MAX WEHRLI Professor an der Universität Zürich
ALLGEMEINE LITERATURWISSENSCHAFT
Zweite, durchgesehene Auflage FRANCKE VERLAG BERN UND MÜNCHEN
EA1:aMAX WEHRLI Professor an der Universität Zürich
ALLGEMEINE LITERATURWISSENSCHAFT
Zweite, durchgesehene Auflage FRANCKE VERLAG BERN UND MÜNCHEN
E2© A. Francke AG. Verlag Bern, 1951 Zweite, durchgesehene Auflage 1969 Alle Rechte, insbesondere Übersetzungsrecht, vorbehalten
E3Arbeiten wie die folgende sind vielleicht notwendig, aber für den Verfasser wie für den Leser unerfreulich, denn sie können weder umfassend und gründlich sein noch sich einer fruchtbaren Einseitigkeit verschreiben. Zudem hat es der Verfasser gewagt, zwei Herren zu dienen: er sucht einen auswählenden, kommentierenden bibliographischen Bericht zu geben und hofft zugleich, es möge daraus eine Art bescheidener Einführung in die Wissenschaft und ihre Probleme werden, soweit dies bei dem chaotischen Zustand dieser Wissenschaft überhaupt sinnvoll ist. Er glaubt aber, daß ein solcher Kompromiß, bei der ohnehin bestehenden Notwendigkeit einer Auswahl und Stellungnahme einerseits und der Unmöglichkeit einer runden Systembildung andererseits, der Sachlage der Wissenschaft und den Bedürfnissen des Lesers am besten entspricht. Wenn so unser Referat einen geordneten Gedankengang innehalten wird, so kann doch nur eine Einführung in die Problemlage und nicht deren Ausführung und Lösung beabsichtigt sein, nicht einmal die Zukunftsvision einer Synthese.
Unter Allgemeiner Literaturwissenschaft wird im Folgenden die Wissenschaft von Wesen, Ursprung, Erscheinungsformen und Lebenszusammenhängen der literarischen Kunst verstanden; sie ist dadurch, in einem engern Sinn, speziell die Wissenschaft von den Prinzipien und Methoden der wissenschaftlichen Literaturbetrachtung. Die Grenzen sollen weit und nicht scharf gezogen sein. Fester, greifbarer Anhaltspunkt ist zunächst das Phänomen des sprachlichen Kunstwerks. Als ein geradezu konstitutives Element des kulturmenschlichen Daseins reicht aber das Problem des Gestaltens weit hinein in die Probleme jeder sprachlichen und jeder künstlerischen Äußerung und betrifft schließlich das Menschsein, als einzelnes wie als kollektives, in seinem Wesen wie in seiner Geschichte, überhaupt. Wir rechnen also ausdrücklich zur Literaturwissenschaft auch die Methodenprobleme der Literatur geschichte (Historik der Literatur) und halten es für einen irreführenden und unsachlichen Sprachgebrauch, wenn Literaturwissenschaft bloß der Poetik gelten soll und der Literaturhistorie gegenübergestellt wird.
„ Es wird dem modernen Literarhistoriker nicht leicht, seine Aufgabe zu erfüllen, ohne überall in methodischer Hinsicht Anstoß zu erregen “– dieser rührende Stoßseufzer eines Germanisten (Neophilologus 1938, 319) deutet auf die fast neuralgische Empfindlichkeit der Literaturwissenschaft in Dingen5 der Methode, speziell in der deutschen Literaturwissenschaft. Das ist anormal und hängt mit den speziellen deutschen Gegebenheiten zusammen; Forschung kann auch ohne explizite Methodologie fruchtbar sein, und diese kann nur vom realen Widerstand ihres Gegenstandes her bestimmt werden. Anderseits ist Wissenschaft Begriffsbildung, sowie sie mitteilbar und verbindlich sein will. So vollzieht sich auch Literaturwissenschaft als dialektisches Geschehen zwischen Vorentwurf, konkreter Begegnung mit dem Gegenstand und methodischer Besinnung. Wenn aber Methodologie nicht im leeren Raum sich entwickelt, so müßte unser Referat nicht nur die reine Literaturtheorie, sondern auch die in jeder praktischen Arbeit wirksamen Leitgedanken und - vorstellungen berücksichtigen. Hiefür sind aber natürlich enge Grenzen gezogen.
Die Literaturwissenschaften und überhaupt die Geisteswissenschaften mit ihrer philosophischen Begründung wie ihrer gelehrten Tradition sind zu einem guten Teil eine Schöpfung der klassischen Periode des deutschen Geistes; bis in die neueste Zeit hinein sind ihre Grundfragen am lebhaftesten in Deutschland diskutiert worden. Und innerhalb der deutschen Geisteswissenschaften war naturgemäß die Wissenschaft von der muttersprachlichen Literatur, also die Germanistik, das Feld der meisten Auseinandersetzungen. So ist es wohl bei der unumgänglichen Not der Beschränkung nicht am ungünstigsten, wenn der Bearbeiter dieses Forschungsberichtes in deutscher Sprache ein Germanist ist und besonders bei den angewandten Beispielen die germanistische Literaturwissenschaft in den Mittelpunkt stellt. Er hofft dabei, den Blick auf die andern Kulturkreise und die andern Wissenschaften der Literatur soweit offenzuhalten, als es ohne die Aufgabe eines einigermaßen zusammenhängenden Gedankenganges möglich ist. Und er glaubt, es sei kein großes Übel, wenn naheliegenderweise dabei die schweizerische Forschung häufig zu Worte kommt.
Die Epoche, über die zu berichten ist, sind die Jahre seit Kriegsausbruch. Da diesem aber bereits ein kalter Krieg und eine Blockierung des wissenschaftlichen Gesprächs innerhalb Deutschlands und zwischen den Nationen schon lange voranging und die Aktualität wissenschaftlicher Arbeiten sich nicht nach dem Kalender richtet, so wurde z. T. weit in die 1930er Jahre zurückgegriffen. Das Manuskript wurde im Sommer 1950 abgeschlossen; auf seither erschienene Publikationen konnte nur in wenigen Fällen Rücksicht genommen werden.
Zu den Schwierigkeiten prinzipieller Natur kamen schließlich noch die technischen Hindernisse, die der Beschaffung wissenschaftlicher Literatur aus dem Ausland oft entgegenstehen und bei der notwendigerweise kurz bemessenen Frist in vielen Fällen unüberwindbar waren.
6So muß der Verfasser die vergessenen oder übergangenen Autoren um Nachsicht bitten – und erst recht die erwähnten Autoren, wo er in Referat und Urteil ungerecht gewesen sein sollte.
Anregungen und Beistand mannigfacher Art hat der Verfasser von verschiedenen Seiten erfahren. Zu herzlichem Dank verpflichtet ist er besonders dem allzu früh verstorbenen Werner Milch (Marburg), den Herren Hermann Boeschenstein (Toronto), Karl J. Hahn (Bilthoven), Julius Schwietering (Frankfurt a. M.), Fritz Ernst, Heinrich Straumann und Fritz Wehrli (Zürich), der Leitung der Zürcher Zentralbibliothek und dem Assistenten des deutschen Seminars der Universität Zürich, Herrn Josef Keller.
M. W.
E7I. Zeitlich umfassende Bibliographien:
1. Ferdinand Baldensperger und Werner P. Friederich, Bibliography of Comparative Literature. Chapel Hill 1950.
(Vgl. unten S. 151 f.) Gibt in seinen allgemeinen Abschnitten eine umfassende Auswahl von Titeln.
2. Josef Körner, Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums. 3. Aufl. Bern 1949.
Unentbehrliches Werk für die germanistische Einzelforschung, gibt in seinem „ allgemeinen Teil “eine ausgezeichnete auswählende Bibliographie, vor allem deutscher Schriften, zur allgemeinen Literaturwissenschaft.
3. Rene Wellek and Austin Warren, Theory of Literature. New York 1948.
(S. unten S. 28) In Text, Anmerkungen und Bibliographie reiche Auswahl aus der internationalen Literatur.
4. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948.
(S. unten S. 55 ff.) Enthält ausführliche Bibliographie zu den Fragen der Poetik.
5. Dictionary of World Literature. Criticism – Forms – Technique. Edited by Josef T. Shipley. New York 1943.
(S. unten S. 29 f.) Reallexikon literaturwissenschaftlicher Begriffe und ihrer Erforschung. Artikel wechselnder Qualität und Ausführlichkeit, je mit Bibliographie.
6. Wilhelm Kosch, Deutsches Literaturlexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. 2. Auflage, Bern 1949 ff.
Lexikon nach Namen (auch von Gelehrten) und z. T. auch Sachen mit ausführlicher Bibliographie.
II. Zeitlich begrenzte Bibliographien
1. Deutsche Bücher 1939 – 1945. Eine Auswahl. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt a. M. 1947.
2. Deutsche Nationalbibliographie. Verzeichnis der Schriften, die infolge von Kriegseinwirkungen vor dem 8. Mai 1945 nicht angezeigt werden konnten. Leipzig 1949. – Verzeichnis der Schriften, die 1933 – 45 nicht angezeigt werden durften. Leipzig 1949.
3. Clair Baier, German Literary and Linguistic Publications during the War Years 1939 – 1944. „ Modern Language Review “42 (1947) 82 ff.
4. Otto Springer, Germanic Bibliography 1940 – 1945. „ Journal of English and Germanic Philology “1946, 251 ff.
85. Henry C. Hatfield and Joan Merrick, Studies of German Literature in the United States 1939 – 1946. „ Modern Language Review “43 (1948), 353 ff.
III. Fortlaufende Literaturberichte in Zeitschriften (Auswahl)
Abkürzungen
Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Afda Berlin 1876 – 1944. Wiesbaden 1948 ff.
Deutsche Literaturzeitung. Berlin 1880 – 1944, 1947 ff.
DLZ
Dichtung und Volkstum. Stuttgart 1934 – 1944
DuV
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft undDV Geistesgeschichte. Halle 1923 – 1944; Tübingen 1949 ff.
Erasmus. Speculum scientiarum. Bruxelles usw. 1947 ff.
Erasmus
Etudes Germaniques. Paris, Lyon 1946 ff.
Etudes
Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bamberg 1894; Euphorion Stuttgart 1933; Marburg 1950 ff. (Vgl. DuV)
The Germanic Review. New York 1926 ff.
GR
Helicon. Revue internationale des problèmes généraux de laHelicon littérature. Amsterdam und Leipzig 1939 ff.
The Journal of (English and) Germanic Philology. UrbanaJournal Ill. 1897 ff.
Literaturblatt für germanische und romanische Philologie. Lbl Leipzig 1880 – 1944.
Modern Language Notes. Baltimore 1886 ff.
MLN
The Modern Language Review. Cambridge 1906 ff.
MLR
Publications of the Modern Language Association of Ame-PMLA rica. New York 1886 ff.
Revue de littérature comparée. Paris 1921 ff.
Revue
Trivium. Schweizerische Vierteljahresschrift für Literatur-Trivium wissenschaft (und Stilkritik). Zürich 1942 ff.
Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft. ZfAesth Stuttgart 1906 – 1943.
Zeitschrift für deutsche Philologie. Halle 1869 – 1945; Stutt-ZfdPh gart 1947 – 48 ff.
Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder - und Fachwissenschaft. Sie gedeiht nur in der engsten Wechselwirkung mit den Nachbarwissenschaften und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte wesentlich nicht die Geschichte eines internen Fortschritts und einer Perfektion der Methoden, sondern zum guten Teil die Geschichte von Funktionen und Reaktionen geistiger Ereignisse außerhalb ihres engeren Bereichs. Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen bestimmt ist.
Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder zu einer Besinnung auf jene erste glänzende Position in der Zeit von Kant und Herder werden. Seit diesem Ursprung ist umgekehrt die Literaturwissenschaft in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, „ an inverted pyramid of theory on a pin-point base of reality “zu konstruieren (R. H. Fife) oder „ grandiose theories and pretentious verbalisms “zu produzieren (Wellek - Warren). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde.
Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft strahlte tief ins 19. Jahrhundert hinab, ja wurde im Raum der Geistes -10 und Geschichtswissenschaft durch Hegel zum imponierenden System verfestigt. Von allen Seiten aber regten sich auch die Kräfte, die es unterhöhlten, erschütterten und schließlich ins Unabsehbare sprengten, so sehr, daß nach zwei Weltkriegen nicht gesagt werden kann, ob sich das nach allen Seiten ins Offene zerfahrene Antlitz des Menschen in neuen Linien finden wird. Der Naturalismus, als symmetrische Gegenform dem Idealismus seit dem 18. Jahrhundert verbunden, übernimmt immer mehr die Rolle, den Menschen zu entlarven und ihm den Charakter des freien Vernunftwesens zu nehmen. Die mächtigen wirtschaftlichen, sozialen, technischen Umwälzungen drängen dieses jedenfalls in die Defensive, machen es zur Funktion unkontrollierbarer Mächte und lassen die Idee als Ideologie erscheinen. Mit Nietzsche tritt an die Stelle der Vernunft das „ Leben “und eine entsprechende Umwertung der Werte, eine Verdächtigung des historischen Horizontes als ideologisch oder lebenshemmend und die forcierte Vision eines Übermenschen. Wenn schon Nietzsche in der menschlichen Seele eine Wirklichkeit sieht, die Vernunftsgesichtspunkten entrückt ist, so hat die Tiefenpsychologie durch die Entdeckung des Unbewußten und vor allem der niemals abgetanen, schichtenhaft in der Tiefe gelagerten und jederzeit wirksamen kollektiven, primitiven Welten des Seelischen die Grenzen des Wesens Mensch ins Unabsehbare ausgeweitet. Von entgegengesetzter Seite her, aber gegen das selbe Zentrum, stellt schließlich der Existentialismus Kierkegaards und seiner theologischen und philosophischen Nachfolger den Menschen in Frage, stellt ihn in die Bedrohung des Todes und des Nichts; sie sehen sein Wesen nicht im vernünftigen Erkennen oder schönen Gestalten, sondern in der Aktualität des sich einsam entscheidenden Daseins. Auch hier zerbricht die Geschichte als sinnvoller, objektiver Zusammenhang der Tradition, zerbricht Wahrheit als objektives geistiges System zugunsten einer nur im Gelebtwerden sich ereignenden Wahrheit; an Stelle der Tradition tritt die „ Wiederholung “. Der Mensch findet seine Wirklichkeit nur in der Not des Augenblicks, in die er geworfen ist: hier aber bleibt der Weg offen, einerseits vielleicht in eine neue Glaubens - und Personlehre, anderseits in einem Nihilismus z. B. Jüngerscher Prägung, wo der Geist, auf dem „ magischen Nullpunkt “, sich selbst in die Luft sprengt.
Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall der idealistischen wie der positivistischen Erkenntnissysteme allerdings nicht nur ein Negatives: Der Weg wird frei für neue Erkenntnismöglichkeiten, sei es im Sinn einer phänomenologischen Wesensschau im Allgemeinen, sei es in der konkreten Erfahrung und Begriffsbildung der angewandten Wissenschaften. Die alte Kluft von Natur - und Geisteswissenschaften beginnt sich zu schließen; Begriffe wie Gestalt oder Symbol werden hier wie dort fruchtbar; hier wie dort wird der Standortbedingtheit des Erkennens11 ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler Ergründung der menschlichen Lebens - und Kulturerscheinungen ein physiognomisches Erkennen treten, wenn etwa bei Rudolf Kassner die Lehre von der Einbildungskraft zum Schlüssel einer umfassenden Erkenntnisweise eigener Art entwickelt wird1Eva Siebels, Sprache und Dichtung im physiognomischen Weltbild Rudolf Kassners. DV 19 (1941) 218 ff. – Theodor Wieser, Die Einbildungskraft bei Rudolf Kassner. Studie mit Abriß von Leben und Werk. Diss. (Zürich) Lausanne 1949..
Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration und Beleg zur Geistes - und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen mindestens gleich ursprünglich die Veränderungen an. Daß der klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des 19. Jahrhunderts, ihre „ Grundtrauer “und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt, sich im naturalistischen Dichten tumultuarisch auflöst, bedarf keiner Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten, impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug der Dichtung vom Leben. Sie ist mißtrauisch geworden gegen die Kraft des Wortes und kann nur noch hoffen, sich selbst wie die entgleitende Welt wenigstens im schwebenden Hinhören auf die Empfindungen und Gefühle zu wahren und durch diese Rücknahme der Front wenigstens das Wort reinzuhalten und ihm die Möglichkeit einer Wiedergeburt von innen zu sichern. Wenn demgegenüber eine – künstlerisch nicht allzufruchtbare – Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des starken Lebens, der trotzigen Persönlichkeit oder gar der entfesselten Triebe frönte, so vermochte diese Überkompensation die fortschreitende Auflösung der menschlichen Person und allgemein ein pessimistisches Grundgefühl nicht zu verbergen. In den Explosionen des Expressionismus, der im ersten Weltkrieg seine äußere Bestätigung findet, ist beides: die Berufung auf die Ursprünglichkeit einer rational nicht mehr kontrollierbaren dichterischen Aussage wie auch der Aufweis einer in alle Elemente chaotisch zerstobenen Welt, in beidem die Rücknahme auf die dichterische Existenz als alleinige Wirklichkeit. Die großen dichterischen Werke der Zeit sind zu einem guten Teil Darstellungen von Untergängen, Höllenfahrten ins Reich12 des Todes, des Unterbewußten, des Kollektiven, des Zeitlosen, der religiösen Abgründe – von Th. Mann und Hesse bis zu Rilke und Kafka, von Proust zu Joyce – und doch überall zugleich in der verbissenen Hoffnung auf einen „ Umschlag “, eine „ Transzendenz der Verzweiflung “, im Glauben, daß die Tiefenfahrt zugleich eine Initiation bedeute und eine neue Integration des Menschen im Einzelnen und Ganzen einleiten könnte. Die Dichtung bringt sich vor unendliche neue Möglichkeiten und traut sich selbst hermetische, totenführerische Kräfte zu. Walther Rehm1Walther Rehm, Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis, Hölderlin, Rilke. Düsseldorf 1950. hat das Symbol vom Totenführer Orpheus in seinem Zusammenhang mit der Geschichte des dichterischen Selbstverständnisses beschrieben; die Beziehung des Dichters zum Tode ist nicht mehr ein „ Problem “stofflich-gedanklicher Art, sondern für die moderne Dichtung – seit 1800 – unmittelbar konstitutiv, soweit diese sich selbst zum Gegenstand wird, sich selbst absolut setzt und damit ihre Größe wie ihre krisenhafte Grenze enthüllt. Wir sind damit schließlich hingewiesen auf einen innersten Kreis dichterischer Betätigung seit dem späteren 19. Jahrhundert, der sich vor allem in der Lyrik auftut: die Idee der poésie pure, der absoluten Poesie, die in exklusivster, strenger Arbeit die alchemistische Läuterung und Verwandlung der dichterischen Sprache und damit des Menschen unternimmt2Paul Valéry, Introduction à la poétique. Paris 1938, u. a. – Werner Günther, Über die absolute Poesie. Zur geistigen Struktur neuerer Dichtung. DV 23 (1949) 1 ff. – Dazu Carl Augstein und Replik Günthers a. a. O. 24 (1950) 144 ff. – Ernst Howald, Das Wesen der lateinischen Dichtung. Erlenbach-Zürich 1948. – Thierry Maulnier, Introduction à la poésie française. Paris 1939. – Pierre Beausire, Essai sur la poésie et la poétique de Mallarmé. Lausanne 1942. – Claude Roulet, Eléments de poétique Mallarméenne. Neuchâtel 1947. – Claude - Louis Estève, Etudes philosophiques sur l'expression littéraire. Paris 1939.. Sie lebt ja nicht nur im Symbolismus, auch in der Kunst der Neuromantik, im Kult der Georgeleute, bei Rilke, in der Wortakrobatik des Expressionismus, im Surealismus. Und sie weiß um die Entdeckungen der Psychoanalyse vom offenbarenden Wesen des Symbols wie um die Einsamkeit der Existentialisten. Es entstehen dichterische Werke, die weder von der Idee noch von der Natur aus gerechtfertigt werden können, sondern nur „ phänomenologisch “zu umschreiben sind als Manifestationen einer neuen Wirklichkeit, als neue „ Welt “. Der Anspruch, daß das Werk ein absolut in sich selber ruhendes Phänomen sei, reine „ Form “, ohne den Willen zu einer Aussage oder einer Wirkung, „ nur mit sich allein “(Rilke), in der Spiegelung seiner selbst, als Rückzug auf die „ Poesie der Poesie “, ist zweifellos ein Symptom für die Grenz - und Krisensituation eines weltlos gewordenen Geistes,13 in tiefer dialektischer Beziehung zum Nicht-Sein, zur Ohnmacht, zum Schweigen. Aber es ist auch unbestreitbar, daß damit die Aufgabe, Dichtung angemessen zu verstehen, radikal neu gestellt worden ist und der Literaturbetrachtung ganz neue Perspektiven eröffnet wurden.
So hat, zwischen den Wandlungen des allgemeinen Welt - und Menschenbildes einerseits und den neuen dichterischen Sprach - und Gestaltungsformen andererseits, auch die Literaturwissenschaft als Vermittlerin zwischen dem theoretischen und dem gestalterischen Bereich einen weiten Weg zurückgelegt. Die moderne deutsche Literaturwissenschaft sieht sich immer wieder zurückverwiesen auf den Gründer einer neuen, ihrer selbst bewußten Geisteswissenschaft, Wilhelm Dilthey1O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie. Leipzig 1936. – Wolfgang Erxleben, Um Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften. „ Kant-Studien “. N. F. Bd. 42 (1942 / 43) 217 ff.. Sie orientiert sich am Gegensatz zu einer als positivistisch, empiristisch, kausalitätsgläubig verstandenen Naturwissenschaft. Gegen die positivistische Schererschule mit ihrer mechanischen Formel des „ Erlebten, Erlernten, Ererbten “beharrt sie auf der Eigenart des geschichtlichen Geistes und klärt das Wesen historischen Verstehens als eines im fruchtbaren Kreislauf von Einfühlen und Auslegen erfolgenden, selbst geschichtlichen Prozesses. Dichtung wird im Sinne Goethes als Auslegung des „ Lebens “aus ihm selbst verstanden, und das „ Erlebnis “im weitesten Sinne erscheint als ihr eigentlicher, nicht mehr reduzierbarer Quellpunkt. Die Literarhistorie hat in sorgsamer Betrachtung der Werke und ihrer Entstehung im Zusammenhang der Lebensgeschichte des Dichters wie seiner Zeit die zentrale Erlebnisweise zu formulieren, ja schließlich auch gewisse Typen des Erlebens und der Weltanschauung herauszustellen und ihre Geschichte im Lauf der Jahrhunderte zu schreiben. Diltheys Rückgriff auf die Positionen der Goethezeit und des Idealismus wurde für die Literaturwissenschaft schicksalhaft. Der mysteriöse Begriff des Erlebnisses, zunächst nur ein Name für den Einheits - und Beziehungspunkt eines Werks oder eines Stils, verlockte zu einer unhaltbaren Systematisierung (z. B. Ermatingers Stoff -, Gedanken - und Formerlebnis, Gundolfs Ur - und Bildungserlebnis) oder verführt zum Abgleiten in rein biographische „ Erklärung “. Anderseits liegt es nahe, die dichterische Äußerung zum Beleg von Weltanschauungen, die Dichtungsgeschichte zur bloßen Illustration einer an sich abstrakten Bewegung des objektiven Geistes, d. h. zu Ideen - und Problemgeschichte (Rudolf Un - ger, August Hermann Korff) werden zu lassen. Trotz des Versuchs, das Geschehen durch eine weltanschauliche Typologie zu organisieren, bleibt ein gewisser Wertrelativismus und Historismus bestehen und wird vor allem14 auch das eigentliche ästhetische Phänomen nach Art und Rang vernachlässigt. So hat man das harte Wort sprechen können, die geistesgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft – die man außerhalb Deutschlands oft als spezifisch deutsch und „ metaphysisch “empfunden hat – sei „ das letzte Aufflackern eines senilen Idealismus “(K. Vietor)1Karl Viëtor, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. PMLA 60 (1945) 899 ff. gewesen, und es werden nun dieser stolzen deutschen Wissenschaftstradition von existentialistischer (E. Lunding)2Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn 1946. wie von „ philologischer “(E. R. Cur - tius) Seite aus Steine nachgeworfen.
Während die Dilthey-Schule durch den Neukantianismus nur gestärkt werden konnte, wurde die Literaturwissenschaft von anderer Seite her betroffen von den Entdeckungen und Wandlungen, die das idealistische Menschenbild sprengten und damit auch das Dichtwerk in neue Zusammenhänge rückten. Damit sind die mannigfachen Tendenzen gemeint, die weniger die Vernunftidee hinter dem Kunstwerk erblicken als vielmehr Mächte kollektiver Art. Es wurde zum Exponenten sozialer Zusammenhänge im Einzelfall wie auch in der geschichtlichen Entwicklung gemacht, im Grenzfall schließlich, allerdings erst in neuerer Zeit, gar im marxistischen Sinn. Das Gegenüber einer empiristisch-naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Psychologie wurde durch die Tiefenpsychologie (Literatur siehe unten) überwunden. Auch wenn die schulmäßige Psychoanalyse mit ihren literaturwissenschaftlichen Anwendungen (z. B. O. Rank) mindestens in Deutschland wenig erfolgreich war, so wurde doch gerade im Zusammenhang mit dem Expressionismus das Gewicht auf die anonymen, primitiven, kollektiven Gründe gelegt. Entweder wird der Dichter selbst zum Ekstatiker, zum Mystiker oder Magier gemacht (etwa bei Muschg) oder der Einzelne sinkt zurück zur bloßen Oberfläche eines Kollektivs fast biologischer Art, wie bei Nadler oder gewissen Formen volkhafter Literaturwissenschaft. Fruchtbarer wurden die Ansätze der Schule C. G. Jungs mit ihrer Lehre von den Archetypen und dem Individuationsprozeß.
Auch bei diesen Methoden ist die Gefahr gegeben, daß nun wiederum der eigentliche Gegenstand: das dichterische Werk und die Gesamtheit der dichterischen Werke, im Grunde verfehlt, d. h. mit kunstfremden Kategorien betrachtet wird. Der wohl entscheidende Anstoß dazu, die Dichtung wieder an sich und in sich selbst ernst zu nehmen, kam aus der Literatur15 selber. Die Schule Stefan Georges1H. Rössner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1938. (Friedrich Gundolf, Ernst Bertram, Max Kommerell u. a.) kam einerseits vom französischen Symbolismus, anderseits von der antihistorischen Lebensphilosophie Nietzsches her, fühlte sich aber, über Dilthey, auch dem Idealismus verpflichtet. Sie erwarb sich das Verdienst, mit dem größten Nachdruck hinzuweisen auf die Unbedingtheit der reinen dichterischen Gestalt, ihre maßgebende, werthafte Bedeutung. In Konzentration auf verhältnismäßig wenige, aber z. T. neu entdeckte monumentale Figuren gibt sie ihre Darstellung von einem „ archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters “her, ja deklariert sie sogar schließlich als „ Mythus “. So überspringt sie das Problem der Historie. In ihren monumentalen, von „ innen “geschriebenen Biographien werden allerdings Werk und Person, als die eine Gestalt, kaum getrennt. Sie läuft zwar Gefahr, im Stil ihrer Darstellung Wissenschaft und dichterischen Mythus zu verwischen, aber hat dafür bis auf weiteres der literaturwissenschaftlichen Sprache eine neue Würde und ein neues Verantwortungsgefühl mitgeteilt.
Inzwischen wirkten innerhalb der Wissenschaft selbst andere Kräfte in ähnlicher Richtung. Hatte die Dichtung selber versucht, die Urspünglichkeit und Unersetzbarkeit des Kunstwerks zu legitimieren, so trat dieses auch dem Betrachter als Gebilde eigenen Rechts entgegen. Es war zuerst in der Kunstgeschichte der Fall, wo der Werkcharakter des Kunstgebildes sich unmittelbarer aufdrängte als in der Literaturwissenschaft, die dem Wesen des Wortes entsprechend eher dazu neigen mußte, das Mitgeteilte anstelle der Mitteilung, den Dichter anstelle des Werks und die Idee anstelle der Form zu betrachten. So waren es Wölfflins Grundbegriffe, die zu Analogien literaturwissenschaftlicher Art verlockten, sei es zu einer entsprechend entwickelten Typologie der Stile (Strichs Klassik und Romantik), sei es überhaupt zur Parole einer „ wechselseitigen Erhellung der Künste “(O. Walzel). Ein neues Sehen-Können, einen Sinn für das Kunstgebilde der dichterischen Gattung und die „ Gehörgröße “des Verses hatte inzwischen ein Andreas Heusler gleichsam in aller Stille praktisch bewährt. Eine bloße Übertragung literaturfremder Kategorien aus der Kunstgeschichte konnte allerdings auch zur Verwirrung, d. h. einer bloß metaphorischen Terminologie führen; auch hat die Dichtung andere Formen der geschichtlichen Tradition als die bildende Kunst (worüber neuerdings E. R. Curtius handelt). So war der eigene Werkstoff der Dichtung, d. h. die Sprache, mit ihren spezifischen Leistungen und Gesetzmäßigkeiten in Untersuchung zu ziehen; stilistische Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie (Bally, Vossler, Cassirer) wurden zur Grundlage auch der Literaturkritik. 16Darüber hinaus wurde das Problem der dichterischen Gattungen und Arten wieder aktuell, sei es, daß man historisch das Walten morphologischer Gesetzmäßigkeiten in Gattungsgeschichten aufzuzeigen suchte oder eine solche Morphologie systematisch erstrebte. Daß dabei Goethes naturwissenschaftliche Morphologie und Typenlehre – so bei Ermatinger und neuerdings wieder bei G. Müller – zu Gevatter stand, war für die Germanistik naheliegend, aber doch eine Art Rückfall in den Idealismus.
Stärkere Anstöße gingen wohl von den modernen philosophischen Bewegungen aus. Die phänomenologischen Untersuchungen über die Seinsweise des Dichtwerks und des dichterischen „ Gegenstandes “(z. B. Roman Ingarden) oder überhaupt über die Struktur des personalen, objektiven und objektivierten Geistes (Nicolai Hartmann) zeigten, welche Problemfülle hier verborgen lag. Der Existentialismus schließlich hat nicht nur zu einer politisch-volksmäßigen Aktualisierung geführt, sondern auch zu legitimeren Ergebnissen. Entscheidend geworden ist hier die Wendung, die Martin Heidegger1Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a. M. (1944). – Ders., Holzwege. Frankfurt a. M. (1950). – Martin Heideggers Einfluß auf die Wissenschaften. Festschrift aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages. Bern 1949. seit den Dreißigerjahren von der Metaphysik zur Interpretation des Phänomens Dichtung geführt hat, in seinen Erläuterungen zu Hölderlin als dem „ Dichter des Dichters “wie in seiner Abhandlung zum Ursprung des Kunstwerks. Die Dichtung erhält selbst eine Schlüsselstellung in der Auslegung des menschlichen Daseins; jenseits idealistischer oder psychologisch-historischer Ansätze wird Dichtung wieder radikal als ursprunghaftes Geschehen, als „ worthafte Stiftung des Seins “und nicht nur als Ausdruckserscheinung oder Kulturleistung unter anderen begriffen. Die phänomenologische Beschreibung des Kunstwerks erhält damit eine neue Begründung, traditionelle literaturwissenschaftliche Termini wie Stil, Gattung, Stimmung erhalten im Rahmen der Existentialphilosophie einen neuen Inhalt. Diesen zu umschreiben war die Leistung verschiedener selbständig fortschreitender Gelehrter, die innerhalb der Literaturwissenschaft selbst eine neue poetische Stilkritik begründeten, die über die bisherige kunstgeschichtliche oder linguistische Stilistik hinausging (J. Pfeiffer, Kom - merell, Staiger u. a.). Es fehlte auch nicht an Versuchen, das Problem einer existentialistischen Ästhetik wieder direkt von Kierkegaard aus zu stellen2Erik Lunding, Kierkegaard und die existentielle Literaturwissenschaft. Im Anhang zu: Adalbert Stifter (Studien zur Kunst und Existenz Bd. I). Kjobenhavn 1946. – Willi Perpeet, Kierkegaard und die Frage einer Ästhetik der Gegenwart. Halle 1940.. Schließlich muß auch J. P. Sartre erwähnt werden. Wenn hier17 an die Stelle der absoluten Poesie die „ littérature engagée “tritt, als Tun des sich jederzeit aus dem Nichts selbst verwirklichenden Menschen, so rückt doch auch von hier aus der Gedanke des Stils und der Stilkritik in den Vordergrund1Erich Brock, Zum Problem der Stilkritik. Trivium III (1945) 72 ff. (Zu „ L'être et le néant “). – J. P. Sartre, Qu'est-ce que la littérature. 10. Auflage. Paris 1948..
Daß es die Dichtung zu tun hat „ mit dem Grundvorgang des menschlichen Daseins selbst “(Th. Spoerri), ist heute wohl zu einer fast allgemeinen Überzeugung oder doch zu einer allgemeinen Arbeitshypothese geworden. Daß Dichtung verstehen auch sich selbst zu verstehen heißt, ist wohl nirgends so energisch betont worden wie eben bei Spoerri2Theophil Spoerri, Die Formwerdung des Menschen. Berlin 1938. – Die Struktur der Existenz. Zürich 1951., der ausgehend von Kierkegaard, Kassner, Heidegger sein Programm einer interpretatorischen Methode in unmittelbarer Bezugnahme auf die religiöse und kulturelle Krise der Gegenwart erhebt und das Kunstwerk als Schlüssel, Vorbild und Anruf zur Selbstverwirklichung des Menschen deutet. Er trifft sich darin mit Gaston Bachelards3Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière. Paris 1942. – Ders., La Psychanalyse du feu. Paris 1938. – Ders., L'air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement. Paris 1943. Bestimmung der Einbildungskraft, der Imagination als menschliche Existenz selbst, als force d'unité de l'âme, als principe totalisant du monde. Bachelard entwickelt daraus eine geistreich-dichterische cosmologie du rêve, indem er die Materialisation der Einbildungskraft in den dichterischen Bildwelten der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft verfolgt. Diese Bücher sind kennzeichnend für den nicht mehr systematischen, sondern physiognomischen, dichterisch-dynamischen Charakter, den die moderne Kunstinterpretation in vielen Fällen annimmt. Einbildungskraft muß als ein Geschehen nachvollzogen werden, ist nicht als ein Sein zu begreifen.
Auch wo die Literaturwissenschaft als Schultradition nicht soweit ging, folgte sie doch im allgemeinen dem Ruf, zu „ den Sachen selbst “zurückzukehren, und widmete sich in steigendem Maß einer interpretierenden, stilkritischen Werkbetrachtung. Sie bleibt freilich meistens nicht bei der bloßen Werkerhellung stehen, weniger als sie es gelegentlich wahrhaben will; es werden Kategorien entdeckt und erprobt, die für die Erkenntnis des poetischen Gebildes überhaupt und damit für eine grundsätzliche neue Poetik wesentlich sind.
Eine gewisse Begriffsverwirrung ist hier allerdings bei den verschiedenartigen Existentialismen der Gegenwart offensichtlich, wenigstens dort,18 wo es sich um abstrakte Programme und nicht um die konkrete Arbeit an der Dichtung selbst handelt. Horst Oppel1Horst Oppel, Die Literaturwissenschaft in der Gegenwart. Methodologie und Wissenschaftslehre. Stuttgart 1939. hat 1939 die verschiedenen methodischen Positionen der Literaturwissenschaft im Rahmen einer allgemeinen Wissenschaftslehre beredet und diskutiert, ohne allerdings ein eigenes System zu entwickeln. Er orientiert sich ähnlich wie Pongs am Begriff einer existentialistischen Forschung, d. h. „ der Erforschung der symbolischen Existenz des Dichtwerks “, also gleicherweise einer Untersuchung des „ Lebens der künstlerischen Form “, wie der darin zu findenden Gestaltung von „ Mensch und Menschenwelt in ihren tragenden Kräften, von der unaufhebbaren Verzweiflung des Einzelnen bis zur richtenden und ordnenden Gewalt des in Volk und Staat verkörperten Miteinanderseins “2Hermann Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. DuV 38 (1937) 1 ff., 273 ff.. Es ist amüsant zu sehen, wie dies von nazistischer Seite3ZfdPh 65 (1940) 194 ff. als überwundener Standpunkt eines neugierigen Individualismus abgelehnt wurde, wogegen E. Lunding darin einen Verrat am echten Kierkegaardschen Existenzbegriff feststellte.
Hier ist nun auch der Ort, auf das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft zwischen 1933 und 1945 einzugehen. Vor allem in der germanistischen Wissenschaft ist hier von außen durch staatliche Gewalt und von innen durch eine Art Psychose das freie Spiel der Kräfte gelähmt worden. Innerhalb einer seit der Neufundierung der Geisteswissenschaften besonders im Laufe der 1920er Jahre reich und verwirrend entwickelten Fülle der Gesichtspunkte und Methoden bildet sich eine mehr oder weniger offizielle, der politischen Macht konforme Richtung immer stärker aus. Die Suggestion einer „ volkhaften “oder „ politischen “Orientierung als Gebot der Stunde bemächtigt sich auch ehrenwerter Gelehrter; die problematisch gewordene Vielfalt der Gesichtspunkte, die in Deutschland typische Überlastung der Geisteswissenschaften mit Metaphysik verführt zu einer Überkompensation: man findet im volksmäßigen Gedanken den Ausweg und setzt „ anstelle des wissenschaftlichen Selbstzwecks den Dienst an der Nation “(Heinz Kindermann). Der freiwillige „ Abbau der Kultur “wird durch äußere Eingriffe verstärkt. Entlassungen, Emigration, Drohung, physische Vernichtung zerstören und verfälschen das Leben der Wissenschaft vollends.
Bei dem nun einsetzenden Zwischenspiel einer „ volkhaften Literaturwissenschaft “oder wie immer sie sich nennt, handelt es sich um zwei19 mannigfach verquickte und oft sich widersprechende Haupttendenzen, die den beiden ideologischen Hauptrichtungen des Nationalsozialismus entsprechen. Die eine ist mehr romantischer Art (Stamm und Landschaft, Blut und Boden, Rasse), die andere ist mehr politisch-aktivistisch und macht auch die Wissenschaft zur Waffe im imperialistischen Kampf.
Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften1Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (= 4. Aufl. ), 4 Bände. Berlin 1939 – 1942. – Gisela von Busse, Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. DV 16 (1938) 258 ff. war zunächst, als ein Repertorium der Obskuren, als Enthüllung vergessener Zeiten, Zonen und Mächte, scheinbar das Zeugnis eines katholisch-romantisch orientierten Föderalismus. Bei aller Fragwürdigkeit der Prinzipien – Mythologie statt Wissenschaft, Geopolitik statt Literaturgeschichte, Verlust jedes Wertstandpunktes, trügerische Zirkelschlüsse im Verhältnis von Einzelerscheinung und Stammes - oder Landschaftsgeist – verlieh es doch dem Geschehen der Literaturgeschichte einen neuen Zauber, eine neue Atmosphäre und Dynamik, die selbst einen Hofmannsthal fesselten. Die Verschwommenheit der Prinzipien und die Willkür der Synthese machten es aber möglich, daß die zweite Auflage mit verändertem Titel nun plötzlich den politischen Aspekt enthüllen konnte. Jetzt ist vom „ Weltvolk der Deutschen “, seinem Weg zum Staat die Rede, ein Judenkapitel kommt hinzu, und es ist „ versäumte Welt “, was wie die Schweiz nicht mitmachen wollte. So gleitet, was sich zunächst als Erbe großer Herderscher Konzeptionen zeigen mochte, ab in Rassenlehre und Biologie und wird zum Handlanger der totalitären Ideologie. Nachdem schon früher, u. a. von Muschg2Walter Muschg in „ Basler Nachrichten “1937 Nr. 359., die Schwächen Nadlers enthüllt worden sind, ist neuerdings ein heftiges Strafgericht erfolgt3Otto Nickel, Literaturgeschichte hintenherum etc. „ Die Wandlung “I (1945 / 46) 383 ff. – Kurt Rossmann, Über nationalistische Literaturgeschichte. a. a. O. 870 ff..
Als Vertreter einer fast biologischen Mystik des Volkstums und seines „ Plasmas “tritt ein E. G. Kolbenheyer in den Vordergrund. Sein weltanschaulicher Jünger Franz Koch4Franz Koch, Geschichte deutscher Dichtung. Hamburg 1937. bezieht den weit wirkenden Berliner Lehrstuhl und organisiert eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Unternehmungen, die dem „ Deutschen “der deutschen Dichtung gelten, wobei schon die Unterscheidung von „ deutsch “und „ artgemäß deutsch “alles besagt. Einer Deutschen Literaturgeschichte folgt ein nicht mehr vollendetes20 Handbuch des deutschen Schrifttums1Handbuch des deutschen Schrifttums, herausgegeben von Franz Koch, Ludwig Wolff, Clemens Lugowski, J. Obenauer. Potsdam 1939 ff. und das große Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung2Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Herausgegeben von Gerhard Fricke, Franz Koch u. Clemens Lugowski. 5 Bde., Stuttgart 1941., mit dem Auftrag, dem Erz „ unserer Sprache und Dichtung, dieser Selbstoffenbarung der deutschen Seele, deutscher Art, das reine Gold ihres Wesens abzugewinnen “. Der Anblick gehört zum Bemühendsten, wie hier nicht nur die neue Garde, sondern auch beste Namen und mit ehrlich-wissenschaftlichen Mitteln sich an der großen petitio principii beteiligen. Daß somit in diesen Bänden auch beste Tradition steckt, gilt ebenso vom „ Handbuch “.
In programmatischen Erklärungen und Darstellungen – auf deren Titelangabe hier verzichtet sei –, haben gleichzeitig u. a. Walther Lin - den, Helmut Langenbucher, K. J. Obenauer und vor allem Heinz Kindermann den „ volkheitlichen “Gedanken für die Literaturwissenschaft propagiert. „ Völkische Lebenswissenschaft “heißt das Schlagwort Kin - dermanns, des Leiters des großen Sammelwerks Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, welches seinerseits zeitgemäß umorganisiert wurde. Es ist unverkennbar, wie gefährlich hier der Begriff „ Lebenswissenschaft “ausgeweitet wird. Er geht weit über das hinaus, was bisher im Gefolge Diltheys oder selbst Nietzsches als Wissenschaft vom geschichtlich-seelischen Leben verstanden war, denn „ Leben “ist hier Leben der Nation und nicht als Gegenstand, sondern als Zweck der Wissenschaft begriffen. Literaturwissenschaft wird ideologische Begleitmusik zur Politik. Ebenso ist die vom Expressionismus herkommende lebenswissenschaftliche Theorie Herbert Cysarz '3Herbert Cysarz, Das Unsterbliche. Die Gesetzlichkeiten und das Gesetz der Geschichte. Halle 1940. – Ders., Das deutsche Schicksal im deutschen Schrifttum. Leipzig (1942). in diesem Sinne radikalisiert; der Barock - und Schillerdarsteller huldigt einem geradezu ekstatischen Einsgefühl zwischen geschichtlichpolitischem Leben und wissenschaftlichem Erkennen und hier wieder zwischen Natur - und Geisteswissenschaft, zwischen Ich und Gemeinschaft; die Sprache der Wissenschaft selbst wird unkontrollierbar und enthusiastisch verzückt.
Auch bei dem existentialistischen Ansatz freilich war bei dem zunächst rein formalen Ruf nach einer Literaturwissenschaft, die ihren Nachdruck von einem „ selbst in die Entscheidung gerissenen Tun “(Fritz Dehn)
21empfangen sollte, die Gefahr eines Sprungs in die völkische Dynamik naheliegend. Die Zeitschrift Dichtung und Volkstum, zeitgemäß und eilig umgetauft aus dem ehrwürdigen Euphorion (wie er inzwischen von neuem heißt), widmete 1937 mehrere Aufsätze den „ neuen Aufgaben der Literaturwissenschaft “. Hermann Pongs setzt da der krisenhaften Einsamkeit der dichterischen Existenz die Geborgenheit des Dichters im „ Existenzgrund “gegenüber, der sich zeigt „ als gewachsenes Gefüge, das den Einzelnen trägt, Sippe, Stamm, Volk “, und er will damit der existentialistischen Literaturforschung einen volkhaften Sinn verleihen. Es eröffneten sich hier die gleichen Gefahren und Mißverständnisse, denen die Heideggersche Philosophie und ihr Schöpfer selber anheimfielen. Was Pongs betrifft, so spricht Werner Richter1Werner Richter, Strömungen und Stimmungen in den Literaturwissenschaften von heute. GR XXI (1946) 81 ff. nicht ganz zu Unrecht von „ seiner tragikomischen Vergewaltigung, seinem totalen Mißverstehen des, Existentiellen‘ “, und das beträfe zum Teil auch den genannten Horst Oppel.
Es ist klar, daß sich die Kritik am Volkstumsgedanken nur gegen einen unwissenschaftlichen oder böswilligen Mißbrauch einer an sich durchaus legitimen Fragestellung richtet; die Bemühung um Wesen und Art des gemeinschaftlichen Geistes, speziell des Volkstums und seiner Beziehung zum Einzelnen, wird durch ideologische Verabsolutierung nicht prinzipiell als Irrweg erwiesen, sowenig wie mit einer marxistischen Literaturbetrachtung auch schon die legitime Frage nach sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen der Kunst abgelehnt ist. Im übrigen ist festzuhalten, daß trotz der geräuschvollen Proklamation einer offiziellen Literaturwissenschaft, trotz aller Eingriffe in die Lehrfreiheit und trotz aller Hindernisse die methodologische und sachliche Forschung zum Teil fortgehen konnte, innerhalb Deutschlands und außerhalb, wo manche Vertriebene, z. B. Richard Alewyn, Karl Viëtor, Erich Auerbach, Werner Richter, Leo Spitzer, Werner Milch, die Tradition deutscher Wissenschaft fortsetzen und neue Verbindungen mit der außerdeutschen Forschung knüpfen konnten.
Es ist nicht ganz unrichtig, wenn für das Debakel der deutschen Literaturwissenschaft deren allzu „ geistes “- wissenschaftliche Tendenz verantwortlich gemacht wurde und selbst Linien von Herder zur nazistischen Literatur gezogen werden konnten. Die eingetretene Ernüchterung kann nun umgekehrt eine größere Offenheit und methodische Unbefangenheit gegenüber den wissenschaftlichen Traditionen anderer Länder befördern. Um so mehr, als diese ihrerseits, vor allem im angelsächsischen Bereich, eine lebendige und vielfältige Forschung gerade in den letzten 20 Jahren entwickelt haben.
22Ein Blick in das noch zu besprechende Buch von Hyman1Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. New York 1948. (vgl. unten S. 27 f.) zeigt die erfrischende Originalität und metaphysische Unbelastetheit der angelsächsischen Forschung2Literary History of the United States. Edited by Robert E. Spiller, Willard Thorp (u. a.) 3 vols. New York 1948 (Bibliographie!). – Fred B. Millett, Contemporary American authors. A critical survey (Kapitel über Criticism). New York 1940. – J. H. O'Leary, English Literary History and Bibliography. London 1928. – Max Ertle, Englische Literaturgeschichtsschreibung. Ästhetik und Psychologie in ihren Beziehungen. Ein Beitrag zur Methodik der englischen Literaturwissenschaft. Diss. Berlin 1936. – H. W. Häusermann, Studien zur englischen Literaturkritik 1910 – 1930 (Kölner anglistische Arbeiten 34). Bochum - Langendreer 1938., die sich nicht scheut, dem lebendigen menschlichen Phänomen der Literatur von allen, auch den nichtliterarischen Seiten her, auf den Leib zu rücken. Als die grundlegenden Mächte werden dabei von Hyman die vier Namen Darwin, Freud, Marx und Frazer genannt (mit welcher Ansicht er freilich kaum repräsentativ sein dürfte). Aber trotzdem geht es dabei nicht um eine Auslieferung der Literaturwissenschaft an einen Soziologismus und Psychologismus, sondern gerade um die Erfassung der Literatur als lebendiger Realität in dem immer sozialen Ganzen der menschlichen Kultur. Unter dem von R. C. Ransom geprägten Begriff eines „ New Criticism “festigt sich das Bewußtsein einer Literaturwissenschaft, die mit exakten, aber nicht mehr positivistischen Methoden ihren eigenen Gegenstand, die Dichtung als solche, erforscht und zwar in unmittelbarer Beziehung zu den neuen Aspekten der zeitgenössischen Dichtung selber. Auch in Amerika besteht ein Konflikt zwischen Criticism und Scholarship, d. h. einer Arbeit, die kritisch-pädagogisch den Werten lebendiger Literatur gewidmet ist, interpretieren, verstehen, werten will, und einer akademisch-historischen Forschung im engeren Sinne. Über diesen Gegensatz und das methodologische Malaise, das damit verbunden ist, orientieren u. a. Lange-Boeschenstein3Victor Lange und Hermann Boeschenstein, Kulturkritik und Literaturbetrachtung in Amerika. Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker. B. Germanistische Reihe XXIX, Breslau 1938. und das von Norman Foerster herausgegebene Werk4The Study of Letters. Literary Scholarship. Its Aims and Methods. By Norman Foerster, John C. Mc Galliard, R. Wellek, A. Warren, W. R. Schramm. Chapel Hill 1941.. Große Gestalten der deutschen Dichtung haben auch in englischer Sprache ihre moderne, werknahe Interpretation gefunden, vor23 allem Goethe durch Barker Fairley, dann Stifter durch Blackall oder Hölderlin durch Peacock1Barker Fairley, Goethe as revealed in his Poetry. London-Toronto 1932; – A Study of Goethe. Oxford 1947. – Ronald Peacock, Hölderlin. London 1938. – E. A. Blackall, Adalbert Stifter. Cambridge 1948..
In Frankreich2Fernand Baldensperger, La critique et l'histoire littéraire en France au 19e et au début du 20e siecle. New York 1945. – Philippe van Tieghem, Petite histoire des grandes doctrines littéraires en France: de la Pléjade au surréalisme. Paris 1946. blieb die methodologische Diskussion im allgemeinen im Hintergrund, aber eine schulmäßige Tradition der stilistischen „ explication des textes “und ein hoher Stand der freien und unmittelbaren literarischen Kritik hat die Forschung trotz aller positivistischen Erbschaften in der sachnahen Beschäftigung mit dem Werk und der lebendigen Dichtung gehalten. Die theoretische Diskussion der symbolistischen und surrealistischen Dichtung bat ihrerseits den Boden zum Verständnis des absoluten Wortes bereitet, und Bergson und der Existentialismus sind die Voraussetzung einer geistreichen Interpretation mit modernen Kategorien, wie sie z. B. Gaston Bachelard vertritt. Im historischen Bereich ist es der Komparatismus, der die Sprachgrenzen offenhielt und ein für die Zukunft wesentliches Programm begründete. Wenn schließlich in Italien3Luigi Russo, La critica letteraria contemporanea. 3 vol. Bari 1942 f. – Giovanni Getto, Storia delle Storie Letterarie. Milano 1942. (Idee Nuove XVI). wohl die Schule B. Croces die große Dominante ist, bleibt damit auch hier die Kritik auf die unersetzbare Eigenleistung der Poesie gerichtet.
So ist es wohl kein Wunschdenken, wenn man im allgemeinen4Vgl. auch die Artikel French Criticism, Italian Criticism usw. in Shipleys Dictionary of World Literature. , trotz aller Katastrophen der letzten 15 Jahre, eine gewisse Konvergenz der literaturwissenschaftlichen Forschung in den verschiedenen Ländern feststellen kann. Es ist, vorsichtig umschrieben, eine gefestigte Überzeugung von der Eigengesetzlichkeit und der Aktualität der Dichtung; es ist der Wille, in enger Fühlung mit der zeitgenössischen Dichtung selbst Dichtung um ihrer selbst willen zu begreifen und doch den Blick für ihre Funktion im ganzen menschlichen Dasein offenzuhalten, und es ist das Bewußtsein von der Notwendigkeit, Ideologien irgendwelcher Art zu vermeiden und vor allem auch das bloß nationale Denken in der Organisation der Wissenschaft selbst zu überwinden.
Wenn heute die Theorie der Literatur zweifellos mehr dem Wesen als der Geschichte der Dichtung gilt und Literarhistorie in den Hintergrund24 getreten ist, so ist damit das Problem einer historischen „ Synthese “keinswegs überholt. Gewiß sind Begriffe wie Fortschritt oder Entwicklung für die Literaturgeschichte fragwürdig geworden; die geschilderten Wandlungen im Bild des Menschen, die neue Fassung des Begriffs der Zeit und die Relativierung des Bewußtseins lassen keine schön konstruierte „ Geistesgeschichte “mehr zu. Aber die Existenz eines höheren Zusammenhangs, zu welchem sich die dichterischen Werke in zeitlichen Verläufen und zusammengehörigen Gruppen vereinigen, ist damit nicht widerlegt; die geschichtliche Dimension des Einzelwerks selbst ist nicht zu übersehen. Von der bloßen „ Geschichtlichkeit “der geworfenen Einzelexistenz ist wieder zur Geschichte selbst vorzudringen. Ein Neuaufbau der höheren geschichtlichen Einheiten wird erfolgen müssen, sowahr dieser Neubau auch in den übrigen Bereichen des menschlichen Lebens erstrebt wird. Als negativer Anstoß dazu wird wirken, daß die traditionellen Ordnungsprinzipien der nationalen Literaturhistorien nicht nur auf Grund politischer Erfahrungen, sondern im Lauf der Forschung selbst zweifelhaft geworden sind. Positiv aber die Einsicht, daß die Literatur eine ist, Weltliteratur ist und mindestens europäische Literatur nicht nur eine Idee, sondern eine konkrete geschichtliche Wirklichkeit bedeutet. Die beiden Aspekte des Kunstwerks, seinen unerklärlichen Ursprung und sein Angewiesensein auf die soziale Welt und auf seinen geschichtlichen Traditionszusammenhang, seinen Werk - und seinen Wirkungscharakter zusammenzusehen als Dauer und Wechsel, Sein und Werden zugleich, das ist höchste einheitliche Aufgabe der Literaturwissenschaft.
In diesem Sinne bedeutet auch die folgende Einteilung der Probleme bloß die Entfaltung einer einzigen Literaturwissenschaft nach verschiedenen Aspekten, die aber zusammengehören, so wie beim Menschen Leib, Seele und Leben zusammengehören.
Literaturwissenschaft ist erstens bewahrender und rettender Dienst am konkreten Text, d. h. Philologie im engeren Sinne von Textkritik und Editionstechnik (II).
Sie ist zweitens Wissenschaft von der Entstehungs - und Seinsweise, von den Strukturen und Erscheinungsformen des dichterischen Werks, d. h. Poetik (III).
Sie ist drittens Wissenschaft von den Zusammenhängen der Werke unter sich, von ihrer zeitlichen und räumlichen Gruppierung, d. h. Literarhistorie (V).
Zwischen das dritte und fünfte Kapitel stellen wir die Betrachtungsweisen, die das Werk auf seine persönlichen und kollektiv-seelischen und sozialen Funktionen hin erkennen und damit teilweise über den Rahmen der Literaturwissenschaft im strengen Sinne hinausführen, aber auch, da sie den Träger der Dichtung, den Menschen, ins Auge fassen, sowohl die25 Poetik wie die Historie der Dichtung auf einen gemeinsamen Hintergrund beziehen (IV).
Die moderne Literaturwissenschaft ist als einer der wichtigsten Exponenten des geschichtlichen geistigen Lebens in steter Bewegung und Offenheit nach allen Seiten. Sie hat dies selbst gerechtfertigt durch den Aufweis ihres existentiellen Charakters. Aber wenn sie auch auf eine Systembildung verzichten zu müssen meint, so ringt sie doch immer um den Begriff ihrer selbst und organisiert sich mit einem Programm immer wieder praktisch im Betrieb von Studium, Lehre und Forschung. So darf zunächst die Frage nach einer Gesamtdarstellung ihrer Prinzipien und Ziele, ihrer Methoden und Hilfsmittel erhoben werden. Ohne weiteres nützlich und möglich sind Gesamtdarstellungen als Übersicht über die wissenschaftliche Literatur, als Charakteristik wissenschaftlicher „ Schulen “oder als lexikalisches Verzeichnis ihres Fachvokabulars und seiner Inhalte; problematischer aber ist es nun eben, eine umfassende und systematische Synthese der verschiedensten Gesichtspunkte und Methoden der Literaturforschung zu unternehmen. Selbst die Beschränkung auf die philosophischen Voraussetzungen der Literaturwissenschaft ist nur möglich im Rahmen einer bestimmten Philosophie; so unternimmt die Dissertation von H. Schweizer1Hans Schweizer, Die theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft. Diss. Zürich 1944. zwar den löblichen Versuch, die Gesamtheit der literaturwissenschaftlichen Probleme des Werks, des Schaffens, der Geschichte einheitlich zu klären, bewegt sich aber im Bereich der geisteswissenschaftlichen Schule von Dilthey bis Ermatinger und bleibt damit doch wohl zurück hinter den heute aktuellen Problemstellungen.
Der Berliner Ordinarius Julius Petersen hat als Abschluß eines reichen Lebenswerkes, das nicht zuletzt der Organisation der deutschen Literaturwissenschaft gewidmet war, den bisher umfassendsten Versuch eines solchen Systems vorgelegt2Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. Bd. 1: Werk und Dichter. Berlin 1939.. Es ist im Ziel nur vergleichbar Ernst Elsters zweibändigen Prinzipien der Literaturwissenschaft (1897 u. 1911), einem Werk, das von der Psychologie Wundts her einen umfassenden Aufriß der Wissenschaft geben wollte, sich allerdings dann im engeren Rahmen einer psychologischen Poetik und Stilistik halten mußte. Andere methodologische Werke griffen zur Form einer Behandlung ausgewählter Probleme26 durch verschiedene Fachleute (Emil Ermatingers Philosophie der Literaturwissenschaft, 1930) oder gaben bloß eine Orientierung über die Lage durch eine Diskussion der aktuellen Strömungen und einen historischen Rückblick (so Werner Mahrholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, Leipzig 1932). Petersens monumentales Werk ist nicht zu Ende gekommen; dem ersten Band, der nach einem historischen Rückblick die Probleme des Werks und des Dichters behandelt, sollte ein zweiter folgen, dessen drei Hauptteile den „ Ordnungen “(Raum, Zeit, Gesellschaft, Geist), dem Problem „ Völker und Zeiten “(nationale Literaturgeschichte, Geistesgeschichte und Stilgeschichte, Literaturvergleichung, Weltliteratur) und schließlich den Fragen der Darstellung (Standort, Einfühlung und Intuition, Aufbau, Sinn der Literaturwissenschaft) gewidmet sein sollten. Petersens Tod hat die Vollendung des Werks verhindert.
In seinem Buch Wesensbestimmung der deutschen Romantik hatte Pe - tersen an einem Beispiel unternommen, die verschiedensten Erkenntnisse und Methoden der Forschung zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Auf breitester Front wird jetzt versucht, dies für die Literaturwissenschaft überhaupt zu leisten: „ Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe “, „ Ausgleich zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen “, „ Kritischer Überblick über alle Methoden “, in einer Verbindung von „ Rückschau, Umschau und Ausschau “, so heißt das Programm. Ein ungeheures Material ist scharfsinnig und glänzend in wohlproportionierten Teilen und Stufen geordnet, von den einzelnen technischen Fragen der Textherstellung über Werk und Dichter zu den großen historischen Ordnungen, worauf im letzten Abschnitt „ Darstellung “die Wissenschaft gleichsam in sich selbst zurückkommen sollte. Historische Darstellung, Referat der verschiedenartigen Forschungen, Diskussion der Widersprüche und eigener Systembau sollen in Einem gegeben werden.
Eine systematische Bibliographie hat Petersen zwar nicht beabsichtigt. Dennoch liegt der unmittelbarste Nutzen des Werks im Erschließen der Hilfsmittel und im gewonnenen Überblick über die Möglichkeiten literaturwissenschaftlicher Forschung überhaupt. Problematischer ist die systematische Seite, denn Handbuch und System sind nicht dasselbe. Auch wenn keine Wissenschaft möglich ist ohne Gespräch, ohne Ausgleich und Verständigung, so ist doch die Vorstellung eines Systembaus, in welchem auch noch das abgelegenste Steinchen seinen Platz fände, zweifelhaft geworden. Ein solcher Kosmos der Methoden bleibt eine Abstraktion, ja eine Illusion; es ist eine rein formale Kombinatorik, der die vorliegenden Methoden und Ergebnisse gleichsam post festum unterworfen werden, ohne auf eine gemeinsame Mitte bezogen zu werden; manche Positionen und Begriffe werden durch ihre Einordnung ins System geradezu um ihren27 Sinn gebracht (z. B. Existenz, Stil). Wenn Petersen von den Begriffen der Ermatingerschen Poetik meint, es sei möglich, „ beinahe den ganzen Schaffensvorgang an diesen Anhaltspunkten wie einen Rosenkranz herunterzubeten “, so erweckt er selbst wohl dasselbe Mißverständnis – als ob die vollkommene wissenschaftliche Arbeit im sukzessiven Anwenden aller stufenweise geordneten Gesichtspunkte geleistet wäre. Das Buch läßt ratlos, sowie es über das – an sich hervorragende – Referat hinausgeht: denn es muß diesem nachträglichen System der Einheits - und Mittelpunkt fehlen. Das Werk ist so schließlich das letzte Monument einer Wissenschaftsgesinnung, die dem 19. Jahrhundert zugehört, jetzt aber merkwürdig entleert wirkt: idealistisch im Glauben an das harmonische und universale System, positivistisch im Verzicht auf Spekulation zugunsten eines „ undogmatischen Aufbaus “aus den Elementen (z. B.: „ Aus der Analyse der Einzelwerke sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer Darstellungen zusammengewirkt werden kann “).
Petersens Werk zieht zwar auch nichtdeutsche Forschungen heran, lebt aber doch im wesentlichen ganz aus der deutschen, der germanistischen Forschungstradition. Eine völlig andere Luft weht in dem glänzenden Buche Stanley Edgar Hymans, der überragenden Darstellung angelsächsischer Literaturwissenschaft1Stanley Edgar Hyman, The Armed Vision. A Study in the Methods of Modern Literary Criticism. New York 1948.. Hyman scheint einerseits die deutsche Literatur und Literaturwissenschaft kaum zu kennen, aber in seinem Bereich gibt er nicht nur eine äußerst reichhaltige, sondern auch eine sprühende, kluge und witzige Diskussion der verschiedensten modernen Methoden der Literaturkritik („ Literary Criticism “wird dabei abgegrenzt einerseits gegen „ Reviewing “, anderseits gegen „ Aesthetics “). In zwölf, je mit einem Schlagwort gekennzeichneten Kapiteln charakterisiert er je einen führenden Kritiker oder Wissenschafter in der ganzen Breite seiner Werke, um dann von hier nach den verschiedensten Seiten vorzustoßen. Ist so durch ein lockeres und der Intention der verschiedenen Forschungsrichtungen angepaßtes Verfahren jeder Systemzwang vermieden, so versucht Hyman in einem Schlußkapitel doch eine Art Synthese zu geben, zunächst im ironischen Ausmalen des idealen Wissenschafters, der sämtliche Methoden eklektisch verbinden und mit einem Literaturwerk alles nur Denkbare unternehmen würde, also über ein lyrisches Gedicht mehrere Bände und über eine Novelle ein Lebenswerk zu schreiben hätte, dann aber ernsthaft mit dem Programm einer planmäßigen Zusammenarbeit der verschiedenen Spezialisten in echtem dialektischen Kampf und Wettkampf. So wird vom amerikanischen Gelehrten der Gedanke der Kooperation ausgespielt gegen eine deutsche Forschung,28 die sich entweder im irrealen Systembau oder in der existentialistischen Vereinzelung verliert. Hier liegt auch die Begründung dafür, daß Hyman zwar eine Erkenntnis der Literatur als solcher erstrebt, aber gerade von nicht-literarischen Wissenschaften die wesentlichen Aufschlüsse erwartet, vorab von den Sozialwissenschaften und der modernen Psychologie. Wenn das dem Adepten deutscher Wissenschaft fragwürdig vorkommt, so wird er sich doch gerne angesichts der Offenheit und Unbefangenheit der hier entwickelten Haltung der großen Gefahren eigener wissenschaftlicher Inzucht bewußt werden.
Vorsichtiger, schulmäßiger ist die Theory of Literature von Wellek und Warren1Wellek-Warren s. oben S. 7., die zweifellos die beste und umfassendste Orientierung über moderne Prinzipienlehre bietet und jedenfalls David Daiches2David Daiches, A Study of Literature. For Readers and Critics. Ithaca N. Y. 1948. einfachere Einführung in die Probleme weit übertrifft. Ihr großer Wert liegt darin, daß hier zur angelsächsischen auch die kontinentaleuropäische Forschung, selbst die Rußlands, einbezogen ist und sich so die Traditionen alter und neuer Welt fruchtbar begegnen. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der ausgezeichneten Bibliographie ausgewählter Werke. Der Aufbau erfolgt weder in strenger Systematik noch von einzelnen Forscherpersönlichkeiten aus, sondern nach einer mehr oder weniger systematischen Folge von Problemkomplexen, unter den nicht unbedingt überzeugenden zwei Hauptgruppen des „ Extrinsic Approach “(biographische, psychologische, soziologische, ideengeschichtliche, kunstgeschichtliche Methoden) und des „ Intrinsic Approach “(Poetik und Literaturgeschichte). Eine „ Synthese “wird nicht gegeben, es sei denn die Forderung, den Atomismus, Positivismus und Relativismus der alten Schule einerseits, den „ verbalism “der abstrakten Geisteswissenschaft anderseits zu verlassen zugunsten einer übernationalen sachnahen Wissenschaft der Literatur, angeregt und geleitet von moderner Kritik und zeitgenössischer Literatur selbst, „ from participating in literature as a living institution “. Wir werden im Folgenden die klugen und umsichtigen Erörterungen von Wellek und Warren immer wieder heranziehen müssen. Nur für elementare Bedürfnisse bestimmt ist die kleine Einführung Richard Newalds3Richard Newald, Einführung in die deutsche Sprach - und Literaturwissenschaft. Lahr 1947..
Den systematischen Schwierigkeiten enthoben und für den praktischen Gebrauch oft geeigneter ist die lexikalische Anordnung der Begriffs - und Methodenlehre. 1925 – 1931 hatten Paul Merker und Wolfgang29 Stammler ihr Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (4 Bände) herausgegeben. Dieses noch heute unentbehrliche Werk brachte auf Grund der neuen Gesichtspunkte der allgemeinen Literaturwissenschaft eine nach Schlagworten alphabetisch geordnete Darstellung der Gattungen, Formen, Sachkomplexe und Probleme wenigstens des deutschen Literaturbereichs und seiner Wissenschaft. Die Beschränkung auf verhältnismäßig wenige, aber umfassende Stichworte und dafür deren systematische und wissenschaftlich selbständige Bearbeitung samt reichhaltiger Bibliographie führte zu einer in hohem Grad gleichmäßigen, geschlossenen und repräsentativen Zusammenfassung des damaligen Standes der deutschen Literaturwissenschaft. Diese Vorteile sind in einem neuern amerikanischen Werk zugunsten einer unendlich reicheren Fülle und Vielfalt preisgegeben: das Dictionary of World Literature, das Joseph T. Shipley 1943 mit Hilfe von 260 Fachleuten (meist amerikanischen) herausgab, ist nicht in erster Linie ein Nachschlagewerk zur Weltliteratur als solcher; im Vordergrund steht die Literaturtheorie und Prinzipienwissenschaft mit ihren Begriffen und Problemen samt deren Geschichte. Es will eine Darstellung sein der „ Kritiker und der Kritik, der literarischen Schulen, Bewegungen, Formen, Techniken – mit Einschluß von Drama und Theater – in der östlichen und westlichen Welt seit den frühesten Zeiten, von literarischen und wissenschaftlichen Begriffen und Ideen, mit anderem Material ... “ Der Überreichtum der Stichwörter und Gesichtspunkte, die in einem Band zusammengedrängt sind, kann nur gehen auf Kosten der Vollständigkeit im einzelnen und bringt manche Willkür und Ungleichmäßigkeit mit sich. Schon in jeder einzelnen nationalen Literaturwissenschaft ist die Terminologie ein Bestand aus geschichtlich völlig heterogenen, sich überschneidenden, halb konventionellen, halb individuellen Namen oder Definitionen, niemals das eindeutige Instrumentarium einer bestimmten wissenschaftlichen Technik. Wo sich das Material aus sämtlichen Literaturen und Literaturwissenschaften zusammenfindet, wird die Sprachverwirrung potenziert oder wird die Übersicht erst recht lückenhaft (spezifische Begriffe der deutschen Literaturwissenschaft kommen z. T. gar nicht vor – z. B. „ Idee “, „ Weltanschauung “– oder unzulänglich unter deutschem Titel – „ als ob “, „ Stimmung “– oder werden im übersetzten Titel bedeutungslos und kaum gewürdigt – z. B. „ experience “= „ Erlebnis “). Dennoch bietet das Werk eine solche Fülle von leicht erreichbaren Auskünften sachlicher und bibliographischer Art, daß es für die allgemeine Literaturwissenschaft und speziell auch eine Weltliteratur-Wissenschaft ein überaus nützliches Handbuch bleiben wird. Daß es bewußt auf praktische und allseitige Verwendbarkeit angelegt ist, entzieht dieses erstaunliche Wörterbuch weithin dem Vorwurf einer unsystematischen Kompilation von Materien und Gesichtspunkten.
30Für die deutsche Literatur mag stellenweise die zweite Auflage des deutschen Literaturlexikons von Kosch zu Rate gezogen werden; obwohl die Absichten dieses Namenlexikons durchaus biographisch-historisch gerichtet sind, sind zahlreiche Artikel über literaturwissenschaftliche Begriffe eingestreut, die vor allem mit ihrer Bibliographie wichtig sind. Daß schließlich ein Kleines literarisches Lexikon1Kleines Literarisches Lexikon. (Bd. 3: Literarisches Sachwörterbuch) 3 Teile. Bern 1946 – 48. nur den elementarsten Bedürfnissen genügen kann, ist selbstverständlich2Nicht mehr berücksichtigt werden konnte Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-Leipzig 1951 ff. Darin für unser Thema wichtig: 1) Sp. 39 ff. Horst Oppel, Methodenlehre der Literaturwissenschaft (d. h. eine kurze Übersicht über die Probleme des Schaffens, des Werks, des Verstehens – ohne Berücksichtigung der methodologischen Probleme der Literarhistorie) und 2) Sp. 215 ff. Fritz Martini, Poetik (mit historischer Entwicklung der Probleme). Das Werk gilt der deutschen Philologie, meist nur im deutschen Sprachgebiet, mit einer Auswahl bibliographischer Angaben..
Ein Lexikon wie das von Shipley zeigt eindrücklich, wie im Querschnitt des Wörterbuchs ein Wirrwarr heterogener Begriffe und Theorien erscheint, die aus den verschiedenartigsten sprach - und wissenschaftsgeschichtlichen Prozessen hervorgegangen sind und somit ihre geschichtliche Dimension nicht verleugnen können.
Wissenschafts geschichte als historische Entfaltung der möglichen Methoden kann selber Methodologie sein, wird dann aber doch eine umfassend geschichtsphilosophische Besinnung voraussetzen. Auch ohne solch hohen Anspruch kann sie zur Bestimmung und Abklärung des eigenen Standorts beitragen, zur Einsicht führen in die zeitliche und räumliche Bedingtheit der jeweiligen wissenschaftlichen Positionen und Vorsicht lehren im Gebrauch einer immer geschichtlich vorbelasteten Terminologie. In diesem Sinne gibt Petersen zu Eingang seiner Methodenlehre eine wertvolle Übersicht über die „ geschichtliche Entwicklung der Aufgaben. “
Die Literaturwissenschaft ist selbst so jungen Datums, daß sie noch kaum das Bild einer geschlossenen Tradition bieten kann. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hat sie „ jahrhundertelang ihr Dasein als Anhängsel zu anderen Wissenschaften gefristet “(Lempicki). Literaturkundliches Wissen wurde zunächst im Rahmen einer allgemeinen Bücherkunde (Bibliographie,31 „ Historia litteraria “) gepflegt. Die Philologie im engern Sinn fand ihre Entwicklung an den Texten des klassischen Altertums seit den textkritischen und editorischen Unternehmungen der Alexandriner. Literaturkritik gibt es seit je als lebendige Praxis und, systematisch vertieft, in Form von Rhetoriken und Regel-Poetiken; der Übergang zu einer philosophischen Ästhetik und einer wissenschaftlichen, eventuell historischen Literaturbetrachtung, wird wesentlich erst im 18. Jahrhundert angebahnt. Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie helfen schließlich zu einer systematischen Literarhistorie. Zugleich mit dem Zusammenfluß dieser Traditionen seit 1800 erfolgt aber teilweise eine neue Aufspaltung in nationale Literaturwissenschaften. So ergeben sich für Wissenschaftsgeschichten die verschiedensten Möglichkeiten der Auswahl und Begrenzung. S. v. Lem - pickis noch unübertroffene Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (1920)1Vgl. inzwischen die ausführliche Darstellung von Joseph Dünninger: Geschichte der deutschen Philologie, in Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin-Bielefeld-München 1951 ff. Sp. 79 ff., sowie den oben S. 30 zitierten Beitrag von Fritz Martini, Poetik, a. a. O. Sp. 215 ff. schließt Philologie, Kritik und Poetik aus, verfolgt aber auch die Beiträge der deutschen Wissenschaft zur allgemeinen europäischen Literatur, während umgekehrt etwa G. Getto's (s. oben S. 23, Anm. 3) Darstellung sich auf Geschichten der italienischen Literatur beschränkt, aber auch außeritalienische Beiträge heranzieht. Im allgemeinen wird eine Darstellung der neueren Epochen sich eher auf strenge Wissenschaftsgeschichte konzentrieren können als etwa eine Darstellung zum Mittelalter, wo in erster Linie die Lehrbücher und die Praxis des poetischen Unterrichts und allgemein die Auffassungen vom Wesen der Dichtung und des Dichters zur Sprache kommen werden. Eine umfassende Geschichte von dem, was man das Bewußtsein des Dichters von sich selbst (beim Dichter und beim Publikum) nennen kann, wäre eine der höchsten Aufgaben, die u. W. noch nicht gelöst ist. Immerhin führt Böckmanns Stilgeschichte auf sie hin (unten S. 137 f.).
Was die neuere Geschichte der Literaturwissenschaft betrifft, so können wir hier auf die in unserem einführenden Abschnitt genannte Literatur verweisen, und für die Einzelprobleme werden unten jeweils auch historische Arbeiten zitiert. Wir beschränken uns auf zwei eindrückliche Werke zur Poetik früherer Epochen (die hier mit Literaturwissenschaft zusammenfällt). Ein ganz neu aus den Quellen gearbeitetes Werk ist Bruno Markwardts2Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik. Bd. I. Barock und Aufklärung (Grundriß der germanischen Philologie 13 / I) Berlin und Leipzig 1937. Geschichte der deutschen Poetik, die in ihrem ersten Band32 den großen Bestand an poetischen Lehrbüchern sichtet und durch sachliche und alphabetische Register übersichtlich erschließt. Dabei wird die Entwicklung von der alten „ Anweisungs - und Lehrpoetik “(samt Metrik und Rhetorik) zu einer „ Wirkungsästhetik “und schließlich zu Schöpfungs - und Gestaltungsästhetik, zu Literaturwissenschaft und Literaturphilosophie sichtbar gemacht.
Wenn schon hier überall der größere, seinerzeit von Borinski maßgebend untersuchte Zusammenhang einer allgemeinen antiken, mittel - und neulateinischen Poetik zugrundeliegt, so gilt das erst recht für die mittelalterliche Auffassung von Poesie und poetischer Praxis. Hier sind die Ansätze von E. Faral und H. Brinkmann systematisch erweitert worden. Die Literarästhetik des Mittelalters hat 1937 H. H. Glunz1H. H. Glunz, Die Literarästhetik des Mittelalters. Wolfram-Rosenroman - Chaucer-Dante. Bochum-Langendreer 1937. in einem kühnen Buch zu charakterisieren versucht, das vor allem auf dem Zusammenhang der mittelalterlichen Dichtung und ihrer Selbstauffassung mit der Theorie der Bibelexegese, d. h. der theologischen Lehre von der Bibel als dem vollkommensten Kunstwerk, insistiert. Vor allem fällt damit Licht auf die seit dem 12. Jahrhundert sich verstärkt entwickelnde allegorische Dichtkunst, die erst mit Dante transzendiert wurde. E. R. Cur - tius hat in einer ausführlichen Kritik (Zfrom Phil. 58, 1 – 50) den konstruktiven und einseitigen Charakter des Buches scharf kritisiert und anschließend Arbeiten zur mittelalterlichen Poetik publiziert, die seither in sein zusammenfassendes Buch (s. unten S. 156 ff. ) eingegangen sind. Die Geschichte der Allegorie und mit ihr die Geschichte der mittelalterlichen Literatur und Poetik überhaupt gehört danach in das umfassende Thema des Nachlebens der Antike und damit des jahrtausendelangen europäischen Literaturzusammenhangs. Eine Zusammenstellung und Interpretation der mittelhochdeutschen Äußerungen zur dichterischen Theorie bietet Bruno Boesch2Bruno Boesch, Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang. Bern 1936..
Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung, Restauration und editorischer Darstellung dichterischer Texte, eine – mehr technische – Hilfswissenschaft zur Literaturwissenschaft im weiteren Sinne sei, oder ob diese selbst ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in der Arbeit am Text finde. Für die erste Meinung spricht, daß Textkritik und Editionstechnik nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern jeder mit überlieferten schriftlichen Dokumenten arbeitenden Wissenschaft – Historie, Theologie, Jurisprudenz usw. – den Weg bereitet, und zweitens, daß, wenn irgendwo, so hier gewisse Aufgaben mehr oder weniger gelöst werden können, worüber dann die Forschung zur Tagesordnung übergeht: große wissenschaftliche Gesamtausgaben können und sollen nicht alle 30 Jahre neu gemacht werden. Anderseits ist Arbeit an dichterischen Texten nur möglich aus dem Gesamthorizont der Literaturwissenschaft in allen ihren Disziplinen heraus und wird sie durch den ästhetischen Charakter ihres Gegenstandes, der nicht nur Dokument, sondern Kunstwerk ist, komplizierter und zentraler. Hier zeigt sich am konkretesten die Kreisstruktur der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis: das Gesamtwissen beruht auf den einzelnen Texten und Textstellen, diese aber werden nur aus dem Gesamten deutlich. Gegenüber schöngeistiger Verachtung textkritischer Kärrnerarbeit ist neuerdings eine deutliche Aufwertung einer exakten, umsichtigen Philologie festzustellen; eine ästhetisch-kunstwissenschaftliche Interpretation bedarf erst recht des sicheren Buchstabens und hat oft feststellen müssen, wie fragwürdig manchmal die Unterlagen sind. Selbst die wissenschaftlichen Leistungen des „ philologischen “19. Jahrhunderts werden im Licht einer erweiterten Literaturwissenschaft gelegentlich bedenklich – z. B. einzelne Bände der Sophienausgabe von Goethes Werken –, ganz zu schweigen von älteren, völlig unzulänglichen Ausgaben etwa im Fall Hölderlins, Brentanos, Gotthelfs usw. Daß auch neuere und neueste Dichter selbst in guten und angesehenen Händen sehr rasch von textlicher Verderbnis befallen werden, dafür bieten ein gutes Beispiel die Werke Rilkes: Ernst Zinn, ein Altphilologe, hat an den Ausgaben von Rilkes Werken die erstaunlichsten Mängel feststellen können1Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff.. Aber auch bei mehrfach edierten, ehrwürdigen Texten der älteren Literatur kann es Überraschungen geben; so, als Friedrich Ranke im altbekannten Codex neue34 Fragmente des ältesten deutschen Dramas entdeckte und damit auch für das Bekannte eine neue und sicherere Grundlage schuf1Friedrich Ranke, Das Osterspiel von Muri, nach den alten und neuen Fragmenten herausgegeben. Aarau 1944..
So ist es denn auch zu begrüßen, wenn Petersen und Kayser in ihren Gesamtdarstellungen je eine ausführliche Übersicht den Problemen der Textphilologie widmen. Darauf und speziell auf die beigefügten Literaturangaben darf hier nochmals verwiesen werden. Hier können nur ein paar beispielhafte Probleme und Leistungen der jüngsten Zeit erwähnt werden, unter Ausschluß paläographischer, bibliothekarischer, bibliographischer, druckgeschichtlicher u. ä. Probleme.
Was die Textkritik betrifft, so ist die Philologie der modernen Sprachen in besonderem Maße die Schülerin der klassischen Altertumswissenschaft. So hat der Altphilologe Karl Lachmann, der Begründer einer eigentlichen Lehre der textkritischen Methoden, für die Germanistik maßgebende Bedeutung gewonnen. Dies war wenigstens möglich, solange die germanistische Philologie vorwiegend den mittelalterlichen Texten galt. Überall, wo nicht ein vom Autor überwachter Druck die legitime Fassung darstellt, wo vielmehr eine durch Jahrhunderte oder Jahrtausende reichende Überlieferung von Handschriften die Texte bietet, geht der Weg der Textkritik von den variierenden Texten rückwärts zu den Wurzeln des Handschriftenstammbaums, zu einem zu erschließenden Archetypus, der praktisch meist auch das „ Original “zu vertreten hat (vgl. Pasquali2Giorgio Pasquali, Storia della tradizione e critica del testo. Firenze 1934.). Für die antike Literatur ist freilich mit den Papyrusfunden ein ganz neuer Quellenbereich erschlossen worden, der auch eine völlig andere textkritische Methode und Technik nötig gemacht und oft den Wert der älteren Quellenkritik relativiert hat; als Beispiel einer solch neuen editorischen Meisterleistung sei Rudolf Pfeiffers Kallimachos-Edition genannt3Callimachus ed. Rudolfus Pfeiffer, 1. Fragmenta. Oxonii 1949.. Aber auch abgesehen von neuen Funden hat sich der Verdacht verstärkt, daß das Bild vom Stammbaum häufig trügt, insofern Kreuzungen von Handschriften durch Abschreiber, Interpolationen, Bearbeitungen aller Art und jeden Rangs das Bild unabsehbar komplizieren. Der Begriff des Archetypus und selbst des Originals kann fraglich werden, wo mehrere antike Exemplare ins Mittelalter eintraten oder wo der Autor selbst verschiedenen ersten Reinschriften zu Gevatter stand. So hat G. Jachmann4Günther Jachmann, Der Platontext „ Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen “, Phil. -Hist. Kl. N. F. Fachgr. I, 4. Bd. (1940 / 4). Göttingen 1942. an Platon gezeigt,35 daß nicht nur die Papyrus-Funde die alte Stemmatologie über den Haufen werfen, sondern daß die Verhältnisse nach rückwärts immer komplizierter werden: „ Mit der Einheitlichkeit des Textes (war es) wenige Jahrzehnte nach Platon, wenn nicht schon zu seinen Lebzeiten, vorbei “– worauf dann Jahrhunderte intensiver antiker und byzantinischer „ Textmischung “folgten. Methodisch heißt das eine notwendige Rückkehr zu eklektischer Kritik; die isolierte Lesart im jüngsten und mißachtetsten Codex kann die wahre sein! In kleinerem Maßstab kann dies auch für mittelalterliche Texte gelten, und selbst noch zur Zeit des Buchdrucks gibt es sachlich und methodisch so verwickelte Fälle wie das Werk Shakespeares: es ist mit verschiedenartigen Kanälen der Überlieferung und unter Umständen von Anfang an mit dem Fehlen eines definitiven Urtextes zu rechnen1W. W. Greg, The editorial problem in Shakespeare. Oxford 1942..
Als hervorragende Beispiele moderner textkritisch-editorischer Arbeit an mittelalterlichen Handschriften seien nur zwei Werke aus germanistischem Bereich genannt: Die Ausgabe von Minnesangs Frühling durch Carl von Kraus2Des Minnesangs Frühling, neu bearbeitet von Carl von Kraus. Leipzig 1940. Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, Untersuchungen. Leipzig 1939. bildet, zusammen mit der 1935 erschienenen 10. Auflage der Gedichte Walthers von der Vogelweide, das großartige Ergebnis der Lebensarbeit eines glänzenden Kritikers, hinter welcher die Arbeit von Generationen, beginnend mit dem Begründer, Karl Lachmann, steht. Da es sich um verhältnismäßig wenige Sammelhandschriften von Liedern handelt, tritt hier die Stammbaumfrage in den Hintergrund und kann auch nur für das einzelne Lied selber, wenn überhaupt, gültig entschieden werden; ebenso tritt die Frage der Sprachgebung zurück, sofern es sich um sprachlich verwandte Handschriften handelt und eine Rekonstruktion der gesprochenen bzw. beabsichtigten Sprachform der Autoren sowieso zu äußerst hypothetischen Lösungen führen würde. Um so voller kommt die „ höhere Kritik “zu ihrem Recht; selten kann so eindrücklich wie in den Untersuchungen Kraus 'verfolgt werden, wie ein umfassendes Wissen – über das Sachliche, die Metrik, die Sprachform, den Wortschatz, die Überlieferung, die Paläographie – und, vor allem andern, künstlerischer Takt und Einfühlungsgabe sich verbinden, um in immer neuer Kombination der Argumente kranke oder verdächtige Textstellen zu erkennen und zu heilen, die Fragen der Echtheit, der Strophenfolge, der Strophenzusammengehörigkeit usw. zu entscheiden. Als Beispiel sei etwa die Behandlung Hartmanns von Aue genannt; am Problem, wo im Verse 218, 19 des berühmten Kreuzlieds ein Komma zu setzen sei, wird die36 ganze Chronologie von Hartmanns Leben und Dichten akut; zusammen mit dem Echtheitsproblem der Totenklage 217, 14 und an Hand eines minutiösen Vergleichs mit der Lyrik Reinmars erscheint das Verhältnis Hartmanns zu diesem Dichter nun in überzeugender Weise gerade umgekehrt, als es bisher angenommen wurde. Das Maß, in welchem man die immer noch gelegentlich kühnen Konjekturen akzeptiert, d. h. sie einer, wenn auch unbefriedigenden, so doch dafür real überlieferten Form vorzieht, bleibt im übrigen weithin Sache des Temperaments.
Das zweite Beispiel sei Josef Quints Ausgabe der deutschen Schriften Meister Eckharts1Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke. Stuttgart 1936 ff.. Die Predigten Eckharts haben eine „ im Ganzen hochproblematische Überlieferung “– die zum Teil sehr hohe Zahl stark abweichender, in verschiedenen Formen der Nachschrift, des Exzerpts, der Bearbeitung gehaltenen Handschriften erlaubt höchstens Gruppenbildungen, keinen Stammbaum; es ist schon prinzipiell fraglich, ob auch im besten Fall mehr als eine bloße Nachschrift rekonstruiert werden kann; das „ echte “Werk ist auch prinzipiell nicht durch eine klare Linie einzugrenzen, sondern kann nur in Graden der Echtheit vom besser zum immer schlechter bezeugten Text dargestellt werden. Dem Herausgeber stellt sich im wesentlichen die Alternative, entweder eine Rekonstruktion zu versuchen, wie und soweit es eben geht, oder im Sinn einer auch bei dichterischen Texten – z. B. in den Deutschen Texten des Mittelalters – immer mehr angewandten Methode, die einmal als beste erkannte Handschrift mit allen ihren mundartlichen und orthographischen Eigentümlichkeiten diplomatisch abzudrucken. Quint hat die erste Lösung gewählt und – allerdings auf Grund der relativ besten Handschrift der besten Gruppe – in bewundernswerter Arbeit das Gesamtmaterial zu einer Rekonstruktion benutzt, die zwar immer nur eine Annäherung bedeutet und auch in der sprachlichen Form eines normalisierten oberdeutschen Mittelhochdeutsch niemals der unerkennbaren Originalsprache Eckharts entsprechen wird, dafür aber insgesamt und vor allem sachlich einen hohen Grad an Ursprünglichkeit erreicht. Auch hier freilich liegt die letzte Autorität der textkritischen Entscheidungen im Ganzen einer aus Wissen, Erfahrung und Begabung gebildeten Gelehrtenpersönlichkeit. Über die verschiedenartigen Probleme, die überhaupt die Edition altdeutscher Texte stellt, finden sich grundsätzliche Bemerkungen bei Wolfgang Stammler2Wolfgang Stammler, Von mittelalterlicher deutscher Prosa. Rechenschaft und Aufgabe. Journal XLVIII (1949) 15 ff..
Wenn hier überall die Richtung des textkritischen Blicks eine retrospektive ist, d. h. nach einem Ursprünglichen gesucht wird, so gibt es doch auch37 schon in der älteren Literatur Fälle, bei denen nicht nur ein Original, sondern die Geschichte des Werks interessiert, weil diese selber wesentlich für das Dichtwerk und seine Wirkung ist. Vor allem dürfte dies beim Volkslied der Fall sein. Zwar hätte man auch hier immer gern eine älteste, eine „ Ur “- Fassung (wobei allerdings jede Stemmatologie prinzipiell fragwürdig ist); zugleich aber muß der Bearbeiter den auch in der Tradition charakteristischen, oft sogar schöpferischen Gang des Liedes wenigstens in gewissen Grenzen verfolgen. Das bringt auch editionstechnisch neue Aufgaben mit sich. Die 1935 begonnene große Publikation der deutschen Volkslieder, der Ertrag der Lebensarbeit John Meiers und seiner Mitarbeiter, darf darum hier genannt werden1Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien, herausgegeben vom deutschen Volksliederarchiv, Berlin und Leipzig 1935 ff.. Sie bringt nun eben keine Rekonstruktionen, sondern jeweils eine Reihe von Fassungen je im genauen Abdruck, worauf dann an Hand einer stofflichen Inhaltsangabe die sachlichen Varianten aller Quellen verzeichnet und eine Entwicklungsgeschichte das Ergebnis der wissenschaftlichen Erschließung formuliert. Daß sich das Problem durch Publikation auch der Melodien sozusagen potenziert, sei nebenbei vermerkt.
Wieder eine andere und diesmal ganz nach vorwärts gerichtete Perspektive zeigt die Textkritik bei neuzeitlichen Texten, speziell etwa im Gebiet der wissenschaftlichen Gesamtausgaben neuerer Klassiker. Hier tritt die Suche nach der „ ursprünglichen “Lesart, nach Originalen und Archetypen zurück, da der Dichter ja gewöhnlich einen selbst autorisierten Drucktext vorgelegt hat. Dafür tritt dieses dichterische Werk nun sehr oft auseinander in eine Stufenfolge: Manuskripte, Erstdruck, Ausgabe letzter Hand sind ihre wichtigsten Etappen, die nun nicht nur zur Korrektur später hereingekommener Fehler und Irrtümer zu vergleichen sind, sondern – nun im Bereich des Dichters selbst – als Entstehungsgeschichte und Fingerzeige für die Deutung in hohem Maß wichtig werden. Die Ausgabe wird zur „ historisch-kritischen “Edition. Welche Stufe ihr zugrundegelegt werden soll, ist von Fall zu Fall zu entscheiden; es geschieht heute nicht mehr so unbedingt wie früher zugunsten der Ausgabe letzter Hand: der „ letzte Wille “des Dichters ist schließlich nicht mehr als ein juristisches Argument, das mit dem ästhetischen in Konflikt kommen kann (es ist der Extremfall, wenn Max Brod die Werke seines Freundes Kafka nicht, dessen Willen gemäß, vernichtete, sondern herausgab). Vor allem aber verlangt der textkritische Apparat hier eine völlig andere Gestaltung als etwa bei einem mittelalterlichen Text. Das übliche Lesartenverzeichnis nach klassischem Muster, wie es z. T. noch die Weimarer Goethe-Ausgabe bietet, wird sonst u. U. (z. B. im Apparat zu Stifters38 Studien in der großen Pragerausgabe) zum unabsehbaren „ Leichenfeld “. M. a. W.: der Herausgeber hat die Entwicklung des Textes selber zur Darstellung zu bringen, etwa durch zusammenfassende und dann eventuell nur in Auswahl spezifizierte Anführung stilistisch zusammengehöriger Änderungen oder durch einen fortlaufenden Kommentar. In diesem Sinne hat etwa die von Jonas Fränkel begründete große Ausgabe der Werke Gottfried Kellers1Gottfried Keller, Sämtliche Werke, herausgegeben von Jonas Fränkel, Bern - Bümpliz 1926 ff., von Carl Helbling 1942 ff. die energische Wendung zu einem lesbaren, „ organischen “Apparat vollzogen, auch wenn damit der Herausgeber eine größere Verantwortung übernahm und in vielen Fällen (z. B. bei den Gedichten) die Kritik herausfordert. Zum Thema der Kellerphilologie, ihrer besonderen Schwierigkeiten und Verantwortlichkeiten, aber auch der Würde editorischer Arbeit überhaupt, bringt der schöne, bekenntnishafte Vortrag Carl Helblings2Carl Helbling, Arbeit an der Gottfried-Keller-Ausgabe, Bern-Bümpliz 1945., des Fortsetzers der Keller-Ausgabe, reiches Material. Die Herausgabe gesammelter Werke ist nicht nur ein textkritisches Problem. Die Fragen der Textauswahl, der Wahl unter verschiedenen Fassungen und vor allem der Gesamtdisposition der Ausgabe beschäftigen den Herausgeber oft ebenso sehr; darüber spricht Fritz Strich3Fritz Strich, Über die Herausgabe gesammelter Werke. Festschrift Edouard Tièche, Bern 1947, 103 ff.), indem er vor allgemeinen Regeln warnt und den stilistisch-ästhetischen Hintergrund auch dieser Probleme betont.
Am glänzendsten stellt sich aber wohl heute die große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe4Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgart 1943 ff. dar, deren methodische und sachliche Durchführung durchaus der makellosen äußeren Gestalt entspricht. (Vgl. dazu den Arbeitsbericht von Friedrich Beissner5Die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Ein Arbeitsbericht. Stuttgart 1942. und das Referat von Hans Pyritz6Hans Pyritz, Der Hölderlin-Text. Zu Beißners Edition und zum Neudruck der Propyläen-Ausgabe. DV 21 (1943), Referatenheft 88 ff.). Das Schwergewicht fiel bei dieser Ausgabe des „ Dichters der Dichter “(Heidegger) auf die Bearbeitung der Handschriften. Beissner machte sich den Blick frei, indem er zunächst alle späteren Ausgaben beiseitelegte und den Text grundsätzlich vollkommen neu aus den Handschriften und Erstschriften zu gewinnen suchte, ohne die Suggestion von seiten der späteren Lesungen. Es galt dabei nicht nur den schon in den ersten Drucken oft verlesenen und entstellten Text richtigzustellen, was39 bei den späten Gedichten gelegentlich die Rettung eines ganzen, bereits dem Konto der „ geistigen Umnachtung “gutgeschriebenen Gedichtes bedeutet, es galt nicht nur, aus dem handschriftlichen Material neue Fragmente zu gewinnen und ganze Dichtungen zu rekonstruieren. Es galt vor allem auch, in die durch Streichungen, Korrekturen, Überarbeitungen unendlich kompliziert gewordenen Manuskripte einzudringen, die Schichten und Etappen der Niederschrift voneinander zu lösen, den Werdegang des Gedichts zu erfassen, dem eigentlichen Schöpfungsprozeß nachzuspüren und damit oft das Gedicht erst in seinem Sinn zu erhellen. Das Ergebnis ist nun aber erst noch editionstechnisch darzustellen. Beissner findet einen überzeugenden neuen Weg, das immer synchronische Manuskript diachronisch lesbar zu machen: durch eine Numerierung und entsprechende typographische Anordnung werden die Etappen und Varianten wort -, wortgruppen -, vers - oder versgruppenweise in ihren Entstehungsrelationen übersichtlich. So wird diese Hölderlinausgabe zu einem Werk, das nicht nur einen überraschend neuen Text bietet, sondern methodisch epochemachend ist. Es ist darüber hinaus die schönste Dokumentation der Unzertrennlichkeit von ästhetischer Interpretation, historischer Forschung und philologischer Technik in der einen Literaturwissenschaft.
E40Literaturwissenschaft steht und fällt mit der Überzeugung, daß Dichtung – als ein Schaffen, ein Werk und ein Verstehen – etwas Wirkliches darstellt, das nicht durch ein Anderes ersetzt oder auf ein Anderes reduziert werden kann. Die Lehre vom dichterischen Phänomen in diesem dreifachen Aspekt heißt Poetik und stellt nach heute vorherrschender Überzeugung den systematisch grundlegenden Teil der Literaturwissenschaft dar. Es wird dabei noch nicht berücksichtigt, wieweit dieses Phänomen an außerkünstlerische Wirklichkeiten (d. h. die geschichtliche Menschenwelt in ihrem individuellen und kollektiven Leben aller Stufen) gebunden ist, es sei denn, daß diese Bindungen selbst sich als unmittelbar konstituierend für die Dichtung und speziell das Dichtwerk selbst erweisen.
Die Lehre von der ars poetica hat schon längst den normativen Charakter einer sog. Regelpoetik abgestreift und ist zur beschreibenden und begründenden Wissenschaft geworden, auch wenn damit eine sekundäre Verwendung zum praktischen Zweck in bewußter und unbewußter Weise nicht ausgeschlossen ist (sonst würde sie nicht gerade von den Dichtern selbst sehr oft gepflegt). Nachdem durch den Neuidealismus, vor allem bei Dilthey und seiner geistesgeschichtlichen Schule, aber auch bei Croce und seinen Nachfolgern das Wesen der Dichtung vom Begriff des Lebens oder des schöpferischen Geistes aus als ein Ausdrucksphänomen ergründet wurde und Poetik damit vorwiegend als Schaffens - bzw. Verstehenspoetik erschien, gaben Phänomenologie und Existenzphilosophie die Möglichkeit, das literarische Werk an sich nicht nur als Funktion, sondern selbst als Wirklichkeit sui generis zu begreifen und in seinem Aufbau und Geschehen zu beschreiben.
Bevor wir den von der Literaturwissenschaft in zahllosen Einzelforschungen grundsätzlicher oder praktischer Art erarbeiteten Fragen der Poetik nachgehen, ist die Stellung und der Gegenstand der Wissenschaft selbst nach außen abzugrenzen. Dichtung ist ein ästhetisches Phänomen, und damit erscheint die Poetik im Rahmen einer umfassenden Ästhetik; Dichtung ist eine Kunst unter andern Künsten, womit sich das Problem einer vergleichenden Kunstwissenschaft stellt; und Dichtung ist schließlich Kunst41 der Sprache, womit die Poetik in ihren Beziehungen zur Sprachwissenschaft zu beleuchten ist.
Ästhetik1Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906 bis 1943. – The Journal of Aesthetics and Art Criticism. Baltimore 1941 ff. wird herkömmlicherweise als Lehre vom „ Schönen “gefaßt, wobei dieser Begriff des Schönen freilich im weitesten Sinn, ohne allen normativen Charakter und ohne inhaltliche Bestimmung, zu nehmen ist. Als ästhetischer Gegenstand kann dabei nicht nur ein Kunstwerk, auch eine Landschaft, eine Menschengestalt, ja irgendein Ding oder ein Geschehen erscheinen. Poetik als Lehre vom dichterisch Schönen und vom dichterischen Kunstwerk ordnet sich dann einer umfassenden Ästhetik unter. „ Ästhetik der Dichtkunst “wäre dann Poetik von ihrer umfassenden, philosophischen Begründung her, „ Poetik “dagegen ein Teil der Literaturwissenschaft, d. h. das System der aus den dichterischen Phänomenen selbst erarbeiteten Prinzipien. Die Abhängigkeit der Poetik von einer philosophischen Ästhetik ist denn auch heute kaum sehr eng, da die poetischen Grundbegriffe, wenn überhaupt, meistens direkt auf allgemeinere philosophische Anliegen bezogen werden unter Umgehung einer philosophischen Ästhetik, bzw. sich eklektisch einzelner passender Lehrstücke der Philosophie bedienen, – was man von philosophischer Seite her denn auch als unsystematische „ Schießbudentechnik “schon gehörig gerügt hat (Perpeet).
In den neueren Werken zur philosophischen Ästhetik lassen sich verschiedene führende Richtungen der modernen Philosophie wiederfinden. So der Neoidealismus Croces2Benedetto Croce, La poesia. Introduzione alla critica e storia della poesia e della letteratura. Bari 1936. 4. Aufl. 1946. bei Gaetano Chiavacci3Gaetano Chiavacci, La ragione poetica. Firenze 1947., dessen Werk der poetischen Vernunft und ihrem schöpferischen Akt noch vor allem sprachlichen Ausdruck gilt. Das Werk des Amerikaners M. C. Nahm4Milton C. Nahm, Aesthetic Experience and its Presuppositions. New York 1946 (mit Bibliographie). ist eine historisch fundierte Theorie und Kritik der ästhetischen Erfahrung im Rahmen eines Systems des „ Empirical Idealism “. Bergson gewidmet ist Duvals5Maurice Duval, La poésie et le principe de transcendance. Paris 1935. Werk, das dem Geheimnis einer oft in Frage gestellten, aber unverändert aktuellen und notwendigen schöpferischen Kraft der Dichtung nachgeht. In Albert Görlands sehr schwieriger Ästhetik6Albert Görland, Ästhetik. Kritische Philosophie des Stils. Hamburg-Harburg 1937. ist dieser Begriff42 erweitert zu einer Lehre vom „ Stil “überhaupt, der in Kunstphilosophie, Religionsphilosophie, Ethik, Metaphysik, Bildungsphilosophie, d. h. überall wo die unverwechselbare Haltung des einzelnen Menschen und nicht die strenge Systematik der Wissenschaft bestimmend ist, zur Geltung gebracht werden soll. Schließlich tritt die Ästhetik unter die religiöse Fragestellung der philosophia perennis, wenn bei Theodor Haecker1Theodor Haecker, Schönheit. Ein Versuch. Leipzig 1936. Vgl. auch Eckart Peterich, Das Maß der Musen. Überlegungen zu einer Poetik. Freiburg i. Br. 1944. „ Schönheit “als eine „ ewige und unveränderliche Eigenheit des Seins “bestimmt und bezogen wird auf die Frage nach dem Wesen einer christlichen Kunst, die jene Schönheit natürlich und übernatürlich zu offenbaren vermag.
Die Wendung zur scharfsinnig unterscheidenden phänomenologischen Untersuchung des vielschichtigen dichterischen Kunstwerkes und der ästhetischen Wahrnehmung ist wohl immer noch am eindrücklichsten durch das Buch Roman Ingardens2Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. – Ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Lwow 1937. (Polnisch. Vgl. Helicon I [1939] 300). – Günther Müller, Über die Seinsweise von Dichtung. DV 17 (1939) 137 ff. vertreten. Wichtig ist seine Unterscheidung zwischen dem literarischen Kunstwerke selbst und dem „ literarisch-ästhetischen Gegenstande “(d. h. „ derjenigen Konkretisation des literarischen Werkes, die im ästhetischen Erlebnis zur Konstitution gelangt “). Das Werk weist nicht nur über sich hinaus in die schöpferischen Akte des Künstlers, es ist, als „ schematisches Gebilde “, notwendig unerfüllt und erfüllungsbedürftig in der Konkretisation durch den Leser. Die ästhetische Wirklichkeit, der „ ästhetische Gegenstand “, wird als ein Sein besonderer Art ähnlich bei Donald Brinkmann3Donald Brinkmann, Natur und Kunst. Zürich-Leipzig 1938. bestimmt.
Die Heteronomie der Dichtung – in bezug auf den Dichter und in bezug auf die Welt – wird in der schwer befrachteten philosophischen Ästhetik der Dichtkunst von Ernst Georg Wolff4Ernst Georg Wolff, Die Ästhetik der Dichtkunst. Zürich 1944. (Ausführliche Besprechung von Bruno Markwardt DLZ 69 [1948] 257 ff.) als auszeichnend für den poetischen Werkcharakter gegenüber den Werken der bildenden oder musikalischen Kunst aufgewiesen. Dichtung ist Dichtung, weil und sofern sie mehr als Dichtung ist. Aber dieser Nachweis erfolgt im Rahmen einer strengen Werk -, nicht einer Schöpfungs - oder Wirkungsästhetik. Das Dichtwerk ist „ absolut wirkliches Phänomen “. In seinem Charakter als Schöpfungsakt,43 als „ lebensnotwendig “, ist es bezogen auf die personale Welt des dichterischen Subjekts, aber dieses erscheint eben nur in der „ Transsubstantiation “des Werks; der Diltheysche Erlebnisbegriff scheidet damit auch hier aus. In seinem Charakter als Schöpfung aber, als „ seinsnotwendig “, ist es bezogen auf eine außerkünstlerische Welt, aber nur in der „ Transfiguration “wiederum des Werks. Diese Werkpoetik basiert auf „ erkenntniskritischer Grundlage “– in Anknüpfung an Kant, Phänomenologie und Existenzphilosophie – d. h. auf der Besinnung darauf, was es heißt, von der Philosophie her und vor aller konkreten Literaturwissenschaft eine Poetik aufzubauen. Es ist wohl die Bedeutung dieses eigenwilligen und schwer übersehbaren Werks, daß es den unersetzlichen Offenbarungscharakter der Dichtkunst im Werk untersucht, ohne bei bloßer Phänomenbeschreibung zu verharren oder zu einer L'art pour l'art-Poetik zu kommen.
Die spezielle Bestimmung des dichterisch Schönen gegenüber dem Schönen der Kunst überhaupt und der andern Künste führt hinein in die Probleme einer vergleichenden Kunstwissenschaft bzw. einer „ allgemeinen Kunstwissenschaft “, wie sie seit Max Dessoir und E. Utitz von der Ästhetik unterschieden wird. Schon die auf die Künste bezüglichen Termini der alltäglichen wie der wissenschaftlichen Sprache praktizieren eine Vermischung und Vergleichung der verschiedenen Sinnes - und Geistesbereiche (z. B. Aufbau einer Dichtung, Farbton, Klangfarbe, dichterisches Bild) oder sind zum vornherein gemeinsam (wie z. B. Rhythmus, Symbol, Stil). Ist eine systematische Übertragung oder Vereinheitlichung der Begriffe und Methoden möglich – nicht nur im Bereich einer Kunstpsychologie1O. Sterzinger, Grundlinien der Kunstpsychologie, Graz-Wien, L. 1938, 2 Bde., sondern der Kunstwissenschaften selbst? Oder bleibt es bei unverbindlichen, ja verwirrenden Metaphern? Vor allem die Wissenschaft von der bildenden Kunst hat mit der Typologie der Stile, die Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen entwickelte, auf die Literaturwissenschaft eingewirkt. Aber diese „ wechselseitige Erhellung der Künste “, wie sie Os - kar Walzel und Fritz Strich propagierten, ist nicht recht gediehen oder bleibt auf der Ebene bloßer summarischer Beziehungen stecken (wie etwa bei J. Gebsers2Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Stuttgart 1950 ff. Betrachtung nicht nur der Künste, sondern aller Ausdrucksformen unter dem Begriff der Perspektive). Es ist hier eine gewisse Reaktion eingetreten; man vergleiche etwa die vorsichtige Darstellung des Problems bei Wellek und Warren. Es kann sich keinesfalls um ein durchgehendes44 analogisches Verhältnis der Künste handeln. Auch wenn man nur die gleichzeitigen Künste eines und desselben Kulturträgers berücksichtigt, wird es sich um ein kompliziertes System der komplementären Ergänzung, der Beeinflussungen, der verschiedenen Eigengesetzlichkeiten, bis zu einem gewissen Grad auch um zeitliche Phasenverschiebungen, ja vielleicht selbst um Pseudomorphosen, d. h. künstlerische Ausdrucksversuche mit untauglichen Mitteln oder widerspenstigen Mitteln, handeln (z. B. Programm - Musik, barocke Bildgedichte). Das Problem hat natürlich damit auch nicht nur seine stilistische, sondern auch seine werthafte und historische Seite, von der psychologischen und semasiologischen (s. u.) ganz abgesehen. Über das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste orientiert noch immer ausgezeichnet Fritz Medicus1Fritz Medicus, Das Problem einer vergleichenden Geschichte der Künste (in: Philosophie der Literaturwissenschaft, herausgegeben von E. Ermatinger, Berlin 1930). – Neuerdings Kurt Berger, Die Dichtung im Zusammenhang der Künste. DV 21 (1943) 229 ff., seither auch Kurt Wais2Kurt Wais, Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, Bild und Tonkunst, Stuttgart 1936.. Aufschlußreiche praktische Versuche geben u. a. Richard Benz3Richard Benz, Die deutsche Romantik. Die Geschichte einer geistigen Bewegung, Leipzig 1938. – Ders., Deutsches Barock, Leipzig 1949. – Vgl. dazu Wilhelm Werkmeister, Der Stilwandel in der deutschen Dichtung und Musik des 18. Jahrhunderts (Neue deutsche Forschungen, Abt. Musikwissenschaft Bd. 4). Berlin 1936., Emil Staiger4Emil Staiger, Musik und Dichtung, Zürich 1947., Georg Weise5Georg Weise, Die geistige Welt der Gotik und ihre Bedeutung für Italien. Halle 1939..
Einen zusammenfassenden prinzipiellen Versuch, das tertium comparationis der verschiedenen Künste zu bestimmen, gibt Max Nussberger6Max Nussberger, Die künstlerische Phantasie in der Formgebung der Dichtkunst, Malerei und Musik. München 1935.. Er unterscheidet vier allgemeingültige Prinzipien der Formung, welche das Vorgehen der schaffenden, gestaltenden Phantasie überall bestimmen. Ein vorliegender Stoff wird in allen Künsten in den Formen der Steigerung, der Häufung, der Schlichtung (sinnvolles Auswählen) und der Ordnung verarbeitet. Nussberger erwägt anschließend auch die Tragweite dieser Gesichtspunkte für die Erkenntnis der künstlerischen Persönlichkeiten und für die Organisation einer Geschichte der Künste. Es scheint nur, daß45 mit solchen weiten und groben Maschen (auch wenn sie systematisch vollständig und schlüssig wären) nur Stoffliches und Technisches, nicht aber das eigentliche Wesen des künstlerischen Vorgangs und der verschiedenen Künste selbst erfaßt wird. M. a. W.: die Analogie ist nur möglich durch eine Aufspaltung des Werks in Einzelelemente (Inhalt, Form, usw. ), die gerade dadurch in ihrer Bedeutung, ihrem Stellenwert im ganzen, vernachlässigt werden. Ähnlich wie Nussberger versucht auch T. M. Greene1Theodor M. Greene, The Arts and the Art of Criticism. Princeton 1940., eine Reihe gleichbleibender Gesichtspunkte (complexity, integration, rhythm) für alle Künste zur Geltung zu bringen.
Dichtung ist – und das unterscheidet sie von den andern Künsten – „ worthafte Stiftung “, Sprachkunst, Wortkunst. Diese ist aber nicht mit Sprache und Sprechen identisch. Sie unterscheidet sich vom Sprachgebrauch des Alltags, der Wissenschaft usw. durch ihren literarischen oder speziellen poetischen Charakter. Damit sind zwei Problemkreise gegeben, welche die moderne Poetik und Stilkritik in besonderem Maße beschäftigen: 1. die Abgrenzung von Sprache und Sprachkunst gegen andere, künstlerische oder nichtkünstlerische Ausdruckswelten und Zeichensysteme, und 2. die Abgrenzung der Poesie gegen andere Formen des Sprachlichen, nicht nur gegen die Sprache als solche, sondern auch gegen das, was im weitesten Sinne als „ Literatur “erscheint und innerhalb des Sprachlichen in den Bereich des Nicht-Poetischen reicht. Zuerst sollen uns Grenzen und Beziehungen zwischen der Sprache und der „ Literatur “im weitesten Sinne beschäftigen.
Mehr und fruchtbarer als von den Wissenschaften der Nachbarkünste ist die Literaturwissenschaft von der neueren Sprachwissenschaft2Bibliographie linguistique des années 1939 – 1947; publiée par le Comité international permanent des linguistes. 2 vols. Utrecht-Bruxelles 1949, 1950. Vgl. inzwischen auch: Leo Weisgerber, Sprachwissenschaftliche Methodenlehre. In: Deutsche Philologie im Aufriß, herausgegeben von Wolfgang Stammler, Berlin - Bielefeld-München 1951, Sp. 1 ff. angeregt und gefördert worden. Je mehr sich die Sprachwissenschaft wieder auf ihren geisteswissenschaftlichen Charakter besann und die ausschließlich historisch-positivistische Methode der Junggrammatiker verließ, um so enger ist sie wieder in die ursprüngliche Nachbarschaft der Literaturwissenschaft gerückt; und umgekehrt betont die Literaturwissenschaft den46 konkreten Charakter ihres Gegenstandes, indem sie es liebt, statt von Werken der Dichtung von Werken der Sprache (Staiger) oder vom „ sprachlichen Kunstwerk “(Kayser) zu reden. Daß der Geist der Sprache einer Nation auch der Geist ihrer Dichtung sei, ist ja die grundlegende Konzeption Herders und der jungen Geisteswissenschaften überhaupt gewesen. Wie darüber hinaus die Sprache allen Kulturbereichen und die Sprachwissenschaft allen Wissenschaften aufs engste verbunden ist, hat Leo Weisgerber1Leo Weisgerber, Die Stellung der Sprache im Aufbau der Gesamtkultur (Wörter und Sachen 15, 16). Heidelberg 1934. in dem umfassenden Rundgang seiner eindrücklichen Abhandlungen neuerdings dargetan; auch ihre Funktion für das physische und psychische Selbstverständnis des Menschen ist bedeutend2Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde. Zürich 1948. – Ernst Jünger, Sprache und Körperbau. Zürich (1947)..
Das Hauptverdienst für die neue Annäherung von Sprach - und Literaturwissenschaften3W. v. Wartburg, Einführung in die Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft. Halle 1943. gebührt der sog. Genfer Schule der Linguistik (Fer - dinand de Saussure und Charles Bally4Charles Bally, Linguistique générale et linguistique française. 2. Auflage. Bern 1944.), die vor allem im romanistischen Bereich gewirkt hat (neuere Werke von Marouzeau5J. Marouzeau, Traité de stylistique latine. Paris 1946., Spit - zer6Leo Spitzer, Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics. Princeton 1948. – Ders., A Method of Interpreting Literature. Northampton, Mass. 1949., Winkler7Emil Winkler, Sprachtheoretische Studien (Berliner Beiträge zur roman. Philologie III, 2). Jena und Leipzig 1933.). Die synchronistische Betrachtung eines Sprachzustandes enthüllt die Sprache als lebendiges System von Ausdruckszeichen, das im Zusammenhang wieder des sozialen Lebens steht. Dabei ist Sprache, langue, von der Rede, parole, des einzelnen in ihrer aktuellen Verwendung zu unterscheiden. So wird auch der Blick frei für die ganz verschiedenartige Funktion der sprachlichen Mittel – ihre mehr rationale oder mehr emotionale Verwendung –, und die Aufgabe einer Unterscheidung der verschiedenen möglichen Symbolfunktionen des Sprachzeichens auf den verschiedenen Ebenen des Lautes, des Wortes, des Satzes neu gestellt. Sprache wird selbst ein Stilphänomen und tritt als solches, besonders wo es um die Untersuchung der gefühls - und willensmäßigen Aspekte geht, unter ähnliche Gesichtspunkte wie die dichterische Sprache. Ja man kann u. U. von der Einheit von Sprach - und Literaturwissenschaft sprechen, sofern ein47 kontinuierlicher Übergang von umfassenden zu immer spezielleren Sprachsystemen und schließlich zum Einzeltext besteht. Besonders wenn im Sinne Croces echte Poesie eingeschränkt wird auf die bloß momentan eintretende Transfiguration (so auch in den Essays Giulio Bertonis1Giulio Bertoni, Lingua e poesia. Saggi di critica letteraria. Firenze 1937.), bleibt der Stilkritik im wesentlichen die Sprache als Untersuchungsfeld, mit ihren mannigfachen halb oder ganz außerpoetischen Verwendungen; ein Werkganzes aber wird kaum damit erfaßt sein. Auch L. Spitzer hat die Sprachstilistik zu einer Stilistik der literarischen Sprache entwickelt und dringt von exakten Grundlagen des linguistischen Befunds (vor allem im Bereich des Wortes) zum „ inward life center “vor; aber auch hier ist es weniger das Einzelwerk als eine größere sprachliche Welt, die erschlossen wird, und nicht unbedingt eine dichterische im strengen Sinne – etwa bei der Untersuchung der amerikanischen Reklamesprache „ explained as popular art “.
In die Nähe einer solchen, von der Linguistik herkommenden Stilkritik ist auch die angelsächsische Sprach - und Literaturkritik zu stellen, die sich an den Namen von I. A. Richards knüpft und ebenfalls vom Problem des sprachlichen Zeichens und seiner Leistungen ausgeht2W. M. Urban, Language and Reality. The Philosophy of Language and the Principles of Symbolism. London 1939. – Charles Morris, Signs, Languages, and Behaviour. New York 1946. – William Empson, Seven types of ambiguity. 2nd edition. London 1947. – Irving J. Lee, General Semantics and Public Speaking. „ The Quarterly Journal of Speech “XXVI (1940) 594 ff.. Zeichencharakter, Symbolcharakter im allgemeinsten Sinne haben nicht nur auch die andern Künste, sondern jede Art von Ausdruck, Mitteilung, Verständnis und Selbstverständnis des Menschen. Zeichenwissenschaft, Semantik wird wesentlich für Logik und Erkenntnistheorie, Psychologie, Anthropologie und überhaupt alle Kulturwissenschaften. „ Semantics “wird eine für England und Amerika kennzeichnende wissenschaftliche Bewegung, welche auf die Verbindung und Einheit der Wissenschaften ausgeht. Das Standardwerk dieser Bewegung lieferten Ogden und Richards unter dem programmatischen Titel Meaning of Meaning (1923). Es ist eine Wissenschaft vom Zeichen und speziell vom Wortzeichen in seinen verschiedenen Verwendungstypen (z. B. referential oder symbolic gegenüber emotive oder evocative), auf Grund vor allem soziologischer und psychologischer Gedankengänge und Experimente, mit den Mitteln genauer Wortdefinitionen und mit dem Zweck, die zwischenmenschliche Verständigung zu verbessern. (Eine praktische Anwendung ist Ogdens Basic-English geworden.) Die Anwendung der Methode auf die Erkenntnis der Literatur hat schließlich auch zu dem Werk von Richards 'Principles of Literary Criticism48 geführt, das die moderne angelsächsische Literaturtheorie eigentlich begründete, im wesentlichen aber ohne Einfluß auf die deutsche Forschung blieb. (Vgl. darüber Hyman.)
Sprache wie Literatur sind lautliche Zeichensysteme, an beiden ist „ ergon “und „ energeia “, ein soziales und ein individuelles Element, eine äußere und eine „ innere “Form zu unterscheiden. Beide können stilkritisch, physiognomisch betrachtet werden – bei beiden aber macht wohl die synchronistische Betrachtung nach wie vor die diachronistische, d. h. historische nicht überflüssig. Literaturgeschichte und Sprachgeschichte haben vielleicht sogar parallelen Verlauf. Das Verhältnis besteht nicht in bloßer Analogie, sondern ist ein enges Ineinander der Entsprechungen und Wirkungen. Seit Herder weiß man, daß im Grunde jedes Wort ein Gedicht darstellt. Umgekehrt spielt aber die Dichtung auch auf der festen Klaviatur der grammatischen Systeme. Man kann die grammatischen Kategorien sogar bis in die dichterischen Werkstrukturen hinein verfolgen. So hat man etwa die Grundbegriffe lyrischer, epischer und dramatischer Dichtung mit den grammatischen Dreiheiten Subjekt, Objekt, Prädikat oder der ersten, dritten und zweiten Person oder Laut, Wort und Satz in Beziehung gesetzt (Staiger, Petersen S. 119). Die Sprache ist zugleich Material, Werkzeug und Werk der Dichtung. Damit ist sie immerhin mehr als eine bloße „ Schicht “im Dichtwerk. Dennoch ist der Werkcharakter eines künstlerischen Wortgebildes ein rangmäßig anderer als der Werkcharakter einer Sprache; Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft sind aufeinander angewiesen, aber nicht identisch.
Der Übergang wird vor allem dort deutlich, wo nicht die Stilganzheit des Werks, sondern seine einzelnen „ Aspekte “(s. unten S. 93 ff. ) des Lautlichen, Vorstellungshaften, Gedanklichen in Frage stehen. Hier sei vorläufig nur an ein paar Möglichkeiten des sprachwissenschaftlichen Zugangs zur Dichtung von den drei entsprechenden Kategorien des Lautes, des Wortes und des Satzes her erinnert.
Lautmalerei und Lautsymbolik werden heute von beiden Seiten in ihrer sprachlichen wie literarischen Funktion wieder ernst genommen; darüber referiert ausgezeichnet Erich Brock1Erich Brock, Der heutige Stand der Lautbedeutungslehre. Trivium II (1944) 199 ff. – Wilhelm Schneider, Über die Lautbedeutsamkeit. ZfdPh. (1938) 63, 138 ff. – E. Fenz, Laut, Wort, Sprache und ihre