiert, für seinen Stil charakteristisch sein; sie wird sich fast exakt am Vorherrschen gewisser Sinnesbereiche (Gehör, Gesicht, Geruch. Motorik, Synaesthesie) in seinem Wortschatz und seiner Bildwelt nachweisen lassen1Käthe Harnisch, Deutsche Malererzählungen. Die Art des Sehens bei Heinse, Tieck, Hoffmann, Stifter und Keller. Berlin 1938. René Wehrli, Eichendorffs Erlebnis und Gestaltung der Sinnenwelt (Wege zur Dichtung 32, Frauenfeld - Leipzig 1938). Synaesthesie, vor allem in Barock und Romantik: vgl. die Literatur bei Wellek-Warren 310 f.. Das führt hinein in eine Stilistik der Sprache nach Wortschatz, Wortarten, Formen der Verknüpfung, wie sie bereits beschrieben wurde, anderseits aber zur Untersuchung der dichterischen Einbildungskraft als Bildkraft; in diesem Sinne hat Gaston Bachelard seine Imagination102 de la matière 1Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière. Paris 1942 (vgl. oben S. 17). entworfen, wobei von dem materiellen Inhalt der Einbildungskraft auch zu ihren raum-zeitlichen Anschauungsformen fortgeschritten werden kann.

  Im einzelnen Werk, mit dessen Aspekten wir es hier zu tun haben, liegt darüber hinaus eine bestimmt gestaltete Situation vor, ein bestimmter thematischer Wirklichkeitsausschnitt mit seinen Figuren (in der Lyrik eventuell der Dichter selbst), mit Geschehen, mit Umwelt. Man könnte diese Sphäre schlecht und recht auch als Inhalt bezeichnen, sofern von diesem Begriff das Sinnmäßige, der Gehalt ferngehalten wird. Es ist insgesamt das, was fragwürdiger - und doch auch wieder natürlicherweise in Inhaltsangaben bezeichnet wird2Wilhelm Olbrich, Der Romanführer. Der Inhalt der deutschen Romane und Novellen vom Barock bis zum Naturalismus. 2 Bände. Stuttgart 1950 (Lexikon)..

  Da ist die Umwelt, der Hankiss3Jean Hankiss, Les problèmes du milieu. Helicon III (1941), 19 ff. eine grundsätzliche Betrachtung gewidmet hat; nicht das Milieu des Dichters oder Lesers, sondern die Welt im Werk als einer seiner wichtigsten Faktoren, vom selbständigen Gegenstand der Schilderung, etwa als Landschafts - oder Gesellschaftswelt, bis zur innerlichen Gefühlswelt des lyrischen Gedichts. Auch Petsch untersucht ihre grundlegende Funktion im epischen und dramatischen Werk, d. h. ihre Beziehung zu Figuren und Vorgängen. Das Milieu ist natürlich nur faßbar als Beziehung zu den menschlichen Figuren ob diese nun im Personal eines Romans oder Dramas oder in dem monologischen Ich des Erzählers oder Lyrikers bestehen. Menschengestaltung, dichterische Psychologie, Selbstdarstellung, Verwendung von Vorbildern sind vor allem in Drama und Epik beliebte Untersuchungsgegenstände4Ein Beispiel: Elisabeth Erbeling, Frauengestalten in der Oktavia des Anton Ulrich (Germanische Studien 218. Berlin 1939).. Auch hier tritt, wo nicht einfach Charakterologie am Material der Dichtung betrieben wird, überall als bestimmende Macht oder gemeinsamer Nenner der Figuren ein dichterisches Ich hervor (vgl. Rütsch5Julius Rütsch, Das dramatische Ich im deutschen Barocktheater (Wege zur Dichtung 12, Horgen-Leipzig 1932)., Lugowski), d. h. es offenbart sich auch und gerade in diesen komplexen Gestaltungen der existentielle Stil des Autors. Der Vorgang, die Handlung, die Fabel oder wie man das Geschehen nennen will, schließt den Kreis als das, was Umwelt und Figuren in Beziehung und Bewegung bringt und damit erst eigentlich vollendet. Daß die Lyrik (vgl. Kayser 81) keine derartige Handlung kennt, kann nur103 heißen, daß hier das Geschehen ein inneres ist und oft nur noch als das Urgeschehen des Rhythmus faßbar wird. Der herkömmliche Begriff der Handlung wird im übrigen auch im modernen Roman (Joyce) fraglich. Fabel ist nach dem üblichen Sprachgebrauch der bereits in bestimmter Weise geordnete Faden der Handlung, engl. Plot , im Gegensatz zum noch amorphen Inhalt; wie weit diese Ordnung geht und wie weit ihre Funktion im Werkganzen reicht, wird für die Strukturanalyse wesentlich. Bei den beschriebenen Elementen lassen sich wiederum stoffliche Substanz und Gestaltcharakter nicht trennen. Die Untersuchung kommt von selbst von der sinnlich-materiellen Bildsphäre zu den allgemeinen Prinzipien des Aufbaus, von der äußeren Technik oder Darbietungsform zur inneren Struktur des Stils, von einer Wirklichkeit zu apriorischen raum-zeitlichen Anschauungsformen.

  Es ist nun wesentlich, daß die jeweilige Vorstellungswelt eines Werkes sowenig wie die Erscheinungen der Lautsphäre aus dem Nichts geschaffen ist. Die Dichtung bedient sich auch hier bis zu einem gewissen Grad vorgeprägter Formen, verwendet Bildelemente, Vorstellungsgruppen, die z. T. der menschlichen Natur an sich zugehören mögen, z. T. einem traditionellen Formen - und Formelschatz entstammen, aber im Werk ihren jeweiligen stilistischen Sinn erhalten ganz ähnlich, wie in der Sphäre des Lautes metrische und rhythmische Schemata als unumgängliche geschichtliche Grammatik dichterischer Sprache immer schon vorliegen. Es ist die Welt der Bilder im engeren Sinne, der Metaphern und Tropen, der Symbole und Motive und schließlich der Stoffe. Note: Eine genaue Erörterung dieser sich mannigfach überschneidenden Begriffe gehört nicht hierher. Ihre Schwierigkeit wird aus dem wohl immer noch maßgebenden Buche von Pongs1Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. I. Morphologie der metaphorischen Formen. Marburg 1927. (Bd. I) deutlich; die Frage führt weit hinein in die schon mehrfach berührte Problematik von Zeichen und Symbol und ihrer Erscheinungen in Dichtung, Sprache und menschlicher Natur überhaupt; von C. G. Jungs Archetypen wird unten die Rede sein; diesen gegenüber bestehen die sechs Essays von C. Day Lewis2C. Day Lewis, The Poetic Image. London 1947. auf der stilistischen Funktion des Bildes im Zusammenhang des Werkganzen.

  Die dichterische Metaphorik ist nichts als die aktualisierte Metaphorik der Sprache überhaupt, deren notwendig bildhafte Prägungen von der Dichtung benützt, erneuert, gesteigert und an die Sprache zurückgegeben werden. Note: Die Art der Bildgestaltung kann daher bei einer personalen, sozialen104 oder nationalen Sprache als spezifischer Stilzug untersucht werden1Gerhard Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Berlin 1933. Caroline Spurgeon, Shakespeare's Imagery. Cambridge 1935. Wolfgang Clemen, Shakespeares Bilder. Ihre Entwicklung und ihre Funktionen im dramatischen Werk. Bonn 1936. Bert Nagel, Der Bildausdruck der Meistersinger. ZfdPh 65 (1940), 34 ff. K. Westendörpf, Der soziologische Charakter der englischen Bildersprache. 1939..

  Höherer Ordnung als diese metaphorischen Abbreviaturen sind feste Bildgefüge, die neben anderm bei Curtius2Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. in ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung verfolgt werden: beispielsweise die Ideallandschaft oder die Vorstellung vom Puer-Senex. Wenn Curtius seine Topik als das Vorratsmagazin der Rhetorik definiert, so umfaßt sie doch praktisch nicht nur rhetorische Stilfiguren (z. B. die Trostrede), sondern bestimmte Bildschemata (Bild des Herrschers), ferner traditionelle Metaphergruppen (Schauspielmetapher), die in wechselndem Maß aktualisiert und dichterisch durchdrungen werden, einen Archetypus durchschimmern lassen oder zu eigentlichen Motiven im Aufbau der Dichtung werden. Auch Menschentypen erscheinen in der Dichtung als solche Schemata, die je nach dem wechselnden Zusammenhang ihre Erfüllung oder Veränderung finden; man könnte etwa die Gestalt des Sonderlings als einen Topos der romantischen und realistischen Literatur bezeichnen3Herman Meyer, Der Typus des Sonderlings in der deutschen Literatur. Amsterdam 1943. Ders., De Lebensavond als litterair motief. Amsterdam 1947..

  Als Motiv wird dagegen in sehr schwankendem Sprachgebrauch meist eine bildmäßige Einheit der Situation oder der Handlung bezeichnet, ein Strukturelement des äußeren oder des inneren Geschehens (dies in der Lyrik), das ebenfalls den Charakter eines übertragbaren und wechselnd zu füllenden Schemas hat. Es wird vor allem im Märchen zum eigentlichen Anhalt der Forschung (vgl. darüber Kayser); doch zeigt gerade die neue Märchenforschung (Lüthi, oben S. 81), wie gefährlich es ist, das Motiv unmittelbar sinnmäßig zu interpretieren oder nach historischen Zusammenhängen zu forschen, statt es zunächst als Element des umfassenden Stils zu sehen. Dagegen ist nun der Stoff bereits die fixierte, konkrete Fülle eines Inhalts (also Märchen-Motiv, aber Sagen-Stoff) und als solcher ein komplexeres Gebilde: Faust ist als Geschichte eines Teufelspaktes ein Motiv, als Geschichte vom Doktor Faustus ein Stoff. Genau besehen liegt freilich auch hier beim Stoff ein Schema vor: es kann ja nicht der Rohstoff einer objektiven Wirklichkeit gemeint sein, der nun so oder so erlebt und105 gestaltet würde, sondern diese Wirklichkeit ist immer eine bestimmt gesehene, gestaltete Überlieferung, d. h. Stoff ist nichts anderes als die Stoff - Quelle, die Vorlage . Was dann zwei Werke desselben Stoffes einander verbindet, das ist entweder nur die Äußerlichkeit eines Namens oder dann eben doch nichts anderes als ein Motivzusammenhang. Stoff als literarische Quelle kommt damit weniger bei einer stilanalytischen Betrachtung zu Gesicht als bei einer historischen oder vergleichenden Betrachtung von Werkgruppen und Reihen (vgl. unten S. 146 f.).

  Als ein Schlüsselbegriff der Interpretation höherer Ordnung erscheint die dichterische Welt des Symbols bei Wilhelm Emrich, dessen Faustbuch1Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943. eine der imposantesten Leistungen der neueren Germanistik ist, wenn auch in seinem Reichtum schwer überschaubar. Es ist eine minutiöse Interpretation von Faust II auf Grund einer Entstehungsgeschichte der spätgoetheschen Symbolik auf der ganzen Breite der Vorstellungswelt Goethes . Es soll das Symbol - und Bildnetz oder das symbolische Schichtengefüge (daher Schichteninterpretation ) des Werkes genetisch, d. h. in seinen streng gesetzlichen Wandlungen aufgewiesen werden. Goethes Alterswerk lasse sich in der bloßen Interpretation aus einem Plan , aus einem Werkganzen niemals befriedigend erklären; die Inhaltsinterpretation wie die Interpretation aus der Sprachform (bei Kurt May) führe zu Unstimmigkeiten oder verfehle das Wesentliche, und die historische Motivinterpretation biographischer Art halte sich am Motiv statt an der Symbolgestalt des Motivs. Von den lebendigen Symbolkomplexen und - schichten aus, die als Funktionen zu verstehen und nicht etwa auf Inhalte zu fixieren sind, soll nicht nur die Sinnstruktur des Werkes deutlicher werden, sondern es soll dieses Werk selber in seiner Wachstumsgestalt innerhalb der geschichtlichen Entfaltung von Goethes Gesamtwerk erscheinen. Gewiß bleibt diese Methode auf den Ausnahmefall des Faust II bezogen und wird nicht einmal hier das Gesamtwerk voll erfassen können; aber die Tragweite eines beweglich genug gefaßten Symbolbegriffs für die Interpretation ist von Emrich noch großartig genug dargetan. Vor allem aber scheint hier auch die stilkritische Methode auf eine weitere und höhere Ebene gehoben insofern, als diese Symbolgenetik versucht, ernsthaft Werkinterpretation und Historie zu verbinden und die geheimnisvolle Verschränkung von Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit darzustellen, womit auch die historische Skepsis , die in der Stilkritik zu einer Sinndeutung aus geschichtsloser Gegenwart führt, überwunden wäre.

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Die gedankliche Welt

Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede Stoffhuberei des Positivismus, sondern auch gegen jede Sinnhuberei des Idealismus kritisch eingestellt. Im Rahmen des Werkganzen kann die gedankliche Sphäre Sinn, Tendenz, Problem, Idee, Gehalt wieder nur als Stilelement, als Aspekt in Erscheinung treten; jede Herauslösung bedeutet eine willkürliche Abstraktion, die den einzigen Sinn des Gedichts: das Gedicht verfehlt, ja den herauslösbaren Gedanken vielleicht selber notwendig verfälscht. Der gedankliche Sinn eines Liebesgedichts wäre meist eine höchst banale und gegenstandslose Mitteilung, und selbst noch bei einer Tragödie kann das Suchen nach einer These des Dichters, etwa über die Schuld des Helden, zu den abwegigsten Theorien führen. Und so ist es wohltätig, wenn Emil Staiger an einer Kleistnovelle gezeigt hat, daß ein Werk banalsten moralischen Gehalts, eine bloße Schauermär , doch kraft seiner zwingenden reinen Form , d. h seines Stils, ein vollendetes Kunstwerk sein kann.

  Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun wieder zum bloßen und fakultativen Teilaspekt unter andern zu reduzieren. Als Sprachwerk wird jede Dichtung nicht nur Dasein, sondern Bewußtsein und Erkenntnis, nicht nur Werk, sondern auch Wirken, nicht nur Anschauung, sondern auch Ausdruck und Mitteilung sein. Der Gedanke wird nicht nur als denkerischer Stil, sondern auch in ausdrücklicher gedanklicher Stellungnahme sich kundtun zu den Problemen , die mit der Wahl und Führung der Handlung, der Personen, der Umwelt zusammenhängen und insgesamt u. U. eine ausdrückliche Tendenz , eine These ergeben vielleicht sogar so, daß darin das eigentlichste Anliegen erscheint: z. B. der römische Reichsgedanke bei Vergil, die Heilsgeschichte bei Dante, der Vergänglichkeitsgedanke bei Walther v. d. Vogelweide, der Kampf gegen die Kurpfuscherei bei Gotthelf. Sofern diese Probleme im Sinn der Problemgeschichte Rudolf Ungers allgemeinmenschliche, die Gesamtheit des Daseins betreffende sind wie Liebe oder Tod, führt ihre Behandlung auf dahinterliegende weltanschauliche Haltungen . Innerhalb des Werks erscheinen sie damit freilich auch wieder zurückbezogen auf einen gemeinsamen Nenner, der als jenseitige, irrationale, lebendige Idee das organisierende Prinzip der Dichtung selbst ist, der Augenpunkt der perspektivischen Ordnung (Petersen), und sich damit wieder dem Begriffe des Stils nähert. So basiert Fritz Strichs Typologie der Stile auf den zwei polaren Lösungen, auf die die Idee der Ewigkeit, der menschliche Wille zur Verewigung aus der Problematik von Leben und Tod heraus, zustreben kann.

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  Aber innerhalb der verschiedenen Stilaspekte scheint nun eben die gedankliche Welt einen ausgezeichneten Charakter zu haben, so wahr wenigstens die sinnlich-seelisch-geistige Ganzheit des Menschen selbst nach der Führung durch den Geist verlangt. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst Poesie wird, aber das eigentlich Tiefe und gründlich Wirksame, das Wahrheit Bildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrigbleibt, wenn er in Prosa übersetzt wird so Goethes oft geäußerte Meinung (Dichtung und Wahrheit). Diese trotz allen Vorbehalten bestehende Übersetzbarkeit selbst in andere Sprachen ist auch von Tho - mas Mann einmal mit verwunderter Resignation festgestellt worden. Dieses gründlich Wirksame liegt aber wohl in der geistigen Sphäre, in der sich am energischsten das sich selbst transzendierende Wesen des Werkes, das Sprachwerk als Mitteilung zeigt. Man braucht deswegen noch nicht das Werk auf die hypostasierten Erlebnisse des Dichters oder auf die Geschichte absoluter Ideen zurückzuführen. Es genügt, wenn wir uns auch hier vom Einzelwerk auf die weiteren geschichtlichen Einheiten eines dichterischen Oeuvres und einer Literatur verwiesen sehen.

f) Die Wertung

Es gebe, sagt T. S. Eliot1T. S. Eliot, The Use of Poetry and the Use of Criticism. London 1933., zwei Fragen, in denen die literarische Kritik ihr Ziel und ihre Grenzen habe, die eine: What is poetry?, die andere: Is this a good poem? Wenn die vorhergegangenen Erörterungen der Poetik letztlich auf die erste Frage zulaufen, so bleibt uns hier noch die zweite, die Frage der Wertung, die wir hier zunächst in der einfachen und strengen Formulierung Eliots verstehen. Es ist die Frage, die oft weniger den Literaturwissenschafter als den Kritiker und jeden einzelnen Leser interessiert.

  Deutung (Wesenserkenntnis) und Wertung sind zwar praktisch kaum zu trennen; denn bei der die gesamte Existenz betreffenden Natur des Kunstwerkes wie auch des Verstehens erscheint das Kunstwerk zum vornherein als wertbezogen und ist jede Beobachtung und Beschreibung zugleich Wertung. Im Begriff der Kritik, des Criticism, liegt beides zugleich. Welche verschiedenen Gesichtspunkte der Wertung dabei im Spiele sind, lehren die mehr oder weniger zum System gezwungenen Aufstellungen bei Beriger2Leonhard Beriger, Die literarische Wertung. Ein Spektrum der Kritik. Halle 1938., Petersen, Wellek-Warren. Dennoch aber gibt es prinzipiell die Möglichkeit,108 ein Werk in Erscheinung und Wesen ohne Wertklassierung zu beschreiben: die Feststellung von Gattungscharakter, von Versbau und Rhythmus, Bild - und Gedankensphäre mag vielleicht auf eine Wertung zielen, aber ist ausdrücklich zunächst noch keine.

  Im weitesten Horizont erscheint die Frage der Wertkriterien, wenn versucht wird, sie auf dem Boden einer Ästhetik für alle Künste zu stellen, im Sinn einer allgemeinen Kritik der ästhetischen Erfahrung. Besonders dann, wenn das ästhetische Werturteil ganz empirisch als eine Kumulation der Anwendungen grundsätzlich verschiedener Kriterien untersucht wird. So unterscheidet Stephen C. Pepper1Stephen C. Pepper, The Basis of Criticism in the Arts3. Cambridge, Mass. 1949. vier verschiedene Arten, sich einem ästhetischen Gegenstand zu nähern, die alle je auf eine world hypothesis , d. h. eine Art, die Welt überhaupt zu begreifen, zurückgehen und zusammen auch den ästhetischen Gegenstand einkreisen. Pepper unterscheidet so einen mechanistic criticism (der den unmittelbaren Lustgewinn betrifft), einen contextualistic criticism (der die konkrete Situation von Werk und Wirkung im Auge hat, mit den Kriterien Intensität und Tiefe), einen organistic criticism (der auf die Integration, die Ganzheit des Werks und der Einbildungskraft sich richtet) und einen formistic criticism (der das Kunstwerk als Verkörperung einer natürlichen Norm beurteilt). Aus dieser an sich fragwürdigen, empirisch-eklektischen Zusammenstellung können uns im Rahmen unseres Gedankengangs nur die Gesichtspunkte des zweiten und dritten Criticism interessieren.

  Auch bei einer Wertung des Werks als solchen (organistic), also einer poetischen Wertung im engern Sinn, ist die Gefahr eines bloß additiven Vorgehens groß.

  Leonhard Beriger geht bei seiner Untersuchung der literarkritischen Wertmaßstäbe davon aus, daß Deutung und Wertung untrennbar seien, daß also alle Gesichtspunkte der Interpretation auch zum Wertkriterium werden können; das Dichtwerk aber sieht er im Gegensatz zum Werk der bildenden oder musikalischen Kunst als symbolische Einheit, d. h. eine Einheit, die nicht nur schön , sondern auch wahr sein will, d. h. im Gehalt (Gedanke, Weltanschauung, Idee) auf eine außerästhetische Wirklichkeit weist. Auch wenn Berigers Untersuchungen auf eine einheitliche systematische Grundlage die ungefähr der Emil Ermatingers entspricht bezogen sein wollen, so unternehmen sie es doch, die Wertungsmöglichkeiten fast ausschließlich vom Einzelaspekt aus zu untersuchen. So erscheinen als ästhetische Gesichtspunkte die Stilaspekte von Stoff, Sprache, Symbolik, Atmosphäre und Gattungsform (welch letzteres, wie oben zu zeigen versucht wurde, am fragwürdigsten ist); als außerästhe -109 tische Kriterien werden Weltanschauung, persönliches Ethos, religiöser und nationaler Gesichtspunkt genannt. Gewiß werden diese Gesichtspunkte praktisch als einzelne verwendet; es ist aber mehr als fraglich, ob auf dem Weg einer derartigen Atomisierung des Wertes , der ja nur als Charakter des Kunstwerkes in seiner Ganzheit gelten kann, wieder ein ganzes Urteil legitimerweise zustande kommen kann. Eine Addition oder Durchschnittsberechnung der Teilurteile kann ja nicht in Frage stehen.

  Das gilt wohl auch für Petersen, der eine ähnliche Einteilung in ästhetische und außerästhetische (ethische, religiöse und volkhafte) Gesichtspunkte entwickelt; die Wertung selbst gliedert er, senkrecht dazu, in drei verschiedene Fragen, die Frage nach der Echtheit (seelische und menschlich-individuelle Bedeutung), die nach der Größe (ausstrahlende Kraft des Werkes) und die nach der Sinnbildhaftigkeit (Frage nach der Weltbeziehung und der gültigen Bedeutung des Werkes), womit er dann, mit Ordinaten und Abszissen, wieder ein hübsche Tabelle erhält. Echtheit und Sinnbildhaftigkeit sind Gesichtspunkte, die sich letztlich auf den Dichter beziehungsweise eine außerästhetische Wirklichkeit richten und damit wiederum der strengen Stilkritik nicht in den Blick kommen. Gewiß bezieht sich Dichtung schon als Sprache zum Vornherein auf Werte; aber ein Kunstwerk werten kann auch hier nicht heißen, diese Werte aufzuweisen und aufzuzählen und gegeneinander abzuwägen. Wenn schließlich H. Kromer1Helene Kromer, Vorstudien zur Frage einer wertenden Literaturwissenschaft. Diss. (Münster) Bottrop i. W. 1935. es unternommen hat, auf Grund einer Fortuna-Philosophie Günther Müllers eine normgenetische Literaturwissenschaft zu begründen und unter Norm die Gesetzhaftigkeit meint, die sich in der Stufenordnung des Seins offenbart und vom Menschen formend verwirklicht werden will, so hat das mit wertender Literaturwissenschaft kaum etwas zu tun. Auch Henri Peyre2Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca N. Y. 1944. bespricht die Frage der Standards , die heute die Frage nach den Rules ersetzt hat. Ohne Systematik diskutiert er die verschiedenen üblichen tests der Beurteilung, um dann noch am meisten Vertrauen zu den vagen Gesichtspunkten der energy und intensity zu bekunden. Wichtig ist sein Nachweis, wie wenig die Hoffnung auf ein automatisch richtigeres Urteil der Nachwelt ist.

  Gewertet wird das einzelne Werk, eine Partie des Werkes oder eine Gruppe von Werken (Goethes Faust, eine Szene im Faust, das Werk Goethes), in jedem Fall Größen individuell-geschichtlicher Erscheinung. Es ist aber literaturwissenschaftlich sinnlos, die Größe einer Gattung oder eines110 Stilaspekts zu werten: etwa den Hexameter oder das Epigramm oder die Idee der Vergänglichkeit als wertvoll bzw. minderwertig zu bezeichnen. Wertung kann im Bereich der Poetik sofern Dichtung wirklich eine unreduzierbare Erscheinung eigenen Rechts ist sich nur auf eine poetische Ganzheit beziehen und dann eben nur die formale Feststellung bedeuten, ob und in welchem Grade eine Dichtung poetische Ganzheit, d. h. Dichtung ist. Es ist das Verdienst eines kleinen Aufsatzes von Emil Staiger1Emil Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen. Trivium III (1945) 185 ff., dies mit wünschenswerter Klarheit betont zu haben. Poetisch wertvoll ist dann nichts anderes als schön in einem allgemeinen, von jeder Regelpoetik freien Sinn. Schön aber muß nun ein Kunstwerk heißen, das stilistisch einstimmig ist. Die Einstimmigkeit wird nachgewiesen in kunstgerechter Auslegung, die alles mit allem zusammenhält: den Vers, das Motiv, die Komposition, die Idee ... den fundamentalen Rhythmus. Unvollkommen, unschön wäre die Dichtung, die nicht durchstilisiert ist, die Stilmischung ist. Die vollkommenen Stile verschiedener Werke, verschiedener Epochen dagegen können streng genommen nicht wertmäßig unterschieden werden oder höchstens nach dem Maß, in dem sie die Fülle des Lebens erschließen (z. B. nennt Staiger Shakespeare größer als Kleist). Man kann auch sagen: Wertmaßstab ist die Ergiebigkeit der stilistischen Interpretation.

  Gegen diese auch sonst (Wellek-Warren) hervorgehobenen Kriterien der Stimmigkeit und Dichte wäre vielleicht nur einzuwenden, daß sie so allgemein sind, daß sie wenig mehr besagen. Eine dramatische Welt z. B. muß gerade in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit als in höherem Sinne stimmig begriffen werden können; auch Auerbach spricht von Stilmischung, aber meint damit gerade eine hintergründigere, gerade in ihrer unstimmigen Offenheit wertvollere Dichtung. Ob dabei wirklich zwischen den Aspekten eine Stimmigkeit oder eine Spannung, ja Widerspruch oder Beziehungslosigkeit herrscht, wird sehr schwer entscheidbar und damit bewertbar sein. Und ebenso: was ist Fülle wo es vielleicht um Wahl, Entscheidung und Verzicht geht? Wenn Shakespeare größer ist als Kleist, heißt das auch, daß er schöner sei, oder kommen hier doch andere Kriterien ins Spiel?

  Dieser auf seinen stilkritischen Sinn reduzierte Gebrauch des Wertbegriffs ist immer wieder als ungenügend empfunden, als Relativismus, als Haltung des l'art pour l'art bezeichnet worden. Überall dort, wo in der Interpretation das Schema von Form und Inhalt, Symbol und Ausdruck in irgendeiner Weise festgehalten wird, wird auch versucht, einer angeblich formalistischen und ästhetizistischen Wertung entgegenzutreten und entsprechend111 die außerästhetischen d. h. inhaltlichen Faktoren der Wertung zur Geltung zu bringen.

  Strenge Stilkritik versteht sich aber kaum je als Formalismus, sondern will im Gegenteil meistens ein Kunstwerk im Hinblick auf die Gesamtheit der menschlichen Existenz auffassen (vgl. z. B. Th. Spoerri, Die Formwerdung des Menschen). Unstimmigkeit, Spannungen zwischen ästhetischen und außerästhetischen Belangen würden sich bei einer tieferen Fassung des Begriffs Stil im Werk selbst nachweisen lassen, mit andern Worten: das Schöne, das Wahre und das Gute müssen sich letztlich als Eines erweisen; das ist ein unausgesprochenes Postulat der Stilkritik. Wie weit damit ein Begriff wie Stil und Schönheit überspannt ist, bleibt allerdings noch offen. Es bedeutet hiefür schon ein verdächtiges Indiz, daß der Begriff reiner Poesie gewöhnlich aus liedhafter Lyrik gewonnen wird und die Stilkritik überhaupt wohl der Lyrik am glücklichsten begegnet. Die Divina Commedia ist zwar keine unreine Poesie, aber die Transzendenz des Werkes ins Inhaltliche, ja Lehrmäßige ist hier so stark und die Spannung zwischen sinnlich-dichterischer und übersinnlich-religiöser Welt hier so energisch, daß Begriffe wie dichterische Reinheit oder Schönheit an Gewicht verlieren. (Nur im Bereich der Mystik scheint eine Kongruenz dichterischer und religiöser Aussage möglich vgl. E. Hederer1Edgar Hederer, Mystik und Lyrik. München und Berlin 1941. , auch wenn dann noch der Unterschied zwischen mystischer Erleuchtung und Dichtung a motion terminating in an arrangement of words on paper , wie T. S. Eliot sagt nicht zu übersehen ist). Und dann zieht man gerne der Bezeichnung Schönheit die der Größe vor, worunter auch der Schillersche Begriff des Erhabenen fallen würde. Der Gegensatz von Schönheit und Größe in diesem Sinne kann nur auf die Unterscheidung ästhetisch-außerästhetisch bezogen werden. Doch ist damit nicht mehr der Fall gemeint, wo aus einem Werk eine inhaltliche Tendenz abstrahiert und gegen das Werk wertend ausgespielt wird (etwa der von Kayser besprochene Streit um den angeblich unmoralischen Ehebruchsroman von Madame Bovary); hier steht im Grunde nicht Moral oder Glaube gegen Kunst, sondern ein alter Stil gegen einen neuen, wobei sich die Anwälte des alten Stils werkfremde moralische Argumente borgen. Das betont auch Pottle2Frederick A. Pottle, The Idiom of Poetry, 2nd edition, Ithaca N. Y. 1946. in seinem wenig belangreichen Kapitel The Moral Evaluation of Literature . Gemeint ist vielmehr die im Kunstwerk selbst sich ereignende Transzendenz des Kunstwerks. So ist wohl auch der bei Wellek-Warren zitierte, scheinbar paradoxe Ausspruch Eliots zu verstehen: The, greatness‘ of literature cannot be determined solely by literary standards, though we must remember,112 that wether it is literature or not can be determined only by literary standards (Wellek-warren 341, 251 ff.). Dieser mögliche Konflikt zwischen sog. ästhetischen und außerästhetischen Maßstäben ist zweifellos verschärft worden durch den Geist des Christentums, der auch die Welt des Schönen in die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits versetzt hat und jenen von Auerbach sog. stilmischenden Stil hervorbrachte.

  Es entsteht damit umgekehrt auch die Möglichkeit für das, was als zweifellos echten Tatbestand eine christliche Ästhetik als verführerische, dämonische Schönheit bezeichnet. Die Kunst vermag herrliche Straßen zu bauen, die in den Abgrund hinabführen ... sagt Reinhold Schneider1Reinhold Schneider, Dämonie und Verklärung. Vaduz 1947.. Am Beispiel Miltons hat schon das 18. Jahrhundert über die Größe Satans und die größere Schönheit des Paradise lost gegenüber dem Paradise regained gerätselt. Schneider unternimmt es, unter diesem Gesichtspunkt das Erbe der deutschen Klassik und des 19. Jahrhunderts zu betrachten, gerade im Versuch, mit der Kunst zu leben, sie ganz ernst zu nehmen, und das heißt, sie in ihrem Verhältnis zur Wahrheit zu verfolgen, der das Leben und die Kunst unterworfen sind. Das führt uns schließlich zu einer katholisch-thomistischen Kunstlehre, wie sie von Theo - dor Haecker2Theodor Haecker, Schönheit, ein Versuch. Leipzig 1936. vertreten ist. Haecker versucht, in scharfer Wendung gegen Kant, Schönheit als ewig und unveränderlich eine Eigenheit des Seins neben Wahrheit und Gutheit aufzuweisen, sie ernst zu nehmen nicht als Scheinhaft-Überflüssiges, sondern als leuchtenden Überfluß gnadenhafter Art, nicht als reizhaftes Epiphänomen oder Prophänomen des Guten und Wahren, sondern als ein Sein selbst. Aber gerade dann stößt er auf zwei unleugbare Tatsachen in dieser Welt: Es ist nicht alles gut, was schön ist, und es ist nicht alles schön, was gut ist , und das heißt eben wieder: es gibt dämonische Schönheit, es gibt das Problem der Fleurs du mal oder der durch den Fall bewirkten Verwandlung der Gnade (gratia) in Fluch. Haecker bestimmt sie mit drei Merkmalen: Auslassung (letztlich der unerschaffenen Schönheit als der Liebe Gottes selbst), Verwirrung der Ordnung, Undurchsichtigkeit. Man sieht, wie mit solchen Kategorien der kontinuierliche Übergang vom stilistischen (Stimmigkeit, Fülle, Transparenz) zum außerstilistischen Gebrauch möglich bleibt, so daß vielleicht diese Unterscheidung auch hier nur irreführend ist.

  Schließlich ist ein Gesichtspunkt der Wertung zu erwägen, der hier noch nicht berührt wurde und im Rahmen einer Poetik überhaupt nicht erscheinen kann, aber praktisch in der Tageskritik und in der Wahl des Gegenstandes überhaupt fast beherrschend ist: der der Originalität oder113 besser der Neuheit. Es ist z. B. fraglich, ob der Ruhm der frühesten deutschen Lyrik oder der ersten Gesänge des Messias nur dem poetischen Rang der Werke zu verdanken ist und nicht der Tatsache, daß sie Epoche machten, ursprünglich und original und neu in einem historischen Sinne waren. Ein Stil kann, einmal geschaffen, bis zur Ununterscheidbarkeit nachgeahmt werden, und es ist wiederum fraglich, ob der Anspruch der Stilkritik, eine derartige Nachahmung mit ihren eigenen Mitteln als solche zu entlarven, prinzipiell zu Recht besteht. Beides weist darauf hin, daß zum Rang des Werkes auch sein geschichtlicher Stellenwert gehört, seine Funktion im Literaturganzen, die vom isolierten Einzelwerk aus gar nicht ansichtig wird. Dieser Stellenwert wird freilich im Lauf eines geschichtlichen Wertwandels der die Folge eines immer wieder direkten unmittelbar wertenden Rückgriffs auf die Überlieferung ist verschoben oder gar verwischt; er gehört aber unvermeidbar zur historischen Literaturbetrachtung, auf die wir damit auch hier wieder verwiesen sind.

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IV. WERK, DICHTER, GESELLSCHAFT

1. leben und existenz des dichters

Durch die Wandlungen der Literaturwissenschaft selber sowohl wie der Psychologie und Anthropologie ist es problematisch geworden, wie weit und in welchem Sinne sich die Literaturwissenschaft nicht nur mit der Dichtung, sondern auch mit dem Dichter beschäftigen soll; daß die Poetik des Schaffens in der neueren Forschung weitgehend zurücktritt hinter der Poetik des Geschaffenen, ist zweifellos. Die umfassendste Zusammenstellung der hier zu behandlenden Fragen findet sich bei Petersen.

  Immerhin wird hier eines der ursprünglichsten und scheinbar natürlichsten Anliegen der Literaturwissenschaft in Frage gestellt. Denn selbst in Zeiten, die ganz durch eine gesellschaftlich-objektive, unpersönliche Pflege der literarischen Kunst charakterisiert sind, genießen u. U. die Person des großen Dichters, seine Lebensschicksale, sein Ruhm ein selbstverständliches Interesse. Und wenn seit der Goethezeit Dichtung nun selbst als Erlebnisausdruck und Bekenntnis aufgefaßt wird, so wird das Dichterleben, wird der Dichter zum Ursprung und Ziel auch der Werkerklärung. Die monumentalisierende, mythologisierende Schule Georges sagt nicht der Dichterbiographie an sich den Kampf an, sondern nur ihren positivistischen, bürgerlich-indiskreten Formen sie will die große Gestalt erfassen und dem Betrieb bloß historischer und psychologischer Forschungen entrücken, gilt aber praktisch weiter im Grunde mehr der Person als dem Werk. Und noch neuerdings wendet sich Ermatinger1Emil Ermatinger, Deutsche Dichter 1700 1900. Eine Geistesgeschichte in Lebensbildern. 2 Bände. Bonn bzw. Frauenfeld 1948 und 1949. Einleitung: Die Persönlichkeit des Dichters, in Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948. gegen die moderne Tendenz, die sich in ästhetischen Analysen der Werke nicht genug tun kann und schreibt eine biographische Literaturgeschichte (auf geistesgeschichtlicher Grundlage); es sollen hier nur die seelischen Kräfte und geistigen Ideen , die die Entstehung der Werke bedingten , am Leben der Dichter beschrieben werden. Es ist damit zugleich eine Rangordnung gegeben: die Dichtung, auf die es ankommt, stammt eben von Erlebnisdichtern im Gegensatz zu den bloßen Bildungs - und Überlieferungsdichtern, deren Werke zur115 bloßen Literatur gehören und damit sowieso von geringem Belang sind. Man hätte damit sachlich und wertmäßig im Leben , in der Biographie den Schlüssel zur Dichtung in der Hand vorausgesetzt, daß dieses Leben nicht nur aus der Dichtung erschlossen ist. Ähnlich bekennt sich V. Giraud1Victor Giraud, La critique littéraire. Le probléme, les théories, les méthodes. Paris 1946. zur Methode des biographisch-literarischen Portraits und zum Vorbild Sainte-Beuve, weil von hier aus am bequemsten nach allen Seiten gegangen werden könne.

  Wenn Ermatinger so vom Biographischen aus die ästhetische Analyse, die er selbst in seinem erfolgreichen Buch vom dichterischen Kunstwerk einst entscheidend gefördert hat, als sekundäre Aufgabe bezeichnet oder gar verabschiedet, so ist umgekehrt die Stilkritik zur Verabschiedung der Biographik gelangt. Sie sei gleichsam entbehrlich geworden , stellt Horst Oppel2Horst Oppel, Grundfragen der literarhistorischen Biographie. DV 18 (1940), 139 ff. fest. Das Leben ist, wenn überhaupt, nur aus dem Werk und nur in seinem allenfalls literarischen Belang erschließbar, der Zugang über den Hilfsbegriff eines Erlebnisses ist ein Umweg oder gar eine Selbsttäuschung. Am weitesten geht wohl Wolfgang Kayser, wenn er innerhalb der Stilkritik selbst den Begriff des Stils nur auf das Einzelwerk begrenzt und sogar die faktische Existenz eines Personalstils für fragwürdig hält. Es gibt für eine strenge Literaturwissenschaft nur die Werke; am Schaffensakt, wenn er schon interessiert, sei im übrigen weder die ganze Persönlichkeit des Dichters noch die Persönlichkeit des Dichters allein beteiligt (was allerdings von allen Handlungen und Haltungen des Menschen gilt!). Selbst die Psychologie gibt zu, daß der Künstler aus seiner Kunst erklärt werden muß und nicht aus den Unzulänglichkeiten seiner Natur und seinen persönlichen Konflikten, welche bloß bedauerliche Folgeerscheinungen der Tatsache darstellen, daß er ein Künstler ist ... Nicht Goethe macht den, Faust‘, sondern die seelische Komponente, Faust‘ macht Goethe . (C. G. Jung3C. G. Jung, Gestaltungen des Unbewußten. Zürich 1950. 32 ff.). Aber vielleicht gibt es eine Rettung der Biographie von der Literatur geschichte her? Petersen weist der Dichtergeschichte in der Tat die verbindende Funktion zwischen Werk und Literaturgeschichte zu: Auf dem Weg über die Dichter und nur über sie gelangen wir zu einer geschichtlichen Betrachtung der Dichtung . Unzweifelhaft gehen aber so manche geschichtlichen Verläufe über die personalen Einheiten hinweg eine Literaturgeschichte ohne Namen ist denkbar, eine Formgeschichte hat uns Böckmann (vgl. unten S. 137 ff. ) gegeben, erfolgreiche gattungs -, motiv - und geistesgeschichtliche Arbeiten gibt es in großer Zahl.

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  Diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen gegenüber kann man nur auf das noch immer rätselhafte und höchstens phänomenologisch beschreibbare Verhältnis von Werk und Mensch selber verweisen: das Einzelwerk ist immer Menschenwerk, d. h. kein Ding, sondern Zeichen, es transzendiert sich selbst und ist damit unlösbar eingebettet u. a. auch in einen persönlichen und persongeschichtlichen Zusammenhang; es gibt den Personalstil und die dichterische Persönlichkeit als legitimen, ja notwendigen Forschungsgegenstand. Anderseits ist aber der Dichter als Persönlichkeit nicht mit seiner dichterischen Persönlichkeit identisch, so wahr er nicht nur Dichter, sondern auch sittlicher, physischer, religiöser usw. Mensch ist, was sich durchaus nicht alles ohne weiteres zu decken braucht. Die Gesamtpersönlichkeit und ihr Schicksal kann das Werk umgreifen und überschatten oder sie kann hinter dem Werk zurückbleiben oder neben ihm ihr eigenes Leben haben.

  Es ist sicher kaum mehr möglich, in strengem Sinn das Werk aus Seelenkräften und Ideen abzuleiten, und auch das Unterfangen, eine Dichterbiographie im Sinne des herkömmlichen Wechselspiels von Leben und Werk zu schreiben, ist, mit Horst Oppel, fragwürdig geworden. Aber dennoch bleibt das Interesse für das Leben des Dichters an sich legitim und ebenso die Dichterbiographie als Gattung. Und zwar nicht nur im Sinne einer strengen Stilbiographie, etwa in der Art der Monographien der George - Schule, die das Leben nur vom Werk aus, den Dichter, nur soweit er Dichter ist, in den Blick fassen wollen. Sondern auch als chronologische Beschreibung eines persönlichen Lebens in der Vielfalt seiner dichterischen und außerdichterischen Aspekte. Wer wollte sich in verkrampfter l'art pour l'art-Gesinnung Scheuklappen anlegen, wenn etwa bei einem bisher dem Werke nach gut und dem Leben nach nur ungenau bekannten Dichter wie Johann Christian Günther die biographisch-historische Forschung eine Menge neues Material entdeckt und die Lebensgeschichte nun in allen Einzelheiten vorlegt? Auch wenn Wilhelm Krämers1Wilhelm Krämer, Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695 1723. o. O. (Godesberg) 1950. Biographie in Stil und Deutung noch nüchterner, sachlicher sein könnte, so gibt es doch zu denken, wenn er sagt: Man gewinnt die oft belächelte Anschauung Rankes wieder, daß es möglich und geboten sei, etwas festzustellen,, wie es gewesen ist‘ .

  Daß die Dichterbiographie als Biographie die Grenzen der Literaturwissenschaft nach der allgemeinen Historie, nach der Ethik, nach der Psychologie überschreitet und in ihr der Dichter wie irgend ein anderer vir illustris Gegenstand der Beschreibung wird, das ist kein Schade. Die Biographie hat ihr117 eigenes Recht und Gesetz; man wird Romein1Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. Bern 1948. darin beipflichten, daß die Biographie einer Persönlichkeit als solcher gelten und nicht Ethik, Historie, Biologie oder Psychologie sein soll (und also auch nicht Poetik); aber je nach dem Helden und dem Interesse des Biographen werden diese andern Bereiche im wechselnden Maß zur Geltung kommen müssen. Es ist gerade die Schönheit und Unersetzlichkeit der Biographie, daß nirgends so wie hier die runde Ganzheit und Allseitigkeit des Menschlichen erscheinen muß und auch die Dichtung als Werk wieder in ein umfassendes Leben zurückgenommen wird. Das beglückendste Beispiel dafür ist wohl die biographische Meisterleistung von Friedrich Sengles Wieland2Friedrich Sengle, Wieland. Stuttgart 1949. Friedrich Sengle, Methodenfragen der Biographie. Euphorion 46 (1952, noch nicht erschienen).. Es ist ein fast reaktionäres Werk in seinem Bekenntnis zur ruhigen historischen Anschauung einer reich facettierten Persönlichkeit in ihrer Umgebung von Menschen und Mächten, von Zeit und Gesellschaft, und in seinem Verzicht auf formelhaft-geistesgeschichtliche oder gar mythologische Zusammenschau. Wieland soll aus dem Kern seiner Persönlichkeit und doch in dem mannigfaltigen Schwanken, in dem unheimlichen Flimmern seines Lebenslaufes und Werkes, in der endlosen Ironisierung und Komplizierung seiner Gegenstände ... nicht definiert, sondern in einer sorgfältigen Darstellung seiner Geschichte sichtbar gemacht werden . Aber das bedeutet auch keinen Rückfall in irgend einen Positivismus, denn die Klugheit und Kritik einer humanen Gesinnung bleiben wach, und vor allem bewährt sich diesem für Deutschland so seltenen frohen und wirklich weisen Schriftsteller gegenüber das, was seinen literaturwissenschaftlichen Ausdruck nur in einer Biographie finden kann: die Liebe zu einem Dichter3Als weitere Beispiele biographischer Darstellung ganz verschiedenen Stils seien genannt: Hans Pyritz, Goethe und Marianne von Willemer. Eine biographische Studie. Stuttgart 1941. Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1943. Bernard von Brentano, August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes. 3. Aufl. Stuttgart 1949. Und außerhalb des literarischen Bereichs die glänzende Burckhardt-Biographie: Werner Kaegi, Jakob Burckhardt. Eine Biographie. I. Basel 1947. II. 1950..

  Die moderne Literaturwissenschaft steht dem Begriff des Lebens und Erlebens ablehnend gegenüber, operiert dagegen gern mit dem Begriff der Existenz. Sofern das mehr als der modische Ersatz einer Unbekannten durch eine andere ist, so ist damit offensichtlich bezweckt, von den biologischen oder idealistischen Assoziationen wegzukommen in die Zone konkret-menschlicher118 Ursprünglichkeit, wo sich nun vielleicht auch die Probleme der Persönlichkeit und des dichterischen Schaffens in größerer Tiefe und Nähe betrachten lassen. In der Tat ist hier jenes durch den Hilfsbegriff des Erlebnisses inszenierte Wechselspiel aufgehoben zugunsten der Identität: Gesang ist Dasein . Mit der Person des Dichters ist kein menschlicher Sonderfall, sondern das Dasein selber in einer seiner ewigen Erscheinungsformen gegeben , hat Walter Muschg schon 1930 erklärt1Walter Muschg, Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte (in: Philosophie der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Emil Ermatinger. Berlin 1930). und eine symbolische Biographie gefordert, in der die wahre Existenzsorge des dichterischen Menschen getroffen werde, jenseits aller bloß psychologischen, soziologischen, philosophischen Formeln . Das berührt sich insofern mit dem Existentialismus Heideggers und der von ihm abhängigen Stilkritik, als auch hier Dichtung als das quer zur Geschichte aus dem Ursprung kommende Geschehen erscheint. Aber wenn die Stilkritik sich dem Werk zuwendet, so sieht Muschg das Ursprunghafte mit der Tiefenpsychologie konkreter in den Seelenmächten des Archaisch-Ursprünglichen, und es interessiert ihn vor allem der Dichter selbst als der Träger oder besser das Medium dieser Mächte. Vergangenheit ist kein quantitativer Begriff, sondern eine seelische Dimension. Die Dichterbiographie, die Muschg in diesem Sinne mit seinem glänzenden Gotthelf-Buche2Walter Muschg, Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers. München 1931. gegeben hat, ist keine historischchronologische Gestaltung mehr, sondern ein Stück Archäologie, ein Grabenziehen und schichtenweises Vorstoßen zum untergründigen, urtümlichen, dämonischen Kern der dichterischen Existenz. Wenn das Dichtertum schon bei Gotthelf in seinem Zusammenhang mit Magie, Priestertum und Vision erscheint, so ist der Schritt begreiflich, den Muschg mit seinem nächsten Buch, einer Untersuchung der wesentlich als Ekstatik gesehenen mystischen Literatur der Schweiz3Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz. Frauenfeld 1935. unternommen hat.

  Einen folgerichtigen Abschluß dazu bedeutet nun das jüngste Werk Muschgs, in seiner dichterischen Subjektivität ein Bekenntnis mehr als eine bloße Untersuchung: eine großartige zusammenfassende Phänomenologie des Dichtertums, der dichterischen Existenz, an Hand einer erstaunlichen Fülle von Beispielen aus allen Zonen und Zeiten4Walter Muschg, Tragische Literaturgeschichte. Bern 1948.. Mit einer Art metaphysischen Ingrimms und stark polemischer Tendenz gegen die Gegenwartsliteratur werden sozusagen die Existentiale des Dichtertums ergründet. Unter dem Obertitel Die Berufung erscheinen als die ursprunghaften, mythischen Formen des Dichters der Zauberer, der Seher, der Priester,119 der Sänger, worauf dann in den andern Kapiteln die geschichtliche Entfaltung (oder richtiger Verhüllung), der Märtyrergang des Dichters in Armut, Verbannung, Leiden, Entsagung, Schuld eben als tragische Literaturgeschichte gezeigt wird, bis zum Nachweis der völligen Vergeblichkeit und Vergänglichkeit der geschaffenen Werke selbst und der Eitelkeit des Ruhms. Ob allerdings im strengen Sinne von Tragik gesprochen werden kann, bleibe dahingestellt; es geht um eine Häufung allen Elends, Versagens und Verkommens um das unbegreifliche Geheimnis des Schöpfertums herum, und als tragisch erscheint sowohl ein Villon Vagabund und Verbrecher wie ein Goethe, dieser, weil er vergeblich oder fälschlich versucht, der Tragik des Dichtertums die Spitze abzubrechen. Auch wenn damit trotz dem Falle Goethe die Existenz des Dichters gezeichnet ist, gehört das Verständnis des Werks als solchen wohl auf eine andere Ebene. Ja, man hat stellenweise den Verdacht, die angeführten Merkmale gälten nicht in besonderer Weise für die dichterische, sondern vielleicht für jede tragische Menschenexistenz. Auch im rein Persönlichen ist kaum mehr eine Biographie als Geschichte möglich, so wenig wie im allgemeinen eine Literaturgeschichte: die geschichtlichen Dimensionen und Ordnungen werden gleichsam zusammengeklappt auf die eine Ebene der vorgeschichtlichen Anarchie, die als das Ursprüngliche und Schöpferische schlechthin erscheint. Es ist klar, daß sich denn auch wieder die Literatur als das durchaus Un - und Widerdichterische darstellt obwohl das Wort im Titel steht.

2. psychologische erschliessung des werks

Die moderne Tiefenpsychologie gehört zu den Mächten, die auf entscheidende Weise das Bild vom Menschen gewandelt haben. Sie hat wesentlich mitgewirkt, auch im künstlerischen Bereich den Bann einer bloß dem Bewußt-Persönlichen, Privat-Erlebnismäßigen zugewandten, letztlich idealistischen Betrachtungsweise zu sprengen, auch dort, wo diese Einwirkung der Psychologie nur auf dem Umweg über die allgemein modernen Vorstellungskategorien erfolgt ist. Walter Muschg1Walter Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Berlin 1930. hat seinerzeit die radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene begrüßt gegenüber einer ahnungslosen Tradition der heroischen Idealisierung des Dichters wie der erdichteten Gestalt . Schon damit zeigt sich eine Tendenz, die Inzucht literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung zugunsten größerer Zusammenhänge aufzugeben. Eine seit jeher im Hausgebrauch der Literarhistoriker praktizierte Allerweltspsychologie wird fragwürdig angesichts der neuen von der philosophischen Anthropologie (Sche -120 ler, Rothacker, N. Hartmann) und der Tiefenpsychologie aller Arten gewonnenen Einsichten. Hand in Hand mit der Psychologie ging dabei die Arbeit der Volkskunde mit ihrer Erforschung primitiver Kultur - und Bewußtseinsformen und der Soziologie mit ihren Untersuchungen der kollektiven Gesellschaftsphänomene. Vor allem aber erwies sich die moderne Psychologie als entscheidend beteiligt bei der dichterischen Produktion selber, von Proust und Joyce bis Rilke, Thomas Mann und Hesse, um nur ein paar wichtigste Namen zu nennen (eine Darstellung dieser Beziehungen gibt das Werk von Hoffmann1Frederick J. Hoffmann, Freudianism and the Literary Mind. Louisiana 1945.). Die neueröffneten Perspektiven betreffen sowohl die Literaturwissenschaft, in allen Bereichen des Schaffens, des Werks und des Verstehens, wie auch die Geschichte, die damit den linearen Charakter ideeller oder biologischer Entwicklungen verlor oder überhaupt wesenlos wurde, da sie als ein Schichtengefüge mit der jederzeitigen Präsenz auch der unbewußten, primitiven, kollektiven Gründe erscheinen muß.

  Diese psychologischen Interessen machen sich vor allem in der angelsächsischen Literaturwissenschaft geltend. Die beste Besprechung dieser Bewegung gibt wohl das betreffende Kapitel von Hyman, wobei das Buch der C. G. Jung-Schülerin Maud Bodkin2Maud Bodkin, Archetypical Patterns in Poetry. Psychological Studies of Imagination. Oxford 1934. in den Mittelpunkt gestellt ist. Für Deutschland ist der direkte Einfluß von Psychoanalyse und komplexer Psychologie weniger tief gegangen (vgl. die Auseinandersetzung bei Strich3Fritz Strich, Das Symbol in der Dichtung (in: Der Dichter und die Zeit. Bern 1943). und, vom existentialistischen Standpunkt aus, pongs4Hermann Pongs, Psychoanalyse und Dichtung. Euphorion 34 (1933) 38 ff. Auch in: Das Bild in der Dichtung Bd. 2. ). Offenbar war die idealistisch-geisteswissenschaftliche Tradition zu stark. Als ein Versuch, der Geistesgeschichte wenigstens eine sozial-psychologisch gesehene Seelengeschichte entgegenzustellen, verdienten Fritz Brüg - gemanns Darstellung der Aufklärungsliteratur in der Sammlung Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen5Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Aufklärung. Herausgegeben von Fritz Brüggemann. 15 Bände. Leipzig 1928 1938. und die von ihm herausgegebenen Beiträge zu einer Psychogenetik der Literatur6Literatur und Seele. Beiträge zu einer Psychogenetik der Literatur. Herausgegeben von Fritz Brüggemann. Berlin 1931 ff. hervorgehoben zu werden. Vor allem aber: Deutschland schuf sich so etwas wie einen arteigenen , dafür121 dilettantisch-romantischen Ersatz der Tiefenpsychologie; denn die stammeskundlich-landschaftliche Literaturgeschichte Nadlers, die Lehre von den volkhaften oder rassischen Kräften und schließlich die Blut - und Bodenideologie des dritten Reiches sind ja schließlich nationale oder nationalistische Varianten der Kollektivpsychologie. So sind auch die Versuche, die Stilmerkmale des Dichtwerks auf eine biologische oder erbpsychologische Typologie zu beziehen und weiter zur Umschreibung rassenseelischer oder auch landschaftlicher Bestimmtheiten vorzustoßen, im Bereich allgemeiner Erwägungen (Hoss1K. Hoss, Zur Entwicklung und Handhabung einer Methode erbpsychologischer Untersuchungen an Prosadichtungen. Diss. (Münster) Bochum 1939.) oder ideologischen Redens (Büttner2L. Büttner, Gedanken zu einer biologischen Literaturbetrachtung. München 1939.) stecken geblieben.

  Wir beschränken uns hier auf die Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Tiefenpsychologie, da hier wohl die interessantesten und wissenschaftlich konkretesten Aspekte eröffnet wurden. Im allgemeinen ist zu sagen, daß sich die Literatur weniger erfolgreich um Freud als um Jung gekümmert hat, denn Freuds Psychoanalyse mochte noch eher auf die Fragen des dichterischen Schaffens als auf die des Werks selber angewendet werden. Die Ableitung des Kunstwerks aus persönlichen Komplexen stellt dieses aber, wie C. G. Jung dann feststellte, auf die Stufe einer bloßen Neurose. Trotzdem hier Otto Rank mit seinen Forschungen zum Inzestmotiv in der Literatur ein geschlossenes Werk psychoanalytischer Literaturforschung vorlegte, machte es kaum Schule. Denn, wie Hyman formuliert: A criticism that can only say, however ingeniously, that this work is a result of the author's repressed Oedipal desires, and that everybody has repressed Oedipal desires, turns out not to be saying very much. Immerhin sei verwiesen auf die anregenden Vorlesungen von Joachim Maass (vgl. oben S. 71), die versuchen, von einem hauptsächlich an Freud orientierten Symbolbegriff aus zu einer Ästhetik des Dichterischen vorzudringen; Maass verfolgt die Analogie von Traum und Dichtung, läßt aber der Sprache als dem Material und dem Ausdrucksmittel, d. h. dem Wie der Literatur, ihr Recht widerfahren.

  Auch bei C. G. Jung sind es nur einzelne Aspekte seiner psychologischen Lehre, die unmittelbar anregend wirkten. Die Typenlehre etwa stieß auf die Konkurrenz einer Reihe von Typologien von Schiller bis Wölfflin, die sich als philosophisch begründete oder konkret kunstwissenschaftlich-formale für die Dichtung geeigneter zeigen mußten. Dagegen ist es die Lehre vom kollektiven Unbewußten, von den Archety -122 pen und vom Individuationsprozeß, die den literaturwissenschaftlichen Befunden unter Umständen eine willkommene und überraschende Formulierung erlaubten. Vor allem eigneten sich diese Kategorien im Gegensatz zu denen Freuds auch für das Werk und nicht nur für den Mechanismus der Werkentstehung. Sie halfen damit, die Wendung von der biographischen zur ästhetisch-stilistischen Betrachtung der Literatur zu bestätigen. Jung selbst setzt 19301C. G. Jung, Psychoanalyse und Dichtung (in: Philosophie der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Emil Ermatinger, Berlin 1930. Verändert als Psychologie und Dichtung in Gestaltungen des Unbewußten, Zürich 1950). in diesem Sinne die Psychologie des Kunstwerks der des Künstlers gegenüber. Jene sieht im Kunstwerk nicht das bloße Symptom, sondern eine Urvision , ein Urerlebnis (die Herkunft der eigentlich ungeeigneten Bezeichnung von Gundolf ist aufschlußreich), einen Ausdruck für eine unbekannte Wesenheit , die der persönlichen Schicht des Künstlers und seinem Selbstverständnis weitgehend entrückt ist.

  Später erfolgt dafür die Ausbildung des Archetypusbegriffs. Dieser Begriff hat sich man vergleiche die ausgezeichnete Zusammenfassung von Jolan Jacobi2Jolan Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie IV (1945) 276 ff. aus Freuds Begriff des Komplexes entwickelt. Dieser ist zunächst ein pathologischer Begriff und dem persönlichen Unbewußten zugeordnet und eignet sich schon darum nicht für die Erhellung des Kunstwerks. Jung faßt ihn immer mehr vom Gesunden her und in der Tiefe eines neuentdeckten kollektiven Unbewußten. Dieses kollektive Unbewußte, auf welchem das Ich-Bewußtsein schwimmt , schafft einen neuen Zusammenhang zwischen den Einzelausprägungen auch des künstlerischen Lebens: an Stelle einer kausal verbundenen Summe von Einzelwesen der Literatur tritt ihre gemeinsame Verwurzelung in einem kollektiven Grund. Die Archetypen des kollektiven Unbewußten sind Knotenpunkte , energiegeladene Bedeutungskerne , lebendige Reaktions - und Bereitschaftssysteme , Urmuster , zugleich Bild und Emotion . Wo sie aber im Jetzt und Hier von Zeit und Raum erscheinen und vom Bewußtsein wahrgenommen werden, da werden sie zu Symbolen, bzw. potenzielle werden zu aktuellen Symbolen, kollektiver ( Mythologem ) oder individueller Art. So ist hier auch zum Symbol der Kunst ein Übergang möglich. Wer mit Urbildern spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich erhebt er das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen und Vergänglichen in die Sphäre des immer Seienden ... 3C. G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, 2. Auflage, Zürich 1946.. Es scheint in der Tat möglich, daß das Maß archetypischer Mächtigkeit, d.h. mit Goethe gesprochen,123 der Teilhabe des dichterischen Symbols an den Urphänomenen, mindestens ein Maß des dichterischen Ranges ist, und daß die Art und Weise dichterischer Wirkung auch des einzelnen Werks von der Beziehung auf diese archetypischen Bilder bestimmt ist.

  Diese Bilder treten nun aber nicht vereinzelt und beliebig auf, sondern erscheinen im Zusammenhang des Individuationsprozesses , d. h. der Auseinandersetzung des Bewußtseins mit den Inhalten des Unbewußten auf dem Wege zur persönlichen Ganzheit der Psyche, zum Selbst. Unter diesem Gedanken kommt psychologische Interpretation noch näher an den Sinn des künstlerischen Vollzugs und manchen dichterischen Kunstwerks heran. Aniela Jaffé's eingehende Untersuchung des Goldnen Topfs von E. T. A. Hoffmann1Aniela Jaffé, Bilder und Symbole aus E. T. A. Hoffmanns Märchen Der Goldne Topf (in: C. G. Jung, Gestaltungen des Unbewußten. Zürich 1950).. Verfasser wie Werk sind wohl wie wenig andere zu Schulbeispielen geeignet zeigt nicht nur die erstaunliche Fülle und Dichte des symbolisch-archetypischen Gehalts, sondern auch die sinnmäßige Geschlossenheit ihres Ablaufs als Individuationsweg vor einem Hintergrund, der in immer tiefere Bewußseinsferne verdämmert. Auch diese Abhandlung will ausdrücklich keine literarisch-ästhetische sondern eine psychologische Interpretation sein, immerhin im Zusammenhang mit dem Lebenslauf Hoffmanns und dem Schicksal der Romantik.

  Ob es möglich und fruchtbar ist, die Jungschen Kategorien wirklich in eine literaturwissenschaftliche Systematik einzubauen, steht noch dahin. Denn sie beziehen sich vorläufig in erster Linie auf den motivisch-vorstellungsmäßigen Aspekt des Dichtwerks, den dieses aber auch mit dem Traum und allen andern symbolischen Ausdruckswelten teilt. Der spezifisch künstlerische Charakter, nach Art und Rang, wäre erst noch grundsätzlich zu bestimmen, und zwar nicht nur dort, wo es sich um eine stoffliche Berührung des Dichters mit dem Mythus handelt (vgl. Kerenyi2Karl Kerenyi und Thomas Mann, Romandichtung und Mythologie. Ein Briefwechsel. Zürich 1945. und W. F. Otto3Walter F. Otto, Der Dichter und die alten Götter. Frankfurt a. M. 1942.). Und damit wäre auch erst eine Literarhistorie denkbar, in welcher die Geschichte nicht nur auf das zeitlos Urbildliche hin in eins zusammenfallen würde, sondern zugleich als gerichtete Geschichte erschiene.

3. soziologie der literatur

Bei Walter Muschg zeigt sich die Beziehung der ursprünglichen dichterischen Existenz zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt in ihrem tragischen Aspekt. Sie kann aber auch eine durchaus reguläre sein, ja sie gehört in124 den verschiedensten Formen wesentlich zum Phänomen des Dichters und der Dichtung überhaupt. Besonders wo Dichtung als Sprache, als bestimmt geartetes Ausdrucks - und Kommunikationssystem untersucht wird, erscheint sie in einem sozialpsychologischen Zusammenhang, d. h. unter der Frage nach ihren Funktionen und Leistungen für das einzelmenschliche und zwischenmenschliche Verhalten. Soweit das dichterische Werk, gerade als Werk, über sich hinausweist, betrifft es nicht nur die dichterische Persönlichkeit, sondern den Dichter als Gesellschaftswesen; Dichtung ist nicht denkbar ohne ihren sozialen Aspekt, als gesellschaftsbestimmendes und - bestimmtes, als gesellschaftsrepräsentierendes Wort. Es gibt nicht nur eine Sprachsoziologie (vgl. das in angelsächsischer Tradition stehende Werk von Segerstedt1Torgny T. Segerstedt, Die Macht des Wortes. Eine Sprachsoziologie. Aus dem Schwedischen. Zürich 1947.), sondern auch eine Literatursoziologie. Die Fragestellung betrifft viele Schichten, von jener von der Tiefenpsychologie erforschten Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit kollektiv-seelischer Urformen zu den verschiedenen gesellschaftlichen (nationalen, standesmäßigen, gruppenmäßigen) Bindungen des literarischen Geschehens und höher hinauf zu den bewußten Auseinandersetzungen der dichterischen Einzelexistenz mit ihrer Umwelt; schon am Einzelwerk wird ein Schichtengefüge sozialer Stilebenen erkennbar sein. Auf alle Fälle handelt es sich hier um faßbarere und dichtungsnähere Größen als es Landschaft, Stamm oder Rasse sind.

  So ist soziologische Betrachtung der Literatur nichts anderes als eine legitime Fragestellung systematischer wie historischer Literaturwissenschaft freilich nur, solange sie nicht den Anspruch erhebt, das literarische Geschehen vom gesellschaftlichen einseitig abzuleiten oder zu erklären ; denn in diesem Moment wird die Literatur zum bloßen Symptom außerdichterischer Wirklichkeit. Zum mindesten ist zu unterscheiden zwischen einer primär soziologischen Fragestellung, für welche die literarischen Tatbestände nur im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftslehre und Gesellschaftsgeschichte wichtig werden und einer primär literaturwissenschaftlichen Betrachtung, der die gesellschaftlichen Tatbestände nichts anderes als Repräsentationen und Aspekte der dichterischen Welt selber sind.

  Die allgemeinsten Perspektiven leiten den Blick über die eigentlich soziologische Fragestellung hinaus in eine allgemeine Kulturphilosophie. In diesem Zusammenhang muß wohl auf das kaum absehbare125 Werk des Amerikaners Kenneth Burke1Kenneth Burke, A Grammar of Motives. New York 1945. Ders., The Philosophy of Literary Form. Baton Rouge 1941. Ders., Attitudes toward History. 2 Bände. New York 1937. wenigstens hingewiesen werden, dem Hyman einen entscheidenden Platz in der modernen Literaturwissenschaft einräumt. Es steht in Verbindung mit den in den angelsächsischen Ländern so verbreiteten psychologischen, semasiologischen, behavioristischen Problemstellungen, ist aber durch seinen originellen und umfassenden Ansatz ganz eigenen Gegräges. Das Stichwort heißt: Literatur als symbolic action , symbolische Handlung, das Kunstwerk als bestimmte Strategie menschlichen Verhaltens. Der Ausdruck Handlung gehört zu einem metaphorischen, auf die Welt des Dramas bezogenen Begriffssystem Burkes (scene, agent, act, agency, purpose), unter welcher dramatistischer Deutung er die Gesamtheit menschlicher Verhaltungsprobleme, die Gesamtheit der motives untersucht. Es sollen speziell im Denken und in der Sprache betrachtet und formuliert werden the basic stratagems which people employ, in endless variations, and consciously or unconsciously, for the ontwittung or cajoling of one another. Die Gesamtheit dieser Beweggründe, die nichts weniger als die menschliche Kultur bedeutet, kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Unter der Grammatik, der Grammar of Motives versteht Burke die Diskussion der fünf dramatischen Grundbegriffe an sich und unter sich, wie sie vor allem in theologischen, philosophischen, juristischen Lehren formuliert werden. Ein anderes ist die Betrachtung der Motive im Aspekt des zwischenmenschlichen Verkehrs und seiner auf Wirkung ausgehenden Äußerungen (parlamentarische, diplomatische, propagandistische Formen), was als Rhetoric of motives zusammengefaßt wird; und schließlich befaßt sich die Symbolic of Motives mit der symbolischen Handlung der Kunst. (Diese drei Aspekte werden ein anderes Mal mit den Stichworten chart, prayer und dream charakterisiert). Die Kunst wird nun hier kommen Psychanalyse und Volkskunde zu ihrem Recht als Ritual verstanden; die symbolische Handlung des Kunstwerks läßt sich überall zurückführen auf magische Riten der Identität, der Wiedergeburt, Reinigung usw., die das Individuum immer auch in seinen sozialen Zusammenhängen betreffen. In diesem Sinn hat Burke in geistreicher Weise zahlreiche Dichtungen interpretiert. Burke trifft sich hier weniger mit der Psychologie der Zürcher Schule als mit der religionsgeschichtlich-volkskundlichen Cambridger Schule J. G. Fra - zers (die von den Literaturwissenschaften vor allem die klassische Philologie beeinflußt hat, aber bei Constance Rourke auch eine folkloristische Deutung amerikanischen Geistes ermöglichte).

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  Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie Huizingas1J. Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Amsterdam 1939. und seines Homo ludens zu werfen. Auch hier wird die Dichtung in ihrer vitalen Funktion innerhalb der sozialen Gesamtkultur verstanden, wird die Auffassung abgelehnt, Dichtkunst habe nur eine ästhetische Funktion oder wäre allein von ästhetischen Grundlagen her zu erklären und zu verstehen . Der Schlüsselbegriff zum Verständnis der verschiedensten Kulturerscheinungen, ja der Wurzel der Kultur selbst heißt hier Spiel , spielerisches Handeln als freies, der Realität gegenübertretendes und sie überhöhendes Handeln. Dieser Spielcharakter aber tritt in der Poesie ganz besonders zutage, um so mehr, als diese selbst in archaischen Kulturen unlöslich im gesamten kulturellen Spiele lebt: im heiligen Spiel der Gottesverehrung, im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des Wetteifers mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und der Fertigkeit. Und Huizinga belegt das Spielmäßige der ursprünglichen Dichtung mit Beispielen von den Indonesiern und der Edda bis zu Paul Valéry, um die Gültigkeit dieser Deutung bis in die Gegenwart hinein zu zeigen.

  Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen Urformen des psychischen und sozialen Verhaltens zurücklenken, so tritt dem Literarhistoriker die soziale Bindung des Kunstwerks in der neueren Literatur in spezielleren, geschichtlich individuellen Formen entgegen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Minnesang nicht ohne die zugehörige feudale Rittergesellschaft des Hochmittelalters (als Träger und vielleicht auch wieder z. T. Produkt dieser Dichtung) gegeben ist, daß Gottfried Keller nicht ohne das Bürgertum des schweizerischen Liberalismus, der höfische Barockroman nicht ohne die soziale und politische Erscheinung des Absolutismus gesehen werden kann. Je größer die Distanz des modernen Betrachters zu der vergangenen literarischen Welt, um so eher wird diese bestimmte gesellschaftliche Bindung ins Auge fallen. So wird etwa die deutsche Klassik in steigendem Maß seit Thomas Manns Goethe-Aufsätzen, seit Herbert Cysarz 'Schillerbuch, seit den marxistischen Werken von Georg Lukacs als Repräsentantin des bürgerlichen Zeitalters erfahren, ohne daß damit eine Einschränkung oder Herabsetzung ihres Wertes verbunden sein muß. Es läßt sich wohl sagen, daß im angelsächsischen Bereich seit Kuno Francke, seit Courthope und andern der Blick unbefangener auf gesellschaftliche Determinanten und den social background der Literatur gerichtet worden ist, als dies bei der idealistisch bestimmten offiziellen deutschen Literaturwissenschaft der Fall war. Man vergleiche127 darüber die besonnenen Ausführungen bei W. Witte1W. Witte, The Sociological Approach to Literature. MLR XXXVI (1941) 86 ff. oder Wellek-War - ren und die hier reich verzeichnete Literatur2A. L. Guerard, Literature and Society. New York 1935. David Daiches, Literature and Society. London 1938.. Ein für die deutsche Literaturgeschichte wichtiges Werk ist das von W. H. Bruford3W. H. Bruford, Germany in the 18th Century. The Social Background of the Literary Revival. Cambridge 1934 = Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit (Literatur und Leben, herausgegeben von Georg Keferstein, Bd. 9. Weimar 1936)..

  Eine umfassende soziologische Literaturhistorie und Literaturgeschichte scheint freilich noch nicht zu existieren. Auch der Grundriß einer Literatursoziologie, wie ihn der deutsche Anglist Levin Schücking4Levin L. Schücking, Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. 2. Aufl. Leipzig 1931. = The Sociology of Literary Taste. London 1941. Walter Ebisch und Levin L. Schücking, Bibliographie zur Geschichte des literarischen Geschmacks in England. Anglia 63 (1939), 1 ff. schon 1923 gegeben hat, zeigt eine bemerkenswerte Einengung auf das Spezialproblem des literarischen Geschmacks und führt damit in den engeren literarischen Bereich zurück. In Einzeluntersuchungen ist seither mancherlei gesellschaftlichen Zusammenhängen des literarischen Lebens nachgegangen worden, so der Rolle des Publikums für die zeitgenössische Dichtung (Fechter5Werner Fechter, Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung (Deutsche Forschungen Bd. 28. Frankfurt a. M. 1935)., Auerbach6Erich Auerbach, Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts. München 1933. (Neue Fassung unter dem Titel La cour et la ville in Vier Abhandlungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern und München 1951).) oder der Bedeutung der Universitäten (Herbert Schöffler7Herbert Schöffler, Deutscher Osten im deutschen Geist von Martin Opitz zu Christian Wolff. Frankfurt a. M. (1940).). Eine kultur - und sozialgeschichtliche Entdeckung bedeutet auch die ausführliche Monographie, die der Historiker Otto Brunner8Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Wien 1949. dem vergessenen Barockschriftsteller Wolfgang Helmhart von Hohberg gewidmet hat als einem Beispiel für die literarische Welt des Landadels im 17. Jahrhundert. Über die (auch) sozialgeschichtliche, revolutionäre Hintergründigkeit der La Fontaineschen Fabeln hat Theophil Spoerri9Theophil Spoerri, Der Aufstand der Fabel. Trivium I (1942) 31 ff. gehandelt. Bereits aufs Ökonomische verengt ist die Blickrichtung H. Siebenscheins10Hugo Siebenschein, Abhandlungen zur Wirtschaftsgermanistik. Prag 1936., der eine Wirtschaftsgermanistik als besondere Disziplin proklamiert und in diesem Rahmen die wirtschaftsge -128 schichtlichen Aspekte des Meistersangs untersucht, um dann auch in einem weiteren Bereich spezifischen Formgebungen der Handelssprache an modernen Beispielen nachzugehen.

  Naturgemäß ist die soziologische Frage besonders naheliegend bei der volkstümlichen Literatur, seien es die schon besprochenen primitiven Ursprungsformen (vgl. auch unten Caudwell, Thomson), sei es eine sekundäre Popular - und Vulgärliteratur, wo es sich in engerem Sinne um Entwicklungen und Moden des Geschmacks handelt. Grundsätzlich ist damit wieder die alte Frage einer möglichen Trennung von zeitlos-hoher Dichtung und vulgärer oder modischer Literatur gestellt, welch letztere unter Umständen später nur noch unter dem Gesichtspunkt des allzu Vergänglichen oder Unfreiwillig-Amüsanten erscheinen kann. Hiefür liefert die Sammlung von Kunze und Heimeran1Horst Kunze und Ernst Heimeran, Lieblingsbücher von dazumal. Blütenlese aus den erfolgreichsten Büchern von 1750 bis 1860, zugleich ein erster Versuch zu einer Geschichte des Lesergeschmacks. München 1938. anregendes Material.

  Die alte Frage der Volksliedforschung nach dem Verhältnis des Volkes und seiner Kunst zur Kunst der dichterischen Elite, d. h. nach dem schöpferischem Ursprung und dem Weg volksmäßiger Kunst, ist ein eminent soziologisches Problem. Man wird dabei nicht nur das Gesetz des Absinkens beim Volkslied seit langem erkannt berücksichtigen müssen, sondern auch die Möglichkeit des Aufstiegs und Aufblühens großer Kunst aus dem Humus der populären Übung. Der Prozeß der Durchschichtung einfacher volksmäßiger Formen zur hohen Kunst ist von Theodor Frings neuerdings wieder im Zusammenhang der Ursprungsfrage des europäischen Minnesangs betont worden2Theodor Frings, Minnesinger und Troubadours (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften Heft 34. Berlin 1949). Ders., Erforschung des Minnesangs. Forschungen und Fortschritte 26 (1950) Nr. 1 4.. Erscheinungen wie Gotthelf oder Grimmelshausen ergeben die mögliche Verbindung von Popularliteratur und einmaliger Genialität; hier kann gerade die Tiefenpsychologie wieder auf die verlassenen Bahnen der Romantik führen. Das geschichtliche und wertmäßige Verhältnis von Dichtung und Literatur , von Schöpfung und Tradition wird so vorläufig auch von diesem soziologischen Blickpunkt aus als eine reziprokes oder dialektisches begriffen werden müssen. In einer Entwicklung der bürgerlichen Seelengeschichte Deutschlands, wie sie Fritz Brüggemann in seiner bereits genannten Reihe Aufklärung zeichnet, ist die Brücke zwischen den modischen und populären zu den geistig schöpferischen Vorgängen geschlagen.

  Neuerdings ist die soziale, ja ökonomische Bedingtheit an der modernen Literatur besonders sichtbar geworden. In zweierlei Weise. Zwischen Buch129 und Leser schaltet sich, oft in fragwürdiger Legitimation und in oft ebenso fragwürdigem Zweifrontenkrieg, der Kritiker ein. Dessen Rolle während der letzten 200 Jahre in Europa und Amerika ist von Henri Peyre1Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca N. Y. 1944 (mit Bibliographie). in seinem sehr vielseitigen Buch dargestellt worden. A Study of Misunderstanding konnte er es nennen; ein weniger optimistischer Autor hätte es mit Muschg zur tragischen Literaturgeschichte gemacht. Das Urteil der Gelehrten und der Dichter selbst erscheint dabei in keinem günstigeren Licht als das der Tageskritiker. Wenn heute trotz ihren Fehlleistungen die berufsmäßige Kritik eine notwendige Institution darstellt, so ist das ein Symptom für die heute erweiterte Kluft zwischen Literatur und Leben; das Publikum ist mangels unmittelbarer Teilhabe am literarischen Geschehen gezwungen, sein Urteil an einen Spezialisten zu delegieren und so nur noch aus zweiter Hand zu leben; umgekehrt ist dieser Kritiker selbst wieder von seiner déformation professionnelle oder von den Einflüssen der ökonomischen Organisation, in der er steht, bedroht. Zweitens, und teilweise im Zusammenhang damit, ist der wirtschaftliche Faktor der Geschmacksbildung und damit der Literaturproduktion selbst verstärkt worden in der Buchindustrie des Bestsellers und dem unheilvollen Circulus vitiosus, daß sie selbst auf Grund des Publikumsgeschmacks disponiert. Auch das Phänomen des Bestseller, dessen Name natürlich jünger ist als die Sache selbst, ist bereits zum Gegenstand wissenschaftlicher Ergründung geworden2Sonja Marjasch, Der amerikanische Bestseller (Schweiz. Anglistische Arbeiten XVII, Bern 1946)..

  Wir sind nun grundsätzlich auf anderem Boden, wo die soziale und ökonomische Bedingtheit der Dichtung so ausschließlich gefaßt wird, daß diese schlechthin zur Funktion Organ oder Produkt der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wird, wobei dann gewöhnlich eine bestimmte politische Doktrin diese Gesetzmäßigkeit in schlagwortartiger Vereinfachung von vornherein festgelegt hat. Es ist das am deutlichsten der Fall bei den Vertretern des historischen Materialismus nach Karl Marx: in einer marxistischen Literaturbetrachtung findet die soziologische Blickrichtung ihre grundsätzlichste Form, aber wohl auch bereits ihre Entartung. Allerdings ist sie, zumal in der deutschen Forschung, vor allem von freiwilligen oder unfreiwilligen Außenseitern vertreten. Trotz einzelnen großen Begabungen besteht wohl das Urteil Hymans über die bisherige marxistische Literaturkritik im ganzen zu Recht, that so much of it has been written in the last two decades and so little of it has come130 to anything . Hyman, auf den hier verwiesen werden muß, gibt eine ausgezeichnete Übersicht nicht nur über die Vorgeschichte dieser Lehren seit Platons Staat über Vico und Mme de Stael zu Taines Milieutheorie, sondern vor allem über die moderne marxistische Literaturkritik in Amerika, Großbritannien und Rußland. Hoch über alle andern Vertreter stellt er nach Geist und Bildung Christopher Caudwell1Christopher Caudwell, Illusion and Reality. A Study of the Sources of Poetry. London 1937. (St. John Sprigg), der in jungen Jahren 1937 in Spanien gefallen ist. Als Vertreter unter den Altphilologen sei der maßvollere George Thomson genannt, der der Entstehung und Entwicklung der Formen der Tragödie und des Epos im Zusammenhang ihrer sozialen und politischen Bedingungen nachgeht2George Thomson, Aeschylus and Athens. London 1941. Ders., Marxism and Poetry. New York 1946..

  Unter den deutschschreibenden marxistischen Kritikern ist unbestrittenermaßen der bedeutendste Georg (v.) Lukacs3Georg Lukács, Goethe und seine Zeit. Bern 1947. Ders., Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker. Berlin 1949., der Verfasser der glänzenden Theorie des Romans (1920) und einer Darstellung der dialektischmarxistischen Methode (Geschichte und Klassenbewußtsein 1923). In seiner Essaysammlung über die Dichter der deutschen Klassik wird geistreich der Versuch unternommen, die Literatur der Goethezeit als ideologische Vorbereitungsarbeit zur bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland zu interpretieren. Es gilt, die progressive , d. h. sozialrevolutionäre, Komponente im Werk der Klassiker, die innere Beziehung speziell zum Geschehen der französischen Revolution und zugleich die Gründe ihres schuldhaften oder tragischen Versagens oder Zurückbleibens aufzudecken, in scharfer Wendung gegen die reaktionären Lügen bürgerlich-idealistischer Geschichtsschreibung. Als Beispiel zugleich für Stil und Terminologie: Der am verspäteten Jakobinismus tragisch zugrunde gegangene Hölderlin wird bei Gundolf zum Vorläufer des Rentnerparasitismus .

  Gewiß: Dichtung ist hier überall in ihrem geschichtlich-aktuellen, ja aktualistischen Charakter begriffen und insofern ernster genommen als von einer Literaturbetrachtung, die sich im zeitlosen Raume des l'art pour l'art bewegt oder sich am abstrakt ablaufenden Spiel von Ideen und Formen vergnügt. Aber dieser Vorteil einer echten Historisierung und Aktualisierung ist erkauft durch das geradezu primitive Schema der marxistischen Geschichtskonzeption des 19. Jahrhunderts. Alle Geschehnisse und Verläufe werden nur nach ihren entweder progressiven oder reaktionären Tendenzen klassiert, die Weltgeschichte ist nichts als der automatische Fortschritt131 zum schließlichen Paradies der klassenlosen Gesellschaft. Auch ein Wunder wie die deutsche Klassik wird nur danach befragt und tritt nur so weit in Erscheinung, als sie Wegbereiterin des dialektischen Materialismus sein kann. Man hat sich bei Caudwell oder Lukacs immer wieder verwundert über den Widerspruch zwischen dem scheuklappenartigen Schema des primitiven gedanklichen Rahmens und dem Scharfsinn der oft glänzenden Einzelbemerkungen, die hier nicht wegen, sondern trotz der marxistischen Methode möglich scheinen es sind sozusagen Literaturwissenschafter malgré eux. Eine andere Erscheinungsform dieses Widerspruches ist es, daß echter wissenschaftlicher Erkenntniswille sich mit ideologischem Aktivismus vermischt und einschränkt. Wo im geistigen Leben bloße Ideologie gesehen wird, kann sich auch die eigene Wissenschaft nicht der Ideologie und Demagogie enthalten; sie hat sich dafür schon immer entschuldigt.

  Der entscheidende Einwand ist aber wohl auch hier, daß das dichterische Phänomen als solches negiert oder übersehen wird, daß Literaturbetrachtung in den Dienst sachfremder Argumentation tritt. Wenn die Welt Weimars um 1800 als eine geschichtlich d. h. nach dem marxistischen Fahrplan zurückgebliebene charakterisiert wird, so mag das im Rahmen einer Entwicklungsgeschichte des Sozialismus richtig sein, hat aber mit Goethe, Goethes Dichtung und Literaturgeschichte nichts mehr zu tun. Die Frage einer historischen Erschließung der Dichtung als Dichtung wird sich nur auf einer andern Ebene stellen und beantworten lassen.

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V. LITERARHISTORIE

1. literarhistorie und poetik

Die kennzeichnendste Wandlung in der Geschichte unserer Wissenschaft prägt sich schon terminologisch aus: sie hieß bis tief in unser Jahrhundert hinein und konventionellerweise oft noch heute Literatur geschichte, Literarhistorie wogegen heute der Name Literaturwissenschaft als Oberbegriff gelten muß und die historische Erforschung als ein bloßer Sektor erscheint. Ja, die Literarhistorie hat sogar eigentlich um ihre Legitimität zu kämpfen, wenn sie, wie z. B. bei Mahrholz oder Kayser, der Literaturwissenschaft entgegengesetzt oder auf sekundäre Aufgaben beschränkt wurde.

  Die Überwindung einer nach naturwissenschaftlichem Vorbild kausal erklärenden Wissenschaft führte zunächst zur Retablierung der Geisteswissenschaften als Geistesgeschichte mit ihrem neoidealistischen Hintergrund. Die Überwindung des Historismus seit der George-Schule, seit Phänomenologie und Existenzphilosophie hat schließlich die historische Methode im Bereich der Dichtung selbst angegriffen. Literarhistorie war praktisch allzusehr zum Brauch und Mißbrauch geworden, das literarische Werk zum bloßen Beleg eines außerkünstlerischen Vorgangs oder Tatbestands zu degradieren: es wurde Indiz oder allenfalls Funktion eines seelischen, geistigen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Geschehens; und solange es vorwiegend als Ausdrucksphänomen und nicht als Werk begriffen wurde, war das ausgedrückte Erlebnis oder der geistesgeschichtliche Inhalt , ja das Problem der wichtige Kern, dessen künstlerische Schale man gleichsam aufknackte, um sie selbst nicht weiter zu beachten. Das gilt selbst für die Praxis der geisteswissenschaftlichen Schule Diltheys bis zu einem gewissen Grade. Und auch wo man Literaturgeschichte an sich selbst treiben wollte, wo man die Werke als solche gelten ließ, trieb man Historie dadurch, daß man diese Werke chronologisch anreihte und durch eine fragwürdige Kausalbeziehung von literarischen Einflüssen und Abhängigkeiten miteinander verknüpfte; auch auf diesem Wege entging das Werk als solches dem Blick. Die landläufigen Literaturgeschichten wurden im übrigen nicht viel mehr als chronologische Aufzählungen, die man ebenso gut und übersichtlicher in lexikalischer Form hätte ordnen können. Die Bewegung der Literaturwissenschaft als Poetik wollte dagegen wieder das selig in ihm selbst ruhende Werk in seinem Wesen als Kunst begreifen. Diesem Willen liegt133 nicht nur die Reaktionsbewegung einer Rückkehr zu den Sachen selbst und nicht nur die Neubesinnung auf die Würde der Dichtkunst im Sinn der Symbolisten, der absoluten Poesie und des George-Kreises zugrunde. Dahinter steht ein Zerfall des geschichtlichen Bewußtseins oder mindestens der herkömmlichen Geschichtsbegriffe von epochaler Art. Geschichte kann nicht mehr als Selbstverwirklichung des Geistes im Hegelschen Sinne verstanden werden; die Entdeckung der seelischen Tiefenschichten des Menschen durch die Psychologie, die Entlarvung so mancher geistigen Position als Ideologie, die Ergründung der Welt der Primitiven durch die Völkerkunde lassen die Geschichte nicht mehr mit ohnehin fragwürdiger biologischer Metapher als Entwicklung, sondern viel eher als Schichtengefüge erscheinen, in dem alle Zeiten zugleich vorhanden sind. Die Existenzphilosophie läßt echtes Dasein sich immer neu aus dem Ursprung zeitigen: echte Existenz, auch im Kunstwerk, ist nicht als Entwicklung, sondern nur als Wiederholung möglich; die großen Geister, die großen Kunstwerke reichen sich über die Zeiten hinweg die Hand, sie sagen im Grunde alle dasselbe (Hei - degger). Die Zeit kann nicht mehr als neutraler gerichteter Verlauf begriffen werden; sie zerfällt in die gelebte und die bloß kalendarische Zeit. Es gibt keine historische Perspektive mehr, die die Verläufe auf den jeweiligen perspektivischen Punkt bezieht. Die Zeit wird als vierte Dimension in eine übergeordnete Raum-Zeit-Einheit aufgenommen: auch in der modernen Dichtung ist dieses Zeitproblem zentral und wird durch eine neue Technik der Umkehrungen der zeitlichen Verläufe oder des Durchsichtigmachens aufeinander zu lösen versucht.

  Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit trennt sich das große Traditionsgefüge der Literatur in die sogenannte Literatur und die großen Werke echter Dichtung. Schon im Moment, da Croce die Poesie auf einen so engen Kreis einschränkt und von der zivilisatorischen Literatur trennt, da Werner Mahrholz die große zeitlose Dichtung von der Literatur trennt und die historische Methode nur noch für diese gelten läßt, ist Literarhistorie auf den Aussterbe-Etat gesetzt denn sie hat damit ihr eigentliches Interesse verloren. So lassen sich denn auch heute die antihistorischen Proklamationen der Literaturwissenschaft in großer Zahl anführen. Schon seit 1928 baut Dragomirescu1Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1929 ff. seine große Ästhetik der Literatur auf der These auf: La méthode historique est impuissante pour l'étude scientifique de la littérature . Die Zeitschrift Trivium redet einer philologischen , nicht einer historischen Literaturwissenschaft das Wort, und Kurt May2Kurt May, Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft. Trivium V (1947) 293 ff. empfiehlt dieser eine stilkritische134 Diätkur . Wolfgang Kayser schließt die Literaturgeschichte aus dem Kreis der Literaturwissenschaft aus, und selbst die ruhig abwägenden und enzyklopädistisch interessierten Verfasser der Theory of Literature räumen der Literary History nur ein schmales abschließendes Kapitel ein. Man kann wohl von der schlagwortartigen communis opinio sprechen, daß Kunst als zeitlose bzw. jederzeitige in einem rangmäßigen und wesensmäßigen Sinne der Geschichte als dem Zeitlichen und Veränderlichen prinzipiell entgegengesetzt sei. Wenn in der Linguistik diachronische Sprachgeschichte und synchronische Stilistik als zwei sich bedingende Gesichtspunkte auf einander bezogen bleiben, so verführt der Werkcharakter der Dichtung in der Literaturwissenschaft zur Annahme sich ausschließender Gegensätze.

  Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge Werkinterpretation immer wieder an eine Grenze kommt, falls sie in zeitloser Unmittelbarkeit den Charakter der Geschichtlichkeit des Werks übersieht, die geheimnisvolle Verschränkung von Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit (W. Emrich, vgl. oben S. 105). Als Sprachwerk lebt das Gedicht aus der geschichtlich gewordenen Konvention außerdichterischer Sprache und kehrt wieder in diese zurück; Gattungen, genauer Arten erweisen sich als überlieferte, geschichtliche Formschemata. Die einzelnen Aspekte haben selbst ihre Geschichte: eine Vers - oder Strophenform ist jenseits aller konkreten Stilfunktion im Einzelwerk ein selbständiges Gebilde; die dichterische Symbolwelt bedarf, wie Emrich zeigt, einer genetischen Entfaltung; dichterische Gehalte , Ideen usw. führen ein gewisses Eigenleben. Stilzüge wie der Rhythmus oder sonst eine Haltung beziehen sich weniger auf das Werk als auf übergeordnete Einheiten des Personalstils oder des Nationalstils. Selbst die Wertung ist geschichtlich bedingt nicht nur durch den immer eingeengten Standort des Wertenden selbst, sondern durch den Stellenwert (z. B. die Neuheit, die Originalität), den ein Werk kraft seiner Datierung in einem übergeordneten literarischen Zusammenhang besitzt. Als Transsubstantiation und Transfiguration (Ernst Wolff) ist das Kunstwerk wesentlich mehr als nur Kunstwerk, es transzendiert sich selbst: der lezte Grund wohl auch für die Unvermeidbarkeit des Form-Inhalt-Schemas. Es gilt auch vom Kunstwerk, was Karl Jaspers für das menschliche Dasein überhaupt formuliert1Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949.: Aller Aufschwung über die Geschichte wird zur Täuschung, wenn wir die Geschichte verlassen. Die Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die Welt hinaus leben zu können, wiederholt sich im geschichtlichen Bewußtsein, das sich über die Geschichte erhebt.

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   Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die Schaffenden auch die Bewahrenden sagt Heidegger. Das Fortschreiten der Interpretation vom Werk zum Dichter einerseits und zu der menschlichen Gemeinschaft anderseits und umgekehrt ist damit legitimiert, ja geboten. Das Werk ist ein Stilganzes nur, weil es nicht nur sich selbst spiegelt, sondern eine Welt offenbart, die über es hinaus ist: die Welt eines Dichters und, da ein Mensch ebenso wenig isolierbar ist wie das Werk, die Welt einer Gemeinschaft, eines Publikums, einer Nation. Da das Werk weniger ein Sein als ein Werden ist, hat und ist es auch geschichtliche Funktion. So erfahren der biographische und psychologische und soziologische Weg, Literatur zu verstehen, bis zu einem gewissen Grade ihre Begründung. Wenn wir diese letzten Gesichtspunkte und Methoden bereits vorweggenommen haben, obwohl sie weithin Formen historischen Verstehens sind, so geschah dies nur, weil hier das Gebiet der Literaturwissenschaft auch wieder überschritten wird und zu besonderen, außerliterarischen Fragen führt.

  Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich es sein mag, so ist es, wie das menschliche Lebewesen, nur als geselliges Wesen möglich. Wie der Laut, der Satz und das Wort in einem Felde , im Stilganzen einer Sprache stehen, so steht die Einzeldichtung in einem übergreifenden Zusammenhang mit anderen Werken, mit der Stilsprache und dem Stil eines dichterischen Oeuvres, einer Epochenliteratur usw. Das Werk ist nur möglich im Schnittpunkt der Vertikalen aus dem Ursprung und der Horizontalen aus der Tradition . Tradition kann allerdings kaum mehr als der Kausalzusammenhang von Einflüssen gelten, ist vielmehr vorsichtiger als ein im Werk sich spiegelnder Konstellationszusammenhang zu verstehen, d. h. sozusagen als ein Feld , als die relative Geschlossenheit einer künstlerischen Stilsprache in der Gesamtheit ihrer Repräsentanten. Was der Kunstgeschichte selbstverständlich ist, hat die Literaturwissenschaft gelegentlich zu Unrecht verdrängt: daß die Stile der Dichter, der Gesellschaftsschicht, der Epoche, ja vielleicht sogar eines Raumes reale Forschungsgegenstände darstellen. Aber was für eine Seinsweise haben diese übergeordneten Stilganzheiten (Barock, Goethe, Höfische Dichtung usw. )?

  Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben Schichten oder Aspekte des Lautsinnlichen, Rhythmischen, Vorstellungsmäßigen, Gedanklichen; sie sind wie jenes den Gattungsbegriffen zugänglich. Sie können, mit andern Worten, ebenso gut wie die einzelne Dichtung als poetische Größen betrachtet werden, mit dem einzigen Unterschied, daß die Einzeldichtung überschaubar auf dem Papier steht, wogegen eine Einheit der Literatur erst als Resultat einer literaturwissenschaftlichen Synthese und immer nur in einer gewissen symbolischen Abkürzung gefaßt136 werden kann. Damit gilt von solchen literaturgeschichtlichen Einheiten, was Nicolai Hartmann als das Irritierende beim Verstehen jeder Art objektiven Geistes bezeichnet: nämlich das Fehlen des adäquaten Bewußtseins 1Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 2. Auflage. Berlin 1949.. Im übrigen aber bringt die literaturgeschichtliche Betrachtung auch eine Befreiung der Literaturwissenschaft von der bloßen Werkinterpretation, die, im strengen Sinn, ein tautologisches Anorttreten wäre.

   Literatur ist also nicht die verächtliche Grundsuppe der Nichtpoesie und der Unpoesie, sondern die Synthese aller poetischen Werke, welchen Ranges immer, auf höherer Ebene. Literarhistorie2Max Wehrli, Zum Problem der Historie in der Literaturwissenschaft. Trivium VII (1949) 44 ff. ist nicht der Verrat der Literaturwissenschaft an außerkünstlerische Prinzipien, sondern selber Kunstwissenschaft, von Poetik und Stilkritik nicht durch die Prinzipien, sondern die Ebene der Betrachtung unterschieden. Wenn sie das Einzelwerk wieder in die Veränderlichkeit der Zeit einzuschmelzen scheint, so ist es doch die selbe Zeit, in der sich das Literaturwerk realisiert die Chronologie der Jahreszahlen und Epochen läßt sich etwa dem System der Metren oder Aufbaueinheiten des Einzelgedichts vergleichen. Die Simultan-Existenz (Wel - lek-Warren S. 265 zitieren dafür unter anderem T. S. Eliot) der großen, ewigen Dichtung ist auch in der Synthese der Literaturgeschichte gewahrt, nur daß diese Dichtungen nicht aus ihrem Kontext herausgerissen sind. Im übrigen ist klar, daß die Literaturgeschichte nicht nur ein nachträgliches Pantheon bedeutet; Literarhistorie hat ihre eigenen Gesichtspunkte, in ihrem System wird das Werk in anderen Zusammenhängen wichtig als in der Poetik. Vor allem erhalten hier die sog. Obskuren , dann die Vorläufer oder Epigonen ihre Bedeutung, zwar keinen aesthetischen, aber einen historischen Wert. In diesem Sinne einmal die breiten Massen der Literaturproduktion aufgeführt und organisiert zu haben, das bleibt bei aller Fragwürdigkeit der Durchführung das große Verdienst der Literaturgeschichte Josef Nad - lers. Und wenn die Literaturhistorie auch Bezug nimmt auf die psychologischen, sozialen und allgemein-geschichtlichen Bedingungen, so tut sie dies im Sinne der Erschließung einer künstlerischen Gestalt auf eine Welt, d. h. nicht als Erklärung , sondern als Interpretation, als Auslegung des großen Literaturzusammenhangs.

2. stilgeschichte

Eine Regeneration der Literarhistorie, auf Grund der neuen Poetik und im beständigen Blick auf sie, wird zur nächsten Aufgabe der Literaturwissenschaft. 137Es scheint ja überhaupt, wenn O. F. Bollnow recht hat, die dringendste Aufgabe der Existenzphilosophie zu sein, zum materiellen Aufbau der geschichtlichen Welt fortzuschreiten als überindividuellem, schöpferischem und stetigem Fortgang . Der existentielle Begriff der Geschichtlichkeit greift zu kurz, weil er den Menschen nur als ein der Geschichte ausgeliefertes, nicht aber als ein im echten Sinn geschichtlich schöpferisches und damit seiner Geschichte mächtiges Wesen begreift. 1Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie. 3. Auflage. Stuttgart 1949. Existenzphilosophie und Geschichte. Blätter für deutsche Philosophie 11 (1938), 337 ff. Vgl. ferner die Ansätze von Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie (in: Systematische Philosophie, herausgegeben von Nicolai Hartmann, 1942).. Das kann nicht eine Wiederbelebung der sogen. Geistesgeschichte bedeuten, die immer noch wesentlich für Literarhistorie überhaupt steht, aber noch kaum über ihre zusammengebrochenen idealistischen Voraussetzungen hinauskommt. Vielmehr ist es notwendig und natürlich, vom neuen Begriff des Stils auszugehen.

  Es ist die große Bedeutung von Paul Böckmanns Werk2Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung. I. Band. Hamburg 1949., daß hier eine derartige Stilgeschichte für die deutsche Literatur erstmals auf der ganzen Breite versucht worden ist. Freilich kommt Böckmann von Dilthey, Unger, Petsch her, die er zugleich hinter sich lassen will im Ernstnehmen der Form und ihrer Geschichtlichkeit, und diese Herkunft scheint sich in der Fassung der literaturwissenschaftlichen Begriffe noch bemerkbar zu machen. Der Begriff Form welchem wir den des Stils vorziehen würden meint mehr als die blosse Form, nämlich Formstrukturen und nicht isolierte Formelemente, d. h. Form und Gehalt als eines, Form, die das wesenhaft Gemeinte als Gehalt in sich birgt und doch nur als Form greifbar macht . Böckmann spricht auch mit einem doch wohl hypothetischen Begriff vom Formwillen , Formkräften , von der Auffassungsform ..., in der sich das Menschliche über sich selbst verständigt . Dichtung sei bei Dilthey und Unger nur Material und nicht Organ des Lebensverständnisses geblieben. Hier möchte man eine präzisere Auseinandersetzung mit der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Terminologie wünschen.

  Es ist klar, daß eine Formgeschichte wie jede echte Literarhistorie jene Größen, die bei der Stilinterpretation im Vordergrund stehen, das Einzelwerk und das dichterische Oeuvre als persönliche Ganzheit, zurücktreten läßt; das ist mit Unrecht dem Buche Böckmanns vorgeworfen worden. Gewiß treten Werke und Persönlichkeiten nach wie vor als besondere Verdichtungen oder Wegmarken des Stilwillens und seiner Entwicklungen hervor, aber ihre Auswahl und besondere Deutung hat aus dem übergeordneten138 Zusammenhang zu erfolgen. Darin liegt ja die methodisch nicht weiter lehrbare und der Freiheit des Historikers anheimgegebene Kunst der Darstellung, solche Ganzheiten verschiedener Ordnung zusammenspielen zu lassen ohne sie aufzulösen, diachronische Darstellung ohne Zerstörung der synchronischen Komplexe zu geben. Das ist eine Schwierigkeit, die schon in der technischen Not besteht, am eindimensionalen Faden des historischen Berichts ein Bündel von Verläufen, ein aus Dauer und Wechsel zugleich bestehendes Gebilde umschreiben zu müssen. Dahinter aber liegt jenes von Emrich berührte, von F. K. Schumann1Friedrich Karl Schumann, Gestalt und Geschichte (Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, Heft 6). Leipzig 1941. prinzipiell dargestellte Geheimnis der Verschränkung von Gestalt und Geschichte, Individuum und Gemeinschaft, Menschen und Mächten. Gestalt wird nur in der Geschichte und Geschichte nur in der Gestalt erkennbar. Eine Stilgeschichte das zeigt gerade Böckmanns Werk braucht daher durchaus keine Literaturgeschichte ohne Namen zu sein. Und auch wenn es eine solche historische Stilkunde gäbe wie sie die Kunstgeschichte neuerdings in dem ausgezeichneten Werk Peter Meyers2Peter Meyer, Europäische Kunstgeschichte. 2 Bände. Zürich 1942. besitzt, so hätte sie durchaus eine Aufgabe zu erfüllen.

  Auch die Grundbegriffe einer solchen Historie sind nicht dieselben wie bei der Poetik. Da ist Böckmanns Nachweis wichtig, daß von den Gattungstypen aus primär keine Literaturgeschichte geschrieben werden kann (was mit dem Problem einer Gattungs - oder besser Artgeschichte als solcher nichts zu tun hat); Wölfflinsche oder Strichsche Typen müssen als zeitlose Weisen des Sehens oder Gestaltens aufgefaßt werden, und ihre Zuweisung zu bestimmten Epochen wie Renaissance und Barock, Klassik und Romantik vermag die konkrete literarische Geschichtlichkeit, die in Frage steht, nicht zu fassen. Böckmann sieht sich so zurückverwiesen auf die konkrete Textinterpretation, um aus ihr die individuellen historischen Einheiten zu gewinnen eben die Epochen. Den ersten Band seines Werkes, der die deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zum jungen Schiller enthält, stellt er unter das Thema einer großen Wandlung: der Ausbildung eines sinnbildenden (figuralen) Sprechens im Mittelalter und dessen Auflösung und Wandlung in eine ausdrückende Sprache, in Ausdruckssprache. Dieser Ablauf wird untergliedert in kleinere Epocheneinheiten wie das Elegantia - Ideal und das rhetorische Pathos des Barock oder das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung .

  Daß damit, vom stilgeschichtlichen Blickpunkt aus, die Literaturgeschichte vielleicht gar nicht grundlegend umgeschrieben werden muß oder daß sie sich jedenfalls im Lauf auch von Böckmanns Darstellung in oft vertrauten Aspekten zeigt, kann uns nur recht sein. Methodologie bedeutet ja immer139 nur eine nachträgliche Klärung und Schärfung einer unter Umständen bereits seit je geübten und erfolgreichen Praxis. Eher ein Nachteil ist es vielleicht, wenn Böckmann ohne eigentliche Begründung, auf Grund des sprachlichen Gesichtspunktes, seine Stilgeschichte als Stilgeschichte der deutschen Literatur schreibt oder mindestens auf eine Erörterung der Frage verzichtet, ob die deutsche Literatur nun wirklich ein einheitliches Geschichtsgebilde sei. Denn die Frage, welches der legitime literarische Geschichtskörper, die jeweilige Literatur sei, müßte zuerst beantwortet werden. Darüber ist weiter unten zu handeln.

3. die periodisierung

Ein literaturgeschichtlicher Verlauf ist kein lineares Geschehen; schon das Einzelwerk ist vieldimensional, und erst recht für eine historische Synthese werden die Möglichkeiten von Wahl und Reihung der Elemente fast unübersehbar. Wie jeder Bericht oder jede Erzählung bedeutet auch die historische Darstellung ein beständiges Vor - und Zurückgreifen, einen Wechsel der Standorte und Betrachtungsweisen, kurz eine entwerfende Gestaltung des scheinbar neutralen zeitlichen Kontinuums. Und hier gewinnt nun die Unterscheidung chronologischer Einheiten als fundamentales Ordnungsprinzip ihre Bedeutung.

  Das Periodenproblem hat vor allem in den methodologischen Erörterungen, die in den 1920er und 30er Jahren von den deutschen Geistesgeschichtlern gepflogen wurden, eine große Rolle gespielt. Vor allem wurde der Begriff der Generation diskutiert (so von Eduard Wechssler, Wilhelm Pinder, Julius Petersen, Herbert Cysarz, Richard Alewyn u. a.), nicht zuletzt im Hinblick auf eine allgemeine Geistes - und Kulturgeschichte, d. h. eine Vereinheitlichung der Methoden. 1935 war der zweite internationale Kongreß für Literaturgeschichte dem Periodenproblem gewidmet. Die Verhandlungsakten1Bulletin of the International Committee of the Historical Sciences IX (1937) 255 ff. zeigen, wie wenig Einverständnis über wichtigste allgemeine Fragen (Definition des Generationsbegriffs, objektiver oder bloß subjektiv-psychologischer Grund der Periodenbildung, Parallelität oder Divergenz des Periodenablaufs bei den verschiedenen Künsten) wie auch über spezielle, damals neue Epochenbegriffe (Barock, Biedermeier2Robert Herndon Fife, Epochs in German Literature. GR XIV (1939) 87 ff. Biedermeier: DuV 36 (1935). R. Wellek, The concept of Baroque in Literary Scholarship. Journal of Aesthetics V (1946) 77 ff. (mit Bibliographie).) schon damals bestanden hat. Neuerdings beschäftigt die Frage wieder die französische und angelsächsische Wissenschaft, und sie ist auch von E. R. Curtius140 wieder angeschnitten worden. Einen guten historischen Rückblick auf das Problem seit Hesiods Weltalterlehre samt Bibliographie gibt Henri Peyre1Henri Peyre, Les générations littéraires. Paris 1948 (mit Bibliographie). als den nützlichsten Teil seines Buches. Klug und abgewogen ist die Darstellung der heutigen Problemlage bei Wellek-Warren.

  Wichtig und richtig ist wohl die hier erhobene Forderung, die literaturhistorischen Perioden zunächst einmal nach literarischen Kriterien abzugrenzen und erst in zweiter Linie die gewonnenen Einteilungen mit andern Periodensystemen zu konfrontieren. Literaturgeschichte bleibt dann Stilgeschichte in einem weitesten Sinn; die Perioden bedeuten übergeordnete Stilzusammenhänge, die nun allerdings möglichst viel Aspekte formaler, gehaltlicher, struktureller Art decken und zur Deckung bringen sollen.

  Die kleinste und konkreteste chronologische Einheit stellt offenbar die Generation dar; selbst das Oeuvre eines Dichters ist oft nach Generationsstadien gegliedert. Mit dem Begriff der Generation soll die unbestreitbare Erscheinung gefaßt werden, daß der Literaturverlauf zu bestimmten Zeiten eine Häufung und Intensivierung der Leistungen erfährt, die zudem etwas Neues bedeuten. Es wären couches d'hommes nouveaux (Peyre), Gruppen Gleichaltriger mit ähnlichen Erfahrungen und Reaktionen, Jugendreihen , wie sie ein Schlagwort Eduard Wechsslers nannte. Schachners2Walter Schachner, Das Generationsproblem in der Geistesgeschichte. Mit einem Exkurs über den Hainbund. Diss. Gießen 1937. Dissertation geht kaum über Fragen der Begriffsdefinition hinaus. Kühner ist dagegen Peyre. Er diskutiert eine Reihe von anderen möglichen Gruppenbegriffen: die Bewegung, die Schule, den Kreis usw., um sie als ungeeignet zu verwerfen, da sie sich ja auch der konkreten chronologischen Basis entziehen. Dagegen glaubt er nun auf Grund einer langen chronologischen Untersuchung tabellarisch die Generation als grundlegendes Prinzip empfehlen zu können. Er unterscheidet von 1490 1900 genau 29 Generationen, in denen er nicht nur die Taktschritte der französischen, sondern überhaupt der europäischen Literaturgeschichte sieht, ja von denen er erwartet, daß sie sich auch in andern Künsten und Kulturgebieten bestätigen. Toleranterweise läßt er die zeitliche Dauer der Generationswirkung variabel sein (8 20 Jahre, also nicht etwa das übliche Menschenalter von 30 35 Jahren, das sonst so bequem dreimal in ein Saeculum paßt). Auch wendet er sich gegen die beliebten Versuche einer Rhythmisierung der Generationenfolge etwa im Sinn einer Abstoßung zwischen Vätern und Söhnen und einer Verwandtschaft zwischen Söhnen und Großvätern (solche Schemata der Oszillation oder des Dreischritts kehren ja auch im Epochensystem wieder, seit Hegel, Ottokar Lorenz, Karl Joel usw.). 141Es ist wohl nicht nötig zu sagen, daß trotz solchen Einschränkungen die Annahme einer derartigen Mechanik der Generationen methodisch und faktisch bedenklich ist. Peyre tut hier trotz allem der auch von ihm gepriesenen charmante irrationalité du réel Gewalt an. Letzten Endes sind hier wohl auch die spezifischen Formen der literarischen Tradition mißachtet zugunsten biologisch-soziologischer Gesichtspunkte. Und es wird auch sehr darauf ankommen, ob eine derartig detaillierte Gliederung in einem räumlich, sozial und geistig geschlossenen Bereich (z. B. der Zürcher Literatur des 18. Jahrhunderts) angewandt wird oder in ganzen Nationen und Kontinenten.

  Bei diesen scheint jedenfalls der umfassendere Begriff der Epoche angemessener und wichtiger, obwohl Peyre gerade ihn als willkürlich oder national beschränkt betrachtet. (Ob Epoche oder Periode tut hier nichts zur Sache, wir nehmen Periode bloß als allgemeinen Oberbegriff und meinen mit Epoche so verschiedenartig geprägte Einheitsbenennungen wie Romantik, Barock, Aufklärung, 19. Jahrhundert). Es sind geschichtlich-empirisch gewachsene und in ihren Benennungsmotiven durchaus heterogene Begriffe, die die historische Forschung nicht entbehren kann und mit denen sie doch beständig in Fehde liegt, sie nach Art und Zahl verändernd (so ist es um das Biedermeier wieder still geworden). Eine gute Kritik dieser Begriffe haben Benno von Wiese1Benno v. Wiese, Zur Kritik des geisteswissenschaftlichen Periodenbegriffes. DV 11 (1933) 130 ff. und nach ihm Wellek geleistet. Es handelt sich weder um bloß unverbindliche Namen und Hilfskonstruktionen, noch darf ihnen ideenrealistisch eine absolute Wesenheit unterstellt werden; auch ist ihre subjektive, psychologische Komponente nicht zu übersehen2Max Foerster, The Psychological Basis of Literary Periods. (In: Studies for William A. Read. Louisiana 1940). (War nicht erhältlich).. Es sind dynamische Gebilde , regulative Ideen , selber geschichtliche Mittel historischer Interpretation. Sie gehen immer auf individuell-geschichtliche Wirklichkeit, wollen also nicht wie ein logischer Oberbegriff alle Einzelerscheinungen automatisch decken, und sie haben unscharfe Grenzen: one word cannot carry a dozen connotations (Wellek-Warren).

  Von zwei Verwendungen sind sie fern zu halten, nämlich von einer typologischen und einer normativen. Epochenbegriffe sind in der Historie was die Typenbegriffe in der Stilkritik sind d. h. aber, daß sie zu diesen gleichsam senkrecht stehen; ihre Verwechslung liegt an sich nahe, da sie dieselbe Literatur betreffen und nicht ohne einander sein können; doch hat sie, vor allem im Gefolge der kunstgeschichtlichen Grundbegriffe, viel Unklarheit gestiftet, etwa im Fall der Barockliteratur. Der unangebrachte Versuch,142 Historie als angewandte Typologie zu entwickeln, führt dann auch zur Annahme wiederkehrender Zyklen oder rhythmischer Wechsel (z. B. Klassik und Romantik), die die geschichtliche Realität vergewaltigt, indem sie deren gerichteten und einmaligen Charakter übersieht und aus der Geschichte das Spiel einer mechanisch auf - und zugehenden Handharmonika macht.

  Das normhafte Element macht sich vor allem verwirrend bemerkbar, sofern einzelne Epochen als Blütezeiten oder klassische Literaturepochen hervorgehoben werden. Gewiß ist auch Literarhistorie ohne Wertung nicht denkbar; aber weder ist das für eine Epoche typischste Werk (z. B. ein barockes Nürnberger Poem) ihr wertvollstes, noch genügt die Ordnung in Blütezeiten und Verfallzeiten zur Periodisierung. Auf dieser Verwechslung beruhen wieder Versuche zur mechanischen Rhythmisierung der Geschichte von Hesiods absteigender Treppe der Weltalter bis zu Wil - helm Scherers Lehre von den Sechshundert-Jahr-Perioden von Blütezeit zu Blütezeit der deutschen Literaturgeschichte. Im Begriff Klassik 1Martin Turnell, The Classical Moment. London. 1947. K. H. Halbach, Zu Begriff und Wesen des Klassik. (In: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948). verbinden sich Wertendes (etwa die Blütezeit der Staufischen Klassik in Hermann Schneiders Literaturgeschichte), Typologisches (Klassizismus) und rein Historisches (deutsche Klassik um 1800). Über die Rolle der Kanonbildung , d. h. über das Entstehen klassischer Geltung bestimmter Autoren oder Autorengruppen und ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte wie für die Literaturhistorie handelt ein wichtiges Kapitel von Ernst Robert Curtius.

  Schon für eine einzelne Literatur wird die Abgrenzung eines Epochenbegriffs die Resultante aus verschiedenen Einzelgrenzen sein ähnlich wie bei einer Sprachgrenze in der Dialektgeographie , entsprechend dem schichtenhaften oder bündelartigen Charakter jedes Literaturverlaufs. Oft genug wird es sich dabei praktisch um Kompromisse handeln. Ein Beispiel bietet Hermann Schneider2Hermann Schneider, Geschichte der deutschen Dichtung. Nach ihren Epochen dargestellt. I. Bonn 1949., der der Epochengrenze ausdrücklich eine entscheidende Rolle zuweist bei der Konzeption einer Literaturgeschichte, die er mit literatureigenen Kategorien und Normen als Geschichte künstlerischer Potenzen gestaltet haben will. Den Epochenbeginn charakterisiert er als den Beginn eines literarisch Neuen , soweit dieses grundstürzend ist. Und es gibt das Phänomen einer künstlerischen Hochblüte , sie wächst heran, sie entkeimt und bereitet sich langsam,143 zielbewußt, mehr und mehr anschwellend, vor. Schließlich bricht die Blüte durch ... das Wunder tritt ein. Völker und Zeiten ... zehren noch Jahrzehnte und Jahrhunderte davon. Diese hinkenden botanischen Vergleiche lassen allerdings kaum eine grundsätzlich neue Konzeption erkennen. Und die acht Epochen, die Schneider von der altgermanischen Dichtung bis zur Dichtung im Dienste der Aufklärung unterscheidet, haben denn auch nur zum Teil dichtungseigene Namen (z. B. Dichtung der ersten Blüte , d. h. Stauferzeit, Dichtung im Zeichen der Unfreiheit , d. i. Barockzeit), wobei Wertendes und Beschreibendes durcheinandergeht; zum Teil ist auf Dichtungsfremdes zurückgegriffen ( Dichtung der religiösen Erneuerung , d. i. Renaissance und Reformation). Wenn Schneider bemerkt, die bewegenden Ideen eines Zeitalters finden Raum, soweit es die Dichtung ist, die sie bewegt haben , so weist er damit selber hin auf die Unmöglichkeit, von geistesgeschichtlichen Epochenbegriffen zu abstrahieren. Schneider will keine Geistesgeschichte geben und gibt auch keine Stilgeschichte. Dichtungsgeschichte aber als die Geschichte des Wirksamen, des Siegreichen im Kampf ums Dasein , als naturgewollter und naturhafter Vorgang dürfte kaum ein Fortschritt sein. Mit der Übernahme geistesgeschichtlicher Epochenbegriffe taucht aber auch wieder das Problem der Interferenz zwischen verschiedenartigen Periodisierungen auf. Allerdings beruhen ja u. U. auch die Unterschiede der Epochen darauf, daß sich die verschiedenen Kulturbereiche anders gruppieren, in verschiedenem Maß zum Antlitz der Literatur beitragen. Aber je weiter hier der Blick gefaßt wird, umso diskutabler werden die Grenzen. Und so wendet sich Marcel Beck1Marcel Beck, Finsteres oder romantisches Mittelalter. Zürich 1950. um auch einen Historiker zu zitieren im Namen des immer komplexen gesamtmenschlichen Bios gegen eine, vor allem von der Geistesgeschichte betriebene, fraktionierende, mit Wenden und Umbrüchen operierende Methode als gegen ein Hindernis objektiver Betrachtung.

  Wie sehr das Epochenproblem in das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste hineinspielt, wurde bereits ausgeführt. Die überragende Leistung auf dem Gebiet der älteren deutschen Literaturgeschichte2Julius Schwietering, Die deutsche Dichtung des Mittelalters, Potsdam o. J. (In: Handbuch der Literaturwissenschaft herausgegeben von O. Walzel). disponiert nach rein kunstgeschichtlichen Begriffen in Frühromanik, Romanik, Spätromanik und Gotik; auch wenn das im Einzelnen noch so einleuchtend ist, bleibt es störend, wenn damit die literarische Blütezeit nicht selbst eine Epoche ist, sondern auf die Grenze zwischen den Epochen zu liegen kommt. Es ist das z. T. eine Folge der Divergenz zwischen normativer und stilistischer Epochenbildung (auch mit Dante oder Shakespeare zeigt sich144 diese Erscheinung), z. T. aber auch ein Anzeichen für die Divergenz der Epochen in den verschiedenen Kulturgebieten und Künsten. Um eine für alle Künste geltende Epoche zu bekommen, nennt Richard Benz1Richard Benz, Deutsches Barock. Kultur des 18. Jahrhunderts. I. Stuttgart 1949. die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Barockzeit; das gilt in Deutschland für die Vollendungen in der Musik und der Architektur, nötigt den Verfasser aber, die Barock-Literatur, d. h. die Literatur des 17. Jahrhunderts, als verfrühten und mißlungenen Ansatz stiefmütterlich ins Vorzimmer zu verbannen. Auch der seinerzeit von Arthur Hübscher ( Euphorion 26) unternommene Versuch, dem Problem der Epochenbestimmung für die deutsche Barockliteratur mit dem Begriff der Pseudomorphose beizukommen (d. h. der in unglücklichen Umständen bedingten antithetischen Diskrepanz von Gehalt und Form) ist ein prinzipiell fragwürdiger Ausweg.

  Die Schwierigkeiten zeigen sich erneut im Bereich der europäischen Literaturgeschichte. Hier hat E. R. Curtius von den mittellateinischen Konstanten aus, die er in der europäischen Literatur nachweist, einen Vorstoß unternommen gegen die vorschnelle Übertragung nationalbedingter Epochenbegriffe auf die europäische Literatur, speziell was die französische Forschung mit ihrem an der eigenen Klassik orientierten System betrifft. Aber andererseits ist allein von den Konstanten aus ja auch keine Periodisierung möglich, und die Feststellung vom Fortdauern des literarischen Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert hat damit nur begrenzte Tragweite. Werner Milch2Werner Milch, Europäische Literaturgeschichte. Ein Arbeitsprogramm (Schriftenreihe der Europäischen Akademie, Heft 4. Wiesbaden 1949). gibt eine instruktive Aufstellung der epochenmäßigen Differenzen dreier Darstellungen der Weltliteratur (Eppelsheimer, van Tieghem, Laurie Magnus), die je von einer verschiedenen nationalliterarischen Tradition herkommen.

  So gilt wohl für die Periodenproblematik in all ihren Stufen und Formen, daß auch hier nicht feste Schubladenbegriffe gemeint sein können, sondern bewegliche Grenzbegriffe, durch welche verschiedenartige Gruppen individueller Stilzüge, aber nur immer im Spiel ihrer Beziehungen, Bewegungen, Überlagerungen gefaßt werden können und sollen.

4. literaturgeschichte nach einzelnen aspekten

Das Ziel einer literaturwissenschaftlichen Geschichtschreibung ist die Synthese der jeweiligen literarischen Ganzheit eines Oeuvres, einer Epoche, einer Nation usw. Wenn schon die Charakteristik eines Einzelwerks mit145 seinen verschiedenen Stilaspekten immer nur als Auswahl der jeweils hervortretenden oder wichtig scheinenden Züge möglich ist, so gilt dies erst recht für die größeren Einheiten. Ja es ist nun auch möglich und naheliegend oder gar nötig, einzelne Aspekte gesondert zu verfolgen: bestimmte Literaturarten oder metrische Gebilde oder Symbole oder Topoi bilden an sich geschichtliche Reihen, sei es, daß sie aus einem gleichen Formwillen (Böckmann), aus einem gleichen objektiven Geist (Nicolai Hartmann) immer wieder hervorgetrieben werden, sei es, daß sie als fest geprägte Elemente einer dichterischen Sprache übertragbar sind, weiterzündend, traditions - und epochemachend wirken. Im einzelnen wird es darauf ankommen, wieweit in solchen Teilaspekten wirkliche geschichtliche Einheiten getroffen sind oder wieweit es sich um bloße willkürliche Längsschnitte handelt, die nur den Schein eines Zusammenhanges stiften. Gewöhnlich sind solche Untersuchungen nicht aus bloß historischen Absichten unternommen, sondern aus dem Interesse der Poetik: im Abschreiten der geschichtlichen Erscheinungen soll das Wesen irgendeiner poetischen Formmöglichkeit ergründet werden. In diesem Sinne sind solche Arbeiten meistens schon oben erwähnt worden, so daß im folgenden nur noch ein paar Nachträge gegeben werden. Im übrigen wird die Isolierung eines Teilaspekts niemals eine strenge sein können. Dieser bleibt immer Repräsentant für ein umgreifendes Stilganzes und auch nur als solcher interessant: als Merkmal einer Epoche oder umgekehrt als tertium comparationis für die Wandlungen in einem geschichtlichen Verlauf.

  Eine Sonderstellung kommt der Geschichte nach Gattungen und Arten zu. Die primäre Aufgabe der Literaturhistorie ist, wie wir sahen, die Epochengliederung und das Erkennen von Epochenstilen. Die Gattung, als Typus verstanden, ist selber keine geschichtliche Größe. Eine typologische Gliederung wird erst innerhalb eines Epochenstils sinnvoll sein, wie das Böckmann betont, denn hier gilt es nun die bestimmten Abwandlungen der typischen Haltungen zu beschreiben. So wählen auch manche Literaturgeschichten, gelegentlich oder konsequent, die Aufteilung nach den drei Gattungen innerhalb der Epochen. So verfährt etwa Paul Hankamer1Paul Hankamer, Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Stuttgart 1935. in seiner werknahen, aber letztlich geistesgeschichtlich interessierten Geschichte der deutschen Barockliteratur; entsprechend auch Hermann Schneider in seiner Literaturgeschichte nach Epochen, sowie einzelne Beiträger der von Bruno Boesch herausgegebenen deutschen Literaturgeschichte in Grundzügen2Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen. Die Epochen deutscher Dichtung. Herausgegeben von Bruno Boesch. Bern 1946.. Hier sind es dann auch gewöhnlich strukturell verfestigte Gattungsformen,146 d. h. Arten z. B. das barocke Trauerspiel, der höfische Minnesang oder das Epos, welche als echte traditionelle Einheiten, d. h. nun geschichtlich legitime Größen, in den Blick treten. Die Artgeschichte wird besonders in anfänglichen, noch anonymen Epochen der Literatur wichtig sein, da hier Arten als feste Bauformen die Literaturgeschichte eigentlich ausmachen. So hat etwa Andreas Heuslers Altgermanische Dichtung gezeigt, wie der bestimmte Begriff geschichtlicher Arten (z. B. Merkdichtung, Erzähllied, Preislied) zu einem erfolgreichen heuristischen Prinzip wird, wenn es gilt, eine fragmentarische und über große Räume und Zeiten hinweg als Einheit zu begreifende Literatur zu erfassen.

  Ähnliches gilt von der Versgeschichte. Sie ist zentral für Zeiten fester literarischer Tradition, aber verliert an Bedeutung, wo die verschiedensten Formen zu freier Verfügung stehen. Sie wird wichtiger sein für die Entwicklung höfischer Lyrik als für die Lyrik des 20. Jahrhunderts mit ihrer völligen Freiheit der Wahl es sei denn, daß gerade der Vorgang dieser Emanzipation von bestimmten Regeln des Versbaus in Frage steht.

  Stoff - und Motivgeschichte1Stoff - und Motivgeschichte der deutschen Literatur, herausgegeben von Paul Merker und Gerhard Lüdtke. Berlin 1929 ff. sind heute unter dem Einfluß stilkritischer Einstellung etwas scheel angesehen. In der Tat ist ein Katalog von 16 eng bedruckten Seiten Petitsatz, wie ihn Körner in seiner Bibliographie bietet unter dem Titel Thematische Querschnitte durch die Geschichte der deutschen Literatur, von Abel und Alexander bis zum Weltgericht und zum Zigeuner, eher von erheiternder Wirkung. Selbst bescheidene Nachschlagewerke wie die von Arthur Luther2Arthur Luther, Deutsches Land in deutscher Erzählung. Ein literarisches Ortslexikon. 2. Auflage. Leipzig 1937. Ders., Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon. 2. Auflage. Leipzig 1943. oder André Ferré3André Ferré, Géographie littéraire. Paris 1946. scheinen vom Sinn literaturwissenschaftlicher Tätigkeit abzuführen, ja in die Nähe des Reisehandbuchs zu geraten. Doch gilt es bei dieser Thematologie zu unterscheiden, ob es sich um echte Traditionszusammenhänge handelt oder um willkürlich hergestellte Reihen. Während Motive im Sinne von menschlichen Urbegebenheiten ein überall erscheinendes, übertragbares Element darstellen und historisch schwer zu fassen sind, so ist der Stoff als Quelle geradezu der beherrschende Gesichtspunkt bei der Erfassung von Literaturen mit strenger Traditionalität. Es ist unbestreitbar, daß etwa die Geschichte altdeutscher Heldendichtung4Hermann Schneider, Germanische Heldensage. (Grundriß der germanischen Philologie 10) 3 Bände. Berlin 1928 1934. oder sogar des147 mittelalterlichen Romans als Sagengeschichte, Stoffgeschichte, Quellengeschichte am natürlichsten zugänglich wird und von dieser aus auch unmittelbar ihre allgemein stilgeschichtlichen Züge enthüllt. Ähnliches dürfte auch von klassisch-mythischen Stoffen gelten1z. B. Franz Stoessl, Amphitryon. Trivium II (1944) 93 ff., obwohl es sich schon hier weniger um geschlossene Geschichtsverläufe als um eine Begegnung zwischen Einzelwerken handelt. Dagegen scheint es fraglich, ob es literaturwissenschaftlich sinnvoll ist, z. B. den Wald 2Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung (Stoff - und Motivgeschichte der deutschen Literatur 15). Berlin 1936. in der deutschen Dichtung geschichtlich zu behandeln, d. h. ob hier nicht Zusammenhänge vorgetäuscht werden, die keine sind. Zum mindesten kann der gemeinsame Nenner verlorengehen, wenn der Kreis einer persönlichen dichterischen Welt verlassen wird, wo also nicht, wie es Emrich3Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943. in glänzender Weise tut, die Symbolwelt eines Dichters, ja eines Werks, entwicklungsgeschichtlich erhellt wird. Auch etwa Fritz Martinis4Fritz Martini, Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Halle 1944. Darstellung des Bauerntums in der Literatur des deutschen Mittelalters betrifft noch eine mehr oder weniger geschlossene literarische Welt, in der die Figur des Bauern typische Funktionen hat. Was darüber hinausgeht das Bild des Bauerntums oder die innere geistige Auseinandersetzung mit dem umfassendsten und lebenswichtigsten Glied des Volkskörpers , das dürfte mehr die Kulturhistorie und die allgemeine Geistesgeschichte interessieren und auch in der Literatur nur in bestimmten Brechungen zu finden sein. Was schließlich die Topen geschichte von E. R. Curtius betrifft, so greift diese zwar ins Motiv - und Symbolgeschichtliche hinüber, beschäftigt sich aber mit europäischen Konstanten, die wiederum erst in einer übergreifenden Stilgeschichte den jeweiligen Sinn ihrer Variationen enthüllen kann (vgl. unten S. 156 ff.).

  Aber nicht die bisher beschriebenen stoff - und formgeschichtlichen, sondern die sog. geistesgeschichtlichen Forschungen haben in der neueren Literaturwissenschaft das Feld beherrscht. Soviel dagegen mit guten Gründen Front gemacht worden ist und so sehr hier die neuidealistischen Voraussetzungen immer dünner werden, so ist die Beziehung der Dichtwerke auf geistige Auseinandersetzungen und damit auf einen zwar außerkünstlerischen, aber dafür umfassenderen Geschichtsprozeß legitim, ja selbstverständlich. Und zwar besonders, wo die in Frage stehende Literatur selbst in enger Beziehung zu moralischen, weltanschaulichen, religiösen Anliegen steht. Zum Verständnis Dantes ist eine Geschichte der148 Lehren und Vorstellungen des Jenseits von hohem Interesse1August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante. 2 Bände. Einsiedeln / Köln 1945.; eine Geschichte der deutschen mystischen Literatur, wie sie in praktischer, selbständiger Übersicht Wentzlaff-Eggebert2Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. 2. Auflage. Tübingen 1947. vorgelegt hat, arbeitet eine jahrhundertelange geistige , nicht in erster Linie literarische Bewegung heraus, ohne doch bloß angewandte Religionsgeschichte zu sein. W. E. Peuckerts3Will-Erich Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Stuttgart 1936. Forschungen zu den magischen und pansophischen Traditionen des 16. und 17. Jahrhunderts sprengen den Kreis einer konventionellen Geschichte der schönen Literatur in folgenreicher Weise. Bezzolas4Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en occident (500 1200) I. Paris 1944. Vorgeschichte der höfischen Literatur dient einer Geschichte des humanistischen Gedankens, abgesehen von ihren gesellschafts - und kulturgeschichtlichen Grundlagen. Daß auf der andern Seite auch eine allzusehr von der Dichtung und ihren konkreten Gegebenheiten abstrahierte Ideen - und Gedankengeschichte in die Irre gehen kann, das haben die Diskussionen um das von G. Ehrismann voreilig errichtete und historisch hergeleitete ritterliche Tugendsystem gezeigt5Das ritterliche Tugendsystem: Vgl. unten Curtius und dazu Wentzlaff-Eggebert, Maurer und Naumann in DV 23 (1949) 252 ff.. Im übrigen bedeutet Geistesgeschichte im Bereich der Literatur nicht nur angewandte Philosophie - oder Weltanschauungsgeschichte. Zeitgeist, Lokalgeist, Volksgeist usw. sind, wenn sie nicht als fragwürdige Hypostasierungen aufgefaßt werden, im Grunde ja nichts anderes als der gedanklich gefaßte Stil eines größeren literarischen Zusammenhangs.

  Gerade für Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte6Vgl. u. a. auch Gerhard Fricke, Geschichte der deutschen Dichtung, Tübingen 1949. Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1949. Helmut de Boor und Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (9 Bände geplant), München 1949 ff. hat sich der geistesgeschichtliche Blickpunkt als immer noch fruchtbar erwiesen. Ein Beispiel dafür ist wohl auch Günther Mül - lers7Günther Müller, Geschichte der deutschen Seele. Freiburg i. B. 1939. Geschichte der deutschen Seele trotz ihrem Titel und trotzdem149 ihr Verfasser selbst sich inzwischen den Gedanken literarischer Morphologie verpflichtet hat. Die deutsche Seele ist der Held, man könnte auch sagen: es sei der (faustische) Geist , der hier, vom Standpunkt eines christlich-humanistischen Menschenbildes, in seinen sucherischen Ausprägungen von der Gotik bis zur Romantik verfolgt wird, Seele freilich insofern, als die Entscheidungen nicht nur aus bewußter Einsicht gefällt werden, sondern auch auf den Vorentscheidungen des Lebensgefühls beruhen. In allen Wandlungen aber herrscht das Suchen nach einem letzten Sinn und Ziel , womit nicht nur die Literaturgeschichte über sich hinausweist auf die religiöse Frage, sondern die Geschichte selbst vornehmlich davon spricht, daß sie kein letztes ist. Der feste Blickpunkt hindert Müller nicht, ja scheint ihn gerade zu befähigen, mit imponierender Bereitschaft und Liebe auch das Gegensätzliche in seinen positiven Kräften zu ergreifen und aufs Ganze zu beziehen. Diese echte historiographische Haltung ist so alles andere als die farblose Vielseitigkeit eines unbeteiligten Zuschauers.

5. nationale, europäische, universale literatur

a) Allgemeines

Es stellt sich endlich die Frage, welches die maßgebenden literarischen Traditionszusammenhänge sind, ob die Einheit der Literaturgeschichte von der nationalen, der europäischen oder der menschlichen Gemeinschaft getragen wird. Eine jahrtausendalte geistig-literarische Tradition scheint heute dem Untergang geweiht. Auch das literarische Bewußtsein sieht sich in neuen, universal ausgeweiteten Horizonten. Europäische Literatur im engern, Weltliteratur im weitern Kreis wird Gegenstand historischer Besinnung und zugleich eines Entwurfs für die Zukunft wie jede echte historische Besinnung eine Kultursynthese (Troeltsch) für das Werdende bedeutet. Der nationale Rahmen der literarhistorischen Sicht wird unwesentlich oder in seiner Bedeutung relativiert. Toynbees Werk liefert etwa bei Curtius die Begründung, warum der eigentliche Geschichtskörper die europäisch-westliche Zivilisation und nicht die einzelne Nation ist. Ursprünglich war allerdings die Einheit einer europäischen Literatur undiskutierte Voraussetzung der nationalen Literaturgeschichte, die nur als individuelle Stimme im Konzert der Völker verstanden wurde. Erst nachdem der nationale Gedanke unter dem Einfluß der Politik und nicht zuletzt auch durch die Automatik eines nun einmal nach Nationalsprachen aufgeteilten Forschungs - und Lehrbetriebes ad absurdum geführt150 ist, wird universale1Jean Hankiss, Littérature universelle? Helicon I (1939), 156 ff. Literaturgeschichte wieder aktuell, auf allen Ebenen von einem neuen literarischen Kosmopolitismus des Literaturfreunds bis zu den konkreten Methodenproblemen der literarhistorischen Forschung. Absichten und Wege der universalen Literaturhistorie, die an sich nichts Neues ist, sondern seit Friedrich Schlegel, seit Goethe über eine ehrwürdige Tradition verfügt, waren allerdings je nach der geschichtlichen Situation verschieden. Der Begriff der Weltliteratur hat schon bei Goethe die verschiedensten Bedeutungen, und umgekehrt ist heute der nationale Gesichtspunkt durch seine Relativierung keineswegs entwertet. Schon die Einheit des Sprachraums bildet schwer übersteigbare Grenzen. Neue Nationalliteraturen bilden sich vor unsern Augen, und z. B. das Zusichkommen einer amerikanischen Literatur und ihres Selbstbewußtseins, wie es H. M. Jones2Howard M. Jones, The Theory of American Literature. London 1949. darstellt, ist sicher kein Vorgang, der bloß im Geist eines Nationalisten existiert. Selbst die Unterteilung der nationalen Literaturgeschichte in Stammes - oder Landschaftsgeschichte, die von Nadler ad absurdum geführt worden ist, behält ihren Sinn, solange sie wirkliche geschichtliche Einheiten meint3Reta Schmitz, Das Problem Volkstum und Dichtung bei Herder. Neue Forschungen. Bd. 31. Berlin 1937. Hugo Moser, Der Stammesgedanke im Schrifttum der Romantik und bei Ludwig Uhland. (In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Tübingen 1948.). Aber es ist zweifellos legitim, wenn heute im Spiel der sich überlagernden und überformenden Literaturen der Blick nach der höchsten Einheit, nach einer europäischen oder mondialen Literatur gerichtet wird. Gegenstand und Methoden einer entsprechenden Wissenschaft abzugrenzen, ist nicht leicht und bis heute in ganz verschiedenen Weisen versucht worden. Weltliteraturwissenschaft, bzw. vergleichende Literaturwissenschaft erscheint in mancherlei Gestalt: als Hilfswissenschaft nationaler Literarhistorien oder als internationale Enzyklopädik der nationalen Literarhistorien oder als übernationale Wissenschaft eigenen und höheren Charakters. Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle der Kritik, sofern sie in lebendigem Umgang mit der Gegenwartsliteratur als Tageskritik oder Essayistik4Als Beispiel seien die Essaysammlungen Max Rychners genannt: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, Zürich 1943. Zeitgenössische Literatur, Charakteristiken und Kritiken, Zürich 1947. Welt im Wort, Zürich 1949. immer wieder zur Sichtung und Diskussion des weltliterarischen Erbes gelangt und im günstigen Fall eine Art weltliterarischen Gewissens entwickelt.

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  Eine ausgezeichnete Charakteristik der Situation von heute und ein Arbeitsprogramm bietet Werner Milch1Werner Milch, Europäische Literaturgeschichte. Ein Arbeitsprogramm. (Schriftenreihe der europäischen Akademie 4, Wiesbaden 1949.). Den Sinn des weltliterarischen Gedankens und seine Realität bei Goethe behandelt umfassend Fritz Strich2Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur. Bern 1946.. Die diesen Forschungsaufgaben gewidmeten Zeitschriften3Revue de littérature comparée. Paris 1921 ff. Comparative Literature Studies. Cahiers de littérature comparée. ed Marcel Chicoteau. Liverpool 1940 bis 1946. Comparative Literature. ed. Chandler C. Beall. Oregon 1949 ff. waren nicht immer, mit Ausnahme der ehrwürdigen Gründung Ferdinand Baldenspergers, vom Glück verfolgt, z. T. allerdings auch nur, weil vergleichende Forschungen auch in anderen Organen der nationalen Literaturwissenschaften laufend erschienen. Was es schließlich bedeutet, Weltliteratur in großen Traditionen, in ihren klassischen Werken, ihren Quellgebieten und ihren Ausstrahlungen realiter zu versammeln und zu ordnen, das zeigt der Bericht über die großartige Privatsammlung, die Martin Bodmer4Martin Bodmer, Eine Bibliothek der Weltliteratur. Zürich 1947. als Monument und Forschungsinstrument der weltliterarischen Besinnung geschaffen hat.

  Das Bedürfnis nach umfassender Überschau der Möglichkeiten und nach programmatischer Abgrenzung des Arbeitsgebietes einerseits, auf der andern Seite die Notwendigkeit, die Ergebnisse der nationalen Literaturwissenschaften zu benützen diese beiden Motive führen zu Enzyklopädien, Bibliographien, Lexika5Dizionario letterario Bompiani delle opere e dei personaggi di tutti i tempi e di tutte le letterature. 9 Vol. (I: Movimenti spirituali. Opere A B; II VII: Opere C Z; VIII: Personaggi. IX: Indici. Milano 1947 1950). Die Weltliteratur. Biographisches, literarisches und bibliographisches Lexikon in Übersichten und Stichwörtern. Herausgegeben von K. Frauwallner, H. Giebisch und E. Heinzel. 2 Bände. Wien 1950 ff. H. Kindermann (!) und M. Dietrich, Lexikon der Weltliteratur. Wien und Stuttgart 1950. O. Oberholzer, Kleines Lexikon der Weltliteratur. Bern 1946. als wichtigen Voraussetzungen einer z. T. erst aufzubauenden weltumspannenden Wissenschaft.

  In diesem Sinn ist die monumentale Bibliography of Comparative Literature von Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich6Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich, Bibliography of Comparative Literature. Chapel Hill 1950. nicht nur ein bibliographisches Sammelwerk, eine großartige Ernte, sondern auch ein Programm und auf jeden Fall ein fortan unentbehrliches Hilfsmittel. 152Die Auswahl und übersichtliche Ordnung eines so ungeheuren bibliographischen Materials von 33000 Titeln ist ein Problem, das kaum je befriedigend zu lösen sein wird. Unter dem Titel Generalities, Intermediaries, Thematology, Literary Genres ist vorausgenommen, was zur komparatistischen Prinzipienlehre und darüber hinaus z. T. zur allgemeinen Literaturwissenschaft gehört. Ein zweites Buch behandelt die Quellgebiete der europäischen Literatur (Antike, Orient usw. ) in ihren Wirkungen auf die spätere Zeit; ein kurzes drittes Buch Aspects of Western Culture gilt der abendländischen Literatur seit dem Mittelalter in ihren Hauptströmungen, Epochen und den Beziehungen zwischen den nationalen Komplexen, ein viertes Buch The Modern World den Einflüssen der einzelnen Nationalliteraturen vom Keltischen bis zum Slavischen auf die neuere Literatur. Buch zwei und vier fragen also nach den emitters von Einflüssen, wogegen das zentrale Buch drei eine Gliederung des europäischen Gefüges nach nationalen Komplexen, Epochen und geistigen Mächten selbst bietet. Auch wenn so die eigentliche Frage des Komparatismus, d. h. die Frage nach den gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten, nach der europäischen Einheit als Beziehungsnetz zwischen emitters und receivers , im Vordergrund steht und damit ausdrücklich die Erforschung der Nationalliteraturen die Basis aller Literaturforschung bleibt, führt das Werk doch auch wieder darüber hinaus in die Probleme der Poetik und einer weiteren Weltliteraturwissenschaft.

  Eine systematische Einführung in die Probleme der Weltliteraturwissenschaft will Albert Guerards Buch1Albert Guérard, Preface to World Literature. New York 1940. geben, das im Prinzipiellen ähnlich umfassend ist wie Friederichs Bibliographie. Es betont die Einheit der Literatur auf Grund der Einheit des Menschlichen: Literature should be taught as Literature in English, not as English Literature . Weltliteratur erscheint als die Einheit des wahrhaft Lebendigen, nicht als die bloße Gesamtheit ( universal literature ) aller Literaturen und Werke. Jene einheitliche Weltliteratur aber gliedert er nach ihren verschiedenen tendencies (d. h. nach den Typen Klassik und Romantik, Realismus und Symbolismus), nach den Gattungen und schließlich nach den Perioden. Damit interessieren ihn weniger die Probleme der zwischenliterarischen Beziehungen ( comparative literature ) als die Prinzipien von Poetik und Historik, die er general literature nennt; vor allem die Poetik wird hier zum Hauptgebiet der Weltliteraturwissenschaft. Dem gegenüber scheint uns die prinzipielle Trennung von Poetik und Weltliteraturwissenschaft, wie wir sie im Vorstehenden durchgeführt haben, richtiger und klarer zu sein; Weltliteratur ist für uns eine dynamische, geschichtliche Größe, im Gegensatz zu153 dem Phänomen der Dichtung an sich, wie es die Poetik studiert. Sie erscheint damit hier als Gegenstand der Literarhistorie; ihre zwei wichtigsten Konzeptionen sollen im Folgenden umrissen werden.

b) Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft

Was kann europäische Literatur , Weltliteratur bedeuten? Zwei gegensätzliche, aber gleich oberflächliche Möglichkeiten der Auffassung bestehen zunächst darin, sie entweder als Summe aller nationalen Einzelliteraturen zu nehmen oder in ihr die engste Auswahl der ganz großen, der zeitlosen weltliterarischen Klassiker zu sehen. Jene additive Methode beherrscht die der reinen Stoffvermittlung dienenden Handbücher, besonders wo es darum geht, eine Mehrzahl von Darstellungen von verschiedenen Bearbeitern durch Buchbindersynthese zu einer Geschichte der Weltliteratur zu vereinigen. Eppelsheimers1Hanns W. Eppelsheimer, Handbuch der Weltliteratur. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1947 und 1950. bewährtes Handbuch befriedigt insofern höhere Ansprüche, als es bei aller Beschränkung auf Sammlung und Ordnung des Materials und auf einen praktischen Zweck klug und umsichtig wählt und in ausgezeichneten Stichworten charakterisiert, und als es die abendländischen Literaturen nach den gemeinsamen Epochen ordnet, also die Einheit des literarischen Europa in der Abfolge seiner Stile darzustellen versucht. Shipleys Enzyklopädie2Encyclopedia of Literature. Edited by Joseph T. Shipley. 2 vols. New York 1946. ist dagegen eine bloße Sammlung alphabetisch geordneter Abhandlungen über die verschiedenen Literaturen und von kleinen biographischen Artikeln.

  Es gibt aber auch die Konzeption der Weltliteratur als des Pantheons der großen Werke und Dichter, die über ihre Zeit und ihren Raum hinausragen und sich in der menschlichen Allgemeingültigkeit über alle Entfernungen die Hand reichen, ja sich erst gegenseitig erläutern. Nur wer Hafis liebt und kennt, weiß was Calderon gesungen. So sind auch moderne Darstellungen nicht selten, in denen über alle geschichtlichen Bedingungen hinweg Stifter aus Eckhart, Horaz aus Mallarmé und Aristophanes aus Heinrich Heine erläutert werden. In großem Stil, in bewußt dichterischer Vogelschau faßt auch der ungarische Schriftsteller Michael Babits die Weltliteratur als die Literatur des Menschen als solchen , in aristokratischem Begriff , und sucht in ihr die gemeinsame Währung des Geistes , immer bestrebt, durch die überraschendsten Querverbindungen diese Geschichtslosigkeit zu154 erzielen (auch wenn die Gesamtdisposition auf die zeitliche Ordnung nicht verzichten kann). Es ist nicht schwer und wurde schon oben in bezug auf Croce und Mahrholz versucht, die Fragwürdigkeit dieses Begriffs der Überzeitlichkeit der Dichtung zu zeigen. Es ist offensichtlich unzulässig, den geschichtlichen Wandel in der Bewertung gerade großer Geister zu übersehen und Geschichte nur als Oberflächenerscheinung zu fassen. Bleibt jene summierende Methode in ihrer Stofflichkeit diesseits der Geschichte, so wird sie hier übersprungen. Praktisch werden allerdings die Versuche, in einheitlicher Darstellung eine Synthese der europäischen oder universalen Literaturgeschichte zu geben, schlechte und rechte Kompromisse von persönlicher Höhenschau und kompilatorischer Chronik sein müssen. Bedenkt man die schon in der Disposition von Baldenspergers Bibliographie angedeutete Vieldimensionalität des weltliterarischen Problems und die jedes Bewußtsein übersteigende Breite und Tiefe des Gegenstandes, so wird man jeder Weltliteraturgeschichte skeptisch gegenübertreten. Wenn solche Werke heute in größerer Zahl erscheinen, so wird man sie als zwar notwendige, aber auch notwendig beschränkte und methodisch wenig ergiebige Versuche gelten lassen müssen. Wir beschränken uns darauf, unten einige Beispiele anzuführen1Michael Babits, Geschichte der europäischen Literatur. Aus dem Ungarischen. Zürich-Wien 1949. Robert Lavalette, Literaturgeschichte der Welt. Zürich 1948. Laurie Magnus, A History of European Literature. London 1945. Paul van Tieghem, Histoire littéraire de l'Europe et de l'Amérique de la Renaissance à nos jours. 2e édition Paris 1946. Nicolas Ségur, Histoire de la littérature européenne. 5 vols. Neuchâtel-Paris 1948 ff..

  Innerhalb der methodisch uneinheitlichen weltliterarischen Forschung tritt nun seit langem eine der historischen Schule verpflichtete Richtung mit bestimmter Zielsetzung hervor. Die vergleichende Literaturwissenschaft , der Komparatismus ist zwar mindestens unter diesem Titel in Deutschland wenig eingebürgert, trotz der schon früh begründeten Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte Max Kochs. Frankreich und auch die Schweiz haben hier eine stärkere Tradition (Louis P. Betz, Ferdinand Baldensperger, Paul van Tieg - hem, Fritz Ernst). Und vor allem in den Vereinigten Staaten findet heute der Komparatismus günstige Voraussetzungen2Werner P. Friederich, Comparative Literature in the United States. (Actes du 4e Congrès international d'histoire littérare moderne, Paris 1948, 45 ff. ) Vgl. Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte. Herausgegeben von Kurt Wais. Tübingen 1951.. Wie der Name schon andeutet, sind die national ausgeprägten literarischen Traditionen vorausgesetzt; weniger die Einheit der Erscheinungen als die zwischen den Literaturen waltenden Verhältnisse und Einflüsse werden studiert. In diesem155 Sinne unterscheidet van Tieghem1Paul van Tieghem, La littérature comparée (1931) 3e édition Paris 1946., der Verfasser zahlreicher prinzipieller oder angewandter Darstellungen komparatistischer Methode, diese littérature comparée von einer littérature générale, wie es ähnlich auch Albert Guérard2Albert Guérard, Preface to World Literature. New York 1940. tut. van Tieghems Répertoire chronologique3Répertoire chronologique des littératures modernes, publié par la Commission Internationale d'Histoire littéraire moderne sous la direction de Paul van Tieghem. Paris 1937. gibt eine Art Koordinatennetz in Form der Zusammenstellung der in jedem Jahr erschienenen wichtigsten Dichtungen als Grundlage des von der Forschung zu errichtenden Beziehungssystems. Es handelt sich im wesentlichen um ein durch zahllose Einzeluntersuchungen aufzudeckendes Spiel von émetteurs, récepteurs, transmetteurs , aus welchem eine allfällige höhere Einheit erst hervorgeht. Es ist hier auch Platz für ein Vergleichen, das nicht Kausalbeziehungen, sondern die Verschiedenartigkeit der stilistischen Physiognomie an geeigneten Gegenstücken herausarbeitet. So kann etwa im Bereich der höfischen Dichtung des Mittelalters die deutsche Bearbeitung und das französische Vorbild verglichen werden4K. H. Halbach, Franzosentum und Deutschtum in höfischer Dichtung des Staufenzeitalters. Berlin 1939. Elisabeth Köchlin, Wesenszüge des deutschen und des französischen Volksmärchens. (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 4.) Basel 1945. Bodo Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen. 2 Bände. Münster i. W. 1936 und 1943., wobei dann allerdings unter Umständen nicht das europäische, sondern das nationalistische Interesse wieder überwiegt. Vergleichende Literaturwissenschaft kann die verschiedenen Einzelaspekte betreffen, d. h. motivisch-stoffliche, formale, gedankliche Beziehungen herausarbeiten. Sie kann auch dem europäischen Beziehungsfeld eines Werkes, einer dichterischen Persönlichkeit5Ein bedeutendes Beispiel etwa Werner P. Friederich, Dantes Fame abroad 1350 1850. Roma 1950., eines Landes6H. Tiemann, Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance bis zur Romantik. (Ibero-Amerikanische Studien 6) Hamburg 1936. nach allen Seiten gelten. Wir bewegen uns hier meist im Feld von Vorarbeiten, Beiträgen, Spezialuntersuchungen, die in verschiedenster Weise für ein weiteres Gesamtbild verwertbar sind. Bewußtsein und Wille des Europäismus findet aber seinen lebendigsten Ausdruck in einer allseitig Beziehung schaffenden Kunst des Essays, wie sie aus schweizerischer Tradition heraus wohl Fritz Ernst7Fritz Ernst, Essays. 3 Bände. Zürich 1946. Ders., Helvetia mediatrix. 2. Auflage. Zürich 1945. am schönsten und fruchtbarsten pflegt; methodisch156 orientiert sich Ernst am konkret untersuchbaren Thema der Übersetzung (von Einzelwerken oder von ganzen Zeitaltern in andere); das komparatistische Problem des Zusammenlebens von Sprachen und Literaturen und dabei des Aufgehens einer Vielheitlichkeit in eine Einheit stellt sich dann in konzentrischen Kreisen dar, die für den schweizerischen Betrachter Helvetismus, Europäismus, Kosmopolitismus heißen1Fritz Ernst, One World. Hesperia 2 (1950). und an Themata wie Wilhelm Tell oder Heimweh durchmessen werden können2Fritz Ernst, Wilhelm Tell, Blätter aus seiner Ruhmesgeschichte. Zürich 1936. Vom Heimweh. Zürich 1949..

  Das Problem einer umgreifenden Einheit der europäischen oder mondialen Literatur wird aber am aktuellsten dort, wo diese nicht nur als kosmopolitisches Gespräch und gemeinsame Geisterluft erscheint, sondern wo nach ihrer eigentlichen Substanz, nach einer dauernden Einheit ihres Ausdruckssystems gefragt wird. Gibt es die substantielle Geschichte einer einen und unteilbaren europäischen Literatur? Hier macht das monumentale Buch von Ernst Robert Curtius einen entscheidenden Vorstoß, der nicht nur für das Problem einer europäischen Literatur Neuland eröffnet, sondern zugleich die Methoden bisheriger Forschung in Frage stellt.

c) Die Einheit der literarischen Tradition

Die moderne Literaturwissenschaft d. h. die der letzten fünfzig Jahre ist ein Phantom , so lautet die Ausgangsthese des Werks von Ernst Robert Curtius3Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948. Für die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts kommen hinzu: Kritische Essays zur europäischen Literatur. Bern 1950., das seine volle Bedeutung in der Tat nur auf dem Hintergrund der Methodenkrisen dieser Wissenschaft gewinnt. Mit unverblümtem Hohn wird der bisherigen Literaturwissenschaft die Gefolgschaft aufgekündigt, und zwar allen Richtungen. Die Wesensschau der Stilkritik, die dilettantische Vernebelung von Sachverhalten durch die fragwürdigen Anleihen bei der Kunstwissenschaft, der Konstruktivismus der bei der Philosophie in die Schule gehenden Geistesgeschichte , die Inspiration bei der Soziologie oder Psychologie alles wird abgelehnt, um der Literaturhistorie ihren legitimen Gegenstand, d. h. die europäische Literatur, wiederzugeben und diesen mit einer exakten , philologischen und dem eigenen Wesen der Literatur adäquaten Methode zu bestimmen. Diese europäische Li -157 teratur ist nicht einfach die Summe der nationalen Literaturen, sie ist auch nicht die virtuelle, über den nationalen Literaturen schwebende Idee Europas, wie sie die vergleichende Literaturwissenschaft als Gespräch und Beziehung zwischen den verschiedenen nationalen Ausprägungen verfolgt, sie ist vielmehr die eine und konkrete, exakt nachweisbare Einheit, ein wirklicher literarischer Geschichtskörper . Europäische Literatur tritt damit stärker als bisher als fest umrissener Gegenstand der vagen Gesamtheit der Weltliteratur gegenüber. Es ist die von Homer bis Hofmannsthal real und ausschließlich gesprochene künstlerische Sprache, deren bestimmtes symbolisches Zeichensystem Curtius aufzuzeigen versucht. Den Schlüssel zu diesem traditionellen Ausdruckssystem findet er nun in der mittellateinischen Literatur, in der wie in einem Sammelbecken die antike Tradition zusammenkommt und aus der dann, neben erneuten direkten Zuflüssen aus der Antike, die abendländischen Literaturen bis zur neueren Zeit hinab gespeist werden. Diese durchgehende antik-abendländische Konstanz aber läßt sich nun nach Curtius exakt bestimmen und verfolgen.

  Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik aus Formen und Formeln dar und bildet den unentbehrlichen Anhalt, an dem sich poetische Substanz erst kristallisieren kann. Curtius entwickelt dieses Formelbuch als eine Art Rhetorica nova er sammelt einen bestimmten Bestand rhetorischer Form - und Motivelemente, sog. Topoi (z. B. die Typik des Helden und Herrschers oder des Naturbildes, die Schauspiel - oder die Buchmetapher, die Devotions -, Exordial - und Schlußtopik des literarischen Werks). Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen vornehmen und verächtlichen Traditionselementen, denn sie gehören alle zum System. Die Tradition dieser Formen ist nun auf verschiedene Weise gewährleistet. Am wichtigsten ist die Bindung an das Bildungswesen, wie es vor allem in der mittelalterlichen Schule mit ihrem eigentümlichen Unterricht in der literarischen Kunst zu verfolgen ist; es gibt die bloße Nachahmung und die produktive Weiterbildung; es gibt die revoltierende Auseinandersetzung oder ein apathisches Verhalten; es gibt den unmittelbaren Anschluß oder das Rückgreifen auf entlegene Bestände zurückliegender Jahrhunderte. Curtius wirft so den Gedanken einer Morphologie der Tradition als Forschungsaufgabe auf. Je nach der Differenzierung der Traditionsart ergeben sich Gliederungen des literaturgeschichtlichen Zusammenhangs.

  Es ist eine großartige Lektion, die Curtius damit einer neuen Literarhistorie auf den Weg gibt. Die Frage ist, wie weit sie wirklich trägt. Zwei Punkte bedürfen der Diskussion: erstens das Problem des Schöpferischen , Ursprünglichen und seines Eingreifens in den Traditionszusammenhang und zweitens die Frage, ob dieser Traditionszusammenhang materiell ausreichend bestimmt ist.

158

  Auch Curtius betont, am deutlichsten bei der Betrachtung Dantes, daß nur die schöpferischen Geister zählen , ja man ist verwundert, wenn vom Petrarkismus, einer beherrschenden Sprache abendländischer Lyrik, zweimal gesagt wird, sie habe sich wie eine Pest durch Europa ausgebreitet. In einem Schlußkapitel über Nachahmung und Schöpfung wird der einzige Pseudo-Longin gegen zwei Jahrtausende herrschender Nachahmungslehre ausgespielt. Curtius scheint also seine exakte, topologische Literarhistorie zu beschränken auf die Darstellung des Zettels der Tradition, der erst zusammen mit dem schöpferischen Einschlag zum Gewebe der Literatur würde. Das wird in der polemischen Haltung Curtius 'weitgehend wieder verdrängt, denn es wäre damit zugegeben, daß es vielleicht noch mehr als auf die Konstanz des Topos auf die je aus eigener Mitte lebende, ursprüngliche Kraft ankommt. Nicht nur insofern, als die europäische Literaturgeschichte nicht aus der mittellateinischen Literatur abgeleitet werden kann, diese vielmehr nur ein Element der Auseinandersetzung mit andern Welten ist, sondern vor allem insofern, als es bei jeder einzelnen künstlerischen Äußerung die Ursprungsfrage neu zu stellen gilt: der Topos ist nichts Konstantes, sondern hat in jedem Werk wieder anderen Stellenwert, geht in ein Neues und Ursprüngliches ein. Mit den Ausdruckskonstanten sind weder die Werke allein noch die Literaturen genügend bestimmt; so wirken auch die Sammlungen von Curtius oft als etwas äußerliche Zusammenstellungen.

  Es sind zwar nicht alles nur Topoi, worauf Curtius sein Augenmerk richtet: die Grenze zum Motiv, zur allgemeinen Vorstellungswelt, zur Stiltypologie ist fließend, ja es werden selbst die Jungschen Archetypen herangezogen. So ist anzunehmen, daß ein literaturgeschichtlicher Zusammenhang, auch im bloßen Sinn der Konstanten , vielleicht nicht in erster Linie nur die Topen betrifft, sondern an sich von jedem Element der poetischen Struktur aus verfolgt werden kann und muß. Es macht ja das komplizierte und komplexe Wesen jedes literaturgeschichtlichen Verlaufes aus, daß wir hier nicht nur ganze Werke in historische Reihen ordnen, sondern daß es die Geschichte auch der einzelnen Aspekte gibt: Versgeschichte, Problemgeschichte, Artgeschichte usw. Die Kurven, die von der Geschichte dieser einzelnen Aspekte beschrieben werden, brauchen durchaus nicht analog zu sein, sie können voneinander abweichen, verschiedene Wellenlängen haben, Spannungen, Interferenzen aller Art aufweisen auch wenn es das Ziel der umfassenden Literaturgeschichte bleiben wird, die Kurven aufeinander zu beziehen und zu integrieren.

  Das zeigt sich ganz besonders, wo die auffälligen Konstanten einer europäischen Literatur mit den individuell-variierenden Ausprägungen der nationalen Literaturen zusammenzusehen sind. Der Satz durch die Romania und ihre Ausstrahlungen hat das Abendland die lateinische Schulung159 empfangen kann jedenfalls Zusammenhang und Gegenspiel der Nationalliteraturen nicht erschöpfend charakterisieren. So wie es innerhalb des Mittellateinischen biblisch-christliche Konstanten gibt, die bei Curtius neben den antiken wohl etwas zu kurz kommen, muß es auch von Anfang an die nationalsprachlichen geben. Die germanischen Literaturen erscheinen bei Curtius nur in ihrer Abhängigkeit vom Romanisch-Lateinischen, die Germanistik nur im polemischen Zusammenhang. Nationalsprachlich mindestens teilweise bedingte gemeineuropäische Welten wie die der höfischritterlichen Literatur sind vom Mittellatein aus kaum verstehbar. Geschichtsschreibung bedeutet auch im Zusammenhang der europäischen Literatur ein Zusammensehen von Konstanz und Wechsel, ein Achten auf den wechselnden Stellenwert der Konstanten, ein Sehen der dramatischen Auseinandersetzungen und immer neuen Kombinationen der unter sich oft antagonistischen Traditionen oder individuellen Schöpfungen: vor allem im Hinblick auf die Spannung zwischen christlicher und antiker, zwischen universaler und nationaler Welt. Es genügt z. B. nicht, im Nibelungenlied französische Quellen zu entdecken und es damit ans Romanisch-Mittellateinische anzuschließen; die Tradition des germanischen Heldenliedes ist selber als Mit - oder Gegenwirkung zum europäischen Geschehen einzusetzen. Das richtet sich freilich weniger gegen Curtius, dessen Interessen topologisch und bewußt einseitig sind, als gegen falsche Konsequenzen, die seine Darstellung gelegentlich nahelegt.

  Es ist das große Verdienst dieses monumentalen Werkes, daß die Frage der literarischen Tradition und ihrer Formen als Kernproblem jeder Historik der Literatur wieder gestellt worden ist. Im ganzen kann dieses Traditionsgeschehen auch aufgefaßt werden als eine beständige Modifikation der Welt der Dichtung und ihres Selbstverständnisses überhaupt (so spricht C. Brooks in seiner Untersuchung moderner Lyrik1Cleanth Brooks, Modern Poetry and the Tradition. London 1948. nach ihrem Verhältnis zur Tradition von der total conception of poetry , die durch jeden Dichter mehr oder weniger geändert wird, in oberflächlicheren oder grundlegenden Verschiebungen).

  So wird die Synthese einer europäischen Traditionseinheit alle Ebenen und alle Aspekte berücksichtigen müssen. Dabei kann unter Umständen auch des Vorgehen nationaler Literaturwissenschaften Anregungen geben. Wir denken etwa an Andreas Heuslers2Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung. 2. Ausgabe. Potsdam 1941. methodisch glänzende Darstellung der germanischen Literatur mit ihrer Unterscheidung von Urgermanischem (zeitlich und ursprünglich Gemeinsames), Gemeingermanischem (auch nachträglich Gemeinsames) und Altgermanischem (gegenüber antiker oder160 christlicher Literatur); was Heusler unter diesem letzten und weitesten Begriff durch die Abgrenzung von bestimmten Form - und Gattungsgeschlechtern darstellt, ist nur noch in einem Kern die Literatur eines sozial und zeitlich zusammenhängenden Trägers. Analog könnte man einen ureuropäischen Kern, eine gemeineuropäische Literatur als nachträglich sich in Europa entwickelnden Zusammenhang (d. i. der Gegenstand des Komparatismus) und eine alteuropäische Literatur als Gesamtheit der auch unter sich u. U. nicht verbundenen, aber aus gemeinsamem Geist erwachsenen Literatur unterscheiden.

  Das Ureuropäische ließe sich letzten Endes noch in die Vorgeschichte zurückverfolgen, so wie es Baesecke1Georg Baesecke, Vor - und Frühgeschichte des deutschen Schrifttums. I. Halle 1940. kaum im Sinne des nur den geprägten Formgebilden zugewandten Andreas Heusler für das Germanische getan hat. Ein erstaunliches Material zu der Vor - und Frühgeschichte nicht nur der europäischen Literatur (im ersten Band), sondern der Literatur überhaupt hat das Ehepaar Chadwick2H. M. and N. K. Chadwick, The Growth of Literature. 3 vols. Cambridge 1932 1940. in seinem imposanten Werk zusammengetragen, um das Wachstum literarischer Urformen im Zusammenhang primitiver Kultur vergleichend deutlich zu machen. Doch bleibt es im wesentlichen bei der Feststellung bestimmter Typen der mündlichen Literatur. Aber es ist ja kaum die Reduktion auf die Volkskunde, die uns hier interessiert, Europa und seine Literatur sind eminent geschichtliche Größen. Ein Letztes wird, wie das ja auch bei Curtius deutlich wird, immer die Auseinandersetzung antiker, christlicher und nationaler Erbschaften bleiben.

  In diesem Sinne können auch als Ergänzung zu Curtius die beiden schon genannten Werke Bezzolas (vgl. S. 148) und Auerbachs (vgl. S. 65 f.) gelten. Auch Bezzolas großangelegte Darstellung der höfischen Tradition des Mittelalters verfolgt eine Konstante, versucht eine Brücke von der Antike zu der ersten abendländischen , nationalsprachlichen Literaturblüte des Hochmittelalters zu schlagen. Aber es geschieht im Nachweis zugleich der inneren Dialektik zwischen antiken und christlichen, geistlichen und feudalen Kräften, wie sie zu immer neuen Lösungen und Synthesen führt. Auch Bezzolas historisch-soziologisch orientierte Längsschnitte erfassen nicht die gesamte Literatur, aber sie ebnen das literarische Leben auch nicht ein auf ein konstantes System. Auerbach lehnt es zwar ab, eine Literaturgeschichte zu schreiben, aber die chronologische Reihung seiner synchronistischen Interpretationen und ihre Unterordnung unter gleichbleidende Gesichtspunkte ergeben doch eine geschichtliche Sukzession. Die stilkritische Methode bringt161 es höchstens mit sich, daß die Grundthese der Gegensatz antik stiltrennender und christlich stilmischender Traditionen in der dichterischen Begegnung mit der Wirklichkeit in ihrer Allgemeinheit formelhaft und unbestimmt bleiben muß, d. h. solang sie nicht kontinuierlich im geschichtlichen Verlauf verfolgt wird.

  In den zuletzt besprochenen Werken wird jedenfalls deutlich, daß in einer neuen Konzeption und Anwendung des historischen Gedankens ein eigentliches Gebot der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Situation liegt. Freilich: eine europäische Literaturgeschichte auf breiter Front und in vollständiger, geschlossener Sicht zu schreiben, wird sich heute kaum jemand vermessen dürfen. Doch kommt es nicht auf äußere Fülle und Vollständigkeit an. Eine europäische Literarhistorie wird sich nicht durch umfassende, abgeschlossene Resultate legitimieren müssen, sondern durch die Einheit, Entschiedenheit und Beweglichkeit ihres Bewußtseins.

  Das gilt für die im Vorstehenden geschilderte Arbeit der Allgemeinen Literaturwissenschaft überhaupt: die Synthese liegt nicht im Summieren und Systematisieren einer fast uferlosen Masse von Gesichtspunkten und Erkenntnissen, sondern in einer Gesinnung, die das dichterisch Menschliche als Erbe und als Ursprung festhält und damit in jedem Einzelnen, das sie ergreift, ein Ganzes faßt.

E162163

REGISTER

I. SACHEN

Aesthetik 41 ff.

Alexandriner 100

Archetypus (Text) 34 f.

Archetypus (psychol. ) 122 f.

Aspekte 48, 56, 71 f., 93 ff., 145

Ausdruck 52, 58, 69

Ballade 79

Barock 44, 139, 141, 144 f.

Bibliographie 7 f., 29, 151 f.

Bild 103, 122 f.

Biographie s. Dichter

Chronologie 134, 136, 155, 160

Criticism, new 22

Dichter, Dichterbiographie 31, 114 ff., 135

Distichon 79

Drama, Dramatik 74 ff., 84 ff.

Editionstechnik 33 ff.

Einbildungskraft, Phantasie 11, 17, 44 f., 62, 101 f.

Elegie 79 f.

Epik 75 f., 80 ff.

Epoche s. Periodisierung

Epos 81

Erlebnis 13, 29, 40, 42 f., 114

Erzählung 74 f., 84

Essai 150, 155 f.

Europäische Literatur 24, 65 f., 150 ff.

Existentialismus 10 ff., 16 ff., 20 f., 133, 137

Existenz 61, 70, 117 f., 133

Expressionismus 11 f., 14

Fabel , Geschehen, Vorgang 83, 102 f.

Figuren 102

Form 59 f., 66 f., 93 f., 137 innere 74

Ganzheit 54 f., 57, 67 ff.

Gattung, Art, Klasse, Genre (vgl. Typologie) 64, 71 ff., 145 f.

Gedanke (Sinn, Problem) 64 f., 106 f.

Geistesgeschichte 13 f., 24 ff., 40, 51, 132, 147 ff.

Generation s. Periodisierung

Gesellschaft 92, 126 f., 135

Gestalt 67 ff., 93 f., 138

Größe 109 ff.

Handschriftenstammbaum 34 ff.

Historie (Literarhistorie, Geschichtlichkeit) 4, 24 f., 77, 105, 113, 115, 132 ff.

Humor 87 ff., 92 ff.

Hymnus 79

Idee (vgl. Gedanke) 94 f., 106, 114

Idealismus 9 f., 13 f.

Individualität 64 f.

Inhalt 54, 59 f., 93 f.

Innerlichkeit 78

Klassik 142

Komik, Komödie 85 ff., 91 ff.

Komparatismus 151 ff.

Kritik 22 f., 27 ff., 109, 129, 150

Kulturphilosophie 124 ff.

Kunstgeschichte 15, 43 f., 58, 143 f.

Kunstpsychologie 43

Kunstwissenschaft, vergleichende Geschichte der Künste 43 ff., 143 f.

Laut, Lautsymbolik 48, 95 ff.

Lebenswissenschaft 11, 20

Lexika 28 ff., 151

Lied, 75, 78 f.

Literatur, Pseudoliteratur 45, 51 f., 115, 133, 135 f.

Literaturgeschichte s. Historie

Literaturwissenschaft

Allgemeine 4

allgemeine Entwicklung 9 ff.

angelsächsische 21 ff., 27 ff.

existentielle 14, 18, 20 f.

französische 23

italienische 23

volkhafte 18 ff., 120 f.

Gliederung 24 f.

Geschichte der Lw. 26, 30 ff.

Systematik der Lw. 25 ff.

Lw. und moderne Dichtung 11 ff.

Lyrik 61, 75 f., 77 ff., 96, 159

Märchen 65, 81, 83

Marxismus 14, 129 ff.

Metapher 103 f.

Methodologie 5, 25, 161

Metrik s. Vers

Mimus 85

Mittelalter 32, 36, 63 f., 85, 143

Morphologie (vgl. Gestalt) 16, 66 ff., 157

Motiv 104 f., 146 f.

Mystik 36, 111, 118, 148

Mythus 15, 84, 123

Nachahmung 66, 158

Nationalliteratur 24, 139, 149 ff., 155 ff.

Nihilismus 10, 12 f.

Novelle 82, 84

Ode 78 f.

Originalität 112 f., 157 f.

Periodisierung 139 ff.

Personalstil 116

Perspektive 43, 63 f.

Phänomenologie 10 f., 16

Philologie (vgl. Textkritik) 30 f.

Phonologie 95

Physiognomik 11

Poesie, absolute 12

Poetik 25 ff., 31 f., 40 ff., 152 f.

Problem, Problemgeschichte (vgl. Gedanke) 64 f.

Prosa (und Poesie) 51 ff., 98 ff.

Psychoanalyse, Psychologie s. Tiefenpsychologie

Publikum 127 f.

164

Quelle 105, 146

Raum 63 f.

Reim 99

Relativismus 13 f., 55 f., 110

Religion und Dichtung 66, 92, 111 f.

Rhetorik 53, 157 f.

Rhythmen, freie 98 f.

Rhythmus 96 f., 100 f.

Roman 82 ff., 87, 93, 130

Romantik 26, 44, 123

Rußland 28

Sage 81

Schallanalyse 48, 96

Schönheit, das Schöne 41 f., 110 ff.

Seelengeschichte 148 f.

Semantik 47 f., 51 f.

Sequenz 80

Sinneswelt 101

Soziologie der Literatur 123 ff.

Spiel 85 f., 126

Sprache, Sprachstil, Sprachstilistik 45 ff., 58

Sprachpsychologie 46 f.

Sprachsoziologie 124

Sprachstatistik 49 f.

Sprachwissenschaft 15, 45 ff.

Spruchdichtung 79

Stammesgeschichte 19, 150

Stil 42, 55, 57 ff., 115, 135 f.

Stilgeschichte 136 ff.

Stilkritik 16 f., 53 ff., 57 ff., 111

Stilmischung 66, 82, 110, 112

Stimmung 61

Stoff 104, 146 f.

Symbol 47 f., 69 ff., 94, 105, 121 ff., 125

Synaesthesie 101

Syntax 49 ff.

Textkritik 33 ff.

Theater 85

Tiefenpsychologie 10, 14, 71, 115, 119 ff.

Topos, Topik 104, 147, 157 ff.

Totenkult 12, 125

Tradition 24, 77, 135, 156 ff.

Tragik, Tragödie 85 ff. tragische Literaturgeschichte 119

Trauerspiel 90

Typologie, Typen (vgl. Gattung) 15, 62 ff., 66, 71 ff., 100 f., 121, 138, 141 f.

Vers (gebundene Form) 53, 97 ff.

Versgeschichte 146

Verstehen 60 f.

Volkskunde 120, 125, 128

Volkslied 37, 128

Vorgang s. Fabel

Vorstellungswelt 101 ff.

Welt 59 f., 62 ff., 148

Weltanschauung (vgl. Gedanke) 106 f., 109

Weltliteratur 24, 29 f., 144, 150 ff.

Werk (dichterisches Kunstwerk, Werkinterpretation) 42 f., 48, 53 ff., 59 ff.

Werkgeschichte 37 ff.

Wert, Wertung 52, 76, 107 ff., 142

Wirklichkeit 65 f.

Wirtschaftsgeschichte 127

Wort, Wortschatz, Wortfeld 49 f.

Zeit 61 ff., 75 f., 133 ff.

Zeitschriften 8, 21, 54, 151

Zyklus in der Lyrik 80.

165

II. NAMEN

Ackerknecht, E. 55

Aeschylus 85, 130

Alewyn, R. 21, 139

Anton Ulrich v. Braunschweig 102

Aristophanes 153

Aristoteles 88

Auerbach, E. 21, 54 f., 65 f., 82, 110, 112, 127, 160

Augstein, K. 12

Babits, M. 153 f.

Bachelard, G. 17, 23, 63, 101 f.

Baden, H. J. 90

Baesecke, G. 160

Baier, C. 7

Baker, H. 90

Baldensperger, F. 7, 151, 154

Bally, Ch. 15, 46

Baumgart, W. 147

Beall, Ch. C. 151

Beausire, P. 12

Beck, M. 143

Behrens, I. 73

Beißner, F. 38 f., 79, 97, 100

Bennet, E. K. 84

Benz, R. 44, 144

Berger, B. 83

Berger, K. 44

Beriger, L. 53, 70, 107 f.

Bergson, H. 41, 92

Berkenkopf, G. 92

Bertoni, G. 47

Bertram, E. 15

Betz, L. P. 154

Bezzola, R. R. 148, 160

Blackall, E. A. 23

Böckmann, P. 31, 74 f., 115, 137 f., 145

Bodkin, M. 120

Bodmer, M. 151

Boesch, B. 32, 145

Boeschenstein, H. 22

Bollnow, O. F. 13, 60 f., 137

Boor, H. de 148

Borcherdt, H. H. 83

Brändle, J. 78

Brendle, E. 90

Brentano, B. v. 117

Brentano, C. 33, 62

Brinkmann, D. 42

Brinkmann, H. 32

Brock, E. 17, 48

Brod, M. 37

Brooks, C. 159

Bruford, W. 127

Brüggemann, F. 120, 128

Brunner, O. 127

Burckhardt, J. 117

Burger, H. O. 54, 78

Burke, K. 125

Busch, E. 90

Busse, G. v. 19

Büttner, L. 121

Cassirer, E. 15

Castle, E. 80

Caudwell, Chr. 128, 130 f.

Cazamian, L. 69, 93

Cervantes 93

Chadwick, H. M. und N. K. 160

Chiavacci, G. 41

Chicoteau, M. 151

Clark, A. M. 99

Clemen, W. 104

Closs, A. 99

Corneille, P. 88

Courthope, W. J. 126

Croce, B. 23, 40 f., 47, 52, 58, 73, 133, 154

Curtius, E. R. 14 f., 32, 73, 104, 139, 142, 144, 147 ff., 156 ff.

Cysarz, H. 20, 52, 126, 139

Daiches, D. 28, 127

Dante 106, 111, 143, 147 f., 155, 158

Darwin, Ch. 22

Dehn, F. 20

Dessoir, M. 43

Dietrich, M. 151

Dilthey, W. 13 ff., 40, 60, 132, 137

Donohue, J. J. 73

Dragomirescu, M. 133

Dünninger, J. 31

Duval, M. 41

Ebisch, W. 127

Eckhart, Meister 36, 153

Ehrismann, G. 148

Eichendorff, J. v. 101

Eliot, T. S. 107, 111, 136

Elster, E. 25

Empson, W. 47

Emrich, W. 70, 105, 134, 138, 147

Engels, F. 130

Eppelsheimer, H. W. 7, 144, 153

Erbeling, E. 102

Ermatinger, E. 13, 16, 26, 44, 66 f., 69, 73, 87, 108, 114 f.

Ernst, F. 154 ff.

Ertle, M. 22

Erxleben, W. 13

Estève, C. -L. 12

Faesi, R. 83

Fairley, B. 23

Faral, E. 32

Fechter, W. 127

Fenz, E. 48

Ferré, A. 146

Fife, R. H. 9, 139

Fiser, E. 69

Flaubert, G. 111

Foerster, M. 141

Foerster, N. 22

Forster, E. M. 83

Francke, K. 126

Fränkel, J. 138

Frauwallner, K. 151

Frazer, J. G. 22, 125

Freud, S. 22, 121 f.

Frey, J. R. 82

Fricke, G. 20, 90, 104, 148

Friederich, W. P. 7, 151 f., 154 f.

Frings, Th. 128

Gaitanides, H. 49

Gebser, J. 43, 63

George, St. 15, 114, 116, 133

Gerson, J. 50

Geßner, S. 99

Getto, G. 23, 31

Giebisch, H. 151

Giedion, S. 63

Giraud, V. 115

Glunz, H. H. 32

Goethe, J. W. v. 33, 37, 49, 54, 62, 68 f., 73, 78, 90, 93, 105, 107, 109, 115, 117 f., 122, 126 f., 130 f., 135, 150 f.

Görland, A. 41

166

Gotthelf, J. 33, 106, 118, 128

Gove, Ph. B. 83

Greene, Th. M. 45

Greg, W. W. 35

Grimmelshausen, Ch. v. 128

Gryphius, A. 104

Guardini, R. 54

Guérard, A. L. 127, 152, 155

Gumbel, H. 50

Gundolf, F. 13, 15, 122, 130

Günther, J. Ch. 116

Günther, W. 12

Güttinger, F. 84, 92

Haecker, Th. 42, 112

Halbach, K. H. 142, 155

Hamann, J. G. 78

Hankamer, P. 117, 145

Hankiss, J. 102, 150

Harnisch, K. 101

Harsdörffer, G. Ph. 95

Hartl, E. 85

Hartmann von Aue 35

Hartmann, N. 16, 120, 136, 145

Hatfield, H. C. 8

Häusermann, H. W. 22

Hebbel, F. 90

Hederer, E. 111

Hegel, F. W. 10, 140

Heidegger, M. 16 f., 21, 59 ff., 76, 118, 133, 135

Heimeran, E. 128

Heimsoeth, H. 137

Heine, H. 153

Heinitz, W. 96

Heinse, W. 101

Heinzel, E. 151

Helbling, C. 38

Herder, J. G. 46, 58, 78, 101, 150

Hesiod 140, 142

Hesse, H. 12, 72, 120

Heusler, A. 15, 78, 97 f., 146, 159 f.

Hobbes, Th. 91

Hoffmann, E. Th. A. 101, 123

Hoffmann, F. J. 120

Hofmannsthal, H. v. 19, 157

Hohberg, W. H. v. 127

Hohlfeld, A. R. 49

Hölderlin, F. 12, 16, 33, 38 f., 51, 54, 97, 100 f., 130

Homer 76, 81, 157

Hoss, K. 121

Horaz 153

Howald, E. 12, 81, 88

Hübscher, A. 144

Huizinga, J. 126

Hyman, St. E. 22, 27 f., 48, 120 f., 125, 129 f.

Jachmann, G. 34

Jacobi J., 122

Jaeger, H. P., 51

Jaffé, A., 123

Janentzky, Chr. 91

Jaspers, K. 134

Ingarden, R. 16, 42, 59, 93 f.

Joel, K. 140

Jones, H. M. 150

Joos, M. 49

Joyce, J. 12, 103, 120

Jung, C. G. 14, 72, 103, 115, 121 ff.

Jünger, E. 10, 46, 95

Jünger, F. G. 92

Kaegi, W. 117

Kafka, F. 12, 37

Kallimachos 34

Kant, I. 63, 67, 72, 91

Kaßner, R. 11, 17

Katz, D. 67

Kayser, W. 7, 21, 34, 46, 54 ff., 79, 86, 94 f., 97 f., 101 f., 104, 111, 115, 132, 134

Kehr, Ch. 83

Keller, G. 38, 62, 101

Kerenyi, K. 84, 123

Kierkegaard, S. 10, 14, 16 f.

Kindermann, H. 18, 20, 151

Klages, L. 46, 96 f.

Kleist, H. v. 100, 106

Klopstock, F. G. 113

Kluckhohn, P. 86

Knauer, K. 96

Kobel, E. 63

Koch, F. 19 f.

Koch, M. 154

Köchlin, E. 155

Kohler, P. 73

Kohlschmidt, W. 49

Kolbenheyer, E. G. 19

Kommerell, M. 15 f., 51, 54 f., 60 f., 78, 88, 99

Korff, A. H. 13

Körner, J. 7, 57, 146

Korrodi, El. 83

Kosch, W. 7, 30

Koskimies, R. 82 f.

Krämer, W. 116

Kraus, C. v. 35

Krauß, W. 82

Kromer, H. 109

Kuhn, K. G. 99

Kunze, H. 128

Lachmann, K. 34 f.

Lafontaine, J. de 127

Lange, V. 22

Langenbeck, C. 90

Langenbucher, H. 20

Lavalette, R. 154

Lee, I. J. 47

Lempicki, S. v. 30 f.

Lessing, G. E. 88, 90

Lewis, C. D. 103

Leyen, J. v. d. 81

Linden, W. 20

Lohenstein, D. Casper v. 90

Longinos 158

Lorenz, O. 140

Lüdtke, G. 146

Lugowski, C. 20, 64 f., 102

Lukàcs, G. v. 82, 126, 130 f.

Lunding, E. 14, 16, 18

Luther, A. 146

Lüthi, M. 81, 104

Lützeler, H. 92, 96

Maaß, J. 71, 121

McGalliard, J. C. 22

Maeder, H. 51, 63, 100

Magnus, L. 144, 154

Magny, C. -E. 84

Mahrholz, W. 26, 52, 132, 154

Mallarmé, St. 12, 153

Mann, Th. 12, 83 f., 107, 120, 123, 126

Markwardt, B. 31 f., 42

Marjasch, S. 129

Marouzeau, J. 46

Martini, F. 30 f., 74, 147 f.

Marx, K. 22, 129 f.

Matz, W. 64

Maulnier, Th. 12

Maurer, F. 49, 148

May, K. 54, 105, 133

Medicus, F. 44

Meier, J. 37

167

Meng, H. 72

Mergell, B. 155

Merker, P. 28, 146

Merrick, J. 8

Meyer, H. 104

Meyer, P. 138

Milch, W. 144, 151

Millett, F. B. 22, 55

Milton, J. 112

Minnesangs Frühling 35

Molière, J. -B. 92

Morris, Ch. 47

Morrow, Ch. 83

Moser, H. 150

Müller, C. 69

Müller, G. 16, 42, 64, 67 f., 78 f., 83, 109, 148 f.

Muschg, W. 14, 19, 118 f., 123, 129

Mustard, H. M. 80

Nadler, J. 14, 19, 121, 136, 150

Nagel, B. 104

Nahm, M. C. 41

Naumann, H. 148

Newald, R. 28, 148

Nickel, O. 19

Nicolai, H. 94

Nietzsche, F. 11, 51, 72

Novalis 12, 51, 76, 99

Nußberger, M. 44

Obenauer, K. J. 20, 94

Oberholzer, O. 151

Ogden, C. K. 47

Olbrich, W. 102

O'Leary, J. H. 22

Olzien, O. H. 51

Opitz, M. 127

Oppel, H. 18, 21, 30, 68, 115 f.

Otto, W. F. 123

Pasquali, G. 34

Paul, O. 98

Peacock, R. 23, 85

Pearson, N. H. 73

Pepper, St. C. 108

Perpeet, W. 16, 41

Peterich, E. 42

Petersen, J. 25 ff., 30, 34, 48, 56 f., 72 f., 75, 87, 94, 106 f., 109, 114 f., 139

Petrarca, F. 158

Petsch, R. 73 f., 78 f., 81 ff., 96, 101 f., 137

Peuckert, W. -E. 148

Peyre, H. 109, 129, 140 f.

Pfeiffer, A. 89

Pfeiffer, J. 16, 54 f., 61

Pfeiffer, R. 34

Philippson, E. A. 81

Pinder, W. 139

Platon 34 f., 130

Pleßner, H. 87

Plümacher, W. 72

Pollock, Th. C. 51 f.

Pongs, H. 18, 21, 70, 103, 120

Pottle, F. A. 111

Presser, H. 51

Pretzel, U. 99

Prévost, J. 84

Proust, M. 12, 69, 120

Pyritz, H. 38, 117

Quint, J. 36

Radermacher, L. 88

Rank, O. 14, 121

Ranke, F. 33 f., 81

Ranke, L. v. 116

Ransom, R. C. 22

Rasch, W. 90

Raymond, M. 51

Rehm, W. 12

Reiners, L. 58

Richards, I. A. 47, 51

Richter, W. 21

Rilke, R. M. 12, 33, 54, 120

Ritter, J. 91

Romein, J. 117

Rommel, O. 91

Roßmann, K. 19

Rößner, H. 15

Rothacker, E. 112

Roulet, C. 12

Rourke, C. 125

Rüegg, A. 148

Russo, L. 23

Rütsch, J. 102

Rychner, M. 150

Sainte-Beuve, Ch. -A. de 115

Sappho 54

Saran, F. 98

Sartre, J. P. 16 f.

Saussure, F. de 46

Schachner, W. 140

Schadewaldt, W. 49, 54, 81

Schaufelberger, F. 90

Scheffler, J. 100

Scheidweiler, F. 49

Scheler, M. 119 f.

Scherer, W. 142

Schiller, F. 54, 71 ff., 100, 121, 126

Schlegel, A. W. 117

Schlegel, F. 53, 72, 150

Schmitz, R. 150

Schneider, H. 142 f., 145 f.

Schneider, R. 112

Schneider, W. 48

Schöffler, H. 127

Scholl, E. H. 98

Schramm, W. R. 22

Schücking, L. L. 127

Schumann, F. K. 138

Schwarz, J. 76, 78

Schweizer, H. 25

Schwietering, J. 143

Schwinger, R. 94

Seckel, D. 61, 97, 101

Segerstedt, T. T. 124

Ségur, N. 154

Seidel, E. 95

Seidler, G. 100

Seneca 88

Sengle, F. 90, 117

Shaftesbury 74, 94

Shakespeare, W. 35, 93, 104, 143

Shipley, J. T. 7, 29 f., 153

Siebels, E. 11

Siebenschein, H. 92, 127

Sievers, E. 48, 96

Spanner, H., 81

Spengler, O. 63

Spiller, R. E. 22

Spitteler, C. 11

Spitzer, L. 21, 46 f., 58

Spoerri, E. 100

Spoerri, Th. 17, 63, 92, 97, 111, 127

Springer, O. 7

Spurgeon, C. 104

Staël, G. de 130

Staiger, E. 16, 44, 46, 48, 54, 61 ff., 68, 75 ff., 85, 89, 91, 95, 97, 106, 110

Stammler, W. 28 ff., 36

Stauffer, D. 53

Steinen, W. v. d. 80

Sterzinger, O., 43

Stifter, A. 23, 37, 101, 153

Stoeßl, F. 147

Storz, G. 100

Strauß, L. 79

Strich, F. 15, 38, 43, 51, 69, 72, 106, 120, 138, 151

Stroh, F. 49

168

Suberville, J. 98

Suchier, W. 98

Szerb, A. 82

Taine, H. 130

Thomas a Kempis 50

Thompson, A. R. 85

Thomson, G. 128, 130

Thorp, W. 22

Tieck, L. 101

Tieghem, Paul van 73, 144, 154 f.

Tieghem, Philippe van 23

Tiemann, H. 155

Toggenburger, K. 73

Toynbee, A. J. 149

Trier, J. 49

Troeltsch, E. 149

Turnell, M. 142

Twaddell, W. F. 49

Uhland, L. 150

Unger, R. 13, 64, 106, 137

Urban, W. M. 47

Utitz, E. 43

Valéry, P. 12, 126

Vendryès, J. 95

Vergil 106

Vico, G. 130

Viëtor, K. 14, 21, 79

Villon, F. 119

Voser, H. U. 90

Voßler, K. 15, 58

Wais, K. 44, 154

Walther v. d. Vogelweide 35, 106

Walzel, O. 15, 43, 53, 72

Warren, A. 7, 9, 22, 28, 43, 74, 94, 101, 107, 110 ff., 127, 136, 140 f.

Wartburg, W. v. 46

Weckherlin, G. R. 49

Wechßler, E. 139 f.

Wehrli, M. 83, 93, 136

Wehrli, R. 101

Weinhandl, F. 67

Weise, G. 44

Weisgerber, L. 45 f.

Weizsäcker, V. v. 67

Wellek, R. 7, 9, 22, 28, 43, 74, 94, 101, 107, 110 ff., 127, 136, 139 ff.

Wentzlaff-Eggebert, F. -W. 148

Werkmeister, W. 44

Westendörpf, K. 104

Wiegand, J. 64, 79

Wieland, Chr. M. 117

Wiese, B. v. 90, 141

Wieser, Th. 11

Winkler, E. 46

Witte, W. 127

Wolff, Chr. 127

Wolff, E. G. 42, 59, 134

Wolff, L. 20

Wölfflin, H. 15, 43, 58, 72, 121, 138

Wolfram v. Eschenbach 93, 155

Wundt, W. 25

Young, K. 85

Yule, G. U. 50

Zinn, E. 33

E169E170E171E172

About this transcription

TextAllgemeine Literaturwissenschaft
Author Max Wehrli
Extent178 images; 66673 tokens; 17982 types; 527591 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Technische Universität Darmstadt, Universität StuttgartNote: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-09-30T09:54:39Z TextGrid/DARIAH-DENote: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe Stefan AlscherNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs Hans-Werner BartzNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung Michael BenderNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung) Leonie BlumenscheinNote: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung David GlückNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript Constanze HahnNote: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung Philipp HegelNote: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung Andrea RappNote: ePoetics-Projekt-Koordination CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationAllgemeine Literaturwissenschaft Max Wehrli. . FranckeBernMünchen1969.

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Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationWissenschaft; Literaturwissenschaft; ready; epoetics

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T11:38:14Z
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