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DEN FÜHRERN DER MORALISCHEN REVOLUTION GEWIDMET
„ Man muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie der Prophet saget. “
Wenn man will, ist der Sinn dieses Buches, dass es die während des vierjährigen Krieges gegen die Regie - rungen der Mittelmächte erhobene Schuldfrage systematisch ausdehnt auf die Ideologie der Klassen und Kasten, die diese Regierungen möglich machten und stützten. Die deut - sche Staatsidee hat den deutschen Gedanken vernichtet. Die deutsche Staatsidee ist es, die ich mit diesem Buch treffen will. Um sie in all ihrer Macht und volkswidrigen Tradition darzutun, musste ich sie historisch entwickeln und Gesichts - punkte aufstellen für die Kritik ihrer hervorragendsten Re - präsentanten.
Die Frage nach den Gründen unserer Isolation be - schäftigte mich vorzüglich seit Herbst 1914. Ich bemühte mich, die Prinzipien ausfindig zu machen, mit denen das Deutschtum der ganzen Welt sich entgegensetzte. Es ist wohl möglich, dass mein Bestreben, noch die letzten und heimlichsten Schlupfwinkel dieser Isolation aufzudecken, bis zur Härte und Bitterkeit ging; doch lag es mir fern, ein Pamphlet zu schreiben. Ich fand und suchte zu dokumen - tieren: Eine Konspiration der protestantischen mit der jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration beider mit dem preussischen Gewaltsstaat (seit Hegel), die nicht nur die Unterwerfung Europas und die Weltherr - schaft erstrebte, sondern die gleichzeitig ausging auf die universale Zerstörung von Religion und Moral. Diese Konspiration ist tiefer und stärker verwurzelt, als man gemeinhin glaubt; ihre Unterschätzung aber liegt weder im Interesse der Menschheit, noch im Interesse des deutschen Volkes.
VIEs ist meine feste Ueberzeugung, dass der Sturz der preussisch-deutschen Willkürherrschaft, wie ihn Präsident Wilson in seiner berühmten Rede auf Mount Vernon po - stulierte, nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat — das ja nicht nur in kriegerischen Aktionen zu bestehen braucht — zu schützen. Es ist für den in Aussicht genommenen Völkerbund von der höchsten Wichtigkeit, sich die historische Stärke der vereitelten deut - schen Intrige, die moralische Erschöpfung eines Volkes, das tausend Jahre unter der furchtbarsten Theokratie ge - litten hat, vor Augen zu halten, wenn Heil und Versöh - nung wirklich erfolgen und auch garantiert sein sollen.
Um die deutsche Denkart in ihrem ganzen Relief her - vortreten zu lassen, suchte ich das Gegenbild aufzustellen, das kein anderes sein konnte, als ein konsequent christliches, wie es im Bewusstsein führender europäischer Geister seit hundert Jahren zu einer universalen Renaissance strebt. Und da ich den religiösen Despotismus für das Grab des deut - schen Gedankens hielt, versuchte ich, das neue Ideal aus - serhalb des Staates und der historischen Kirche in einer neuen Internationale der religiösen Intelligenz zu begründen. Es kennzeichnet die Freiheit, dass sie so wenig verwirk - licht werden kann, wie Gott zu verwirklichen ist. Es gibt keinen Gott ausser in der Freiheit, wie es keine Freiheit gibt ausser in Gott.
Hugo Ball
Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk ge - nannt, ohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten; und obwohl Dostojewsky ein Russe war, glaubte er keines - wegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche, verlor zuletzt die Geduld und rief (in „ Ecce homo “) aus: „ Alle grossen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen “! Und er versuchte nachzuweisen, wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität, aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus „ Idealismus “Europa um die Ernte und den Sinn ge - bracht hätten.
Sie protestierten, sie erfanden jene „ sittliche Weltord - nung “, von der sie behaupten, dass sie von ihnen bewahrt und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auser - wählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, wes - halb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern, denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freund - liche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten sich nicht mit den eignen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer2 gewundenen Steifheit nahmen sie als Herausforderung, als eine persönliche Beleidigung. Sie verstanden es nie, sich verführen zu lassen, Werbungen zu erwidern. Finster und verschlossen blieben sie aufgerichtet als eine drohende Kon - struktion. Enthusiasmus und Liebe beantworteten sie mit Polizeimassnahmen und Rüstungsfieber. Das Momento mori des Mittelalters und die daher rührende Gewissenspathologie hatten es ihnen angetan. Als die geborenen Schwarzseher wandelten sie; die schwärzesten Mönche haben sie hervor gebracht: jenen Berthold, der das Schiesspulver erfand, und jenen Martin, Knecht Gottes, der das frohmütige Kuschen einführte und die Pedanterie eines darüber keineswegs völlig beruhigten Gewissens. Nie verliebte man sich in andere Nationen, stets fühlte man sich als Richter, Rächer und Vor - mund. Sie misstrauten aus Prinzip, denn man kann nicht wissen, was einem passiert; die Welt ist bösartig, ausschwei - fend, räuberisch. Es ist angebracht, stets die Stirne zu run - zeln, mit geladenem Revolver zu gehen, stechende Blicke um sich zu werfen, die Brust in Positur zu halten und mit verbissenen Nussknackerkiefern den Muskel spielen zu lassen. Ein Barockvolk kat exochen, Kopf und Körper ein Hirn - und ein Muskelkrampf; ein drohendes Drahtgespenst mit Allongeperrücke, jedoch keine Menschheit. Nie traten epochale Entspannungen ein.
Was man die deutsche Mentalität nennt, hat sich be - rüchtigt gemacht und ist trauriges Zeugnis der Prinzipien - und Herzlosigkeit, des Mangels an Logik und Präzision, vor allem aber an instinktiver Moral. 1914: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen mög - lichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten. Eine Vermengung von Interesse und Wert, von Befehl und Idee3 trat zutage, die Potsdam mit Weimar und Weimar mit Potsdam in rührender Hysterie zu entschuldigen suchte. Das ewig Papierene wurde Ereignis. Dreiundneunzig In - tellektuelle bewiesen durch ein bombastisches Manifest, dass sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind. Die „ Hannele “- Dichter kamen an den Tag und in die Hetz - presse. „ So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt “1). Mentalitätler aller Gauen bemühten sich, der Weltlage gerecht zu werden. Leider, die Weltlage bekam ihnen schlecht. Nur mit ver - renkten Knochen und verdrehten Augen standen sie auf vom Prokrustesbett. Philistin - und Papierexistenzen gingen zu Dutzenden auf in Rauch und grotesker Spirale. Ich will hier nicht mit Zitaten aufwarten, die jedermann im Notiz - buch trägt. Es ist nicht die Zeit mehr, die Zeit auszu - schneiden. Wir wissen Bescheid. Es ist an der Zeit, Kon - sequenzen zu ziehen. Wen überrascht es noch, dass die Pastoren dem Blutrausch verfielen? Tanzten sie nicht von je um die Golgathastätten, auf denen die Menschheit ge - opfert wurde? Wen überrascht es noch, dass der deutsche Gelehrte in seinem Dünkel und Grössenwahn sich gedrun - gen fühlte, auch dort zu votieren, wo er nichts mehr ver - stand? Wenn man über die Balkanvölker zu sagen weiss, dass dort vor Zeiten Poseidon als Hengst und Bacchus als Bock spazierten2): löst man damit die serbische Frage?
Dies Buch handelt von der deutschen Intelligenz, nicht von der deutschen Schildbürgerei. Es kann mir nicht daran gelegen sein, alle Entgleisungen, Ueberhebungen und Lächerlichkeiten meiner Landsleute aufzuzählen. Gewiss, deren Charakterologie wäre ein dankbares Thema. Auch die All - und Eintäglichkeit hat ihren geistigen Kontrapunkt. Karl Kraus, der apokalyptische Feind der „ Journaille “hat ihn bewältigt3). Man lese, ist man Oesterreicher oder4 Deutscher, seine Werke, lache, weine oder schäme sich. Ich fühle in meinem Thema keinerlei Anlass, mich lustig zu machen. Die Ironie der Ereignisse erfordert dringlichere und produktivere Methoden als das Pamphlet. Uns ist die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob der deutsche Geist auf Befreiung oder aufs Gegenteil drang. Die Methoden zu zeigen, die er befolgte und die Resultate, die zu ver - zeichnen sind.
Der deutsche Geist, die deutsche Intelligenz: unter Franzosen und selbst unter Deutschen wird man lächeln. Gibt es das? Ist es kein Widerspruch in adjecto? Und doch gilt es, hier ernst zu bleiben. Was ist die Intelligenz eines Landes? Die geistige Elite, jene seltenen und wenigen Menschen, die ihre Erlebnisse und deren Resultate kom - munizieren zum Zweck einer höheren Vernunft. Jene geistige Gesellschaft oder Partei, deren höhere Vernünftigkeit sie veranlasst, ihre Kenntnisse, Gedanken und Erfahrungen dem Volksganzen zuzuwenden, aus dem sie kommen; jene in - tellektuelle Verzweigung, die in ihren bewusstesten und höchsten Vertretern nach geheimen umfassenden Gedanken lebt und handelt; in aller Oeffentlichkeit der Presse, der Strasse oder des Parlaments sich dokumentiert und der Menschheit Ziele setzt, Wege zeigt, Hindernisse hin - wegräumt in Voraussicht des Tages, da alle vernünftigen Wesen nach dem Worte des Origines in einem Gesetze vereinigt werden.
Was unterscheidet die grosse Menge des Landes von seiner Intelligenz? Der Mangel an Ueberzeugung, an Sach - lichkeit, an historisch bedingten Zielen und wohl an Ver - antwortung. Vor allem aber der Ausschluss aus jener gütigen Konspiration der Geister, die ich die Kirche der Intelligenz nennen möchte, jener Gemeinschaft der Auser -5 wählten, die zugleich Freiheit und Heiligung in sich tragen; die den Kanon der Menschheit und Menschlichkeit auf - rechterhalten und über Jahrhunderte weg zwischen Schi - mären, Tierleibern, Fratzen und Höllenspuk das Urbild des Schöpfers wahren.
Die Mentalität der Menge: das ist eine Summe von Ziel - und Rastlosigkeit, von Verzweiflung und kleiner Kurage, von Opportunismus und Weichlichkeit, von ver - kappter Sentimentalität und überhobener Arroganz. Die Mentalität der Menge: das ist ihr schlechtes Gewissen, das sind ihre Fälscher und Wortverdreher, ihre „ jahraus jahrein galoppierenden Federn “und Denunzianten, ihre Spitzel und Rabulisten, ihre Grossmäuler, Demagogen und Faselhänse. Ein heilloses Konzert! Eine Orgie seltsamer Verzerrung! Wehe dem Land, wo solche Mentalität den Geist überschreit, aber dreimal wehe dem Land, wo sie allein nur herrscht und sich selbst für den Geist hält. Verhärtung, Zerrissenheit, Korruption verhindern das Mass und die Norm; Tobsucht und Wut sind Trumpf. Solch Land ist verloren und weiss es nicht.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Intelligenz ist es, den Blick der Nation dorthin zu lenken, wo die grossen Ideen herkommen; Raum zu schaffen für diese Ideen und dem Lauf der Geschichte mit tausend offenen Sinnen knapp auf den Fersen zu folgen. Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, jene Musiker der Kriterien und Masstäbe, die in Philosophien wie in Partituren zu lesen verstanden, sind nicht Legion. Sie fanden ihre Aufgabe erschwert. Sie fanden sich von Anfang an in einer Umgebung, die ihre Aufgabe nicht stützte, sondern ihr höhnisch und krass widersprach, ja sie un - möglich machte. Die Idee des Imperium Romanum, die das ganze Mittelalter erfüllte, Verbindung und Widerstreit zwischen6 Kaiser und Papst, liess Deutschland als Vormacht der Welt erscheinen. Das heilige römische Reich deutscher Nation und die Heraldik gotischer Kaiser prägten dem Volk ein Bewusstsein ein, das im Waffenklirren, im Richteramt, im Henken, Zerschmettern und in der Gewalt einen Gottes - dienst und die Mission sah. Kein entscheidendes nationales Erlebnis hat diese Meinung hinweggefegt: weder die Re - formation, noch die grosse französische Revolution. Deutsch - land empfindet noch heute sich als den „ Genius des Krie - ges “und zugleich als „ moralisches Herz “der Welt4), und war doch und blieb so lange grobknochiger Henker, be - trunkener Vasall, hartmäuliger Landsknecht der Päpste. Da - mals redeten Priester ihm ein, kleines Gehirn sei Soldaten - tugend. Jenes egozentrische Delirium voll Arroganz und Bramabarsierens, das in den Schriften der Treitschke und Chamberlain auferstand — in den Kaisern des Mittelalters fand es sein erstes Symbol.
Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, kamen sehr spät. Italien, Spanien, Frankreich hatten längst eine reiche Kultur. Deutschland war ungebrochen ein krüdes Barbarenvolk, dem Trunke ergeben, verroht und verblödet durch Kreuzzüge und endlosen Waffendienst, versklavt und verhärtet durch Junker und Pfaffen. Shakespeares Komödien schildern den Deutschen als einen Rüpel und Trunkenbold. Léon Bloy zitiert für die historische deutsche Verrohung und Korruption sogar Luther5). Die grosse Bewegung der Aufklärung brach hier nicht durch. Die Vox humana der Nachbarländer fand nur den spärlichsten Nachklang. Heute noch fehlt uns das Menschheitsgewissen. Heute noch schwan - ken die Geister und schwankt die Nation im Widerspruch zwischen Kulturbegriffen. Religiöse, moralische, ästhetische und politische Nenner wurden zur Geltung gebracht, doch keinem gelang es, die Einheit zu schaffen und alle bekämpf - ten sich. Noch in unseren Tagen versuchte das kaiserlich - päpstliche Universalreich neu aufzuerstehen, und nur die7 Kriegsschuld, zu der das Uebergewicht einer gewalttätig - verschlagenen Kaste führte, verspricht, die gefährlichen Atavismen hinwegzuräumen. Die Einordnung Deutschlands in eine Liga der europäischen Völker ist eine unabweisbare Forderung. Mit stürmischem Nachdruck muss sie erhoben werden. Wozu die Nation selbst zu träge und ihre Geister nicht stark genug waren: die Isolation zu sprengen, in die sich Deutschland drohend und eigensinnig begab: heute müssen die Nachbarvölker erzwingen, dass der veraltete Unfug des Waffenspektakels für alle Zeiten beseitigt werde.
Die Einreihung Deutschlands! Hier zeigt sich endlich die Einheitsidee, die Heilung, Grösse und Demut verbürgt. Das deutsche Volk soll die Augen öffnen. Sein Vorteil wird sein, dass es mit Schmerzen, Unglück und Opfern geschla - gen wird. So wird es die Kraft in sich finden, zu fallen und aufzuerstehen. Wir verlangen die Demokratie. Der politische Geist ist der ordnende Geist. Keine Phrasen und Umschweife sollen mehr gelten. Deutschland ist schuldig und muss seine Schuld bekennen, soll sich der Aufbau Europas vollziehen. Die Proklamation neuer Menschen - und Nationalitätenrechte beendet den Krieg. Nicht mehr um Me - taphysik — es handelt sich um die Erde und wie man sie einrichten soll, um zusammen leben zu können. In den Köpfen der Staatsmänner, wenn sie auch nicht das letzte Wort haben werden, lebt schon der Grundriss, auf dem sich das neue Gebäude der Menschheit erheben soll. Was bisher Fragment war und nur in wenigen Köpfen utopischen Ausdruck fand, wird gebunden werden und sich organisch entfalten. Mit Tod, Bankerott und Verderben rückt für Deutsch - land das erste politische Freiheitserlebnis umfassenden Sinnes heran, seit die christliche Korporationsidee Europa verloren ging. Sind aber erst die Wände gefallen, die heute das deutsche Volk noch im Ghetto halten, hat die Nation erst in einem elementaren Ausbruch von Enthusiasmus die Ketten zer - rissen, die heute noch ihre Menschlichkeit lähmen, so wer -8 den sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen zu jenen Grosstaten der Menschheit, mit denen man heute in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen. Dann wird sich das Mass ergeben des Wissens, worin man stolz sein darf und wo man sich schämen muss.
Man sieht: hier wird verneint, dass es eine deutsche Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente, Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Auf - hellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine grossen Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamt - heit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbst - zufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in diesen Männern die Liebe zu Hass, die Freude in Ver - zweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie ein - gekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät.
Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk, sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: „ Barbaren von alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden gött - lichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Uebertreibung und der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines wegge - worfenen Gefässes: — das, mein Bellarmin, waren meine Tröster “6). Von Goethe kam jenes resignierte Wort: „ Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren9 Landsleuten soviel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, dass man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, dass sie Barbaren gewesen “7). Von Goethe jener verzweifelte Spruch, das sauve qui peut, das er achsel - zuckend der geistigen Partei seiner Zeit zurief:
Behauptet hat er sich, versteift in diesem Volk. Magister sezierten ihn, Philologen wie Blutegel setzen sich an. Po - pularität aber erlangte er noch heute nicht. In seinen wichtigsten und sublimsten Entscheidungen stiess er auf Harthörigkeit, blieb er ein Missverständnis und Wunder8). Heinrich Heine floh entsetzt nach Paris. Die Goncourts behaupteten, dass er mit zwei anderen Nichtparisern die Quintessenz des Pariser Geistes darstellte; in Deutschland aber wird er noch heute malträtiert9). Friedrich Nietzsche hat den Deutschen die schlimmsten Dinge nachgesagt, die man einer Nation nachsagen kann; er fand: „ Die Deut - schen sind in die Geschichte der Erkenntnis mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur unbewusste Falschmünzer hervorgebracht10) “. „ Psychologie “, fährt er fort, „ ist beinahe der Masstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse. Und wenn man nicht ein - mal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen; das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach. Das, was in Deutschland „ tief “heisst, ist genau die Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein “. Und doch hatte auch er begonnen voller Hoffnung auf eine geistige Einheit, auf ein heroisch deutsches Ideal, das der Hort alles höheren Europäertums werden könne11). Die Nation zwang ihn zum Ressentiment, zur Germanophobie. 10Am Ende seiner Laufbahn bedauerte er, nicht französisch geschrieben zu haben und wollte als Pole gestorben sein. Man lese jene erschütternde, kurz vor seinem Zusammen - bruch geschriebene Abrechnung mit der deutschen Mentali - tät, „ Ecce homo “, um zu ermessen, wie hier ein deliziöser und hochgespannter Wille an der historischen Mesquinerie, der platten Denkwirtschaft und faulen Gemütlichkeit seiner Nation sich gescheitert fühlte. Man vernehme auch Schopen - hauers Testament, das also lautet: „ Sollte ich unvermutet sterben und man in Verlegenheit kommen, was mein po - litisches Testament sei, so sage ich, dass ich mich schäme, ein Deutscher zu sein und mich darin auch mit all den wahrhaft Grossen, die unter dies Volk verschlagen wurden, eins weiss “.
Ich habe die besten Namen der Nation genannt, und man kann nahezu an der Heftigkeit ihrer Verzweiflung die Höhe ihrer ursprünglichen Intention ermessen. Sie fühlten sich auf verlorenem Posten, und je später sie es einsahen, desto blutiger lehnten sie die Gemeinschaft ab. Man könnte versucht sein, Heinrich Mann zuzustimmen, der als Motto über seinen durch den Krieg abgebrochenen Roman „ Der Untertan “die tristen Worte schrieb: „ Dies Volk ist hoff - nungslos “. Wenn sich die stärksten und menschlichsten Geister gegen ihr Volk erklärten: Was bleibt zu tun? In Böotien baut man Kartoffeln, Tragödien schreibt man in Athen.
Wo fand sich in Deutschland jene vergötternde Begeiste - rung, jene Zärtlichkeit, mit der[französische] Geister Frankreich Notre Dame und La douce France nannten12)? Charles Maurras schlug vor, Frankreich als Göttin zu verehren und Léon Bloy, einer der heftigsten Pamphletisten, die Frank - reich erlebte, noch er fühlte das Recht zu schreiben: „ La France est tellement le premier des peuples que tous les autres, quels qu'ils soient, doivent s'estimer honorablement partagés quand ils sont admis à manger le pain de ses chiens13) “. In keinem andern Volk hat der esprit religieux11 solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire, Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver - worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der den gott - und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour - nalisten - und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen - väter des kommenden Europa zogen sie die letzten, sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas sind: Pietas et paupertas sancta. „ Unsere Gegner von damals “, schrieb Charles Péguy, „ führten die Sprache der Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver - christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe “. Und Romain Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs - versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu: „ Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens, Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu wachen habt14) “.
Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit, der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef - tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro -12 päischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa stellen will trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert Jahren Grosstaten wie Sterne aufblühen und in den Ge - fängnissen, Festungen und Füssiladen Sibiriens lautlos und glühend versinken liess? Jener Mut zur Fronde, jener Fa - natismus geistiger Interessen und Kommunion, jener prak - tische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode, die Russland zur Grossmacht der Freiheit erheben? Von den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewsky, Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin, Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie, nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender Hingabe an die Idee der Geringsten und der Ver - lorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch be - rufen, alles Grosse zu vernichten und zu bekämpfen, statt in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die Hände auszustrecken?
Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen, die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben preussischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kon - trolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich enthoben glaubt; auch jene „ Heiligung “nicht, die da sagt: „ Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens,13 dass wir die Vereinigung mit der Gottheit schon auf Erden vollziehen “, um dann hinzuzufügen: „ Wir sind ein Volk von Kriegern. Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Es ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Es ist „ Faust “und „ Zarathustra “und Beethoven-Partitur in den Schützengräben “15). Oh diese Herren Sombart, wie wenig ahnen sie von der Ver - einigung mit der Gottheit!
Freiheit und Heiligung: das heisst Opfer und noch einmal Opfer, Opfer an Gut, und wenn es sein muss, an Blut, aber in einer anderen Sphäre, auf einer anderen Bühne als auf dem wackelnden heutigen Kriegstheater! Als Michael Bakunin nach zehnjähriger Kerkerhaft und Verbannung mit krummem Rücken, ohne Zähne, herzkrank und grau, als Fünfzigjähriger auf dem Friedens - und Freiheitskongresse in Bern erschien, umringten ihn seine Freunde aus den achtundvierziger Jahren, und man bestürmte ihn, die Me - moiren seiner Konspirationen und Strassenkämpfe, seiner Todesurteile, Verbannung und Flucht zu schreiben. „ Il faudrait parler de moi-même! “, sagte er. Er fand, es gäbe wichtigere Dinge zu tun, als von der eigenen Person zu sprechen. Und von Léon Bloy rührt das tief verlorene, vielleicht religiöseste Wort unserer Zeit her: „ Qui sait, après tout, si la forme la plus active de l'adoration n'est pas le blasphème par amour, qui serait la prière de l'abandonné? “ Versteht man danach, was Freiheit und Heiligung ist?
Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muss man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wild - heit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entschei - dungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand das „ Heilige römische Reich deutscher Nation “. Unter Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum dass es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.
Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien, ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch, sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren, so verlieh ihnen diese Weihe doch die „ Kulturmission “, Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute15 nicht gewachsen ist. Jahrhunderte lang verbreitete das Schwert der Kaiser den Christenglauben, wie es unter Muhamed den Islam verbreitet hat. Und nicht erst heute, sondern schon zu Gutenbergs Zeiten findet sich in der Presse die op - timistische Ueberzeugung, die deutsche Nation sei von Gott bevorzugt und von der Vorsehung auserwählt1). Sie war aber nur von den Kardinälen auserwählt und vom Papste bevorzugt. Die deutschen Könige hatten sich ihre Stellung durch Bluttat und Gewalt ertrotzt. Ihre Kulturleistungen blieben weit hinter dem zurück, was gleichzeitig Arabien, Spanien und Italien in Kunst, Literatur und Wissenschaft leisteten.
Noch heute sehen unsere deutschen Schulräte, Ge - schichtschreiber und Pädagogen nicht ein, dass keine Veranlassung vorliegt, auf diese Tradition besonders stolz zu sein. Deutschland war keineswegs das „ moralische Herz der Welt “, wie Herr Scheler glauben machen will. Die Moralität war in Deutschland, von vereinzelten Mystikern und Troubadouren abgesehen, unausgebildet, abseitig und grob. Das Land war Rüstkammer und Arsenal für die weltlichen Ziele des Papsttums. In solchen Ländern ist wenig Raum für die Ausbildung verfeinerter Sitte. Profoss und Schrecken brachten den Päpsten die Barbarossas, Ottos und Fried - richs. Wen deshalb der Papst zum Kaiser salbte, dem legte er damit die Verpflichtung auf, dass solch „ aposto - lische Majestät “— noch heute trägt der Kaiser von Oester - reich den Titel — den gewaltigen europäischen Kirchen - staat vergrössere oder verteidige, auf welche Art immer es geschehe.
Das „ Heilige römische Reich deutscher Nation “wurde von Luther zerstört. Luthers robust gewaltige Persönlich - keit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den Kampf zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt. Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Unabhängigkeit des heutigen deut - schen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten und16 Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain die Ideolo - gie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropa - gandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat. Von den Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht mehr, die deutsche Macht unter eine geistige Obhut zu beugen. Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte.
Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz klerikale, sondern die ganz profane Gewalt steht. In den grossen Bauernkriegen von 1524 / 25 handelte es sich darum, ob die uralte Feudaltradition Deutschlands gebrochen werden könne oder nicht. Jene deutsche Revolution (wichtiger heute als die Reformen, in denen sie erstickt wurde) missglückte. Der Feudalismus erhob sich gestärkt. Im Aufkommen der Hohenzollern verjüngte er sich. Das Aufkommen der Hohen - zollern brachte den Konkurrenzkampf mit Habsburg, dem letzten Rudiment des mittelalterlichen Systems. Dazumal gingen die geistlichen und weltlichen Methoden der Universalstaats-Politik und - Diplomatie von Wien in die preussischen Kabinette über. Und heute erleben wir, wie derselbe auf die Besitzlosen, das Proletariat, gegründete Universalstaat des Mittelalters von Berlin aus wiederaufzu - stehen bemüht ist2).
Jetzt ist es umgekehrt. Das kaiserliche Regime sucht den Papst (und die Freiheitsideologie, die geistige Macht) zu benützen, wie im Mittelalter der Papst den Kaiser aus - spielte. Steuerte Habsburg die diplomatischen Methoden bei, so Robespierre die staatlichen und Napoleon die militä - rischen. Eine satanische Macht regiert heute Deutschland und sucht sich von dort aus die Welt zu unterwerfen. Das Mittel ist Zweck geworden. Die Profanität triumphiert, und eine Entwertung aller Werte findet statt, die niemals ihres - gleichen sah.
Als Dante seine Schrift „ De monarchia “schrieb, liess17 er sich kaum träumen, dass er die Hölle selbst damit be - günstigte. Gott ist Werkzeug der Monarchie geworden. Moral und Religion sind der omnipotenten Staatsgewalt untergeordnet. Und die Folge dieser Perversion der Moral - begriffe ist, dass man die teuflischsten Dinge im Namen Gottes verherrlicht, ohne jegliches Gefühl und Gewissen für die Inferiorität dieses Evangeliums der reinen Kraft und Gewalt.
Jede Art Mystik, jede Art Religion, jede Regung des Seelenlebens und der menschlichen Sehnsucht, alles, was dem Menschen heilig ist, wird von diesem System in raffi - niertester Weise benützt, um den Menschen zu fassen und gefügig zu machen. An die Stelle des Ablasses ist der Aderlass getreten. An die Stelle der Ohrenbeichte die Detektivpolizei. Die grossen moralischen Werte der Mensch - heit (Seele, Friede, Vertrauen; Achtung, Freiheit und Glau - ben) werden nach dem Erfolg berechnet und als Mittel zur Erreichung von Zwecken ausgespielt, die der traditionellen Bedeutung dieser Worte entgegengesetzt sind. Das klerikale Collegium de propaganda fide ist ersetzt von einem jour - nalistischen de propagando bello, und die Freude und der Stolz, mit denen man diesem verwerflichen System dient, geben die Beleuchtung zu einem infernalischen Totentanz, in dem die Reste deutschen Wesens in Verwesung übergehen.
Wir, die wir dieses System bekämpfen, sind gezwungen, seine Heroen zu revidieren. Mit nationalen Vorurteilen muss aufgeräumt werden wie mit individuellen. Es geht nicht an, dass noch heutzutage ein Sozialist von der Bedeutung Camille Huysmans von Deutschland als der „ généreuse Allemagne de Luther “spricht3). Luthers Deutschland war nichts weniger als generös. August Bebel hat in seinem „ Bauernkrieg “ein Bild des damaligen Deutschland entworfen;218das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen werden4). 1517 wurden durch die Tat eines politisch und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt heute der grossdeutschen Feudalpolitik als erster europä - ischer Exponent ihres ‚ divide et impera‘5). Heute, vier Jahr - hunderte später, hiesse es Europa nur dürftig zusammen - flicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen und Propheten bestehen lassen.
Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt, und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die politische beschlossen liegen.
Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittel - alterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Pro - fanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann erst wird das Mittelalter überwunden sein.
Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe, der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahr - hunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Ge - schichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht wurden.
Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe. Göttlich und Teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke soll sein: eine Syntax der neuen Gottes - und Menschen -19 rechte. Keine Civitas dei ohne eine Civitas hominum! Die neue Gemeinschaft soll dienen der Verbreitung eines Reichs aller Menschen, die eines guten Willens sind.
Wenn das Wort von der deutschen Universalität wahr ist, so mögen die Deutschen herauskommen aus ihrem politischen Ghetto, um zu zeigen, was sie zu sagen haben. Nicht aber mit der Trägheit prügelnder Waffen, sondern mit der Energie klarer Gedanken. Nicht auf das Verant - wortungsgefühl gegenüber der Menschheit kommt es an, wie Prinz Max von Baden zu glauben scheint6), sondern auf die Verantwortung mit und inmitten der Menschheit. Der Uebermensch muss dem Mitmenschen weichen. Nicht Leiden schaffen, sondern Leiden beheben. Nur so besteht die Hoffnung, dass das automatisch eingetretene Schicksal einer automatisch gewordenen Welt, der Selbstbestimmung des Einzelnen und damit der Freiheit weicht.
Die konsistorialrätliche deutsche Reichsgeschichts - schreibung hat verhindert, gerade über Luther nachzudenken, und das beweist, wie notwendig es ist. Damals zu Luthers Zeit, fand jenes Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit dem Feudalismus statt, das alle europäischen Revolutionen überdauerte und heute Europa zu knebeln und niederzuwerfen gewillt ist. Luther war dieses Bündnisses Prophet und Herold. Durch seine Stellungnahme im Ablassstreit hat er die Landstände, Fürsten und Magistrate brüderlich verbunden. Indem er das Gewissen in den Schutz weltlicher Fürsten stellte, half er jenen Staats-Pharisäismus schaffen, für den das Gottesgnadentum, die gottgewollte Abhängigkeit und die Phrase vom „ praktischen Christentum “gleicherweise Symbole sind. Durch sein despotisches Auftreten in den Bauernkriegen aber verriet er die Sache des Volkes an den Beamtenstaat.
20Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verun - glimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muss man sie vergöttern, gewiss. Vom Standpunkt der Demokratie aus muss man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte, hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evange - lischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. „ Dem Doctor Luther zulieb “, sagt Naumann, „ ist das Jesuskindlein geboren worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon “7). Sei's drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der herzinnige Brieflin an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es, den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der „ aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt “haben soll „ für ein Volk, das Genies gebären wird “8).
Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des Novalis, der da schrieb: „ Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte “9). Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben: „ Nur solange die grosse Weltidee des Katholizismus eine gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige Schönheit aus nüchternem Alltag “10). Nicht einer katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda „ das schöne Werk des Mittelalters “wieder herzustellen hofft oder verzweifelt „ durch einen Sieg des geeinigten deutschen und christlich-europäischen Geistes über die abgefallene Welt ringsum “, wie Herr Scheler11). Wenn wir21 die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen, geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass es notwendig ist, „ der europäischen Entartung Heilmittel aus der Welt der Upanishads und des Buddha “12) zuzuführen. Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen; denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin 1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: „ wäre der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben übergangen, so wären sie herrliche Leute “13).
Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir alles Ueberflüssige, statt neue „ Heilmittel “zu suchen! Ein neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder - erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen, gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.
Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht, wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen, die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, handelten von der „ freien Gnade “, und der Ablassstreit, der daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das Recht des Papstes. „ Wenn die Gnade Gottes frei wirkte “, sagt Naumann14), „ hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer auf “. Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies - seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen. Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das22 bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Ent - scheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalte - rischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit leuchtete aus seinen verzückten Augen. „ Der Papst “, sagte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, „ will nicht lassen glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes Namen “. Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungs - zustand des heutigen Diziplinarsystems jemand solche Worte gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so grosser Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und den Professoren des neuen Systems, zwischen den Tetzel und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der äusseren und der inneren Autorität, den der Luther von 1517 aufstellte — wo ist er geblieben? In Russland wurde er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr zu finden.
Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio23 statuiert zu haben, hat Luther sich selbst gerühmt. Noch 1534: „ Ich muss immer solchen Unterschied der zwei Rechte einbläuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen, obs wohl so oft, dass es verdriesslich ist, geschrieben und gesagt worden. Denn der leidige Teufel hört nicht auf, diese zwei Reiche in einander zu kochen und zu brauen. Die weltlichen Herren wollen immer Christum lehren und meistern, wie er seine Kirche und geistlich Regiment soll führen. So wollen die falschen Pfaffen immer lehren und meistern, wie man solle das weltliche Regiment ordnen. 15)“Deutlicher konnte die Trennung zwischen Staat und Kirche nicht formuliert werden, und doch haben wir sie heute noch nicht.
Aber Luther rühmte sich auch, „ seit der Apostel Tage habe kein Doctor noch Skribent, kein Theologus noch Jurist, so herrlich und klärlich die Gewissen der weltlichen Stände bestätigt “16). Als er auftrat, habe niemand etwas von der weltlichen Obrigkeit gewusst, woher sie käme, was ihr Amt und Werk sei und wie sie Gott dienen solle. Und diese letztere Aeusserung gibt die Bestätigung, welche furchtbare, dem Mittelalter unbekannte Macht er dem Staate verlieh. Marsiglio von Padua und Macchiavell hatten dem Staate lange vorher seine eigenen Aufgaben zugewiesen. Die Gelehrten aber hatten die Obrigkeit für etwas Heidnisches, Ungöttliches gehalten, hatten sie als einen für die Seligkeit gefährlichen Stand bezeichnet. Luther als Erster nahm, gestützt auf die Bibel, den göttlichen Ursprung nun auch für die staatliche Obrigkeit in Anspruch. Damit war, als die Landesgewalten erst begannen, sich mit den Spolien der Kirche zu bereichern, die staatliche Omnipotenz garan - tiert: Luther erwies sich nach seinen eigenen Worten als „ falschen Pfaffen “, der lehrte und meisterte, „ wie man solle das weltlich Regiment ordnen “. Er gab dem Staate eine nie geahnte „ Gewissensfreiheit “und Macht, und erklärte doch zugleich das Desinteressement des religiösen Individuums24 an der Ordnung der Staatsaffären. Alle Weltfremdheit deutscher Dichter, Gelehrter und Philosophen hat hier ihren Ursprung. Die verächtliche Geringschätzung, mit der noch heute der feudale deutsche Staatsmann auf die Vertreter der Intelligenz seines Landes herabsieht, die ihn doch über - wachen müssten, — auch sie geht auf Luther zurück. Die Naivität eines zweideutigen Doctoren der Theologie lieferte das Volk zu endloser Massregelung auf Treu und Glauben seinen Junkern, Beamten und Fürsten aus. Und die politisch - soziale Unproduktivität aller deutschen Geistestaten bis auf die heutige Zeit wurde höchste Verpflichtung.
Der Weimarer Kanzler Müller erzählt, Napoleon habe 1813 auf einem Ritt nach Eckardsberge geäussert: „ Karl der Fünfte würde klug getan haben, sich an die Spitze der Reformation zu stellen; nach der damaligen Stimmung würde es ihm leicht geworden sein, dadurch zur unum - schränkten Herrschaft über ganz Deutschland zu gelangen “17). Gewiss, das lag nahe. Man darf aber aus diesen Worten nicht schliessen, dass das Haus Habsburg nicht zu Luthers Lebzeiten schon sein Wirken sehr aufmerksam verfolgte und wenigstens auszubeuten gedachte. Jovial richtete Kaiser Max, der Vorgänger Karls V., an den kursächsischen Rat Degenhardt Pfeffinger die Gelegenheitsfrage: „ Was macht euer Mönch zu Wittenberg? Seine Sätze sind traun nicht zu verachten “. Und er gab den Rat, „ man solle den Mönch fleissig bewahren, denn es könne sich zutragen, dass man seiner bedürfe “18). Luther wurde zum Propagandisten der unabhängigen Fürstengewalt und wenn die damaligen Kaiser nach Bahrs Wort „ die grosse Tat verschmähten “, so ver - schmähte man sie doch 1871 nicht, als die Zeiten reif geworden; der Protestantismus wurde Geschäftsträger für die diplomatischen Beziehungen preussischer Kaiser zum lieben Gott. Die Polyphonie aber, aus der heraus Luther den „ tönenden Weg bahnte für ein Volk, das Genies gebären wird “, wurde eine Polyphonie der moralischen25 Zwei - und Vieldeutigkeiten. Nicht nur die Obrigkeit hat er bestätigt — „ wenn die Obrigkeit sagt, zwei und fünf sind acht, so musst Du's glauben wider dein Wissen und Fühlen “19) —, auch den Krieg sanktionierte er. In einer Untersuchung „ ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können? “finden sich die schlimmen Sätze: „ Dass man viel darüber schreibt und sagt, welch eine grosse Plage der Krieg sei, das ist alles wahr ... So muss man auch das Kriegs - und Schwertamt, wenn es so würgt und greulich tut, mit männlichen Augen ansehen. Dann wird es von selbst beweisen, dass es ein an sich göttliches Amt ist, der Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst ein andres Werk “20).
Die eigentliche Tat Luthers war eine mönchische Busslehrenrevolte. Nietzsche hat ihn den „ unmöglichen Mönch “genannt. Luthers jähes und heissblütiges Naturell geriet im Verzweiflungskampf gegen die fleischlichen und geistigen Anfechtungen des Teufels auf den Ausweg, die Notwendigkeit einer unerfüllbaren Klosterdisziplin prinzipiell in Zweifel zu ziehen. Vergebliches Wüten gegen sein Temperament und die Ordensregel brachten ihn dazu, die Mönchskutte abzuwerfen und auf die Heilaussichten einer vollendeten Kasteiung zu verzichten. Er brach das Ordens - gelübde und vertrat von nun an die Anschauung, man brauche nicht Mönch oder Nonne zu sein, um selig zu werden. Die Zelle war ein Gefängnis für ihn, die Busslehre eine Tortur.
Als er aus der Kutte sprang, unternahm er mit Ungestüm den Versuch, eine Rechtfertigung seiner Handlungsweise zu finden und fand sie, wie er glaubte, im Glauben, dass der Glaube rechtfertige. Die Bibel allein ist Gottes Gebot. Vom Mönchswesen enthielt sie kein Wort. Christus am Kreuz26 starb für die Sünden der Welt und jedes Einzelnen. Das Eingeständnis der Sünde genügt. Es erwirkt dem Menschen die Gnade. Wer seine Sünden bekennt, kann und wird erlöst werden, gleichviel ob Laie oder Adept. Christi Kreuzestod und unendliches Opfer enthält die Versöhnung des von der Menschheit beleidigten Gottes.
Luthers Rechtfertigungslehre hatte für ihn den privaten Sinn einer Rechtfertigung seiner Handlungsweise, als er sein Mönchsgelübde brach. In diesem Versuch, sich zu rechtfertigen, lag aber zugleich eine Rache an der Institution, der er entfloh, weil er ihr nicht gewachsen war.
‚ Man braucht nicht Mönch oder Nonne zu sein, um selig zu werden. ‘ Das brauchte man gewiss nicht, sonst hätte der Laie ja nicht selig werden können. Aber das Klosterwesen und Zuchtideal, das Luther damit der Missach - tung preisgab, hatte nicht nur den Sinn, Schauplatz von Buss - übungen zu sein zur Erlangung der Seligkeit, grenzenloser Demut und göttlicher Vergebung. Die Mönchsorden enthielten die Geheimlehren des Christentums. Die geistlichen Uebungen der Mönche zielten ab auf ein Freimachen aller geistigen und wundertätigen Kräfte der menschlichen Natur. Gross - siegelbewahrer der Mysterien von der Selbstaufopferung, von der unio mystica mit der Gottheit, von der sinnlichen und moralischen Ideologie des Abendlandes waren die Mönche. Die körperliche Disziplin war nicht nur Vorbereitung für den Zustand der Gnade und Erlösung, sondern Vorstufe einer Disziplin des Geistes, einer Ars magna der seelischen Sensationen, die den Triumph des inneren Lebens über die Körperfesseln und allen Zwang der Kausalität bezweckte. Das Vorbild Christi machte die Mönche zu Begründern einer hohen Schule in spiritualibus, deren eminente Be - deutsamkeit noch für uns Heutige nicht erloschen ist.
René Schickele hat in einem eindringlichen Essay „ Lehrmeister wider Willen: Loyola “21) die Bezüge nach - gewiesen, die die spanische Mönchsdisziplin noch mit der27 heutigen Intelligenz verbinden. Das heroische Demutsideal eines heiligen Franziskus, eines heiligen Dominicus, das langsam in Qualen und Demütigungen zur eigenen Gottes - nähe und damit zur Ueberwindung des doktrinären Katholizis - mus führte, — wie sehr unterschied es sich von der platten und materiellen Weltfreudigkeit Luthers! „ Für uns bleiben “, schreibt Schickele, „ ihre Werke Dokumente der eigenen Disziplin, Beispiele, wie man schmiegsam, empfindlich und doch gefasst wird, und auch dann, wenn ihr Egoismus in die Gewalttätigkeit einer moralischen Mission ausläuft, sehen wir nur ihren eigenen inneren Kampf. Unser Gefühl verwandelt die Glaubenskämpfe in Kämpfe um die äussere Freiheit des Menschen, und die religiöse Meditation wird, während wir uns einer Disziplin unterwerfen, zur Kultur der inneren ewigen Schönheit “.
Die spirituelle und spekulative Macht des Papst - tums war nicht damit überwunden, dass ein hartmäuliger deutscher Augustinermönch den Papst „ des Teufels Saw “nannte. Die Hierarchie als Kategorie der Geister war damit nicht aufgehoben. Was wusste ein diabolischer Mönch von den göttlichen Abenteuern des Lebens, jenem passiven Fanatismus, auf den die strenge katholische Mystik hinauslief! Was von der in glühender Askese erlangten Souveränität einer heiligen Therese oder eines Ortiz, der seiner Freundin Hernandez gottverschwärmt zu sagen wagen durfte, sie sei zu einer solchen Vollkommenheit gelangt, dass sie eine minderwertige Angelegenheit wie die Keuschheit sei, nicht mehr zu beachten brauche! Die Gottbesessenheit solchen Mittelalters hatte das System des offiziellen Katholizismus eben - falls durchbrochen, wenn auch auf eine Weise, die dem treu - herzigen Bruder Martin zeitlebens fremd blieb. In unendlichen Seelenkämpfen erfuhren jene Asketen die Auflösung der Religion in ihre Urelemente, in Tränen und Trauer, er - fuhren sie die Sinnlosigkeit des Daseins, den irren Schrei menschlicher Qual und Vernichtung. In Franz von Assisi,28 dem reinsten Geiste des Abendlandes, erwuchs aller Spi - ritualität und wiedergewonnenen Lebensinbrunst ein göttliches Zeichen.
Luthers Protest war der Protest des „ gesunden Menschen - verstandes “, dieses ach so zweifelhaften philosophischen Arguments. Eine Intelligenzfeindlichkeit prägt sich aus in seinem Verrat der mönchischen Sache. Ich kenne die Regeln des damaligen Augustinerordens nicht; aber der Kirchenvater, auf dessen Namen der Orden getauft ist, war der Herrischsten einer im Dienste der Kirche. Er war kein Befürworter der Gnade. Er hat das System intolerantester Orthodoxie begründet. Die Spitzfindigkeit der persischen Metaphysik, die schwindelnden Fragen nach dem Ursprung des Bösen und dem Wesen der Seele, die er vergebens zu ergründen suchte, gaben ihm, nach Lecky, „ einen Sinn für das Dunkel, das uns umgibt, das jeden Teil seiner Lehre färbte “. Als Feind des Zweifels schrak er vor keiner noch so erbitterten Folgerung zurück; „ er schien sich zu freuen, die menschlichen Triebe in den Staub zu treten und die Menschen zur unterwürfigen Annahme der empörendsten Grundsätze zu gewöhnen “22). Etwas von diesem Geiste muss bei aller Entartung des damaligen Mönchswesens auch im deutschen Augustinerorden weiter - gelebt haben. Luther aber wich dem Wege strenger Observanz, auf dem die spanischen und italienischen Mönche zu unerhörter Geistigkeit gelangten, aus. Er warf beiseite, was er nicht durchdringen konnte. Er überwand die Kategorie nicht in sich selbst. Die Disziplin stiess ihn ab, weil er ihr nicht gewachsen war23).
Die Religion hausbackenen Bürgertums, die Religion der „ tätigen Beflissenheit “, in der Luther mit profanem Ungestüm sich billigen Ersatz schuf, hatte zur Voraus - setzung den Opportunismus; den Billigkeitsstandpunkt seinen natürlichen Bedürfnissen gegenüber. Seine zu Behäbigkeit und zu Genuss geneigte räsonnable Einstellung konnte sich29 einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten. Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte. Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in Deutschland, trotzdem man ihm huldigte24).
Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen - heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be - gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er - laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem „ Hunger - pastor “gekennzeichnet hat: „ Mit dem Hunger nach der Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt, erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche schiebt “.
Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern: haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veran - lassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philo - logen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes, und der Protestantismus eine Philologenbewegung — wird man sich entschliessen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich bereits entschlossen und spricht nur noch von „ Professor Luther “. Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder Philologen der Nation25).
Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich. Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam. Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber, und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischis - mus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken? Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer Ueberschwemmung von gottesgelahrten Wortklaubereien, Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tat - sache, dass die Nation auf ein philologisches Pfaffenmanöver einging und sich von nun an an die Bücher halten wollte, statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutsch - land: sie macht „ Aufsehen “. Da sieht man, wie sie alle ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken. 31Den einfachen Mann überkamen die krausesten Probleme, denen er nur mit Stirnrunzeln und Verbitterung sich unter - zog. Und da Luther gleichzeitig die ganze theologische Tradition der Klöster in den Alltag warf, wurde das ganze Volk von unverdaulichem Wust überschwemmt, ein einzig Volk von Gottesgelahrten. „ Es wird gelehrt “, „ Es wird gelehrt “, beginnen die einzelnen von Melanchthon redigierten Schmalkaldischen Artikel26). Und es wurde gelehrt, das ganze Volk, jeder Einzelne wurde gelehrt. „ Der deutsche Freiheitsbegriff, gleichsam eine Schöpfung der Gelehrsam - keit “, gesteht sogar Rathenau27). Wann wird man endlich Reinlichkeit einführen in kategoriellen Dingen? Der Pro - testantismus ist eine Philologie, keine Religion. Luthers Revolte sagte zum Papst: Wir glauben dir nicht mehr. Wir wollen das Dokument einsehen. Wir glauben nur an das Dokument28). Liegt darin aber etwas schöpferisch Neues, eine neue Religion? Dann wäre heute eine neue Religion, vom Papst in Berlin die Dokumente zum Welt - krieg zu fordern und auf der Uebersetzung der ausländischen Dokumente zu bestehen, die sich damit beschäftigen. Gibt es noch Protestanten? Wo bleibt die Gewissensfrage? Auch die Bibel ist ein Fetzen Papier, wenn man will. Internationale Verträge sind heute wichtiger geworden als die Bibel. Wenn man solche Verträge zerreisst, kostet es mehr Blut, als zwanzig Herrgötter vergeben können. An die Schuldfrage sollt ihr euch halten. Um die Schriftmoral braucht euch nicht bange zu sein. Ein neues Europa ist die Moral.
Um die Kulturbasis ging in Europa damals der Streit. Dies wieder war eine pädagogische Frage. Arabische, grie - chische und jüdische Bildungselemente kämpften um den Vorrang. Die italienische und französische Renaissance entschied sich für den Hellenismus und brachte dadurch Europa eine Lichtflut von Aufhellung, Aufklärung. Luther und die Deutschen entschieden sich für die Bibel und damit für die jüdische Tradition. Dies bedeutete unendliches32 Dunkel, eine Vergiftung mit Theologie für das ganze Volk, schlimmer als sie unter den Päpsten gewesen war, denn nun wurde ausdrücklich jedes einzelne Individuum Theologe. Damit war ein jüdisch-deutscher Geheimbund gegründet, dessen Band die gemeinsame Theologie, dessen Ausdruck der heutige Kriegswucher ist29). Die Reformation soll dem ganzen Erdteil einen neuen Ernst in Religionsfragen auf - erlegt haben. Sie legte ihm aber nur einen neuen Ernst im Bücherlesen und eine vergröberte Priesterschaft auf.
Was bedeutet uns heute die Bibel? Noch Zimmermann nennt sie die „ heiligste Verfassungsurkunde der Mensch - heit “30). Doch muss man nicht unterscheiden? Das alte Testament ist despotisch, das neue republikanisch. Die Er - klärung der Menschenrechte durch die französische Revo - lution hat uns zu dieser Entdeckung verholfen. Gott offen - bart sich nicht mehr. Der Mensch offenbart sich. Nau - mann, derselbe Naumann, der sich noch 1918 in Deutsch - land so wohl fühlte, dass er vorschlug, einen „ gemein - samen deutschen Freiheitston “einzuführen31), nennt nun die Bibel sogar die „ Magna carta der Freiheiten “32). Wie ist das möglich? Er leidet an jener Verwirrung von Des - potismus und Evangelium, von altem und neuem Testament, an dem seit Luther ganz Deutschland erkrankte. Denn man könnte eben so gut den Nachweis erbringen, dass der teuf - lische Einfall ich weiss nicht welches jüdischen Theologen, das alte und das neue Testament buchbinderisch in Zu - sammenhang zu bringen, dazu führte, aus der Bibel eine Magna carta der Unfreiheiten und Zweideutigkeiten zu machen, die eine tausendjährige Sonnenfinsternis über Europa verhängten. Nicht nur das alte Testament, — auch die Erlösungslehre ist uns fremd geworden. Wenn wir uns nicht selbst erlösen, werden wir zugrunde gehen. Die Gnade ist sinnlos geworden. Denn für die Verbrechen, die wir begangen haben und täglich begehen, kann es keine Gnade geben, ohne dass Gott aufhört zu bestehen. 33Die rührende Legende aber von einem Genie der Demut und Liebe, das man gekreuzigt hat, — wer versteht sie heute noch? Der mehr oder weniger feiste Bürger — glaubt er und will er denn glauben, dass er erlöst werden kann? Wer soll erlösen? Von welchem Uebel? Wozu schleppt man die Bibeln herum? Die heutige Reformation handelt von Kriegsschuld und Kriegsursachen33).
Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges war die Reformation des 16. Jahrhunderts. Das Zurückgreifen aber auf das paulinische Christentum war das Allerschlimmste. Paulus, der von der Obrigkeit sagte, ein jeglicher habe ihr „ untertan “zu sein „ mit Zittern und Beben “; Paulus, der „ Journalist Christi “, wie Hatvany ihn nennt; Paulus, der jene jüdische Legende vom erlösenden Genie der Demut als erster durch Theologenbeiwerk übertrieb und veränderte, er scheint auch jenen Versöhnungsfrieden zwischen altem und neuem Testament, zwischen einem Richtergott und seinem rebellischen Sohne, eingeführt zu haben, indem er Unversöhnliches vereinte und den rebellischen Christen, vom Schinder gekreuzigt, dem alten Judengott unterwarf. Es würde zu weit führen, hier den Nachweis zu liefern. Man lese aber die Psychologie des Rabbi Paulus nach, die Nietzsche in der „ Morgenröte “gegeben hat34). Von Paulus leitete Luther den jüdischen Defaitismus der Moral ab, „ christlich Recht sei nicht, sich sträuben wider Unrecht sondern dahin zu geben Leib und Gut, dass es raube, wer da raube. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz sei des Christen Recht. “
Und die Lehre vom göttlichen Individuum? Glauben wir noch, dass der Einzelne uns zu erlösen vermag? Sind wir nicht im Begriffe, zu brechen mit einem bequemen Genie - kult, der alle Kräfte des Volkes aufsaugt und jeden, der kein Genie ist, der eigenen Trägheit überlässt, weil ja der andere, das Genie, es für ihn tut oder getan hat? Die abgöttische Verehrung, die den Verstand der Nation aufzehrt, heisse334der Halbgott Wagner, Bismarck oder Hindenburg — ist sie nicht eine Nachwirkung des Erlösergedankens? Jedes einzelne Glied der Gesellschaft muss beurteilen können, worum es sich handelt. Gebrochen muss werden mit jeder Art Er - lösungssystem, zeige es sich in der Geheim-Philosophie, der Geheim-Musik, der Geheim-Dichtung oder der Geheim - Diplomatie. Alles das sind Rudimente eines mysteriösen Erlösungsgedankens und Erlöseraberglaubens, der Fiasko gemacht hat, in Deutschland mehr als anderswo35). Wenn etwas recht geheimnisvoll geschieht, muss es deshalb schon göttlich sein? Erlösen wir uns von den Erlösern!
„ Eure Werke taugen nichts “, sagte Luther zu einem versunkenen, mittelalterlich mystischen Volk, und verschrieb sich dem orientalischen Geiste der Bibel. Wo blieb da die „ teutsche Nation “, die sonst doch so antisemitisch ist? Wo bleiben die Zionisten, die ihr mosaisch Gesetz re - klamieren? Kulturbasis ist heute das Neue Testament seit seinem Beginn, der Bergpredigt; denn es handelt sich um Europa36).
Hierfür lassen sich von Luthers philologischer Tätigkeit folgende Maximen ableiten:
Als deutscher Prophet muss man laut schreien und deutlich reden. Denn das Volk ist schwerhörig. Unendliche Wiederholungen weniger Gedanken verfehlen schliesslich ihre Wirkung nicht.
Man muss Uebersetzungen herstellen von Büchern, die wichtig sind, und sie dem Volke geben. Eine Geheimliteratur gibt es nicht mehr.
Man soll genau und wenig lesen; ein Buch aber, das einem zusagt, wie ein Heiligtum bewahren.
Ueber ein wichtiges Buch kann nicht genug geschrieben, gepredigt, disputiert und gesprochen werden.
Man soll sich an das erlösende Wort halten und darauf sehen, dass ihm erlösende Taten folgen.
Die Bevormundung ist Büchern gegenüber, die Doku -35 mente sind, abzuschaffen. Die Zentralisation dieser Heilig - tümer in den Händen einer lügnerischen Propaganda ist aufzuheben.
Zu Hause wie im Ausland hat man nie gebührende Aufmerksamkeit der Tatsache geschenkt, dass es einmal eine deutsche Revolution gegeben hat. Die grossen Bauernaufstände 1524 / 25, deren Niedermetzelung ein peinliches Kapitel für die offizielle Geschichtsschreibung im allgemeinen und für die lutheranische im besonderen ist, waren der Ausbruch einer zugleich religiösen und politischen Bewegung, die sich von der Normandie über Jütland, Thüringen, Franken, bis nach Ungarn erstreckte.
In deutschen Schulbüchern wird man wenig darüber finden, und doch waren diese Bauernaufstände eine der mächtigsten und blutigsten Rebellionen gegen Adel und Geist - lichkeit, die Europa erlebte37). Die lutheranische Geschichts - schreibung hatte zwiefachen Grund, über dieses Kapitel weitgeistig wegzugehen. Die Stellung Luthers zu diesen universalen Volksaufständen war eine so despotisch reaktionäre, jeglichem Evangelium, jeglicher Bergpredigt so widerspre - chend, dass das Ansehen des Reformators ernstlich gefährdet erscheinen musste, wenn die Bedeutung jener Ereignisse in ihr wahres Licht gerückt wurde. Sodann war nicht nur für den Stifter, sondern für den religiösen Wert des Protestantismus selbst zu fürchten, wenn sich ergab, dass jene Zeiten zwar die Freiheit eines Christenmenschen im kirchlichen Sinne gefordert, im politischen sie aber desto brutaler abgelehnt hatten. „ Selbst diejenigen Bearbeiter der Einzelpartien “, schreibt der klassische Geschichtsschreiber der Bauernkriege, Zimmermann, „ die eine freiere Gesinnung hinzubrachten, behandelten ihren Gegenstand fast zaghaft, ohne das Wesen desselben, die grossen Sünden der Herrschenden und das36 aus tausend Wunden blutende Herz des zur Verzweiflung getriebenen Volkes nackt aufzudecken “.
So verfiel man auf den Kniff, immer nur von der Reformation, nie aber von der Revolution zu sprechen, die jener Zeit ihr Gepräge gab; und auf den weiteren Kniff, Luthers Stellungnahme in den Bauernkriegen, zwar als einen dunklen Punkt in seinem Leben, im ganzen aber als eine untergeordnete Episode darzustellen, während seine ablehnende Haltung 1525 tatsächlich die Revolution zum Scheitern brachte und die von ihm selbst ermutigten politischen Rebellen im Stiche liess38). Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, dass damals das ganze deutsche Volk, von Wut und Empörung gegen Pfaffen, Gelehrte und Junker gleicherweise getrieben, nicht nur den Klerus, sondern den Raubbau der Theokratie ab - zuschütteln gewillt war. Es kann nicht laut genug aus - gesprochen werden, dass Luther es war, der verhinderte, dass Deutschland damals an die Spitze der freiheitlichen Zivilisation trat und als Land einer evangelischen Republik der Vorläufer Frankreichs wurde. Ein abergläubischer Mönch, ohne Sinn für die tiefere Not seines Volkes, aufbrausend, dogmatisch und ein Despot, als die Zeit von ihm die Konsequenz seiner Lehre verlangte, dieser Mönch hat verhindert, dass Deutschland heute statt eines feudal zen - tralistischen Militärstaats eine freie Föderation evangelischer Stämme und Städte darstellt, im Sinne der christlichen Korporationsidee.
Die Bauernkriege erstreckten sich über fast ganz Europa. Nicht plötzlich, sondern wohl vorbereitet brachen sie aus. Ihre Geschichtsschreiber haben den furchtbaren Druck und die Ausbeutung aufgezeigt, mit denen das päpstlich-kaiserliche Doppelregime die Bauern nach einer Methode ruinierte, der nur das heutige Doppelregime Hohenzollern-Habsburg etwas gleich Schändliches und Raffiniertes an die Seite zu stellen hat. Astrologen und Propheten hatten den Sturz der37 weltlichen und geistlichen Obrigkeit in Aussicht gestellt und geweissagt. Die Renaissance gab den Anstoss.
Arnold von Brescia starb den Feuertod am Kreuze, weil er die innere Verwesung der Kirche und die Lehre von der Freiheit und Souveränität des Volkes verkündet hatte. In Frankreich lehrte Abälard: „ Man kann nichts glauben, was man nicht zuvor vernünftig begriffen hat und es ist lächerlich, andern zu predigen, was man weder selbst, noch der, dem man predigt, vernünftig begreifen kann “. In England der Franziskanermönch John Ball: „ Jetzt oder nie muss etwas geschehen, wir müssen allesamt von dem jungen König Freiheit fordern. Gibt er sie nicht, uns selbst helfen “. Es war die Zeit, da die flämischen Steuereinnehmer den heran - wachsenden Mädchen die Röcke aufhoben, um zu sehen, ob sie nicht mannbar und steuerpflichtig wären. Räuber - banden von Juden und Junkern durchzogen das Land. Eine Schweizer Chronik schreibt: „ Die Tyrannei ist so gewaltig, dass auch die Propheten und Prediger zustimmen oder schweigen “. Eine Souveränität des Unsinns und des allmäch - tigen Elends herrschte. Das Volk war betäubt und ohnmächtig von Weihrauch wie heute vom Pulverdampf.
In Deutschland aber trat ein Genie des Gedankens und der Tat auf, das den Ruhm Luthers verdunkeln wird. Kein Mönch, — ein Magister artium versuchte, die Kämpfe seiner Nation aus deren innerstem Wesen im Geiste der Mystik zu leiten. Und so sehr überragte dieser Mann seine furchtsame Zeit, dass er den Himmel zerbrach, Gott, Christentum, Bibel und Theologie neuartig zu deuten verstand und die Heiden und Türken brüderlich grüsste: er litt am Geiste und an der Nation.
Thomas Münzer gehört zu jener Ordnung von Geistern, denen nach einem Wort René Schickeles „ ihre mystischen38 und rationalistischen Antriebe gleich teuer sind in der Hoffnung, dass beide eine höhere und wollüstig zusammen - gesetzte Einheit des Gefühlslebens, die bunte Schönheit und den verhaltenen Wohlklang des inneren Lebens herbei - führen werden. Zur Tat fühlen sich diese Ideologen mit Schmerzen hingezogen; ohne Erfüllung laufen sie Gefahr, zu zerfallen oder wie Orpheus in Stücke zerrissen zu werden. Die Tat bestätigt sie, denn sie sind von Natur haltlos “39).
Thomas Münzer Stolbergensis wurde der Führer der deutschen Bauernrevolution von 1525. Nie hat ein sublimerer, nie ein reinerer Geist eine Revolution geleitet. Lassen wir uns von einer jahrhundertelangen Lutherpropaganda den Blick nicht mehr trüben! An der Spitze der Nation steht derjenige, der ihre besten Kräfte zum Ausdruck bringt. An der Spitze der Nation stand beim ersten Eintreten deutschen Geistes in die Geschichte der Neuzeit ein Mann, der Prophet und Heiliger, Philosoph und Revolutionär in einem war. Eine Franziskusnatur, die sich in die weltlichen Händel warf, als die offiziellen Vertreter des Volkes versagten; nicht eher, dann aber mit unerbittlicher Energie.
Alle grossen Katholiken waren Mystiker. Sie säkularisierten die Transzendenz der Kirche, um sie dem Leben zuzuwenden: Pascal und Baader. Was ist Geist? Gewissen, auf die Kultur angewandt. Was ist Kultur? Eintreten für die Aermsten und Geringsten, als solle aus ihnen das Höchste und aller Himmel sich gebären. Der Geist der Musik und ihre Ordnung, ins Irdische übersetzt: das ist die Aktion solcher Männer. Die gotische Ordnung der Dinge bringt die weltliche ins Wanken, wirft sie um und lässt eine neue Kausalität erstehen, die über die Gegenwart lächelt und ferne Jahrhunderte grüsst. Die gotische Ordnung der Dinge, die ihre Parodie bekämpft in der politischen, und ihre Afterparodie in der polizeilichen. Was sagen Eigenschaften wie Kühnheit, Kindlichkeit und Phantastik aus über solche Geister? Ihre tiefe Symmetrie, das, was Walter von der Vogelweide „ die maasse “nennt, sieht sich39 im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopen - hauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkel - männern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen, der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen, sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Er - schauten. Prophet sein heisst um den Grundriss wissen, den kommende Völker zum Dombau vollenden.
Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanch - thon, der Freund Luthers, sinistrer Verfasser der Augs - burgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben dieses Mannes zu erfassen, in dem sich ein glühender Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur. Noch fand sich niemand, der alle Aeusserungen, Briefe und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.
Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, „ es werde das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe, die Freude und die Freiheit. Alle Buchstabengelehrsamkeit werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der Hülle des Buchstabens. Das Evangelium des Buchstabens40 sei etwas Zeitliches, seine Form etwas Vergängliches, Vorüber - gehendes; das Evangelium des Geistes sei das ewige Evangelium. Dann werde eine Gemeinschaft von Brüdern auf Erden sein, von Spiritualen, Söhnen des Geistes. Nach ihrem Geiste sei das lebendige Wasser jene Schrift, die nicht mit Tinte und Feder auf Papier geschrieben worden, sondern durch die Kraft des heiligen Geistes in das Buch des menschlichen Herzens. Wenn aber die Erhabenheit der himmlischen Dinge sich offenbare, werde alle irdische Hoheit zu schanden werden “40). Einfluss auf Münzers Entwicklung hatte gewiss auch die Libertinagetradition der Dombauhütten. Und seinen Enthusiasmus nährten jene politischen Schwärmer von Zwickau, unter denen Niklas Storch eine besondere Stellung einnahm. Niklas Storch betrachtete die Errichtung des 1000jährigen Reiches als seine ihm vom Himmel gewordene Aufgabe. Er predigte von der nahen Verwüstung der Welt und von einem eintretenden Strafgericht, das alle Unfrommen, Gottlosen austilgen, die Welt mit Blut reinigen und nur die Guten übrig lassen werde41). „ Es schien fast “, sagt Ranke, „ als wollten sie selbst das Werk einer gewaltsamen Umkehr beginnen “.
Münzer verwarf die Gottesgelehrsamkeit. „ Was Bibel, Bubel, Babel “, rief er aus, „ man muss auf einen Winkel kriechen und mit Gott reden “42). Er betonte die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, der sich kundgebe in Erscheinungen, Träumen und Offenbarungen. Kirche und Staat sollten im Reiche der Freien und Heiligen ganz aufgehen und das wahre Priestertum, das des ganzen Menschengeschlechts, anheben.
Er entwirft die Methodik einer noch heute modernen geistigen Disziplin: Aufgabe alles Tuns sei, nach Verzicht auf alle Lüste und Vergnügungen, durch Einsamkeit und Zerknirschung, innige Betrachtung, sich Rechenschaft über den Grund seines Glaubens zu geben. Dem zerquälten und41 zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit, Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „ Der Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift - gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben “. Jeglicher Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den Glauben haben43).
Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die Lehre der Päpste. „ Des Ziels wird weit gefehlt, so man predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke “. Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan haben. Solches Wollen sei der Glaube44).
Er verwirft die „ wollüstige Lehre “, dass Christus für alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer. Münzer ass „ die Herrgötter “, wie er die Hostien nannte, un - geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm schrieb: „ Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum “45).
42Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus? Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm war Christus „ Vorbild des höchsten Leidens, wo der Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist “. Christus sei „ der oberste unter den Söhnen Gottes “und „ sofern der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist glaube “46).
Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit. Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt. Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit Mazzini das „ dio e popolo “, mit Jules Vallès[die] Konfödera - tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.
Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit - genossen? Sie erschienen ihm als „ eitel mutwillige Frevel - artikel “, „ als ein seltsames Gespenst des Teufels “. An Spalatin schrieb er, Münzer bediene sich „ solch ungewöhnlicher und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden, dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten könne “47).
Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den Herzog Johann zu schreiben: „ Wollt ihrs haben, ich soll vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine43 Bücher zu verlesen geben “48). Luther hatte in einem Send - schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren aufgefordert, dass sie „ mit Ernst sollten zu solchem Stürmen und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs verhütet werde “. Denn: „ Es seien nicht Christen, die über das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn heiliger Geist voll und abervoll rühmten “49). Nur durch Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.
Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, nach Friedrich Schlegel „ der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte “ist, Enthusiasmus aber „ das lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen “50), so steht Thomas Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben. Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?
Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der Schwarm - und Sturmgeister war eine Ablehnung des Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.
„ Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden. “ In diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen51) hat man die ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,44 die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden. Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma, Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt, satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen, „ dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht “. Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid.
In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er heftige Angriffe gegen Luther. Den „ wittenbergischen Papst “, der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr 1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts, Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue Kirche durch ihren Buchstabendienst52): „ Ihr zarten Schrift - gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders machen “. Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit, handeln zu dürfen; er spricht von „ den grossen Hansen, die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht haben “. Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die hellen Posaunen will er „ mit einem neuen Klang füllen “. „ Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden “53). „ Man muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie45 der Prophet saget. Wer da nun wider den Türken fechten will, der darf nicht fern ziehen, er ist im Lande. Wer aber ein Stein der neuen Kirche sein will, der wage seinen Hals, sonst wird er durch die Bauleute verworfen werden “.
Er beruft sich auf Lukas 19, 27: „ Nehmet meine Feinde und würget sie vor meinen Augen “. Er verwirft das Christuswort „ Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, “und hält sich an das alte Testament: Fürsten gemordet auf Prophetengeheiss, im Namen Gottes verworfen; Haus und Kind derselben erwürgt bis auf den letzten geflüchteten Sprössling.
Gebet dem Volke, was des Volkes ist, das ist die Losung. Denn Christus hat in der Hauptsache gelehrt: alle Menschen sind Kinder eines Vaters, Brüder, unter sich selbst gleich. Von der Rechtmässigkeit der geistlichen Fürstengewalt stand nichts in der Bibel, von der weltlichen aber auch nicht. „ Gott hat die Herren und Fürsten in seinem Grimm der Welt gegeben und er will sie in der Erbitterung wieder wegtun. Darum dass der Mensch zu der Kreatur gefallen ist, ist's über die Massen billig gewesen, dass er die Kreatur auch mehr denn Gott muss fürchten “. „ Die Fürsten sind um der henkerischen Furcht willen. Sie sind nichts anderes denn Henker und Büttel, das ist ihr ganzes Handwerk “. „ Wenn nun die Wüteriche (der Bürokratie) wollen vorgeben, ihr sollt euren Fürsten und Herren gehorsam sein, so habt ihr zu antworten: ein Fürst und Landesherr ist über zeitliche Güter gestellt zu regieren und seine Gewalt erstreckt sich auch nicht weiter “54).
Das bedeutete auch die Trennung von Staat und Kirche, aber jedenfalls die Unterordnung der Fürsten unter die geistige Macht. An seine Landesfürsten wandte er sich: „ Ihr aller - teuersten und liebsten Regenten, lernt euer Urteil recht aus dem Munde Gottes und lasst euch von euren heuchlerischen Pfaffen nicht verführen und mit gedichteter Geduld und Güte aufhalten “55). An Luther aber folgendermassen: „ Warum46 heisst du sie durchlauchtige Fürsten? Ist doch ihr Titel nicht ihr, gebührt er doch Christus. Warum heisst du sie Hochgeborene? Ich meinte, du wärest ein Christ; so bist du ein Erzheide “56). „ Sieh zu, die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Rauberei sind unsere Fürsten und Herren. Nehmen alle Kreaturen zu Eigentum: die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden, muss alles ihr sein. Danach lassen sie dann Gottes Gebot ausgehen unter die Armen und sprechen: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Es dient aber ihnen nicht. So sie nun alle Menschen verursachen, den armen Ackersmann und Hand - werksmann und alles, was da lebt, zu schinden und schaben. So er sich dann vergreift an dem Allergeringsten, so muss er henken “57).
1524 brach in Süddeutschland der Bauernkrieg aus. Münzer forderte zur Selbsthilfe auf. „ Die Gewalt der Fürsten hat ein Ende, sie wird in kurzer Zeit dem gemeinen Volke gegeben werden! “ Wie anders klingen diese Worte, als Luthers Lehre von der Christlichkeit der Knechtschaft!
Münzer: „ Es wird kein Bedenken oder Spiegelfechten helfen. Die Wahrheit muss hervor. Die Leute sind hungrig, sie müssen und wollen essen “58).
Luther: „ Man soll sie zerschmeissen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss “59).
Münzer: „ Ach Gott, die Bauern sind arme Leute. Sie haben ihr Leben mit der Nahrung zugebracht, auf dass sie den Tyrannen den Hals gefüllt “60).
Und Luther, derselbe Luther, von dem seine Scheherazade Ricarda Huch sagt, dass er Poesie sprach, wenn er den Mund auftat61): „ Cibus, onus et virga asino. Der gemeine Mann muss mit Bürden beladen sein, sonst wird er zu mutwillig “62).
Auf eine wiederholte Denunziation hin floh Münzer nach Nürnberg. Der Nürnberger Magistrat konfiszierte sein47 Pamphlet „ Wider das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg “, in dem Münzer vor dem Jahrhundert und der Menschheit den Kampf aufnahm:
„ Noch bist du verblendet und willst doch der Welt Blindenleiter sein? Du hast die Christenheit aus deinem Augustinus mit einem falschen Glauben verwirrt und kannst sie, da die Not angeht, nicht berichtigen. Darum heuchelst du den Fürsten. Du meinst aber, es sei gut geworden, da du einen grossen Namen überkommen hast. Du hast gestärkt die Gewalt der gottlosen Bösewichter, auf dass sie ja auf ihrem alten Wege blieben. Darum wird dirs gehen wie einem gefangenen Fuchs. Das Volk wird frei werden und Gott allein wird Herr darüber sein “63).
Die Wiedertäufer und Schwärmer wurden seine Kons - piratoren und Emissäre. Schon als fünfzehnjähriger Knabe hatte Münzer sich beteiligt an einer Verschwörung gegen den Erzbischof Ernst von Magdeburg. Jetzt gründete er den[Allstedter] Bund, den Mansfelder Bergarbeiterbund: Zins - verweigerung und Aufstand. Am 15. Juli 1525 berichtet er von „ mehr als dreissig Anschlägen und Bündnissen der Auserwählten “. „ In allen Ländern will ich das Spiel machen; kurzum, wir müssen ausbaden, wir sind eingesessen. Lasst euch das Herz nicht entsinken, wie es den Tyrannen allen entfallen ist. Es ist das rechte Urteil Gottes, dass sie so ganz jämmerlich verstockt sind; denn Gott will sie mit der Wurzel ausraufen “. ‚ Thomas Münzer mit dem Hammer‘ nennt er sich. Im Barfüsserkloster lässt er Geschütze schweren Kalibers giessen. Eine weisse Fahne führt er ins Feld, darin ein Regenbogen steht. Nach Luther aber warf man mit Steinen, als er in Orlamünde sich sehen liess.
In wilden Blutbädern wurden die skorbutmäuligen ausgehungerten Bauern-Proletarier niedergemetzelt. Die Berg - predigt, das Evangelium der Armen, erfuhr eine blutige Abfuhr. „ « Omnia sunt communia » ist ihr Artikel ge - wesen “, berichtet Melanchthon64). Auf der Folter gestand48 Münzer, die Empörung habe er gemacht, „ damit die Christenheit solle alle gleich werden “.
1525 blutete das Volk, 1790 in Frankreich die Aristokratie. Wann wird sich Deutschland mit Frankreich verbünden? Siebenundzwanzigjährig starb THOMAS MUNZER STOLBERGENSIS PASTOR ALSTEDT ARCHIFANATICUS PATRONUS ET CAPITANEUS SEDITIOSORUM RUSTICORUM DECOLLATUS
Wann wird ihm Deutschland, wann wird ihm Europa ein Denkmal setzen?
Luthers Tat emanzipierte die Nation von der Bevor - mundung eines europäischen Dogmas. Aber er übergab damit die Nation ihrer eigenen Verantwortung zu einer Zeit, in der sie dazu, wenn historische Folgen Beweis sein können, noch nicht reif war. Der Eigensinn Luthers, die Bibel selbst auslegen zu wollen, missglückte erbärmlich. Seine An - massung, die europäischen Gewissenskämpfe für sein Volk selbständig zu entscheiden, unter Missachtung einer hoch - weisen Tradition und einer illustren Reihe von Kirchenvätern, Konzilien, Päpsten und Philosophen, führte zu einer Begünstigung der gemeinen Gewalt und einem Primat dieser Gewalt über die Idee; führte zu einer ärgeren Knechtschaft, zu einer schlimmern und verderblicheren Tyrannei, als die der dogmatischen Kirche in ihren in - tolerantesten Zeiten gewesen war65). Luther nahm den Feudal - herren die Fesseln ab, die Karl der Grosse den Sachsenfürsten glücklich auferlegt hatte. Aus der deutschen Reformation wurde ein Rückfall ins Heidentum. Und hier spreche die Meinung eines Franzosen66): „ Ohne Zweifel gab es Miss -49 bräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das gibt es aber in der Laienregierung auch: Panamaskandale, Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen, haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche, sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht, und das bedeutete: die Jesuiten, eine Verschärfung des Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz, die derjenigen der Reformierten nichts nachgab. “
Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war67). Zu spät erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther kon - servierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein grosses reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in Deutschland noch heute nicht ein nach aussen wirkendes poli - tisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist „ der Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat “; ist die Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knecht - schaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissent - lich reaktionären Volk, zu Hütern der „ sittlichen Welt - ordnung “aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten, scheelsüchtigen „ Gottesbefehls “. Res publica wurde Polizei - staat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf Bibel, Jehova und Jesus zu strafen, zu richten und aufzu - henken. Der moralische Liberalismus, den Luther schuf,450wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum Genuss unter staatlichem Protektorat.
Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt, die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum Weltkrieg führte68).
Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört, die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt um des Krieges willen, aus „ Gläubigkeit “. Eine Ueberlast individuellen „ Gewissens “, das keine Ablenkung fand in den Staat, liess die ganze Nation erkranken an Schwermut und Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und missvergnügt. Jene „ mit sich selbst unzufriedene Selbst - zufriedenheit “, von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen; eine linkische Aermlichkeit, die ihn unmöglich machte. Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass grosse Menschen ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsam - keiten entladen. „ So aber “, fügt Nietzsche hinzu, „ verzehrt sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten “. Der rebellisch gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens - Militarismus.
Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann51 gerettet werden, wenn sie sich heute entschliesst, jenes Zeitalter umzutaufen auf den Namen der grossen Revolution von 1525 und damit den Willen ausdrückt, die Superiorität des religiösen über den profanen Geist, das Recht der Zivil - über die Militärgewalt, des roten über das blaue Blut aufzustellen.
Zimmermann hat die Wirkung beschrieben, die Münzers Name allein, auf Luther und auf das trefflich 'Organon Lutheri, Melanchthon, ausübte: „ Wo sie seinen Namen schreiben, ist ihnen, als ob er herein, als ob er vor sie treten könne, während sie ihn nennen, während sie von ihm schreiben. Auf fast allen Zeilen und Reden Beider über Münzer liegt es unverkennbar wie eine Belastung, wie ein Alp, wie ein innerlicher Schauer, ob man's reden oder schreiben dürfe, ohne dass der an die Wand gemalte Geist erscheine. “ Etwas von diesem Schauer, von diesem Alp, scheint sich heute in Deutschland wieder zu regen. Die Geister erscheinen, die Toten erwachen. Die Idee meldet sich an wie Bancos Geist: Civitas pauperrimi et sanctissimi hominis. Werden die Bancos oder die Macbeths siegen?
Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern. Eine pseudologische Bussdoktrin grassiert. Eine Selbst - verfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den Wohlstand der Sinne fördert, — pervertiert die Instinkte, verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angeborenen sittlichen Kräfte1). Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabes - oden und Nekrologien, Busstagsmusik, Choräle, Kantaten bekämpfen den leidigen Teufel der „ Sünde “und Sinnlichkeit, und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten, die Matthisons „ Ehrenpforte “uns überliefert hat, zeugen von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des dreissig - jährigen Krieges. „ Man will wissen “, sagt Lichtenberg, „ dass im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor Freuden gestorben wäre. “2)
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei. Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der Grossvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken. August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener ein „ Herren - und Tatenmensch “, rücksichtslos als Agitator, unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrsch - süchtig als Organisator. Ein pietistischer Uebermensch, so schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens. Die Bibel gilt als vollendetes System der Weissagung und53 im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theo - logische Intelligenz gestritten3).
Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in die grossen Hafen - und Handelsstädte Europas gebracht und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden Juden und tolerierte die Refugiés aus den Glaubenskämpfen, weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Mon - taigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes in Sonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte das ganze Wissen aus dem Bewusstsein. Sein cogito ergo sum wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen Individualismus, der in Deutschland schliesslich zum Gelehr - tenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt: „ es denkt, es blitzt “4), so vermochte das doch nicht zu verhindern, dass der Individualismus, gestützt auf Luthers obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem „ Ich “auch dann noch holte, als die französische Revolution längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das Wort „ Brüderlichkeit “geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das grosse Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte).
Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue Moral aus England. Prof. Borgese bemerkt sehr richtig, man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach ‚ Deutsche Idee in der Welt‘ ruhig umändern in ‚ die englische Idee in Deutschland‘5) und Prof. Nicolai hat in seinem viel - berühmten Buche „ Die Biologie des Krieges “neuerdings darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die Deutschen von der englischen Moral beeinflusst wurden,54 in wievielen andern sie sich ihr leider entzogen6). Man könnte aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau, der die Idee seines Gesellschaftsvertrages England verdankt, berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant sind die beiden grössten deutschen Philosophen jener Zeit in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in Eng - land7). Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig XIV. die Welt hinterliess, waren Franzosen: Rousseau und Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern8); als in Frank - reich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchten. Nicolai zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische „ Nützlichkeits - philosophie “und wie sich der „ kategorische Imperativ “bewährten9): Der deutsche Generalstab brach die belgische Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garan - tierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem Sternenhimmel verwandt fühlte, vergass seine nächste Um - gebung, und die „ moralische Weltordnung “, auf die der deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
Kants Leistung ist gross und unsterblich. Er hat nicht55 Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte10), wohl aber den Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen11) auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der „ falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden Aufklärung “auszuweichen12), (indem er jene Trennung zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm), so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete. Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand. Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel, Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebenso gut auf ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der „ Kritik der reinen Vernunft “erst entthronte, in der „ Kritik der praktischen Vernunft “aber nach ihrer Degradierung und Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte.
Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akade - mischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten, aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn Fichte noch 1799 schreiben konnte13): „ Vom Departement der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden, dass keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüller'sche Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden. Das wird weitergehen und sich verbreiten “, — wie mag es dann erst unter den preussischen Soldatenkönigen mit der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preussen, von dem Winckelmann 1763 schrieb: „ Es schauert mich die Haut vom Wirbel bis zur Zehe, wenn ich an den preussi -56 schen Despotismus und den Schinder der Völker denke, welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lybischem Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen und mit ewigem Fluch beladen wird? “ 14)In Preussen, wo Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle verlassen musste, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteur - skandale eingegriffen haben sollte! Die Uebereinstimmung mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäss jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche Allmacht zu fördern. Man ermesse darnach, was die Mensch - heit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit 1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zwei - deutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhunderte - lang ex officio gezüchtet wurde15). Jede Freiheitsregung musste als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen liessen; vor - ausgesetzt, dass der Professor wirklich den ernstlichen Willen hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma des Absolutismus in sophistische Uebereinstimmung zu bringen.
Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt, dass Kants „ Moral besonders nicht im Widerspruch mit der christlichen Sittenlehre stehe “? Von den Beziehungen des kategorischen Imperativs und des Kant'schen Persönlich - keitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kant'sche Sozialmaxime: „ Handle so, dass die Maxime deines Wollens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne “— verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff? 57Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Unter - tanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung? Was hat die preussische Gesetzgebung mit der Bergpredigt gemein? Birgt sich hinter der Kant'schen Moralmaxime nicht ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ur - sprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was verstand man in Preussen unter christlicher Sittenlehre, wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Im - manuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, dass er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen liess16); jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte17), — er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben wissen18)! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen19).
Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte, Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche, das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nach - gewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen der moralischen Ordnung kompromittierte20). Im Geiste unseres grossen Franz von Baader bestätigte er die innerste58 Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. „ Satan trennt, Christus vereint “, sagt Baader. So aber trennte der ganze von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimental - wissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete die „ objektive Wissenschaft “zumeist. Man hatte am meisten Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu hause, und das Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik schlug den Record der Immoralität, als die Zeiten reif geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Métier, der fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen „ Kultur “, die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen, — von Kants „ Kritik der reinen Vernunft “sind sie entsprungen.
Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr ewig versagt bleiben werden. „ Die Philosophie ist nur eine Methode “, sagt Barbey d'Aurevilly21). Der Katheder ward zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil, dass nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philo - sophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer Recht behält; welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel nähersteht.
Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Unter - suchungen über die Vervollkommnung des Verstandes angestellt, ohne dass es geglückt war, eine Moral auf Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Haupt -59 werken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es, wenn Kant in der „ Kritik der reinen Vernunft “das „ Ding an sich “in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen innerer und äusserer Macht nachdrücklichst betonte und damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so vorsichtig herkam, dass er die Wirklichkeit eine „ Welt der Erscheinungen “nannte und sie in sträflicher Ferne für illusorisch erklärte — blieb nicht auch er ein Mystiker? Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu nnd des Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen, künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Ab - fassung der „ Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft “lag bezeugtermassen ein Katechismus auf seinem Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus machte er die Probe22). Bei Erscheinen dieses Buches aber geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preussischen Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung „ Vom radikalen Bösen “(1792), die man auf die ultra - revolutionären französischen Hébertisten beziehen konnte, erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen Zusatze: „ weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kant'schen Schriften lesen23) “. Dem zweiten Stück aber, „ Vom Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen “, wurde von zwei Zensoren zugleich das60 Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober 1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen „ Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt - und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums “, und den theologischen und philosophischen Dozenten der Königs - berger Universität wurde untersagt, über Kants Werke Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu? Es gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen, „ sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät getreuester Untertan, zu enthalten “. In seinem Nachlass fand man einen Zettel des Inhalts: „ Widerruf und Verleugnung seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht. “ Das war als Ueberbrückung der Idee mit der Erfahrungs - welt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in Preussen vom Könige doziert.
Man hat Kant einen „ Alleszermalmer “genannt (Moses Mendelsohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wag - ner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte ein - sehen, dass nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft, der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten ver - mag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen edel und human sein. Die Ueberernährung mit Erkenntnis - theorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte Spekulationen von äusserster Schädlichkeit für die gesunde Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitte - rungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophie - beamten oder versuche zu lesen ein Buch wie des Aktien -61 evangelisten Rathenau „ Mechanik des Geistes “(„ Ethik der Seele “, „ Aesthetik der Seele “, „ Pragmatik der Seele “), um einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren - gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss - reicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation, sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit, statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano - nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn er sagt: „ Es scheint, als hätten im Abendland immer nur einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig, anarchisch oder tyrannisch, „ Hintergedanken “, ein Umweg, parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten “24).
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas - sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als die der Nachbarvölker25). Derselbe Treitschke weiss aber sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen Krieges „ der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde hauste “; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich „ freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied “; dass dieser Krieg „ zwei Drittel der Nation “hinwegraffte, und dass „ das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führte “, „ nichts mehr von der alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von62 dem freimütig heiteren Heldentum der Väter “zeigte26). Er spricht von den „ heldenhaften Klängen lutherischer Lieder “, von einer „ verarmten, mit fremden Flittern aufgeputzten Sprache “und von der „ rettungslosen Fäulnis des heiligen Reichs “. Wie ist es möglich, in einem solchen Lande inner - halb hundertfünfzig Jahren die vielseitigste, kühnste und menschlich freieste Literatur zu schaffen? Man kennt die Terminologie, mit der Treitschke das Wunder erklärt: Die Glaubensfreiheit und der preussische Staat haben es voll - bracht. Die eine, indem sie dem nach Treitschkes Worten „ verwilderten Geschlecht “den Glauben an sich selbst zurück - gab (!). Der andere, indem er die Deutschen „ zwang, wieder an das Wunder des Heldentums zu glauben “.
Zugunsten meiner Nation muss ich annehmen, dass Treitschke deren Verwilderung übertrieben hat, um das Werk seiner preussischen Majestäten, Friedrichs II. besonders, in desto helleres Licht zu setzen. Es könnte jemand auf den Gedanken kommen, gründlicher noch, als es bereits ge - schehen ist, die Auswirkungen des dreissigjährigen Krieges in unserer klassischen Literatur nachzuweisen, und der von Treitschke behauptete Vorrang möchte einen allzu empfind - lichen Stoss erleiden27). Die krüde Monstrosität der „ Räuber “, das Faustrecht und die Betonung der Kraftworte im „ Götz “, die wilde Jagd nach Lebensgenuss im „ Faust “und der übertriebene Erziehungskult bei Fichte sind nur allzu deut - liche Nachklänge einer sowohl moralischen wie geistigen Katastrophe, und wenn jene Epoche auch Grosses geleistet hat, um die Schäden zu reparieren, so leistete sie Unsterb - liches doch nur in der Virtuosität, über den eigentlichen Jammer und Sachverhalt hinwegzutäuschen durch klassizistische Dekoration, vorzeitige und unvolkstümliche Harmonisierung, durch Optimismus und Flucht an die Höfe. Hier genüge die Feststellung: eine der Hauptursachen der masslosen Ueberschätzung, die die Deutschen ihren Herder, Schiller, Fichte, Hegel angedeihen liessen, war der nationale Stolz,63 eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund - lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr - hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus, sagt in seinem Werk „ De nihilo et tenebris “, das Nicht - sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver - gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig - jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten, die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora - lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm - licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio - nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der „ Idealismus “Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt28); der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits mit dem nächsten Krieg; denn: „ dieser Krieg, wie er auch ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio - nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet “29).
Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu -64 kunft der Menschheit verzweifeln. Die Symbolik der Schuld - frage und die Prüfung auf letzte Eigenschaften werden jedoch hoffentlich Kriegsursachen ein für allemal aus der Welt schaffen, und keine der geringsten Kriegsursachen war ein staatlich und pseudoreligiös betriebener Nationalismus, der im Zeichen der ursprünglichen christlichen Idee und eines freien Europa zu verwerfen ist. Individuen und Na - tionen mögen das äusserste Recht auf Selbstbestimmung geniessen, doch nur in der Gemeinschaft, weil sie nur so das Höchste leisten können, das mit ihnen geboren ist. Keines - wegs haben sie das Recht, andere Individuen und Nationen zu vergewaltigen oder zu betrügen und damit die Entfaltung der Gesamtheit zu missachten, die allein das Höchste mög - lich macht und dessen Massstab ist.
Ich wünschte, deutsche Rektoren, Schulräte und Kon - sistorien zu Lesern zu haben, wenn ich behaupte: der Glaube an die Ueberlegenheit unserer Klassiker ist ein protestantisches Vorurteil. Wenn ich protestantisch sage, meine ich irreligiös und habe im vorhergehenden Kapitel auseinandergesetzt, weshalb ich das meine30).
Die Herkunft der idealistischen Philosophie aus dem Protestantismus wird man nicht bestreiten. „ Die wirksamste Literatur der neueren Geschichte “, gesteht Treitschke, „ ist prote - stantisch von Grund aus “31), und Heinrich Heine bestätigt in seiner gegen Metternich und Frau von Staël gerichteten „ Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland “ausdrücklich, dass „ aus dem Protestantismus die deutsche Philosophie hervorging “32). Klopstock und Lessing, Wieland und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte, alle, die den deutschen Namen exaltierten, nahmen ihren Ursprung aus den Bildungsanstalten, die das Luthertum geschaffen und mit seiner Gesinnung erfüllt hatte. Ja Gustav Freytag behauptet, in Deutschland sei seit der Reformation selten ein bedeutender Mann aufgetreten, der unter seine Vor - fahren nicht einen Geistlichen zählte. Lessing und Schelling,65 Fechner und Wundt, Mommsen und Lamprecht, Harnack und Nietzsche: Pastorensöhne. Achtzehntausend evangelische Pfarrhäuser gibt es noch heute in Deutschland. Sie haben ein halbes oder ganzes Armeekorps gestellt, ohne dass man sich geschämt hat, es anzurechnen33).
Gewiss gab es wackere und tüchtige Männer unter den protestantischen und evangelischen Pastores! Wären sie nur evangelisch geblieben! Gewiss förderte das deutsche Pfarrhaus den Aufschwung der Wissenschaften und Künste. Grundlage dieses Pfarrhauses aber war das Sechskindersystem und die Bequemlichkeit auf halber Treppe; der selige Zu - stand mit Spartel und Rente; die mit Kohl und Karnickel begnadete Diesseitigkeit, an der der Ideensturm scheiterte. Luthers Auslegung der vierten Bitte: — zum täglichen Brot rechnete er nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Haus und Hof, Aecker, Vieh, Geld und Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue Oberherren, gut Regiment u. s. w.34) — ist die Apologie der deutschen Gesässigkeit und diese Bassesse einer Bitte an Gott, dieses plumpe und materielle Ansinnen wurde Mass der Nation und Basis der Geister.
„ Eine landwirtschaftliche Existenz kapitalisiert ihren Jahresumsatz zu einer religiös-politischen Anschauung “, spottet Rathenau, und gewiss mit Recht. Doch wenn er damit sagen will, dass Interessen den Glauben schaffen, so ist dies gleichwohl nicht schlimmer, als wenn der Glaube Interessen schafft. Denn nur Marx, der ebenfalls Theologen - geschlechtern entstammte und Hegelianer obendrein war, konnte das Wort prägen von der „ Idee, die sich immer blamierte, soweit sie von den Interessen unterschieden war “. Die Idee blamiert sich aber nicht, sondern die irreligiöse Philosophie und die Hegelei blamieren sich, was ein anderes Wort des schon zitierten Herrn Rathenau bestätigt: „ Pflicht - getreu und bekümmert machte immer erneut die deutsche Philosophie sich ans Werk, die zerrinnenden Fäden zu566sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen. Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt, und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten Vorfrage blind vorüber geschritten: ob nämlich der denkende, messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen. Sie blieb Intellektualphilosophie “35).
Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, dass sie im wichtigsten Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor Ausbruch der französischen Revolution, jeden Sinn für wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die Ereignisse verloren hatte. „ Herr Pastor “, rief Lessing gereizt, „ wenn Sie es dahin bringen, dass unsere lutherischen Pastores unsere Päpste werden; — dass diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; — dass diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen: so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem Papste vertauscht “36).
Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen vertauscht, man hatte den grossen Blick, die all-einige Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man war: protestantisch geworden, das heisst national und beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die wilde Weisheit der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und eine hohe philosophische Tradition waren von demselben Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat. In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen, zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister,67 und selbst Goethe, dem eine „ neudeutsche religiös-patrio - tische Kunst “und der „ ganz wahnsinnige, protestantisch - katholische, poetisch-christliche Obskurantismus “zuwider waren37); Goethe, der doch selbst von Protesten getragen, sich zu Cellini und der italienischen Renaissance bekannte, — selbst er brachte den Optimismus nicht auf, zu glauben, dass hier in absehbarer Zeit etwas könne geändert werden38). Frankreich und Belgien blieb es vorbehalten, in den sakra - mentalen Werken der Barbey d'Aurevilly, Erneste Hello, Léon Bloy und Cardinal Mercier die Renaissance der Scholastik zu vollziehen und dem protestantischen Zeitalter das Grab zu schaufeln39).
Ein Herr Hoffmann (Berlin-Friedenau, im Februar 1915) spricht von einem „ heroisch-tragischen Sinn des deutschen Humanitätsideals “. Ich habe das Büchlein, zu dem er die Vorrede schrieb, bereits erwähnt. Es heisst „ Der deutsche Mensch. Bekenntnisse und Forderungen unserer Klassiker “und ist für die Feldpost bestimmt40). „ Die sittliche Freiheit “, spricht Herr Hoffmann, „ bedeutet eine Beherrschung des vorgefundenen und vorhandenen, des sinnlichen Seins “.
Nun weiss man zwar, was Pfarrerssöhne unter Beherr - schung des sinnlichen Seins verstehen, und es bedürfte keiner weiteren „ idealistischen “Philosophie. Doch der heroisch - tragische Sinn des deutschen Humanitätsideals, mit dem man versucht, unseren Soldaten die Köpfe zu benebeln, hat seine politischen Hintergedanken. Diese offenbaren sich etwas deut - licher in einem zweiten Bändchen derselben Bücherei, „ Der deutsche Glaube. Religiöse Bekenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart “, das ich ebenfalls zitierte, sowie in einem dritten und vierten, „ Deutsches Volkstum “und „ Deutsche Poli - tik “, von denen das letztere ausschliesslich Herrn von Treitschke68 gewidmet ist. So verlohnt es sich schon, auf den heroisch - tragischen Sinn näher einzugehen.
Die Sammlung macht dem Verlag Diederichs nicht allzuviel Ehre. Denn abgesehen davon, dass es einer Fälschung gleichkommt, Aeusserungen von Kant und Herder über die Franzosen und Engländer von 1780 heute der Feldpost zu übergeben, so geht es nicht an, den deutschen „ Idealismus “zum Deckmantel einer hinreichend kompro - mittierten Politik zu machen, ohne diesen Idealismus und das religiöse Ideal der Nation mit zu kompromittieren. Auch lässt sich aus der rhetorischen Zweideutigkeit unserer „ klassischen “Philosophie ebensowohl die Verneinung wie die Bejahung von dem predigen, was diese Bücherei be - zweckt, und so hätte sich ein so namhafter Verlag wie Diederichs, in dem sich gestern noch die vorzüglichsten pädagogischen Tendenzen Deutschlands spiegelten, die Teil - nahme am physikalischen Gelegenheitsheroismus versagen sollen.
Der Sinn des deutschen Humanitätsideals ist weder heroisch noch tragisch. Voraussetzung solcher Eigenschaften sind Verhältnisse der inneren oder äusseren Politik, die den Widerstreit des reinen Individuums nicht lächerlich erscheinen lassen. Der ganze Aspekt der damaligen deutschen Geschichte aber: Tausendherrenländchenwesen in Beschluss und Aus - führung, Krähwinkelei in Gesellschaft und Phantasie, Zer - rissenheit in jeglichem Betracht — wie sollten Tragik und Heroismus daraus entstehen? Heroisch und tragisch war die Situation einiger weniger Köpfe, die von ihrem Humanitäts - ideal desto weniger sprachen, je klarer sie sahen, je tiefer sie litten, je mehr ihre schadenfrohe und klägliche Zeit sie damit in die Enge trieb. Lessing wäre zu nennen und Lichten - berg, Friedrich August Wolf und Johann Wolfgang von Goethe.
Mit Mühe behauptete sich Aufklärung gegen Theologen - tyrannei. Und als die Aufklärung siegte: Kants Kritizismus69 verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer41). Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen Zweck und Gefühl, das Misstrauen gegen jede geniale Aeusserung lähmten den Enthusiasmus, massregelten die Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses und die gedrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden Gelehrtenrepublik machten aus einem „ brav Kerl, dem was Rechts aus den Augen leuchtet “42) einen Traktätchenverfasser, der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filz - pantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte.
Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den er privatim der „ Schamhaftigkeit der Dichter “zu widmen gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Oeffentlichkeit eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel „ Ueber die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts “gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu machen, „ weil wir “, wie er sagte, „ kein gesellschaftliches Leben haben “43). Das Barockpathos, das Schiller seinen Helden und Versen verlieh44), war weniger mutig als die frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Gemeinde - ratstitel behauptete45).
Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch - gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister, wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhalte - systems. Das Unglück Werthers und der Romantiker — worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion, in der Unfähigkeit, den gewünschten „ Charakter “liefern zu können vor Reizbarkeit, Schwäche und Ueberschwang? Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über „ Wilhelm Meisters Lehrjahre “: „ Ich kann weder in der Kunst noch im Leben vertragen, dass dem, was man Talent nennt,70 wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde. Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir verhasst “46). Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser lustige Gesellschaft lustig geniesst, „ dass er sich an dem Herzoge, seinem Freunde, seiner Gemahlin, seiner Mutter, dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik ver - sündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner Gesellschaft wählen werde “47). Und sogar Schiller an Körner (12. August 1787): „ Goethes Geist ... eine stolze philo - sophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel über - treiben48). Goethe „ hasst mit Eifer Mystik, Geschraubtheit, Verworrenheit “, alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Ver - gebens macht Körner darauf aufmerksam, dass Goethes Hauptcharaktere „ nicht durch konventionellen Heroismus, sondern durch Menschlichkeit interessieren “. (1788)49) Der ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil Goethe „ die Würde “verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Expo - nenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich heraus - nimmt, in bissigen Xenien zu äussern, das Kreuz sei ihm fatal wie „ Wanzen, Knoblauch und Tobak “. Ihre auswärtigen Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitués Klopstock, Herder, Fichte und Schelling50).
Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den Goethe als „ Generalsuperintendenten und Oberhofprediger “nach Weimar berufen hat, findet: „ Die Religiosität ist die höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich nicht, dass ich sie hierher rechne “51). Aber um sich wohl zu wundern, muss man wissen, was man unter Religiosität und71 Humanität damals verstand. In Deutschland bedeuten die Worte nicht dasselbe wie anderswo. Die Religiosität des sächsischen Oberhofpredigers Herder war naturgemäss der Staatslutheranismus, die Humanität eine Art Verschwisterung von Toleranz und Aufklärung, die man als eine schöngeistige Pose in ernsthaften Fällen ohne gar grosse Bedenken auch fallen lassen konnte. Man vernehme Fichte hierüber: „ Diese Zeitphilosophie war ... gar flach, kränklich und armselig geworden, darbietend als ihr höchstes Gut eine gewisse Humanität, Liberalität und Popularität ... Seit der französischen Revolution sind die Lehren vom Menschenrechte und von der Freiheit und ursprünglichen Gleichheit aller ... auch von einigen der Unseren in der Hitze des Streites mit einem zu grossen Akzente (!) behandelt worden “52). Nur die abstrakte Diktion der deutschen Begriffsphilosophie verhinderte, dass man im Ausland die Rhetorik der klassischen Humanität nicht früher durchschaute. Das Humanitätsideal war sehr theoretisch, und gerade aus Fichtes Worten ersieht man, welche Schwen - kung die hohen Begriffe von Freiheit, Menschheit und Recht machten, als die Revolution sie aus der Theorie in die Praxis zu übersetzen begann53).
Beherrschung des vorgefundenen und vorhandenen sinnlichen Seins! Man vergleiche damit, wie die französischen Moralisten von Montaigne und Vauvenargues bis Laroche - foucauld und Chamfort die vorhandenen Sinne und Interessen durchdrangen und sublimierten! In Frankreich wird Huma - nität das Wissen um Leib und Seele; in Deutschland zeigt sich gelahrter Zirkel Importhumanismus. In Deutschland „ das Leben als Tat “, in Frankreich „ die Tat als das Leben “. Der „ süsse mystische Opiumtraum unverstandener (!) Ideen und Gefühle “, von dem Herder an Hamann schreibt54), kapituliert gar rasch, wenn Herrscher, Interesse und Lage gebieten.
Hier ist es am Platze, von der deutschen Universalität zu sprechen. Zu Zeiten der Würdepartei bestand auch die Universalität nur im Beherrschen des vorgefundenen und vor -72 handenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur des - halb, weil man rascher rezipierte, als man in Leben und Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel an Standpunkt und Ueberzeugung, an Einheit und Filiation. Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis Europas zum Demuts - und Hilfsideal war von Luther zer - stört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch im schönen Schein. „ Die berüchtigte deutsche Nachahmungs - sucht “, schreibt Friedrich Schlegel, „ mag hie und da wirklich den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit der Deutschen ist also dem manirierten Charakter anderer Nationen weit vorzuziehen “55). In ähnlichem Sinne äussert sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität nicht ein Täuschungsversuch, eine Ausflucht, ein glänzendes Elend und Desperation? 56)Gerade die Führer der Nation beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu können; selbst die Genies blieben déraciné, und sie haben durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt, was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die christliche Basis verloren ging.
Der Mangel an Ueberblick über das Angehäufte, dem Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur, und noch heute will niemand einsehen, dass die Sublimie - rung weniger Urphänome weiterbringt als das faustische Taumeln von Wunsch zu Genuss. Macht, Dämonie wurden des Deutschen Ersatz für die Grösse, sein nihilistisches Credo, recht eigentlich Quell aller Uebel. Er muss zwischen73 Himmel und Hölle über den Blocksberg geritten sein, ehe er einsieht, dass es vernünftiger ist, Dämme zu bauen als sich in Liebe und Krieg, Metaphysik und Kommerz vollbärtig auszuleben. „ Faust “aber ist eine Persiflage; die Persiflage auf den Universalitätsprofessor. Er hat viel studiert, er ist Doctor von vier Fakultäten. Er kennt alles aus Büchern, vom Hörensagen. Der Teufel flüstert ihm Cochonnerien ins Ohr. Er macht einem Mädel ein Kind, führt griechische Tragödien auf und kommt in den Himmel, (nicht ohne vorher den Teufel betrogen zu haben). Das alles mit Tiefsinn und Gottvertrauen.
Ist die deutsche Humanität am Ende identisch mit der „ moralischen Weltordnung “? Und die moralische Welt - ordnung mit der lutheranischen Orthodoxie? Seltsam! Die Deutschen glauben an solche Weltordnung nur, wenn sie von ihnen kommt. Wenn Präsident Wilson sie vorschlägt, lehnen sie ab. Gibt es das aber, eine moralische Weltordnung, und ist nicht gerade Voraussetzung jeder heroischen Moral eine immoralische Weltordnung? „ Es ist gar nicht zweifelhaft “, sagt Fichte, „ sondern das Gewisseste, was es gibt, ja der Grund aller andern Gewissheit, das einzige absolut giltige Objektive, dass es eine moralische Weltordnung gibt “57). Und Schelling erklärt uns, warum und wieso: „ Die ganze Welt ist mein moralisches Eigentum “und: „ Mannigfache Erfahrungen in der moralischen Welt lehren mich, dass ich in einem Reich moralischer Wesen bin “58). Das ist ja vortrefflich. Was bleibt da zu wünschen übrig? Eine Welt moralischer Biedermänner, die nicht den geringsten Zweifel haben, dass ihre Konspiration mit dem Absolutismus eine moralische Weltordnung ergibt, und die nur eine Sorge quält: auf welche schickliche Weise man das „ radikal Böse “, das natürlich von den Andern, den rebellischen Untertanen kommt, in die moralische Weltordnung einordnen könne59). Kann man sich einen trostloseren Hochmut denken, ein fahrlässigeres und inhumaneres Verzichtleisten auf jede Moral -74 kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein germanisch-professoraler Leitzordner „ Universum “mit meta - physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist alle Moral (die von oben kommt) fertig. „ Freiheit ist des Zwanges Zweck “. Klappe auf, klappe zu, dialektischer Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres, Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „ deutschen Gedankens “bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der erlaubten, der „ intelligiblen “Freiheit auf Widerruf und auf Kündigung! „ Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent - schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche “60). Eine schlichte Formel geistiger Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799) Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder sehr aktuell geworden sind: „ Es ist nichts gewisser als das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un - geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs - tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird “61). Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische75 Lehrer für die Erziehung dieser Jugend heranzubilden. Eine echt fichtige Freiheitsformel: von schlechtem Gedächtnis diktiert und unverwüstlichem Optimismus. Ein Glück, dass der preussische Staat ihn nicht verstand. Die Folge wäre gewesen: eine Art pietistischer Jesuitenschule unter landes - herrlichem Protektorat. Nein, Fichte war kein überwältigender Geist, aber ein Prophet62). „ Endlich “sagte er, „ und wo ist denn das Ende? — endlich muss doch alles einlaufen in den sicheren Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit; endlich einmal muss doch heraustreten das göttliche Reich und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit “63). Es ist herausgetreten.
Am 17. Juni 1789 brach in Frankreich die Revolution aus. Assez de la mémaphysique! Frankreich wollte wissen, wie es um den Menschen bestellt sei. Die Philosophie Europas kam an den Tag. Die französische Nation wollte wissen, was man wollen darf, sollte auch Blut, sehr viel Blut dabei fliessen. Atheismus und Unvernunft offenbarten sich, alles Entsetzen und alles Entzücken.
Nous voulons la bastille! Die mittelalterlichen Mauern barsten und fielen krachend zusammen. Besitzergreifung des Rechts im Namen der Menschheit. „ Wollt ihr grün, die Farbe der Hoffnung, oder rot, die Farbe des Cincinnatus - orden? “, rief Camille Desmoulins, die Pistole in der Hand, von einem Tisch auf der Strasse. „ Grün, grün “, klatschte begeistert die Menge. Der Redner springt vom Tisch, steckt ein Baumblatt an seinen Hut; alle Kastanienbäume im Palais werden entlaubt und im Zuge, tanzend und hüte - schwenkend, begibt sich die Menge zum Bildhauer Curtius.
Wer was zu sagen hatte, kam auf die Strasse. Wer nicht auf die Strasse kam, war ein Tropf. Sub spezie tem - poris werden die Philosophien behandelt. Ewige Dinge76 geschehen, weil keiner mehr an die Ewigkeit denkt. „ Was das Wort Majestät betrifft “, sagt Guadet, „ so darf man es ferner nur noch verwenden, wenn man von Gott und vom Volke spricht “.
Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: die himmlischen Worte überstürzten einander. Enthusiasmus und Freude erheben auf Riesenschultern Paris zur Haupt - stadt der Welt. Papst, Henker und Thron versinken im Dunkel. Denn siehe: euch wurde der Mitmensch geboren. „ La vertu est un enthusiasme “: Nichts mehr von leidendem Glauben, nichts mehr von Dogmen. Das Dogma ist tot; tot der pedantische Gott, der überm Sinai Dogmen erdacht hat. Mensch sein heisst tanzen und jubeln können: alle Geisteskräfte zugleich entströmen dem Körper.
Die Carmagnole heult und die Marseillaise grollt. Brennende Köpfe, schäumende Lippen. „ Das Vaterland ist in Gefahr “, sagt Brisson, „ nicht weil es an Truppen fehlt, nein, weil man seine Kräfte gelähmt hat. Und wer hat sie gelähmt? Ein einziger Mann, gerade der, den die Verfassung zu ihrem Haupte und den treulose Ratgeber zu ihrem Feinde gemacht haben. Man sagt euch, fürchtet die Könige von Ungarn und Preussen, und ich sage, die Hauptmacht dieser Könige ist am Hofe, und da müssen wir sie zuerst besiegen. Man sagt euch, schlagt auf die widerspenstigen Priester im ganzen Königreiche, und ich sage, schlagt auf den Hof der Tuillerien, und ihr schlagt jene Priester mit einem ein - zigen Schlage. Man sagt euch, verfolgt alle Ränkeschmiede, alle Meuterer, alle Verschwörer; ich sage, diese verschwinden alle, wenn ihr auf das Kabinett der Tuillerien schlagt; denn dies Kabinett ist der Mittelpunkt, wo alle Fäden zu - sammenlaufen, wo alle Anschläge angezettelt werden, von wo jeder erste Anstoss kommt. Die Nation ist der Spielball dieses Kabinetts. Das ist das Geheimnis unserer Lage. Das ist die Quelle des Uebels. Das ist die Stelle, wo abgeholfen werden muss “64).
77Aha, sagte das Volk, das Kabinett, das königliche Kabi - nett; und wir dachten, die Zentrumspartei! Aha, sagte das Volk, die Dunkelmänner, die die Befehle ausgeben, die Mi - nister und Junker! Heraus damit, ans Licht mit ihnen! Man setze dem König die rote Mütze auf, man schleppe ihn vor den Konvent! Er soll Rechenschaft geben. Seine Ratgeber — wer sind sie? Nicht dem Zivilkabinett, nur uns selber gehorchen wir. Neue Verfassung, neue Justiz! Wir wollen Vergeltung, man hat uns betrogen! Kein Volk, auch das gutmütigste nicht, lässt sich zum Narren halten!
Sie sind betrunken von Wut, wie wir Deutsche es wären, wenn wir dahinterkämen, dass wir betrogen und Narren sind. Sich selbst erlösen will die stolze französische Seele, denn die Zeiten sind heillos, kein Heiland hilft. „ Sagen wir Europa “, ruft Isnard von der Rednertribüne, „ dass alle Kämpfe, die die Völker auf Befehl von Despoten ausfechten, den Streichen gleichkommen, die sich zwei Freunde, durch einen treulosen Anstifter aufgereizt, in der Dunkelheit versetzen. Wenn die Tageshelle anbricht, werfen sie die Waffen weg, umarmen sich und züchtigen den, der sie betrog; ebenso werden die Völker sich im Angesicht der entthronten Tyrannen, der getrösteten Erde und des erfreuten Himmels umarmen, wenn im Augenblick, wo die feindlichen Heere mit den unsern kämpfen, das Licht der Philosophie ihre Augen trifft “65).
Ja, die französische Revolution war praktische Philo - sophie. Zwei mächtige Schriftsteller hatten sie vorbereitet: Voltaire und Rousseau. Voltaire, das höchste Beispiel des écrivain: Die Einleitung durch den Eclat war das Geheim - nis seines Erfolges. Das Publikum und die Parteien nahmen Stellung in wilden Debatten, eh 'noch das Werk da war. Der Entwurf schon war Auseinandersetzung mit allen Ein - wänden, Drohungen, Hoffnungen; Angst und Entzücken des Publikums. Nur in Frankreich ist so etwas möglich. Intrigen, Wetten, Duelle gingen der Publikation voraus. Das Erscheinen des Buches: nur noch Bestätigung, Urteil und Richtspruch. 78Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem Ruhm. Der „ Contrat social “wurde die Bergpredigt ver - jüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel; die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Na - poleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die gotischen Vorurteile, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideo - logien hat die französische Revolution zerstört. Von nun an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das Herz, das dahinter schlug. Scheingrössen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell ihrer Ausübung. „ Je mehr der Staatskörper schwitzt “, ruft Collot-Herbois, „ desto gesünder wird er “. Der Staatskörper schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton: ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Mensch - lichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken wurden locker, die Köpfe sassen nicht fest mehr zwischen den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, dass er seinen Kopf „ wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf seinen Schultern trage “. Man hat die Guillotinagen der Re - volution verflucht, aber man hat darüber die Feste des Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort Robespierres: „ Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die Laster und die Tyrannen “.
„ Eine Revolution ist die Wirkung der verschiedenen Systeme, die das Jahrhundert, in dem sie entstanden ist, in79 Bewegung gesetzt haben “, sagt Mignet66). Nun, das Jahr - hundert war das der Aufklärung und der Humanität, und die Guillotine war die Probe aufs Exempel. Was würde in Deutschland wohl übrig bleiben, wenn erst die Phrasen verschwänden? Die Revolution war elementarer Ausbruch des Widerwillens gegen Rechthaberei und Bevormundung, gegen Doktrin und Scholastik67). Ihr blasphemisches Schlachten war eine Form von Sichausleben lange vor Nietzsche.
Doch schon auch Wendepunkt. Eine universale Tat war geschehen; jetzt konnte von vorne begonnen werden. Frank - reich hatte mit Ernst gesprochen. England, Italien, Russland nahmen das Wort auf. Die Vernunft war vergöttert und ein - gesetzt, dem Menschenherzen war Raum geschaffen. Es war doch einmal. Nun konnte die Heiligung wieder beginnen. Europa sah Freiheit, restlose Freiheit, das Letzte nach aussen gekehrt, das Himmlische und das Verruchte. An alle Nationen der Welt ging die Aufforderung, für die Demokratie zu werben. Ein apostolisches Tuch reiner und unreiner Tiere: so stürmte die Trikolore.
Was haben die Deutschen getan, diesen beträchtlichen Dingen gerecht zu werden? Die Bibel - und Professoren - kränzchen? Der Superintendant und der Geheimrat, der Pro - fessor und der Assessor? Wollen sie immer noch etwas besonderes sein, immer sich noch vor der Welt verschliessen?
Alle scheint das Ereignis überrascht zu haben. Die Philosophen pflegten nach England zu reisen, die Künstler nach Italien. Niemand nach Paris. Der einzige Humboldt nahm teil an einigen Sitzungen der Nationalversammlung à titre d'espion, muss man gestehen, denn er ging dann in preussische Dienste und sass auch im Wiener Kongress.
Die Chefs der intellektuellen Partei kannten die grosse Revolution nur von Hörensagen. Voltaire hatte die Geister beschäftigt, Rousseau die Gemüter. Aber wenn Friedrich II. die Enzyklopädisten zu sich berief, — wer traf sonst noch mit ihnen zusammen? 1785 begannen Preussens Geheim -80 verhandlungen für das Zustandekommen des „ Fürstenbunds “(Programm: Sicherheit und Ehre der Kronen).
Auch Karl August von Weimar fand sich hineingezogen, und da er den Ehrgeiz zeigte, in der grossen Politik eine Rolle zu spielen, sah Goethe seine künstlerischen Hoffnungen vereitelt. Im zimtbraunen Bratenrock, chapeau bas, Degen an der Seite, komplimentierend wie der steifste Hofjunker, erscheint Johann Wolfgang 1789 in Mainz. „ An Begeisterung für ein hohes Ideal glaube ich in Goethe nicht mehr “, schreibt Huber an Körner. Und als derselbe Goethe 1792 zur verbündeten Armee nach Frankreich geht — er liess gerade sein Wohnhaus herrschaftlich umbauen — wird er geschildert: „ Proportioniert dick, breitschulterig. Gesicht voll, mit ziemlich hängenden Backen “68).
Kant schrieb eine Abhandlung über das „ Radikal Böse “(1792), offenbar gegen die Hébertisten, und veröffentlichte, erst als die Revolution Europa bedrohte, 1796 seinen Entwurf „ Zum ewigen Frieden “. 1790 hatte er den Krieg noch eine „ erhabene “Erscheinung genannt69). Nach Kants vorsichtiger Terminologie soll damit eine „ über Menschen - macht “erhabene Erscheinung gemeint sein, aber was will man? Selbst ein so witziger Kopf wie Herr Scheler hat das Wort missverstanden70).
In seinem Friedensentwurf bezeichnete Kant als Vor - aussetzung des „ ewigen Friedens “die republikanische Ver - fassung, und an anderer Stelle seiner Schriften sprach er sogar, wie die „ Frankfurter Zeitung “nach hundertdreissig Jahren glückstrahlend entdeckt hat, vom parlamentarischen System. Man könnte demnach nicht sagen, Kant sei den Ereignissen taub gegenübergestanden, wenn Fichte nicht darüber belehrte, was man zu damaliger Zeit in der Ge - lehrtenrepublik unter Republik verstand71). A priori — das ist's, apriori — bestritt Kant die Möglichkeit einer Landung Bonapartes in Ägypten; selbst dann noch, als die Zeitungen sie längst schon als glücklich beendet meldeten72). Von den81 Franzosen im Ganzen aber schrieb er: „ Die Kehrseite der Münze ist die nicht genugsam durch überlegte Grundsätze gezügelte Lebhaftigkeit, und bei hellsehender Vernunft ein Leichtsinn, gewisse Formen, bloss weil sie alt oder auch nur übermässig gepriesen worden, wenn man sich gleich dabei wohl befunden hat, nicht lange bestehen zu lassen, und ein ansteckender Freiheitsgeist ... “73).
Auch Fichte bemühte sich um die junge französische Republik; indem er den Sicherheitsstandpunkt geltend machte. „ Der Hauptgrundsatz jeder Staatslehre, die sich selbst versteht, ist enthalten in folgenden Worten Mac - chiavells: Jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen Staat) errichtet und demselben Gesetze gibt, muss voraus - setzen, dass alle Menschen bösartig sind, und dass ohne alle Ausnahme sie alsbald ihre innere Bösartigkeit auslassen werden, sobald sie dazu eine sichere Gelegenheit finden “74). (Die Professoren also auch?) Was die Freiheit betrifft, so findet sie Fichte am besten garantiert „ im Gesetz “und „ nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen grossen Zweck da sind und ihm langsam entgegenreifen; .. ein anderes Element für diese Entwicklung ist in der Menschheit nicht da “75).
Wilhelm von Humboldt, gebürtig zu Potsdam, eilte auf die Kunde von der französischen Revolution nach Paris. In seiner Schrift „ Ueber die Grenze der Wirksamkeit des Staates “verarbeitete er in preussischem Sinne den Rousseau - schen Satz, dass das demokratische Massenrecht den einzelnen Menschen auch „ zwingen könne, frei zu sein “76); indem er nämlich, wie Herr Moeller van den Bruck mitteilt, „ die sittliche Freiheit “heranzog, die er als Kantianer mit - brachte, und von der Rousseau gesagt hatte, dass sie nicht zu den Aufgaben seiner Arbeit gehöre77).
Die deutschen Bearbeitungen Rousseaus sind interessant. Sie lassen die philosophische Mystifikation auf der Tat ertappen. Rousseau setzte an den Anfang seines „ Contrat682social “den wohlbedachten revolutionären Satz: „ Der Mensch ist frei geboren und ist doch überall in Banden “. Schiller machte daraus nach Kants intelligiblem Muster: „ Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd 'er in Ketten geboren “. „ Und diese Freiheit “(in Ketten geboren!), sagt nun Moeller van den Bruck, „ war es, die Humboldt gegen den Staat sicher zu stellen suchte “. Später erst, auf dem Wiener Kongress, „ wo ihm nicht Hardenberg, nicht Metternich, nicht Talleyrand an Bildung, geschweige denn an Bedeutung gewachsen waren “; als Preussen „ gezwungen war, das Schwergewicht von den Forderungen des Individuums und der Freiheit ganz auf die des Staates und des Zwanges zu verlegen “bekannte Humboldt vor der Wirklichkeit, dass „ Sicherheit des Ganzen wichtiger ist als Freiheit des Einzelnen “. Auf den Vorschlag Talleyrands, man möge den Kongress im Namen des öffentlichen Rechts eröffnen, antwortete Humboldt: „ Was soll hier das öffentliche Recht “? 78)Da hat man die ganze Entwicklung: von Königsberg über Jena nach Wien.
Der einzige Lichtenberg scheint Frankreich besser verstanden zu haben. In seinen „ Politischen Bemerkungen “finden sich Sätze, die noch heute gelten und seine volle Aufmerksamkeit und Sympathie für die Revolution, aber auch seine Besorgnis nicht verhehlen. „ Die Lüftung der Nation kommt mir zur Aufklärung derselben unumgänglich nötig vor. Ich sehe darin nichts so sehr arges, dass man in Frankreich der christlichen Religion entsagt hat. Wie, wenn das Volk nun ohne allen äusseren Zwang in ihren Schoss zurückkehrt? Vielleicht war es nötig, sie einmal ganz aufzu - heben, um sie gereinigt wieder einzuführen “79). Oder: „ Das Traurigste, was die französische Revolution für uns bewirkt hat, ist unstreitig das, dass man jede vernünftige und von Gott und rechtswegen zu verlangende Forderung als einen Keim von Empörung ansehen wird “80). Und 1796: „ Wir wollen nun sehen, was aus der französischen Republik wird, wenn die Gesetze ausgeschlafen haben “81). Das ist der ganze83 liebe kluge Lichtenberg, der klüger war als alle die Häupter der Würdepartei zusammengenommen.
Denn was geschah? Nach der Maxime ‚ Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst‘ wurden die freiheitlichen Ideen der Revolution von den deutschen Regierungen unter Zuhilfenahme ihrer Hof -, Staats - und Plaisirhumanisten ins Unverbindliche abreagiert82). Die Regierungen liessen die „ intelligible Freiheit “, um die sie sich nur so lange nicht kümmerten, als die Herren Philosophen und Gelehrten keine praktische Konsequenz daraus zogen, summa cum laude als nationale Spezialität dozieren, und die sogenannten Freiheitskriege (preussisch protegierte Franktireuraufstände) erlaubten der düpierten Nation ihren Hass gegen den Fortschritt und ihren Aerger über versäumte Gelegenheiten sogar auf den Namen Heroismus zu taufen. Eine Konspiration gegen den Fortschritt war es, was Deutschland mit Preussen liierte.
Man kann die Erniedrigung, die das preussische Pflicht - ideal postuliert, und die Depravation, zu der es notwendig führen muss, nicht verstehen, wenn man seine Entwicklung nicht kennt. Dem preussischen Pflichtideal liegt noch heute eine Art stillschweigenden Vertragsverhältnisses zugrunde zwischen dem Fürsten und seinem Untertanen. Der Untertan verpflichtet sich, zu „ dienen “, der Fürst erzieht ihn und „ schützt “ihn dafür. Ueberall, wo es Patriarchen und Fürsten gibt, hat es einen ähnlichen Vertrag gegeben. In Preussen aber kam dazu folgendes: Das Elend des dreissigjährigen Krieges hatte vom Abschaum aller Völker Söldnerhorden hinterlassen, die herrenlos und marode, raubend und wohl auch mordend, das Land durchstreiften. Notgedrungen vielleicht, vielleicht aus Frömmigkeit — Armenwesen und Polizei gehen in protestantischen Staaten ja Hand in Hand —84 schuf Friedrich Wilhelm, der Grosse Kurfürst, den miles perpetuus, das stehende Heer. Die Horde fand jetzt ein Unterkommen. Pflicht aber wurde „ verdammte Pflicht und Schuldigkeit “, aus billiger Anerkennung der kurfürst - lichen Güte.
Der miles perpetuus ist ein tief verworfenes Geschöpf; er kann seinem Herrgott danken, dass der Kurfürst ihn nicht aufknüpft, sondern ihn zu lebenslänglichem „ Dienst “begnadigt. Der Kurfürst freilich ist kein gar gelinder Herr. Aufs Strengste geht er gegen Insubordination, Raufen und Balgen seiner Offiziere vor: Duellanten und Sekundanten bestraft er mit dem Tode. Durch hinreichenden und „ regel - mässig ausgezahlten “Sold indessen fesselt er Mannschaft und Offiziere an sich. Auch durch die Macht seiner „ christlichen “Persönlichkeit.
Der preussische Militarismus in seinen Grundlagen ist eine Institution „ praktischen Christentums “. Das ist hinreichend ersichtlich. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit begnadigt den Sünder. Es ist ein religiöser Militarismus. Bei einer Exaltierung des Bussbegriffes liesse sich daraus ein preussischer Militärkatholizismus abstrahieren. Soweit sind wir noch nicht gekommen, weil es an produktiven Köpfen fehlt. Aber wenn Herr Scheler sich einmal damit beschäftigen wollte, liesse sich denken, dass man Katholizismus in diesem Punkte sogar mit Preussentum vereinigen kann. Dann würde es Freiwillige geben aus Dandysmus.
Die „ verdammte “Pflicht und Schuldigkeit besagt, dass es hier eine Hölle gab ohne Entrinnen. Das Exerzieren des miles perpetuus und die Exerzitien der Jesuiten treffen sich in punkto menschlicher Erbärmlichkeit, Nullität und Zer - knirschung. Kaserne, Kloster und Zuchthaus wetteifern in Pauperismus, schlechter Kost und Verachtung des mensch - lichen Stolzes. Die militärischen „ Generales Observations “jenes Soldatennarren Friedrich Wilhelm I. und die „ Geist - lichen Bussübungen “des Ignatius Loyola berühren einander85 im Paragraphen. Artikel I: „ Es muss zuvorderst wohl dar - auff gesehen werden, dass, so offt ein Kerl im Gewehr, und absonderlich auf dem Exerzier-Platze ist, sich bon-air gebe, nemlich den Kopf, Leib und Füsse recht und ungezwungen halte, und den Bauch einziehe “. Artikel VII: „ Das erste im Exerciren muss seyn, einen Kerl zu dressieren, und ihm das air von einem Soldaten beyzubringen, dass der Bauer heraus kommt “. Oder Art. II für die Offiziere: „ Weilen ein Kerl, welcher nicht GOTT fürchtet, auch schwerlich seinem Herrn treu dienen, und seinen Vorgesetzten rechten Gehorsam leisten wird; Als sollen die Officiers den Soldaten wohl einschärfen, eines Christlichen und ehrbahren Wandels sich zu befleissigen “; Weshalb die Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem Leben in Erfahrung kommen, selbigen vermahnen, und wenn er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken müssen “.
So im „ Reglement, Vor die Königl. Preussische Infanterie “, Potsdam, den 1. Martii 172683). Das Reglement ist beeinflusst vom Kriegsreglement des Spaniers Della Sala ed Abarca (1681), das auf Befehl des Königs ins Deutsche übersetzt wurde und mit geringen Aenderungen auch an Friedrich den Grossen überging. Von letzterem aber stammt jenes Wort, das die Herkunft des preussischen Soldaten noch deutlich erkennen lässt: „ Kann ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet, und ihnen Hüte mit weissen Schnüren gibt, der sie sich kehren lässt rechtsum und linksum, sie ehren - halber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichtsen zu verdienen, die nur aus Not gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk von Strassenräubern zu treiben? “84)
Man sieht: die preussische Armee regt zum Philoso - phieren an, und es ist kein Scherz, wenn ich sage, der preussische Militarismus beruht auf „ Religionsphilosophie “. Er ist spanisch nach seiner Herkunft, Zuchtrute und Geissel, und wird nur überwunden werden von einer geistigen Dis - ziplin, die sich an jesuitischen Vorbildern schulte85). Die86 preussische Armee in ihrem Ursprung ist ein Verbrecher - institut, dem die Gnade des Fürsten zuteil geworden ist, und noch die Fuchtel heutiger Offiziere und Unteroffiziere, Kasematten - und Kasernendrill, der die absolute Inferiorität des ihnen ausgelieferten „ Menschenmaterials “statuiert, zeigt Parallelen mit dem Gefängniswesen, die Gegenstand theo - logischer Dissertationen sein könnten.
Die Rache ist Ausgangspunkt einer brandenburgischen Hausphilosophie, der auch Kants Rigorismus sich nicht zu entziehen vermochte und der keine strengere Natur ihr spekulatives Interesse versagt. Die Subordination des Indivi - duums, wie das preussische System sie verlangt, begann sogar die römische Kirche zu interessieren und die verwöhn - testen Geister fallen uns ab, wenn wir der Satansschule uns nicht gewachsen zeigen. Was ist es anders als Mathematik, wenn Friedrich Wilhelm I. vor dem dröhnenden Gleichschritt der „ langen Kerle “, vor den unerhört genauen Bewegungen der Körper und Linien Wirbelkrämpfe bekommt? „ Enfin, ein Regiment ist die Braut, darumb man tanzet “86). Der Kantonist war zu lebenslänglichem Dienst verpflichtet. Uner - bittlich regierte der Stock87). Ist es ein Zufall, dass Kant schrieb, „ wir stehen unter einer Disziplin der Vernunft. Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen “? 88)War nicht auch er fasziniert? Hat er das Regiment Friedrich Wilhelms nicht gut beschrieben, als sein gelehriger Schüler? „ Pflicht, du erhabener grosser Name, der du nichts Be - liebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst .. “! Und liegen nicht hier, im devotesten Byzantinismus, auch die Gründe beschlossen, die Katholiken, Polen und Spanier heute zu Kant und zu Preussen führen?
Kant suchte die Wurzel einer „ edlen Abkunft “dieser „ Pflicht “. Er fühlte als Preusse und Mensch sich verpflichtet, der teuflischen Wirklichkeit eine göttliche Wurzel zu suchen. 87Und er fand diese Wurzel, die „ Würde “, in der freiwilligen Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des Befehls, und er nannte sie „ kategorischer Imperativ “im Namen der „ Persönlichkeit “. Ist ein Satz wie der folgende zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: „ Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt habe: dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe “? 89)Hält man Kant noch immer für den weltabge - wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt - anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem? Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und Konsorten „ die Braut, darumb man tanzet “? Er hat dem preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther, der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur Metaphysik90).
Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum Zynismus führen musste und auch führte, war die branden - burgische Tradition des „ Sich-formidabel-machens “. Der Grosse Kurfürst schreibt: „ Unsere Voreltern seind der ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur gerühret, hat alles gezittert “91). Der Satz wird Haustradition. Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz: „ Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die88 Cadets gesetzt werden; ist formidabel für seinen Dienst und Armee, und ruhiger in seinem Lande. Die Seligkeit ist für Gott; alles andere aber muss mein sein “92). Und Friedrich der Grosse in seinem „ Militärischen Testament “von 1768: „ Der Krieg ist gut, wenn man ihn unternimmt, um das Ansehen des Staates aufrechtzuerhalten. Keine Kunst ist schöner, keine nützlicher als die Kriegskunst “93).
Aber noch eine andere Tradition bildet sich: die des preussischen Generalstabs. Unter dem Grossen Kurfürsten raufte und balgte man sich noch. „ So sollen vor allen Dingen Uns als dem Haupte, die Hohen und anderen Officirer, Reuter und Knechte, auch insgemein alle und jede, so in unsern Diensten, und sich bey der Armee auf - halten, getrew, hold, gehorsam und gewärtig sein “94). Unter Friedrich Wilhelm I. verlangt das Offiziersreglement, dass in den Regimentslisten geführt werden soll: „ ob der Officier ein Säuffer ist, ob er guten Verstand und einen offenen Kopff hat, oder ob er dumm ist “95). Friedrich II. entfernt dann die bürgerlichen Offiziere, und in den adligen Offiziers - korps entsteht ein Junkersinn, der, nach Treitschke, „ dem Volke noch unleidlicher wurde als die ungeschlachte Roheit früherer Zeiten “. Der „ Point d'honneur “wurde eingeführt. Von einem General erfordert man, „ dass er dissimulé sein und zugleich naturel scheinen soll, gelinde und strenge, beständig misstrauisch und jederzeit tranquille, der aus humanité seiner Soldaten schonet, zuweilen aber mit deren Blut verschwenderisch ist “96).
Nach dem Zusammenbruch der Armee bei Jena und Auerstädt werden Scharnhorst, Gneisenau, Grolman und Boyen ihre Reorganisatoren. Es beginnt die „ idealistische “Tradition des Generalstabs. „ Es steht dieser Bund der Viere “, sagt der Konzipient der Dokumente, die ich hier anführe, „ in der Tat so erhaben da, dass die Geschichte seit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts nichts dem Aehnliches aufzuweisen hat “97); und das ist gewiss auch die89 Ueberzeugung der Lehrer in den Kadettenschulen. Nimmt man aber für Grolman und Boyen die Namen der Blücher und Clausewitz, die heute noch leben und in aller Munde sind, so wird von den vier Haupthelden des damaligen preussischen Heeres berichtet, dass sie in ärmlichen Verhält - nissen, ohne regelmässigen Unterricht aufgewachsen sind. Das mag für „ idealistische “Offiziere nicht ausschlaggebend sein, aber charakteristisch ist es.
Gleich Scharnhorst. „ Sein Vater war hannoverischer Dragonerwachtmeister gewesen. Er wuchs arm und ohne Unterricht auf “98). Seine idée fixe war die Nationalmiliz, um die er die französische Revolution beneidete. Seine Re - formen hatten stets den „ Krieg um die Freiheit “vor Augen. Die ganze Masse des Volkes bewaffnet, das war sein Traum. Wie konnte man sich dann formidabel machen! Er hasste die Franzosen. Weshalb wohl? Von Scharnhorst kam der Satz: „ Hat die Vorsehung irgend eine neuere Einrichtung dem Menschen unmittelbar eingegeben, so ist es die Diszi - plin der stehenden Armee “99). Da Scharnhorst aber gleich - zeitig für die allgemeine Wehrpflicht agitierte, ergibt sich als sein Ideal: der altpreussische miles perpetuus, der Sträf - ling, in nationaler Anwendung.
Gneisenau genoss „ den geistig dürftigen abergläubischen Unterricht von Jesuiten und Franziskanern “100). In der franzö - sischen Revolution sah er entzückt „ die Entfesselung bisher gebundener Volkskräfte “. Er war überzeugt, dass die allge - meine Wehrpflicht und die Teilnahme des Volkes am poli - tischen Leben sich „ als selbstverständlich ergänzen würden “, und trat, selbst gegen die Ansicht des Freiherrn von Stein, für die Abschaffung der Prügelstrafe ein, was er poetisch „ Freiheit des Rückens “nannte101). „ Religion, Gebet, Liebe zum Regenten “, schrieb er in einer Denkschrift an den König, „ sind nichts anderes als Poesie. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet102).
Auch den Gebhard Leberecht von Blücher begleitet die90 stereotype Formel: „ der Knabe wuchs ohne jeden Unterricht auf “103). Lockeres Leben mit Jagd, Wein, Weib, Spiel und Raufhändeln, so lautet sein Leumundszeugnis. An Gneisenau schreibt er: „ Grüssen Sie meinen Freund Scharnhorst und sagen ihm, dass ich es ihm an's Herz lege, vor eine National - Armee zu sorgen “(1807). An Scharnhorst: „ Ich kan alle - weile nich still sitzen und nich die zene zusammen Beissen wen ess Sich um dass Vatterlandt und die freyheit Handelln duht. lasst das lausse und sch .. Zeugh von denen Diploh - mahtiker zu Allen teuffeln faren; warum soll nich alles Auff - sitzen und loss auff die frantzossen wie das Heyllige donner - wetther ... dahrum so sag Ich, marrsch und auff und mitt den Degen den feindt in die ribben “104).
Clausewitz hatte, wie Gneisenau, Scharnhorst und Blücher, eine mangelhafte Schulbildung105). Seine „ Bekennt - nisse “geschrieben 1812, veröffentlicht 1867, bestätigen die Tatsache, dass sein Grossvater Theologieprofessor gewesen. Im übrigen sind sie ebenso langweilig wie anspruchsvoll. Nicht mit ihnen ist Clausewitz weltberüchtigt geworden. Er wurde es mit seinem Werk „ Vom Kriege “, zu dem Generalfeldmarschall Graf Schlieffen, Chef des Generalstabs der Armee, eine Einleitung geschrieben hat. Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens einen Satz dieser Einleitung zu zitieren. Er lautet: „ Der dauernde Wert des Werkes liegt neben seinem hohen ethischen und psychologischen Gehalt in der nachdrücklichen Betonung des Vernichtungs - gedankens “106).
Ethischer Wert und Vernichtungsgedanke? Clausewitz hat viel meditiert über jenen Augenblick, in dem das Gewissen des Soldaten mit seinem blutigen Handwerk in Widerspruch gerät. Er ist der Jesuit unter den Pastorensöhnen, die den Krieg heilig sprachen und ihren entsetzlichen Zynismus mit Argumenten noch zu decken suchten. Er kommt in einem Kauderwelsch, das Kantische Aspirationen hat, zu dem Resultat, dass die Entschlossenheit, das Gegen -91 gewicht gegen den Skrupel, „ nichts anderes ist als das Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt “107).
Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General - stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab, vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten108). Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General - stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen, dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen, der Nation Gesittung dozieren darf109)? Ist es dahin ge - kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden, sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph92 zittern müssen vor jedem Lümmel von Subalternoffizier oder Schreiberbeamten, der sich als eines ebenso formidablen wie majestätischen Systems geruhsame Stütze empfindet? Und ein Volk, in dem das tagtäglich geschieht und zum Codex geworden ist, nennt sich ein Volk der Dichter und Denker!
Die innere Verwahrlosung des Reiches unter den Habsburgischen Kaisern erklärt das Aufkommen Preussens und die Sympathieallianz, die zwischen den preussischen Despoten und dem deutschen Volke zustande kam. Dass zwei so entgegengesetzte Dinge wie die romantische Schlafmützenherrlichkeit des vornapoleonischen Deutschland und das agile Stockregiment preussischer Militärautokraten sich dennoch am Ende vereinigen konnten, mag eine Ahnung davon geben, wie unerträglich die Verschlampung der Rechts - und Sicherheitsverhältnisse, wie unbequem das Durchein - ander erstorbener Institutionen im heiligen römischen Reiche schliesslich geworden war. Jemand bemerkte sehr richtig, nicht darauf komme es an, dass die Sonne über einem Reiche nicht untergehe, sondern, was sie auf ihrem Laufe zu sehen bekomme. Im habsburgischen Weltreich bekam sie zu sehen: Türkenkriege und Rassen-Massaker im Osten, Inquisition und Geusenverfolgung im Westen, Konfessionskriege bis zur völligen Erschöpfung mit Raub, Mord und Brandstiftung in der Mitte.
Den apostolischen Majestäten auf dem Habsburger Throne fehlte das neue Motiv und die zentralisierende Kraft. Welt - flucht und Kreuzzügler-Epigonentum, totes katholisches Dogma und Jesuitenbarock waren den gierigen Anfor - derungen eines zusammengeheirateten Weltreiches und einer neuen Zeit nicht mehr gewachsen. 1648 musste die Unab - hängigkeit der Niederlande, 1763 die Grossmacht Preussens mitten im Reiche, anerkannt werden. Auch die ungarischen93 Magnaten, die man so wenig zu bändigen wusste, wie die Geusen und Preussen, wurden aufdringlicher und kecker, bis es ihnen im 19. Jahrhundert infolge des Bündnisses mit Bismarck gelang, die halbe Politik der Donaumonarchie in ihre Hände zu bekommen.
Der Aufschwung der positiv immer aufs Nächste ge - richteten preussischen Fürsten ging parallel mit dem Zerfall der habsburgischen Hausmacht, und in demselben Grade, in dem diese an moralischem Einfluss verlor, wandten die deutschen Sympathien sich Preussen zu, das an Verschlagen - heit, Brutalität und Sophistik dem Oesterreichertum zwar nichts nachgab, es an Erfolg aber übertraf.
Ein Bismarckwort lautet: „ Preussen ist völlig isoliert. Der einzige Alliierte, wenn es ihn richtig zu behandeln weiss, ist das deutsche Volk “. Schon der grosse Kurfürst machte diese Erfahrung, 1675, als er im pfälzischen Erbfolgekrieg gegen Ludwig XIV. die Partei des Kaisers nahm und von diesem im Stich gelassen, sich plötzlich Frankreich und Schweden zugleich gegenüber sah. Damals richtete er jenen Aufruf an Deutschland110), in dem er sich auf die „ formi - dable Tradition unserer Altvordern “berief, einen Zusammen - schluss der deutschen Stämme forderte und damit eigentlich einen Akt der Rebellion gegen den Kaiser beging. „ Nostris ex ossibus ultor “, verwünschte er Oesterreich, als Ludwig XIV. ihn zum Separatfrieden von St. Germain en Laye zwang. Und ähnlich deutete Friedrich Wilhelm I., als Karl VI. ihm, wider die Abmachungen der pragmatischen Sanktion, die Erbfolge in Berg unterschlug, auf seinen Sohn Friedrich: „ Da steht einer, der mich rächen wird “!
Friedrich II. ist jener preussische König, dem es zum ersten Male gelang, sich im Kampfe gegen das katholische Oesterreich die Sympathien Deutschlands zu erringen; des protestantischen nördlichen Deutschland, wohlverstanden. Und man würde fehl gehen, wenn man die preussische Politik von 1648 an nicht in dem Sinne verstünde, in dem94 sie einzig verstanden werden darf: als Ausdruck des höfi - schen Macchiavellismus und einer lutheranischen Pseudo - moral. Der Fürstenbund, den Friedrich 1785 gründete, ist der Vorläufer jenes zweiten deutschen Fürstenbundes, den Bismarck 1871 gründlicher und umfassender, aber ganz im Sinne der alten preussischen Einigungsidee des grossen Kurfürsten und des grossen Fritzen, errichtete. Ausschlag - gebend waren das eine wie das andere Mal nicht die In - teressen und das Wohl der Völker, sondern „ die Ehre und die Sicherheit “der Kronen.
In Friedrich II. fanden die Hohenzollern den Promp - testen ihrer Tradition; auch den Witzigsten, wenn man als Witz gelten lässt, was aus der Lust am Düpieren und aus sarkastischer Frivolität entsprang. Vor allem den Promptesten; von aussergewöhnlicher Schlagkraft war er, von einer ver - blüffenden Selbständigkeit.
Seine Schlachten sind keine Meisterwerke der Kriegs - kunst. Napoleon hat sich moquiert darüber111). Er schlug, wie es traf, ohne viel Federlesens. Und er fand seinen Meister und erhielt Schläge, ebenfalls ohne viel Federlesens. Seine Philosophie bestand in einem agaçanten Zynismus, der heftig bereit war, Talente und menschliche Einsicht, selbst wenn sie zur Tiefe von Ueberzeugungen drangen, ohne viele Skrupel „ dem Ruhme “zu opfern112). Ja, fast scheint seine ganze Melancholie und sein einsames Flöten - blasen von dem Erlebnisse herzurühren, dass der Genius, der ihn „ wider Willen “begeisterte, mit dem preussischen Prügelmeister in unauflösbaren Widerspruch geriet.
Was ihn auszeichnete, war seine Zähigkeit, eine Elastizität, die mit unfehlbarer Pünktlichkeit da war, gewärtig war, ein - griff und ausbog. Nicht der „ Philosoph “von Sanssouci, nicht der Stratege, noch der Poet, der Vernunft in gereimten Kolonnen bezaubert marschieren liess: — der Draufgänger und Tausendsassa war es, der die Deutschen zwang, „ wieder an das Wunder des Heldentums zu glauben “. 95Endlich einer, der etwas tat, gleichviel mit welchem Erfolg; der seinen Kopf bei den Augen hatte. Endlich einer, der aufzuräumen gewillt war mit Schlendrian, Phrase, Bombast und Faszikel. Endlich ein Tiger, wenn er auch peitschte und Zähne zeigte. Ein Temperament, nach Pedanten und Tölpeln, Adepten und Träumern.
Noch Lessing spricht von den Preussen zuweilen wie von einem halbwilden Volke, doch stellt er verwundert fest, denen sei „ der Heldenmut so angeboren wie den Spartanern “. Die Schlacht bei Rossbach gewann die schon vorher „ fritzisch Gesinnten “wie Goethe. Und wenn es nach Treitschke den Helden des deutschen Gedankens auch lange Zeit noch schwer fiel, „ den einzig lebenskräftigen Staat unseres Volkes zu verstehen “113), so trat doch in Friedrich die „ uralte Waffenherrlichkeit der deutschen Nation “wieder zutage, und der „ Idealismus “tat das Seine, den Gegensatz allgemach auszugleichen. Den Abfall der prote - stantisch feudalen Niederlande vom Reich hatten Goethe und Schiller mit Versen und Prosa freudig gefeiert. Die Rebellion Preussens im Norden, Friedrichs II. Vasallenaufstand114) entsprach ihrem Liberalismus nicht ganz, doch galt es, sich abzufinden115).
Was waren die Gründe, die unsere Urgrossväter jen - seits des Maines, wenn auch mit Sträuben und Zagen, zu preussischen Royalisten machten? Das heilige römische Reich lag in Agonie und bestand eigentlich schon seit Luther nicht mehr. Die Gelehrtenrepublik bot gewisse Unabhängigkeitsgarantien, wenn auch sehr provisorischer Art. Man spintisierte nach Lust und Belieben; jeder für sich, Gott für uns alle. Keine Aufwiegelei, keine Sentiments für die „ Canaille “, alles in Ruhe und Frieden! Von der Sympathie bis zur Einführung preussischer Korporalstöcke im Reich ist ein gutes Stück Weg. Dann würde auch Oester - reich wohl noch zu reden haben.
Eines aber verband Dichter, Denker und preussische96 Herrscher, und das konnte schon damals bedenklich scheinen: die protestantische Ideologie. Als Friedrich entdeckte: „ Ich bin gewissermassen der Papst der Lutheraner und das kirchliche Oberhaupt der Reformierten “116), da stand im Grunde auch der Durchführung seiner deutschen Aspirationen nichts mehr im Wege. Kants Philosophie gewann Schiller, Wilhelm von Humboldt und Kleist, die protestantische Staatsidee Fichte und Hegel. Der siebenjährige Krieg hatte Goethe gewonnen. Raubkrieg hin, Raubkrieg her: die Nation, von Klassizismus und Lutheranismus zugleich ver - dorben, gewann einen dankbaren Stoff zur Poetisierung. „ Da griff ich ungestüm die goldenen Harfe, darein zu stürmen Friedrichs Lob “117). Hatte Friedrich nicht Gedanken - freiheit gegeben? Das verband Schiller (siehe Marquis Posa). Hatte er nicht den „ grossen praktischen Verstand “, den Goethe an den Engländern lobte? Und wenn Friedrich auch französisch schrieb und sich mit Voltaire und den Enzyklopädisten besser verstand als mit Weimar und Jena: wo sonst als bei Preussen und seinem Heer war Rettung vor dem radikal Bösen der schrecklichen Ungeheuer-Revolte von Paris?
Der Jammer und die Misere, worin die habsburgische Theokratie, aufgebaut auf einem toten Gotte, Deutschland konservierte, lassen den Entschluss begreiflich erscheinen, den unsere Altvordern fassten. Sie konnten nicht ahnen, was folgen würde. Heute aber, da wir die Ungeheuer in unserer Mitte haben, da Preussen sinnlos und eine Land - plage geworden ist, — was hindert uns noch, der Sol - dateska den Abschied, der Republik aber ihren Advent zu bereiten?
Als Herrscher war Friedrich nicht ohne Bedenken. Der Einfluss der Henriade ging tiefer, als er sich eingestand. „ Die Gier nach immer mehr “, schrieb er im Antimacchiavell, „ ist nur das Merkmal ganz niedrig gearteter Seelen “. Und: „ Ein Verlangen, sich vom Raub des Nächsten zu vergrössern,97 wird im Herzen jedes anständigen Menschen, der Wert auf die Achtung der Welt legt, nicht so leicht Eingang finden “. Und: „ Ein Missetäter braucht nur erlauchter Her - kunft zu sein, um auf den Beifall der meisten Menschen zählen zu können “118).
Man hält in Deutschland noch heute für Philosophie die Ansicht, dass das „ wirkliche “Leben solch knäbische Idealismen spielend beseitigt. Und doch ist gerade diese Ueberzeugung eine moralische Fahnenflucht, liegt gerade in dieser Ansicht das unheroische Faktum unserer Denkart. Der König wusste das wohl. Sein Zynismus zeigte sich darin, dass er die wahren Aufgaben des Herrschers begriff und verriet und noch Philosophie daraus machte.
Sobald sich eine Gelegenheit bot, fiel er über Schlesien her. Wobei wiederum zu bemerken wäre (siehe Masaryk), dass eine Revolte nur dann kein Verrat ist, wenn sie von menschlichem Mitleid getragen auf Notdurft und Rechten basiert und von kollektivem Gewissen getragen, nach mehr - fach vergeblicher Anmeldung ihrer Rechte zum Aufstand gezwungen ist.
1741 bekennt der König119): „ Der Ruhm der preus - sischen Waffen und die Ehre des Hauses bestimmen mein Handeln und werden mich bis in den Tod leiten “. Was kümmert uns aber der Ehrgeiz eines Fürsten und die Machtlust der preussischen Waffen? Uns ist die Wohlfahrt des Volkes vertraut. Und wenn er behauptet: „ Der preussische König muss den Krieg unbedingt zu seinem Hauptstudium machen und den Eifer derjenigen anfeuern, die den edlen und gefährlichen Waffenruf ergriffen haben “120) — was schiert uns die preussische Hauspolitik? Ist es Grösse, den Krieg, ein satanisches Handwerk, zu pflegen? Aus dem Lamm ein reissender Wolf, über Nacht. Unter Deutschen ist das nicht überraschend. Thomas Mann, der im Früh - jahr 1914 noch begeisterte Worte für ein demütig Weih - nachtsstück Paul Claudels, „ Die Verkündigung “, fand,798ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über den preussischen König121) mancherlei Aufschlüsse bieten.
Ein Kuriosum ereignet sich: Preussen verteidigt die „ Freiheit Europas “! Friedrich behauptet, „ die Sache des Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unter - drückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen “122)! In wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft er sogar die Frage auf: „ Ob Deutschland und der Prote - stantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschen - geschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird “123)? Es ist die Antizipation des famosen „ Kulturkampfes “, den Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, dass er „ gewisser - massen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der Reformierten “ist, und schickt französische Jesuiten nach Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen124). Eine früheste Probe „ praktischen Christentums “! Und da er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee und Sokrates zu einem „ Totengespräch “, um sich aphoristisch einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preussischer Tra - dition Ehre macht: „ Staatsstreiche sind keine Verbrechen, und alles, was Ruhm bringt, ist gross “125).
Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in Berlin ein Pamphlet „ De la litérature allemande “, das nur Mehring meines Wissens genügend würdigte126), und das doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbunds schritt, der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig über den Mund zu fahren. Goethes „ Goetz “, „ Stella “und „ Werther “lagen vor. Schillers „ Räuber “, Lessings „ Miss Sarah Sampson “waren erschienen und wirkten für ein selbstbewusstes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden. Dem musste begegnet werden.
Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und eine Geschmak. 99Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die jungen teutschen Originalgenies gemessen an Bossuet, Fenélon, Pascal und Bayle! Von jetzt an war es geoffenbart, dass Preussen auch ideell an der Spitze marschierte. Es bedarf keiner Zitate. Das Pamphlet, energisch stilisiert und von grossen Gesichtspunkten aus alfresco diktiert, bannte die spärlichen Koryphäen der Heimatkunst und unterwarf sie sich wie die Schlange den Vogel. Die Frau Rat war ausser sich, und Wolfgang dachte an eine Erwiderung. Aber der Hof von Gotha winkte ab, und der Druck unterblieb. Herder fasste den Entschluss, sein früher erschienenes Frag - ment „ Ueber die neuere deutsche Literatur “gründlich zu revidieren und tat es auch. Wieland schrieb im „ Teut - schen Merkur “: „ Seit vielen Jahren waren wir gewiss, dass der erhabene Verfasser niemals an unserer Literatur einigen Anteil genommen habe. Wir sehen, dass er sich in vorigen Zeiten mit ihr beschäftigt und die besten Gesinnungen für sie hegt, auch noch das Beste für sie zu hoffen und zu wünschen geneigt ist “. Klopstock, der sich am heftigsten mitgenommen fühlte, machte seinem Grimm in einer ganzen Reihe bombastischer Oden Luft127).
Der König hatte bewiesen, dass er nicht nur in den Bataille zu fechten verstand, sondern auch dero deutschen Intelligenz Meister war. Der König gab klärlich kund und zu wissen, die Zeiten seien vorbei, da man barbarisch in Preussen die Evangelisten erschlug128).
Man hätte seinen Anregungen folgen sollen. Sie waren geeignet, mancherlei Abhilfe und Freiheit zu schaffen. Unter königlichem Protektorat eine französische Uebersetzungsge - sellschaft, wie Nowikow und Katharina sie in Russland hatten129), tat der Nation dringlicher not als ein Weimarer Amateurtheater. Man hätte dem Könige vorschlagen sollen, all jene französischen Klassiker zu übersetzen, die er empfahl. Es wäre ein unvergängliches Werk geworden. Man tat es nicht. Man hätte die französische Revolution besser verstanden100 bei ihrem Ausbruch und, wer weiss, sich vielleicht Napoleon und die Freiheitskriege erspart, nebst der Abhänigkeit von Preussen, die diese Freiheitskriege im Gefolge hatten. Man tat es nicht. Man vergötterte mehr als je den, der sich als „ doppelten “Helden erwiesen hatte. Man gab ihm das Recht, zu glauben, was er vorausgesetzt hatte: auch die intellektuelle Partei ist inferior, ein miles perpetuus so - zusagen.
Dann folgte der Fürstenbund. Er wurde der erste Schritt zur Errichtung des preussischen Reiches deutscher Nation. Die protestantische Intelligenz war gebändigt, bevor sie noch recht begriff, um was es sich handelte.
Aber Rousseau hat Frankreich revoltiert. Er hat Russland revoltiert. Er wird eines Tags auch Deutschland revoltieren. Der Mensch ist keine Maschine: — Rückkehr zur Natur. Der Mensch ist kein Teufel: — Rückkehr zum Christentum. Der Mensch ist kein Höhlenbewohner: — Rückkehr zur Heimat. Das Paradies ging verloren. Alle sind schuldig und Ungeheuer des Alltags. Alle sind mit der Erbsünde der Gewohnheit beladen, Abtrünnige ihrer Kindheit. Alle gehorchen, weil jeder gehorcht. Doch die Seele ist nicht von Natur eine Preussin; der Mensch ist kein Brudermörder. Aufhebung aller heutigen Normen, Gesetze, Sitten, Bildungen, Einbildungen und Einrichtungen. Unio mystica mit Gott und der Menschheit.
In Frankreich genügte der Urteilsspruch über eine unmöglich gewordene Welt, und man schritt zur Tat. Die Guillotine wurde zum Messer, mit dem man die neue Menschheit aus dem Leib einer Kokotte schnitt.
In Deutschland führte Rousseaus Philosophie zu jener magischen Flucht von Idealisten, die man Romantik nennt. Das deutsche Ideal war einst kontemplativ, nicht angriffslustig,101 transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern einst wirklich „ der ganzen Welt formidabel “waren, so hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid - und Triumphmusik, den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer die Stirne vom Credo trunken: Verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer Musik „ aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh “, wie Theodor Däubler sagt130). Die Romantiker flohen, weil sie gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten, nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng, missbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen131). Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie sich in Schriften und Uebersetzungen, deren Sinn ihnen Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt, vor dem die Wirklichkeit weichen muss. Wir sind nicht Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
„ Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie “, ver - kündet Friedrich Schlegel, „ sie will und soll Poesie und Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz in der Philosophie und Gesellig - keit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind “132). „ Transzendentale Bouffonnerie “nennt er „ im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Be - dingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend und Genialität “133). Poesie ist ihm „ allein unendlich, weil sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide “134).
Das sind freie und grosse Formeln. Goethe hatte die „ dämonische Natur “wieder entdeckt und den Abgrund des Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den102 Naturbegriff des Genies: das Inkommensurable der Kunst135). Im Attachement an die Natur der fünf Sinne fand er die physischen und sittlichen Urphänomene und deren Durch - dringung; fand er das Licht und die Farbenlehre und jene unio mystica mit der Sonne, die sich in seinem Todeswort ausprägt: Mehr Licht.
Von hier kam die Romantik. Ein hieratisches Pandä - monium von Liebe, Verehrung und Brüderbewusstsein. Zur Dombauhütte des dritten Reiches ward die Romantik. Von heiligem Geiste erfüllt schrieb Novalis den „ Ofterdingen “, schrieb Beethoven den Satz: „ Mir ist das geistige Reich die oberste aller geistlichen und weltlichen Monarchien “136) und an Cherubini das jubelnde Wort: „ L'art unit tout le monde “137). Seine völkerverbindenden Rhythmen schwingen sich auf gegen Gott zum Streit für die Verwahrlosten, Armen. Gegen Gestirne und Schicksal tagt in extatischem Drängen die christliche Revolution. Gut ist der Mensch, trotz allem. Beethoven fordert das Paradies zurück für die Aermsten, an denen gesündigt ist138).
Novalis enthält eine ganze Renaissance des Christentums. 1799 erscheint im „ Athenäum “der Brüder Schlegel sein Essay „ Die Christenheit oder Europa “. Er weiss: „ Luther behandelte das Christentum willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein. Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des modernen Unglaubens und gibt den Schlüssel zu allen un - geheuren Phänomen der neueren Zeit. Wie, wem auch hier wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfaltigere Konnexion und Berührung der europäischen Staaten ... eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte? “139). Eine Extase sublimierter Leidensfreude ist seine Religion. Er liest „ Wilhelm Meisters Lehrjahre “und findet verstimmt das Vorbild Voltaires. „ Es ist ein Candide, gegen die Poesie gerichtet “, schreibt er, „ ein nobilitierter Roman. Das Wunder -103 bare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buches “140). Er selbst fordert vom Kunstwerk, dass es das Wunderbare wie ein Gewöhnliches, Gemeines vorstelle; und das fordert er sogar vom Leben141). Er sieht in der Natur dieselben Wunderkräfte kreisen wie im Menschengeist; sieht sein Leben und seine Geliebte wie Blume und Blatt auf dem selben Stengel. Die Welt malt sich mystisch und grün in seinem Blute. Tier, Mensch und Strauch werden ein Reich. Und von Franziskus trennen ihn nur Trauer und italienische Sonne und Bläue. Resignation ist sein Leiden und Mitleiden mit Blumen, mit Gott und mit Sophie Kühn, einem sterbenden Mädchen. Er liebt sie, weil sie das Jen - seits berührt. Einen Satz aber schreibt er, der alle Romantik überwindet und tief in die Zukunft weist: „ Sollen wir Gott lieben, so muss er hilfsbedürftig sein “142).
Ueber Friedrich Hölderlin hat Gustav Landauer so eindringlich geschrieben, dass Hölderlin jetzt erst entdeckt worden ist143). Er suchte die Einheit der Nation zugleich in der Demut und im dithyrambischen Geist der Gemeinde. Er litt unsäglich am Treiben der Zeit. Er wusste um eine frei schwingende Verfassung der Dinge wie keiner von allen, die nach ihm kamen. Seine Hymnen sind ein zärtlich abgewogenes Gesetzbuch liebender Leidenschaften. Aufruhr und Erwartung, mit denen die französische Revolution ihn bestürmte, lassen ihn fragen: Sind wir zurückgeblieben, fehlen uns Talent, Tatkraft und Initiative oder sind gerade wir Säumigen zu besonderer Aufgabe bewahrt? Und seine Antwort lautet: „ Oh ihr Guten! Wir sind tatenarm und gedankenvoll “144). Doch im „ Hyperion “klagt er an: „ Die Tugenden der Deutschen sind ein glänzend Uebel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst mit Sklavenmühe dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Misslaut nicht104 erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen. Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was sie nicht entheiligt, was nicht zum ärmlichen Befehl herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlich rein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren wie man so ein Handwerk treibt und können es nicht anders; denn wo einmal ein menschlich Wesen ab - gerichtet ist, da dient es seinem Zweck. Doch du wirst richten, heilige Natur! Denn wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze sich nicht machten für die Bessern unter ihnen! Wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind; und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! “ 145)Erbsünde der Deutschen aber ist ihm wie Friedrich Schlegel „ die gänzliche Trennung und Vereinzelung der menschlichen Kräfte “146).
Und noch eines Romantikers sei hier gedacht: Georg Büchners. Er gründet einen revolutionären „ Verein für Menschenrechte “. Welcher Deutsche wird nicht lächeln? Aus der vita contemplativa stürzt er sich in die Politik „ wie in einen Ausweg aus geistigen Nöten und Schmerzen “. Die Polizei verjagt ihn nach Strassburg. „ Dantons Tod “entsteht, während die Polizei unten auf ihn wartet. Die Polizei zwingt ihn, seine rebellischen Neigungen in Literatur niederzulegen. Nicht die Dogmen von 1789 trägt er vor — was kümmert ihn Parteiskandal! —, sondern sein leidendes Menschenherz, einen von tiefster Trauer durchtränkten Fatalismus147). „ Die Schöpfung ist eine Wunde, wir sind Gottes Blutstropfen “. Und inbrünstig ruft er uns heutiger Jugend zu: „ Die Welt ist das Chaos, das Nichts, — der zu gebärende Weltgott “. In Giessen ist es, wo er „ in tiefe Schwermut verfallen sich schämt, ein Knecht mit Knechten zu sein, einen Kirchendiener-Aristokratismus zu Gefallen “148).
Eine Poesie der Heiligen und des Genies wollen diese deutschesten Geister erheben zur Weltreligion149). In ihr sehen sie die Einheit aller Kreatur, ja aller organischen105 Schöpfung150); in ihr, die die Zukunft vorwegnimmt, sehen sie Gott. Was sie bewegt, ist lebendiger Enthusiasmus fürs Gute. Gottes Gang in die Natur und Sehnsucht aller Kreatur zu Gott zurück, ist ihnen himmlische Vernunft.
Borgese warnt Franzosen und Italiener, in den deutschen Atheisten und Naturalisten des 19. Jahrhunderts Gesinnungs - alliierte zu suchen. „ Wer die christliche Moral als eine Zufluchtsstätte alter Vorurteile betrachtet, kämpft gesinnungs - mässig auf Seiten der Deutschen “151). Ich kämpfe nicht „ auf Seiten der Deutschen “, ich stimme ihm bei, und das zwingt mich, Heinrich Heine anzugreifen.
Heine hatte das Pech, sich gründlich über den Prote - stantismus und über die deutsche Philosophie zu täuschen. Er hielt Luther für den „ grössten und deutschesten Mann “152). Er beging die betrübliche Pläsanterie, von einem „ Marquis von Brandenburg “zu sprechen, der „ Denkfreiheit “gegeben habe; er hielt Kant und Fichte für Rebellen, was leider nicht zutraf, und nannte den preussischen Apologeten des Credo quia absurdum, Herrn Hegel, „ den grossen Hegel, den grössten Philosophen, den Deutschland seit Leibnitz erzeugt hat “153). Dagegen pamphletierte er gegen die Ro - mantik, die er für Obskurantismus hielt, weil sie von Preussen nach Wien und nach Rom floh und Metternichs Anteil fand, weil sie von der preussischen Denkfreiheit nicht viel hielt und von den übrigen protestantischen Freiheiten auch nicht viel. 1852 aber, nachdem die Schriften und Tagebücher Baaders neu erschienen waren, widerrief er, und er mag eingesehen haben, welches Unheil ihm seine Avancen ver - dankte154). Sein Buch gegen die Romantik widerrief er in - dessen nicht. Die Schwächen dieser Bewegung hielt er nur allzu bereitwillig für ihr Wesen, und statt die Institutionen anzugreifen, die diese Schwächen verschuldeten, trat er mit geistreich verschlossenen Augen als skeptischer Nationalist und Gourmand auf die Seite derer, die Purpurmäntel und Braten verteilen155).
106Seltsamer Fall! Ein französischer Irredentist aus Düssel - dorf verleumdet die Blüte des Enthusiasmus und der Extase, die einzige christliche Literatur, die Deutschland besitzt! Denn was verbindet uns mit den Völkern, wenn nicht die christliche Spiritualität der Romantik? Franz von Baader, der Montblanc dieser Richtung — schuf er nicht tiefe Ver - bindungen mit dem orthodoxen Geist Russlands? 156)Mit dem Italien des Franz von Assisi und der ganzen frühgotischen Tradition? Mit der inspiration douloureuse des Pascal und dem Thomismus des Cardinal Mercier? 157)Hat er in seinen Tagebüchern nicht sanft und gewaltig die Irreligiosität der pantheistischen deutschen Philosophie aufgedeckt158) und den ewigen Hader zwischen katholisch und protestantisch zu tilgen versucht in einem grosszügigen Reformvorschlag? 159)Sprechen nicht Münzer und Jacob Böhme zugleich aus ihm, wenn er sagt: „ Man muss zeigen, dass Könige, Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind “? 160)Wenn er Kant und Hegel, den Häuptern der Erkenntnistheorie, beweist, dass sie die Logik mit dem Logos verwechselt haben? Wenn er zu Schelling spricht: „ Du redest von einer Offenbarung Gottes durch Naturgesetze für jedes einzelne Wesen in dem grossen All, und von einer menschlichen Offenbarung an Menschen magst du nichts hören? Für das Menschliche in Gott hast du keinen Sinn, so wenig als du einen solchen für das wahrhaft Göttliche im Menschen hast. Wissen willst du? Nun so wisse, dass dir deine Vernunft ausser den sinnlichen Erfahrungen weiter nichts taugt, als dich in dem heillosen dialektischen Schattenspiele herum - zujagen, und dass es also wohl sehr vernünftig, grösste, reinste Vernunft ist, da zu glauben, wo du nie wissen kannst “161).
Zugegeben: die Schauer -, Ritter - und Pomp-Romantik und auch noch die Heroldsbläserei Wagner'scher Ouvertüren haben die deutsche Reichsgründung eröffnet. Und Friedrich Schlegel wurde, als er zu Jahren kam, Ritter des päpstlichen107 Christusordens. Aber neben den Obskuranten, die in Abhän - gigkeit gerieten, — gab es nicht reine begeisterte unabhängige Mystiker, die uns den Blick rein hielten für das, was wir wollen müssen: eine ecclesia militans, deren Hauptstadt Paris ist; deren Väter Pascal, Münzer und Tschaadajew heissen: deren Gott in der Zukunft wartet und erkämpft werden muss; deren Reich nicht von dieser Welt, sondern von einer neuen ist, die wir schaffen und nur in der Un - endlichkeit erreichen werden?
Gewiss: Trägheit und Laster um ihrer selbst willen, Askese und Weltflucht, wie die Romantik in ihrer Entartung sie zeigt, sind nicht Heiligtümer; sie sind Verzweiflung; Nachwirkungen des furchtbar paulinischen Dogmas: Gott ist tot, Gott ist am Kreuze gestorben. Und auch das Motto einer heutigen Romantik: die Kirche hat einen guten Magen, sie kann selbst Aas und Verwesung vertragen, gilt nicht für die neue Kirche, die streitende Demokratie. Wir sind keine skeptischen Hamlets mehr, keine schlechten Pauliner. Wir sind eine Conspiration in Christo162). Wenn Heine sagt: „ Die neufranzösischen Romantiker sind Dilettanten des Christentums, sie schwärmen für die Kirche, ohne ihrer Symbolik gehorsam anzuhängen; sie sind catholiques mar - rons “, so geben wir ihm recht. Wir sind keine Pro - katholiken nach René Gillouins glücklicher Prägung in einem Aufsatz über das Prokatholikentum der Lemaître, Maurras und Barrès163). Und wenn Heine von der Staël sagt: „ Sie spricht von unserer Ehrlichkeit und unserer Tugend und unserer Geistesbildung — sie hat unsere Zuchthäuser, unsere Bordelle und unsere Kasernen nicht gesehen164), so war es gewiss artig, ihr den Krieg zu machen, wenn er sich auch in der Waffe vergriff.
Wir glauben an Don Quixote und an das Phantastischste aller Leben. Wir glauben daran, dass die Ketten fallen und dass es keine Galeeren mehr gibt. So sehr sind wir bereit, Opfer zu bringen, dass Kants Pflichtideal uns als moralischer108 Dilettantismus erscheint. Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica der befreiten Welt. Wir glauben an die küssende Verbrüderung von Mensch, Tier und Pflanze; an den Boden, auf dem wir stehen und an die Sonne, die über ihm scheint. Wir glauben an einen unendlichen Jubel der Menschheit. Wie sagt Jan van Ruys - broek im „ Buch der zwölf Beghinnen “. ‘Verschmelzen mit der Liebe Angesichte Und ganz von Liebe trunken sein Ist selige Weise. ’ ()
Die Romantik durchbrach in Deutschland die Tradition von 1517. Das ist ihre Tat. Sie stellte die Verbindung wieder her mit der alten Spiritualität Europas. Sie versuchte eine Kritik des Protestantismus und wies über den Konfes - sionsstreit hinaus. Sie ist mächtig genug, Deutschland eine Renaissance des Christentums zu bringen, wenn man nur wollen wird. Der Heilige und das Genie dürfen nicht ein - sam und Zufall bleiben. Mögen sie vorstellig werden wie das Gewöhnliche und das Gemeine. Aller Heiligen ist das christlichste Fest.
Die Gründung der Berliner Universität nach dem Plane Wilhelm von Humboldts (1810) war eine jener kontre - revolutionären Massnahmen, über die Metternich und Hum - boldt sich einig waren und die fünf Jahre später gegen die « aufgeregten Stände » ihren Triumph feierten auf dem Wiener Kongress.
Man hat die Verdienste Humboldts um die Reaktion bislang unterschätzt. Herr Moeller van den Bruck unter - nahm es, sie ins gebührende Licht zu setzen. Humboldts « Idealstaat », theoretisch ein Versuch, die „ moralische Welt -109 ordnung “in Preussen anzusiedeln, erwies sich in der Praxis als ein Zwangs - und Sicherheitsinstitut, „ in dem das Volk der Deutschen nach aussen seine Sicherheit und nach innen seine Freiheiten bekommen hatte “, unter denen nach Herrn Moeller „ die Sicherheit vor Gemeinplätzen und die Freiheit von Schlagwörtern am selbstverständlichsten, aber auch am dringlichsten zu sein pflegt “165); ein Staatsinstitut also, dessen Grundsatz in jener uns unlängst beschiedenen Ballin'schen Formel „ Maulhalten und Durchhalten “gipfelte.
Humboldts Idee einer Berliner Universität erscheint mir als reaktionärer Entwurf bedeutender. Man bedenke: der König von Preussen Rector magnificentissimus der Univer - sität seiner Residenzstadt! Rector magnificentissimus war vor der Reformation der Papst, nach der Reformation aber der protestantische Landesfürst! Da der König von Preussen zugleich das Summepiskopat seiner Landeskirche innehatte und absoluter Soldatenkönig war, so ergab sich für die neue Residenzhochschule ein religiöses Militärprotektorat, das alle Anlagen zeigte, die päpstliche Despotie des Mittel - alters in furchtbarer Weise abzulösen, wenn nur ein ge - schickter Interpret sich fand. Und dieser liess denn auch nicht lange auf sich warten.
1818 kam Georg Wilhelm Friedrich Hegel nach Berlin, und ihm ist es zu danken, dass Preussen Basis eines neuen Strebens nach dem Universalstaat wurde, einem Universal - staate, worin die irdischen Interessen die himmlischen ab - lösten, Berlin einen zynischen Ersatz bot für Rom, und ein allmächtiger Beamtenklerus für die Geistlichkeit; worin unter dem Namen der Staatspragmatik eine neue Scholastik aufkam und der preussische König mit Hilfe seiner Ge - heimräte und Professoren die verworfene Sträflingswelt seiner Untertanen regierte als höchste geistliche und welt - liche Macht.
Hegel war als Privatmann ein ziemlich lächerlicher Kleinbürger aus Schwaben. Auf dem Tübinger Stift war110 er „ schulmässig zum Theologen gebildet “166). In Heidel - berg, Nürnberg und Jena hatte er doziert als Professor und Rektor. Es war die Zeit, da poetische Exaltationen und Uebertreibungen sogar den Philister ergriffen. „ Als wir noch im Leibe vor einander wallten “, schrieb man sich in Briefen167), und wenn einer das namenlose Glück erlebte, Napoleon Bonaparte zu Gesicht zu bekommen, so nannte er ihn wie Goethe „ die sichtbar gewordene Idee des Höchsten “oder wie Hegel „ die Weltseele zu Pferd “168).
Schon in seiner Habilitationsschrift vom 27. August 1901 stellt Hegel den Satz auf „ Principium scientiae mo - ralis est reverentia fato habenda “169), und sein Biograph er - zählt, dass es des grossen Hegel Ehrgeiz war, „ gleichsam der Macchiavell Deutschlands zu werden “170). Die Gesund - heit eines Staates offenbare sich, sagte Hegel und noch im Jahre 1917 musste Prof. Nicolai den Satz widerlegen, „ nicht sowohl in der Ruhe des Friedens, als in der Be - wegung des Krieges “171). Jeder Fürst sei der „ geborene General seines Truppenkontingents “. Und — das ist ja ein kausaler Zusammenhang — den Protestantismus erhob er mit Begeisterung „ als den Wiederhersteller der Gewissen - haftigkeit und Gewissensfreiheit, der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, wie sich dies besonders auch darin ausdrücke, dass der Fürst eines protestantischen Staates zu - gleich der oberste Bischof seiner Kirche sei “172). Mit Nach - druck verwarf Hegel „ den unseligen Irrtum, dass man einen Staat wähne gründlich konstituieren zu können, ohne den Glau - ben an Gott als das innerste Prinzip alles Denkens, Tuns und Lassens “aufzustellen, und ohne die geringste Skepsis identifi - ziert er Protestantismus und Christentum als die natürlichste Sache von der Welt, obgleich gerade seine Form von Protestan - tismus dem Seelenheile des Nächsten und der Bergpredigt widerspricht, und keineswegs der Menschheit, sondern in erster Linie dem übergeordneten Prinzip eines heidnischen Aufsichts - staates und der erfolgreichsten Dynastie verantwortlich ist173).
111In Hegels Berliner Antrittsrede finden sich bereits alle pomphaften Wendungen, die der spätere Hegelianismus über den Zusammenhang der Hegel'schen Philosophie mit der „ welthistorischen “Bestimmung des preussischen Staates geltend zu machen pflegte. Die Berliner Universität ist ihm die „ Universität des Mittelpunktes “, die „ auch der Mittel - punkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft “werden muss174). Die Deutschen preist er wie bereits in einer Heidel - berger Rede „ als das auserwählte Volk Gottes in der Philo - sophie “175). Seine erste Tat aber ist die Wiederverdunke - lung der Kantischen Errungenschaften, indem er nämlich von Kants Trennung zwischen Obskurantismus und reiner Vernunft sagte: „ Zuletzt hat die sogenannte kritische Phi - losophie dem Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht, indem sie versichert, bewiesen zu haben, dass vom Ewigen und Göttlichen nichts gewusst werden könne. Diese vermeinte Kenntnis hat sich sogar den Namen Philosophie angemasst “176). Hegel seinerseits glaubte die absolute Kenntnis vom Ewigen und Göttlichen zu haben. Er versprach eine Philosophie, die „ Gehalt “haben werde und rief dazu die Jugend auf, die noch un - befangen sei „ vom negativen Geiste der Eitelkeit, von dem Gehaltlosen eines bloss kritischen Bemühens “. Wie Hegel sich indessen diesen „ Gehalt “in Wirklichkeit dachte, das ergab sich bei Gelegenheit seiner Festrede zur Feier der Augsburgischen Konfession im Jahre 1830.
Die Augsburgische Konfession ist das vornehmste sym - bolische Buch der Lutheraner, das Hauptdokument des preussisch-deutschen Byzantinismus. Nur mit ihrer völligen Aufhebung kann Deutschland dem Christentum wieder - gewonnen werden. Hegel nannte die Augustana, ohne auf den Kardinalpunkt näher einzugehen, die „ Magna carta des Protestantismus (des sola fides justificat wegen). Er schilderte — was schilderte er wohl? „ die Verderbtheit der Kirche durch den papistischen Katholizismus, schilderte die Tyrannei, mit112 welcher die Kirche alle Selbständigkeit der Wissenschaft darniedergehalten habe. Er schilderte die Verunsittlichung des Lebens durch die Zerstörung der Familie mittelst des Zölibats, durch die Zerstörung des werktätigen Fleisses mittels der Vergötterung der Armut und Faulheit und stu - piden Werkheiligkeit, durch die Zerstörung der Gewissen - haftigkeit mittelst eines stumpfen unmündigen Gehorsams, der in seiner Gedankenlosigkeit die Verantwortung für sein Tun den Priestern überlässt, endlich durch die Zerstörung des Staates infolge Nichtanerkennung der wahren fürstlichen Suveränität “177). Kurz er schilderte all' das, das wir heute als Folge der Augsburgischen Konfession und der prote - stantischen Kirchengründung dem Staatslutheranismus vor - zuwerfen haben: die Verderbtheit der Kirche (durch Abhängig - keit von der Fürstengewalt), die Sklaverei der Wissenschaft (durch Abhängigkeit von der Fürstengewalt), die Verunsitt - lichung des Lebens (durch einen unbedenklichen Positivismus), die Zerstörung der Familie (durch Kriege und Deportationen), die Zerstörung des werktätigen Lebens (durch Monopole und Privilegien), die Vergötterung der Armut (durch defaitistische Propaganda im Ausland), die Zerstörung der Gewissenhaftigkeit (durch politische Entmündung).
Der Senat machte bei Gelegenheit dieser Feier auf den Mangel einer Universitätskirche für Berlin aufmerksam (trotz Kant) und Hegel, der inzwischen Rektor geworden war, nahm sich der Sache „ aus allen Kräften “an, indem er darauf drang, man möge wenigstens „ vorerst einen Betsaal bewilligen “, wenn noch keine Kirche gebaut werden könne. Eine besondere Kirche gehöre „ schon zum Anstand einer Universität “. Nach - dem selbe (die Universität) „ auf eine Anzahl von 1800 Studierenden angewachsen sei, bilde sie mit den Familien der über 100 sich belaufenden Dozenten eine nicht unan - sehnliche Gemeinde178). Hegel als Rektor und der Landes - fürst als Rector magnificentissimus verhielten sich auf der theologischen Linie zu einander wie der Prediger zum Bischof.
113Die Philosophie Hegels läuft hinaus auf eine Erweite - rung des protestantischen Gedankens und des absolutistischen Bewusstseins, nicht aber der Wahrheit und Erkenntnis. Jener Satz Hegels aus seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie: „ Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig “, mag einmal eine Tat gewesen sein, als Anerkennung der Wirklichkeit gegenüber der doktrinären Verdächtigung und Verfluchung aller Realität im heiligen römischen Reich. Eine Erkenntnis aber enthielt er nie, und er konnte auch in all seiner summarischen Anerkennung des Verruchten wie des Verklärten nur innerhalb eines Systems aufrechterhalten werden, das sich im Balancement von Ab - straktionen und Begriffen intellektualiter begnügte. Jener andere Hauptsatz Hegels aber, „ der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt “, der einfache Gedanke der Ver - nunft, „ dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei “179): ist nicht auch dieser Satz eine Unwahrheit, eine so hand - greifliche moralische Kapitulation, dass nur ein in theolo - gischen Dingen kritikloses Volk den hinterhältigen Glauben an die Absurdität übersehen konnte, der sich hier verbarg? 180)
Die Hegel'sche Rechts - und Geschichtsphilosophie zu - sammen hatten nur die Bestimmung, eine Art Beweisführung für des Autors im protestantischen Dogma befangene Ueber - zeugung zu liefern, dass „ die preussische Monarchie das Ideal eines politischen Organismus “sei181). Denn ebenso wie Bismarck später an den „ grossen Entwicklungsprozess “glaubte, „ in welchem Moses, die christliche Offenbarung und die Reformation als Etappen erscheinen “, so glaubte Hegel in seiner „ Philosophie des Rechts “an den „ germanischen Geist “als den „ Geist der neuen Welt “und an einen „ Trieb der Perfektibilität “182). Wie argumentierte er doch? „ Die dritte Periode der germanischen Welt geht von der Refor - mation bis auf unsere Zeiten. Das Prinzip des freien Geistes ist hier zum Panier der Welt gemacht und an diesem Prin -8114zipe entwickeln sich die allgemeinen Grundsätze der Ver - nunft “183). „ Was die Gesinnung betrifft, so ist es schon gesagt worden, dass durch die protestantische Kirche die Versöhnung der Religion mit dem Rechte zustande gekommen ist “. Und als Folge: „ es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom weltlichen Rechte getrennt oder ihm gar entgegen - gesetzt wäre “184). Das aber hiess im Zusammenhang des Hegel'schen Systems: es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen ausserhalb oder gar gegen den protestantischen Absolutismus. Und doch schrieb dieser fürchterliche Jesuit den Satz: „ Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Be - wusstsein der Freiheit “.
Wie erklärt sich solche alleruntertänigste Devotion? Dass Preussen „ das absolute Ideal “sei, dachte sich Hegel schon bei seiner Berufung. Eine Anstellung an der Berliner Universität war schon in Heidelberg sein höchster Traum. Was ihn nach Preussen zog, war es am Ende wohl Preussens „ Gehalt “? Wie hätte diese Monarchie die Universität Berlin gründen und so reichlich dotieren können, wenn Preussen nicht alle andern Staaten übertraf? 185)Wie hätte sie ihn, Hegel, den armen Schlucker, dem Goethe nach Jena Beigefügtes im Brief zukommen liess, weil man von den sächsischen Kollegiengeldern nicht leben konnte186), dorthin berufen? Aber dann stimmte es auch überein mit Hegels „ Speku - lation “und schulmässiger Theologie. Und es kam nur darauf an, den „ Idealstaat “Humboldts möglichst zu überbieten. Das war man der Berufung und dem Landesfürsten schuldig.
Also griff Hegel zur „ Weltseele “und liess sie sich mittels These, Antithese und Synthese zum Selbstbewusstsein des preussischen Untertanen und Staates hinaufentwickeln. Das war für die Weltseele ein anstrengender Prozess und für den Herrn Professor auch, und der Vorgang wurde etwas dunkel, aber desto verdienstlicher das Resultat für den Impressario. Und was Hegel ebenfalls schon vorher wusste: dass nämlich alles, was kontrerevolutionär ist, auch115 vernünftig ist, also auch die allgemeine Wehrpflicht, mit der Friedrich Wilhelm III. nach den „ Freiheitskriegen “sein Volk beglückte (1814), — auch das deduzierte er von der Idee, ohne sich seiner französischen Sympathien vom Jahre 1806 zu erinnern, und deduzierte von ihr das Erbkönig - tum, die Majorate und das Zweikammersystem. Und so wurde der deutsche „ Idealismus “zu jenem Geheimkabinett, auf dessen Dach die Flagge der Vernunft und Aufklärung wehte, während im Innern ein Mystagoge seiner Nation eine Chloroformmaske übers Gesicht warf, und das betäubte Objekt dem Sadismus der Herrscher auslieferte.
Die ganze Weltgeschichte setzte Hegel in Bewegung, um Preussen als Taube daraus hervorzuzaubern. Eine solch abergläubische Wichtigkeit hatte niemand vor ihm dieser Monarchie beigemessen. Die instinktive Ahnung der Ab - surdität seines Systems war die Ursache von Hegels europäischem Erfolg, die Charlatanerie und Dreistigkeit dieses Systems aber war es, was Schopenhauern rasend machte187).
Zweierlei Rebellionen sind möglich. Eine Rebellion gegen die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Gewissens. Sie ist töricht und verbrecherisch. Und eine Rebellion für diese Grundlagen, aus universalem Gewissen. Sie fördert die Freiheit, die nichts anderes ist als der Höchstertrag allerlösender Leistung.
Unbegreiflich, wie man Hegel für einen Rebellen im Sinne der Freiheit halten konnte. Man erinnert sich Heines optimistischer Prophezeiung: „ Unsere philosophische Revolu - tion ist beendet. Hegel hat ihren grossen Kreis beschlossen ... Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers, der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche116 der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden ... “188). Unbegreiflich, wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine „ Revolution “, ausgehend von den Professoren dieses Prinzips, erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen Historikers Théodore Duret zu, der in einer Enquête über die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skep - tischen Sätze schrieb: „ L'idée de révolution, d'un changement profond à réaliser brusquement, n'a pu naître et se déve - lopper que dans un pays latin, idéaliste et catholique comme la France. Elle est restée sans prise réelle et le restera toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants, comme l'Allemagne et l'Angleterre “189).
Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität in Gewissensfragen und schliessen jene sublime Reizbarkeit in Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten Endes ihren Ursprung im Selbstbewusstsein kollektiv ent - wickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewusstsein allein wird die Ueberhebung von Individuen oder Klassen als unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektiv - bewusstsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesell - schaft, ob sie Luther, Kant, Marx oder Hegel hiessen. Der Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft von Individuen, Klassen oder Völkern gleich, aus denen er entsprang und sich isolierte. Nicht einmal eine soziale und politische, geschweige denn eine moralische Revolution, ist heute in Deutschland möglich ohne einen tiefen Um -117 schwung im religiösen Ideal. Die Umwelt ist es, die re - belliert, die unterdrückte Tradition der vorreformatorischen christlichen Idee, und diesen mächtigen Faktoren wird das unterdrückende Individuum, heute das ganze protestantische Deutschland, auf die Dauer nicht gewachsen sein. Der deutsche Protestantismus war die Kontrerevolution gegen die christlich-kommunistischen Bauernaufstände des Mittelalters.
Hegels Rebellion gegen Gott hatte durchaus keine synthetischen, wohl aber zerstörende, nihilistische Motive. Man konnte Preussen nicht gut von Gott ableiten. Das sah selbst Hegel ein; ebenso wie Kant, der an Gott wohl nur deshalb nicht mehr glaubte, weil er die preussische Wirklichkeit und Friedrich Wilhelm I. noch kannte und sich schämte. Also musste man Gott von Preussen ableiten oder ihn ganz beiseite lassen und einen Ersatz für ihn suchen. Kant fand das „ Ding an sich “, Hegel die „ Weltseele “. Hegels Weltseele war ein immerhin respektables Objekt. Kein preussischer Regent konnte sich beklagen, mit ihr in intime Beziehungen gesetzt zu werden. Oder ist eine Welt - seele weniger erhaben als ein theistischer Gott? Was Gott an Charakter voraushat, ersetzte die Weltseele gewissermassen an Breite. Die Erhabenheit Gottes sowohl wie der Weltseele lag ja nur in dem mystifikatorischen „ Gehalt “, den beide zu liefern hatten.
In der „ Weltseele “war ein Gott-Ersatzmittel gefunden von erklecklicher Würde. Hegel setzte seine Weltseele bei Adam und Eva in eine Art Krankenfahrstuhl, gab ihr These und Anti - these als zwei Hebel in die Hände und liess sie in der Synthese sich fortbewegen. Er nannte das die „ Fortbewegung der reinen Vernunft vom An-sich durch das Für-sich zum An-und-für-sich “. Den zurückgelegten Weg nannte er Prozess oder Fortschritt. Nach Verlauf von einigen tausend Jahren kam die Weltseele in Berlin an und die Studenten jubelten ihr zu, als sie im König - lichen Palais abstieg. Herrn Professor Hegel aber, als dem Er - finder dieser Maschine, brachten die Studenten einen Fackelzug.
118Die Sache ist nicht so spassig, wie sie klingt. Denn abgesehen davon, dass nun jedermann eine solche dialek - tische Maschine erfinden wollte, — man nannte das ein System, — so hatte Hegels Weltseele den Berlinern und ihrem König von der Reise auch etwas mitgebracht. Das war das „ Inventar “der Weltseele: eine Art Rangordnung und Tabelle der Staatswissenschaften, ein utilitarischer Stammbaum der Fakultäten und Disziplinen. Vergebens wies Baader darauf hin, dass der göttliche und der menschliche Denkprozess, die Metaphysik und die Logik, nicht identifiziert werden dürften190); zeigte er auf die Servilisten, Pietisten und Rationalisten, die einen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben aus dem Zweifel „ per generationem aequivocam “entstehen liessen; vergebens schrieb er in einem Briefe vom 30. September 1830 an Hegel selbst: „ Der Teufel ist überall los, und weil sie die Idee in ihrer himmlischen Gestalt verachteten, müssen sie nun vor ihrer höllischen Karikatur erzittern “191). Da der preussische Staat einmal der Gipfel der Weltgeschichte war und sich noch weiter darin entwickeln konnte gemäss jenem Trieb zur Perfek - tibilität, der später in der Sozialdemokratie zur Perfektibilität der Konservenbüchsen, Kinderwägen und Sodaflaschen wurde, so gab es in der Folge keine Wissenschaft mehr ausser an ihm, durch ihn und für ihn. Gehalt der Staats - wissenschaft aber wurde die antichristliche Plattitüde.
Und was wurde aus der Gelehrtenrepublik? Sie wurde nach und nach abgelöst von jener unversorgten und instinkt - lahmen Beamtenhierarchie, die nach Auflösung des „ heiligen römischen Reichs “mit ihrer ganzen seelischen Popen - und Bonzenträgheit von Oesterreich überging an Preussen. Erster und mächtigster Agitator hierfür war Hegel der Beamte; Demiurg und Operateur der Weltseele zu Berlin. Mit seinen „ intrikaten Floskeln “, wie Schopenhauer schimpfte, lähmte Hegel die Temperamente, indem er sie in Weltprozesse verwickelte, erstickte er 1848 den Volksunwillen in Phrasen119 und Räsonnement. Mit der Theorie von der „ selbsttätigen Entwicklung “aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. „ Selbsttätige Entwicklung “, das war so bequem und verlangte keine Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde, zog er die von Frankreich ermunterten „ Jungdeutschen “in ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle in seine „ Erziehungsanstalt “, die Armee abschob. Das alles aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen - vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja - und Amen - sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen war als für biderbe Hörer.
Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni - versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs - systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.
Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus - tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten Deutschlands im besonderen garantieren192). Die jahrhunderte - lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär - despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut - schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei - heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige120 sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge - sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die daraus resultierte, — nur durch einen gemeinsamen Auf - wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be - heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte, und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde, wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen - buden zu stürmen.
Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich neu. „ Die Deutschen mögen sagen was sie wollen “, weiss schon Lichtenberg, „ so kann nicht geleugnet werden, dass unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet wieder drucken lassen “193). Unter Hegel wurden die Wissen - schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich dienten, „ vernünftig “, die Weltgeschichte vernünftig, die Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch - protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend - ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip, und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb, weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen G. F. Nicolai für ein Symptom.
Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel jeden Denkens im grossen Stil, — kann es darin bestehen, dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und121 dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben zum Stillstand bringt? Hegel wusste: „ Die Idee der Freiheit ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat “; wusste, „ dass der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist “194). Was machte er daraus? Er fand, die Freiheit sei „ zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens “, der „ sich zur Gegenständlichkeit zu ent - wickeln bestimmt “sei, „ zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit “. Auf diesem Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und endete mit dem schönen Satze: „ Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zu - gleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, dass, wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt “195). Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin, die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewusste Stellungnahme zur be - stehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Ver - nunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und sein muss, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen. Das aber heisst die Geschichte revidieren, denn eine Ver - nunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben, wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Un - vernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Be - fürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir122 als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik, keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persön - lichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine „ Zwangs - läufigkeiten “; Mensch sein, heisst der Natur überlegen sein, alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staats - pfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu glauben als dem Genie. Die Geschichte „ entwickelt “sich nicht „ zu immer höheren Formen “, sie tut's nicht „ von selbst “.
Der preussische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu unter - graben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn wir ihr nicht zur Hilfe kommen. An diesem Werke der freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten, denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene Vernunft Einbusse erleidet, so lange nicht der Geringste, Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das viel - leicht die Erlösung für Alle enthält. Es gibt keinen Menschen, der alles allein weiss, und es gäbe keinen Staat, der sich anmasste, alles allein und am besten zu wissen, wenn die Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr.
„ Wenn Deutschland nicht der Ort ist “, sagt der Staats - mogul Rathenau, „ wo alle Pragmatik als Willensübertragung transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet werden muss, so haben wir uns über die deutsche Sendung getäuscht “196). Wer sind diese „ Wir “und wer lacht da nicht? Was die „ transzendent ethische Wertung “ist, von der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Ab - schnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel. 123Dass sie der Pragmatik Deutschlands, den „ Zwangsläufig - keiten “, unter denen heute das Volk verblutet, ihre Bestätigung und ihren diabolischen Segen verliehen hat, ist erwiesen. Wozu noch Worte verlieren? Es liegt an uns allen, diese Pragmatik, diese Zwangsläufigkeiten zu durchbrechen und zu beweisen, dass Deutschland nicht der Ort ist, wo sich arrivierte Rathenaus über ihre Sendung nicht täuschen. Derselbe Herr bemüht sich an anderer Stelle die „ germa - nischen Herren des Abendlandes “von der Beihilfe zur heutigen Pragmatik freizusprechen197) und führt als Beweis an, dass ein holsteinischer Kramladen „ sachlicher, zweckfreier und ungeschäftlicher geleitet wird als eine amerikanische Kirche “. Aber gilt das auch für die A. E. G. und den preussischen Generalstab? Oder für jene anderen 50 Gesell - schaften, deren spiritus rector gerade Herr Rathenau ist? Man lasse die transzendent ethische Wertung beiseite, wenn man für einen Räuberstaat Rohstoffe ordnet und man spreche nicht von der intelligiblen Freiheit, wenn man mit Aktien handelt.
Die deutschen Universitäten haben das Volk entmündigt, haben jede Wissenschaft, die nicht auf den Krieg, den Staat und den Patriotismus abzielte, die nicht die Köpfe verwirrte, sie isolierte und unfruchtbar machte, entstellt, unterdrückt, oder gegen das Wohl des Volkes benutzt. Die Erziehung der Jugend in der feudalen Tradition, in der Kaserne und auf der militarisierten Universität hat das Freiheitsgefühl vollends verkümmern und aussterben lassen. Es gibt keine Wissenschaft mehr, die der Freiheit dient, es gibt nur noch liberalistisch verbrämte Staatswissenschaft.
Was aber ist der Staat, von dem seine Lobredner sagen, dass sich in ihm der religiöse Fortschritt mit dem wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt deckt; der Staat, für dessen Bedienung Herr Rathenau ein „ Gemeinschafts - gefühl handfester Menschen “empfiehlt198), nachdem er von Platos, Lionardos und Goethes Eindringen in die „ hand - feste Welt der Dinge “gesprochen hat?
124Der Staat ist ein praktisches, also minderwertiges In - stitut. Er ist bestenfalls eine Nützlichkeitseinrichtung und kann nur das sein, weil er stets den Interessen von Individuen, Fürsten, Klassen oder Parteien zugute kommt. Er ist gottlos und unchristlich, weil er nur materiell nützlich ist. Der Fort - schritt, den der Staat protegiert, ist bestenfalls eine Art Aufkläricht, das zu beweisen bezweckt, es gebe keinen Gott, um desto gewisser die Freiheit knebeln zu können. Die Freiheit ohne Religion ist aber undenkbar.
Die Verstandesphilosophie hat den Staat als höchstes Prinzip aufgestellt. Das höchste Prinzip ist aber nicht der Staat, sondern jene Freiheit des Individuums und der Gesamtheit, der die Wissenschaft und der Staat zu dienen haben. Diese Freiheit allein verbürgt, dass Gott eines Tags zur Erde herniedersteigt, weil wir ihn zwingen dazu durch Reinheit und Güte.
Und das ist die Aufgabe einer Neuordnung, dass der Staat von uns überwältigt wird; dass er nichts anderes mehr als ein Ordner ist in unserer Hand; dass die Universitäten unsere Sache, die Sache des Volkes, der Freiheit und Gottes führen, nicht die eines Fürsten, des Staates und seiner Bedienten199). Wo finden wir aber das Beispiel und die Taten, die uns zu solchem Berufe stärken, läutern und führen? „ Die heilige Geschichte ist es allein “, sagt Franz von Baader, „ die uns solche Fakta rein und unverfälscht aufbewahrt, und die darauf gebaute heilige Physik (nicht die Kriegschemie) bleibt auch immer die schönste, humanste, unseren beschränkten Kräften an - gemessenste Theorie und Philosophie darüber “200).
Wir sollten in unseren Reden und Schriften zurück - kehren zur Simplizität unserer Vorfahren, jener himmlischen Chronisten des Wahren und Falschen, die über die Beweg - gründe ihres mit Fleiss und Geduld stilisierten Bemühens keinen Zweifel aufkommen liessen; deren bona voluntas, ins Werk gesetzt für Menschen, die eine bona fides ihnen entgegenbrachten, jene dreifache Frucht trug, die die Sache, den Autor und sein Publikum gleichzeitig förderte. Eure Rede sei Ja ja, Nein nein, alle Sophistik aber sei euch Ausflucht, Schwäche und Blendwerk. In einer Zeit, die wie vielleicht keine vorher, aus der Ideologie demagogisches Werkzeug macht; in der jede politische, soziale und religiöse Aeusserung der Eitelkeit und dem Interesse von Personen, Gesellschaften und Klassen zum Opfer fällt, — kann die Autorität des geschriebenen und gesprochenen Wortes anders wiederhergestellt werden, als durch die äusserste Aufrichtigkeit?
Von der Ansprache eines apokalyptischen Herrn von Hohenzollern bis hinab zur Zeitungsannonce: welche Selbst - sicherheit im Irreführen und Ueberlisten! Welcher Mangel an Redlichkeit, welch verschlagener Sinn im Missbrauch naiven Vertrauens! Wessen Motive sind noch identisch mit dem Wort, das er schreibt oder spricht? Wer besitzt noch den Mut, einzustehen für seine Erlebnisse, sein Tun und seine Ueberzeugung? Das grosse Abdanken zum „ Besten “des Vaterlands und der persönlichen Wohlfahrt — grassiert es nicht schlimmer als eine Seuche? Und ist es weniger verächtlich, weil heute mehr auf dem Spiele steht, weil die Gefahr grösser ist?
126Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne, Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen - haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder, den Streit in die Heimat zu tragen statt in das „ Feindes - land “? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der Wahrheit und Gerechtigkeit?
Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung; von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von 1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach: „ Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk, durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt. Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole, das menschliche Geschlecht ist Gott, — le Peuple Dieu “! 1)Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr „ Français “, sondern „ Universel “zu nennen, und er war nicht einmal ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs. Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen, höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft, dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand die Universalität der grossen französischen Revolution stärker geahnt und empfunden hat als er.
Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind die Exegese der grossen französischen Revolution von 1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten127 der Renaissance und der Aufklärung eine Despotenfreiheit war, erhielt eine christlich-restaurative Wendung durch die ihm beigegebenen Begriffe der Gleichheit und Brüderlich - keit, und wenn auch alle die weltbeglückenden Ideen und Systeme, alle die Konspirationen der Dekabristen und Anar - chisten, alle die utopischen Bemühungen christlicher Apo - logeten und sozialer Emanzipatoren sich widerspruchsvoll und im Kampfe gegeneinander erwiesen, so wurden doch unverlierbarer Besitz: die Menschenrechte, die Rechte der Masse und jedes ihrer Individuen, die Rechte der Nation; und wurde Gewissensurgrund einer neuen Menschheit die Abschaffung aller knebelnden, hemmenden, despotischen Gewalten.
Wir Deutschen am wenigsten haben Veranlassung, uns verwirren zu lassen von Rabulisten der Reaktion, die mit der Karikatur die Idee widerlegen möchten, indem sie uns sagen, dass „ Freiheiten nicht die Freiheit bedeuten “, „ dass Freiheiten nicht einmal Freiheiten sind, sondern nur poli - zierte Interessen “und die uns für die politische Freiheit die „ innere civitas dei “als Ersatz anbieten2). Wir wissen, dass die Klassenpolitik die Brüderlichkeit nicht förderte, sondern verkümmern liess in den Vereinsbruder, den Kegel - bruder, den Parteibruder oder das Genossentum wirtschaft - licher Interessentengruppen. Wir wissen, dass die Brüder - lichkeit „ unmenschlich “wurde, indem sie sich partikularisierte in Zirkeln, Verbänden, Parteien. Aber das spricht nur gegen die Art der Verwirklichung, nicht gegen das Prinzip; nicht gegen die restlose Parteinahme, noch gegen den „ unab - lässigen Kampf für die Befreiung von Armen und Köpfen zur glückhaften Anschauung und zur Betätigung der Güte “, wovon in früheren Zeiten René Schickele einmal sprach3). Die Herren Naumann, Sombart, Scheler und Rathenau wissen viel Materielles und Unbrauchbares von der fran - zösischen Revolution zu erzählen4). Vom Ideensturm haben sie nichts gefühlt. Es wäre ja auch verwunderlich.
128Die neue Demokratie, an die wir glauben, und um deren Prinzipien heute die Welt kämpft, ist nicht in der Ansicht beschlossen, dass die „ Freiheit in Gott “gleichzeitig bestehen kann mit der Unfreiheit im Gesetz, der Vergewal - tigung im Staat und der Tyrannei im Absolutismus; nicht darin beschlossen, dass ein parlamentarisches System in Deutschland nach dem Muster der westlichen Demokratien die Lösung aller Konflikte bringt, die Deutschland heute trennen von der Welt. Es ist schlimmste deutsche Tradi - tion, auf die politische Freiheit zu verzichten unter Hinweis auf die berühmte intelligible „ Freiheit in Gott “, und die Revolution von 1793 zu verwerfen, weil sie zur Zeit ihres Ausbruchs „ die Religion abschaffte “. Aber ebenso unsinnig wäre es, den heutigen deutschen Regierungs-Satanismus ohne die Freiheit in Gott bekämpfen zu wollen mit den demokratisch-liberalistischen Tendenzen, die in England, Frankreich, Amerika und Italien politische Errungenschaft geworden sind. Das kaiserliche Deutschland repräsentiert heute die ungeheuerlichste Akkumulation der reaktionären Methoden dreier Kaiserreiche und des Papsttums, und die Bekämpfung dieses antichristlichen Bollwerks, dessen Zen - trale Berlin ist, führt notwendigerweise zu einer Prüfung gerade der revolutionärsten Gedanken des vorigen Jahr - hunderts auf ihren Freiheitsgehalt. So nur bieten sich Hebel, die es ermöglichen, jene satanische Residenz aus den Angeln zu heben.
Frankreich hat den Gedanken des Kommunismus wiedergefunden, der seit den Tagen der Taboriten und Thomas Münzers verloren war. Babeuf hiess sein Entdecker, und auf dem Wege der Konspirationen Buonarottis kam er zu Weitling, der in der Schweiz ihn zum erstenmal offen wieder verkündigte. Brissot sprach bereits 1780 da - von, dass Eigentum Diebstahl sei. In der erhabenen Gestalt Proudhons führte ein ebenso kühner wie weiser Idealismus zur Kritik des Eigentums und zur Anarchie,129 dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proud - hons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (prole - tarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael Bakunin und sein grosser russischer Lehrer, der Dekabrist Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation der Staaten für die Neuordnung der slavischen Welt und Europas auf. Mazzini aber und Lammenais, Weitling und Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüssend, den Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republi - kaners und Revolutionärs.
Die Resultante aller dieser Prinzipien muss in unseren Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, son - dern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem Opfer bereit muss die deutsche Jugend sich verbünden mit dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahinter - gekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den Mut finden, einzugestehen, dass wir in Sachen der Mensch - heit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und be - quemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske vor dem Tiergesicht.
Voraussetzung dieses Buches ist: dass das neudeutsche Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und Franzosen, Italiener und Russen verschlingt; das allen Ernstes sich damit beschäftigt zeigt, den mittelalterlich -9130konföderierten Universalstaat der Hohenstaufen wieder er - stehen zu lassen, stürzen muss, sei es durch eine Niederlage seiner Waffen, den Zusammenbruch seiner Wirtschaft oder die vereinte geistige Arbeit seiner Revolutionäre. Dieser Popanzen - und Götzenstaat, der die Zentralisation aller Kräfte eines grossen, arbeitssamen Volkes und seiner mörderischen Bundesgenossen darstellt; dieser Staat, den der fahrlässige Optimismus oder Ehrgeiz seiner verant - wortlichen Geistesgrössen mitbegründen half; der jegliche oppositionelle Bestrebung aufzusaugen oder unschädlich zu machen verstand; dieser Staat, der hervorgegangen aus einem pietistischen Zwangsmilitarismus und einer despotischen Strafanstalt, nicht nur der eigenen Nation, sondern der Welt gegenüber sich zum moralischen Richter und Gesetz aufwarf, während er selbst sich herausnahm, Völkerrechte und Neutralitäten zu brechen, Krieg zu verhängen und Länderraub zu treiben; dieser Staat muss gerichtet und niedergeworfen werden, wenn es Garantien geben soll für den Wiederaufbau der Menschheit, für eine Weltrepublik, für die Friedensarbeit zum Heil der betroffenen Völker. An die Attilla-Pose seines Herrschers, an die Säbelpolitik seiner Berater klammern sich alle lichtscheuen und zynischen Elemente der Welt, alle geheimen Grossspekulanten und Obskuranten, nebst der jesuitischen Krebsgängerei kirch - licher Hofpolitik. Diese Gewalt wird und muss fallen, früher oder später, und die Aufgabe der verantwortlichen Intelligenz wird es sein, zu verhindern, dass innerhalb der prinzipienlosen Nation eine Schlächterei dann anhebt, die alle Entsetzlichkeiten des Krieges überbietet. Kein einzelner Charakter wird rein und gross genug sein, der zerstörenden Gewalt standzuhalten, die dann im eigenen Lande wüten wird, wie sie im fremden Land wütete. Kein einzelner wird, von welch mächtiger Konstitution seine moralischen und physischen Kräfte sein mögen, den Aufgaben und dem Jubel gewachsen sein, die dann aufs neue die Welt er -131 schüttern. Das alles aber ist unausbleiblich, wenn das menschliche Dasein auf dieser Erde nicht zum Gespött der Tiere werden soll.
Und so gilt es: ein höchstes Prinzip der Freiheit zu suchen und aufzustellen, als hänge von uns das künftige Heil der Menschheit ab, wie wir sie in Elend, Trauer und Schutt gestürzt haben. So gilt es, die Konsequenzen dessen zu ziehen, was jeder unter uns weiss und empfindet. So gilt es, innerhalb unserer Nation im Vertrauen auf die Garantien, die eine erlöste Welt nicht verweigern wird, die grosse Scheidung vorzunehmen zwischen den über - hündischen Sadisten, die am Werke sind, uns zu verderben, und den übermenschlichen Leiden derer, die seit nunmehr vier Jahren getäuscht und betrogen die „ Ehre “der Nation verteidigen. Wir haben keine Feinde ausser im eigenen Lande. Wir haben keine Hoffnung ausser jenseits der Schützengräben. Im Jahre 1842 veröffentlichte Michael Bakunin in Ruges „ Deutschen Jahrbüchern “einen Aufsatz, betitelt „ Die Reaktion in Deutschland “. Der Schlusspassus lautete: „ Lasset uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust “.
Die Geschichte der christlichen Idee im 19. Jahrhundert müsste geschrieben sein, sollte die Isolation evident er - scheinen, in die sich Deutschland, angeregt durch Friedrich und Napoleon, durch Hegels Wirklichkeitsphilosophie und Bismarcks Blut - und Eisenpolitik begab. Der Sizilianer Bor - gese hat das neue Ideal einer Ecclesia militans beschrieben, das mehr und mehr in das Gewissen der heute gegen Deutschland verbündeten Heere und Philosophien übergeht. „ Un chant s'élève, inconscient de lui-même, comme ce132 discours de Malines (du Cardinal Mercier). Il est ardent comme le langage de Saint-Paul, pur comme celui de Pascal; il est sublime et modeste, sacré et profane, orthodoxe et rationnel, pieux et héroïque, européen et universel, aussi bon pour la béguine de Bruges que pour l'esprit cultivé “5). Die Geister, die im 20. Jahrhundert gegen einander streiten, heissen Napoleon und Christus, und der Napoleonismus als Leitmotiv bezeichnet die intellektuelle Entwicklung Deutschlands. „ Mehr noch als das Europa von 1800 bis 1801, das im Sieger von Marengo den Muhamed einer neuen Epoche sah, den Vorläufer eines neuen Glaubens, studiert das heutige Deutschland den „ Napoleonismus “in den Werken Treitschkes und Nietzsches. Der Korse hat den Galiläer besiegt “6).
Wogegen nachzuweisen ist, dass Russland, Frankreich und Italien, ja auch England und Amerika in ihren Quäkern und Pazifisten, indem sie die Emanzipation des Christen - tums aus der Orthodoxie vollzogen und das christliche Ideal in einem von Kirche und Dogma unabhängigen Sinne restituierten, sich tiefer von Deutschland trennten, als alle nationalen und politischen Unterschiede die Völker je trennen konnten.
Borgese wies auf den Nutzen hin, den in diesem Sinne noch heute die Lektüre von Tolstois „ Krieg und Frieden “bietet. „ Man sieht darin “, schreibt er, „ wie ein Russe, der weder Konstrukteur eitler Ideensysteme, noch Chauvinist und Nationalist war, die Mission des russischen Volkes während der napoleonischen Kriege auffasst, ins - besondere während des Krieges von 1812, der das Scheitern des vielbewunderten Antichrist brachte “. Anna Pawlowna nennt Bonaparte von der ersten Seite des Buches an einen Antichristen. „ Seht diese heidnischen Bestien! “schreit die wütende Menge, als die Franzosen Moskau räumen und sich an einem Leichnam vergreifen. Dem Idol der Gewalt und Energie in der Gestalt Napoleons stellt Tolstoi seinen133 Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern - märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen - tum dar7).
Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie (Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der Kraft - und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über - wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr - hunderts nicht bestechen8), und es ist bezeichnend genug, dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor - kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra - chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die „ euro - päische Kultur “verdächtigte9).
Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen - tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten. Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und Rylejew (1825) enthielt den Passus: „ Was befiehlt nun Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu schwören, dass es nur einen König auf Erden und im Himmel gibt, Jesum Christum “10).
Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste Sünde. „ Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen -134 heit entreissen wird und unserer Brust ein mächtiger Schrei der Reue und des Schmerzes entfährt “11). Er war über - zeugt, dass das Heil Russlands weder in der Orthodoxie noch im Katholizismus, sondern in einer neuen, noch unbekannten Offenbarung neuer sozial-religiöser Grund - lagen für die Kirche, für das Reich Gottes auf Erden zu suchen sei, die in der Lehre Christi wohl enthalten, aber von den Menschen noch nicht erfasst worden seien. Tschaadajew, den Schelling für den „ geistreichsten Mann in Russland “hielt, wurde durch kaiserlichen Erlass für ver - rückt erklärt, aber in seinem Werke „ Nekropolis “begrub er das ganze orthodoxe und autokratische Russland als in einer Totenstadt.
Dostojewsky in seinen Romanen gibt die genialste und gewaltigste Auseinandersetzung des Christentums mit dem Antichristentum. Der Marburger Professor Hermann Cohen, bekannt durch sein Eintreten für eine jüdische Universität in Deutschland, meinte zwar, erst dann werde „ unser Sieg allmählich ein vollständiger werden “, wenn wir „ alle diese falschen Literaturgrössen der Ausländerei in ihrer Differenz von uns erkannt und überwunden haben werden “12), und Julius Bab, ein kleinlauterer Literator, hat sich sogar bereitgefunden, die ganze Gottverschwärmtheit des hierati - schen Russland als eine romantische Angelegenheit auf die Indifferenzseite zu schieben, unseren „ Realisten “und Ratio - nalisten zuliebe13). Daraus ergibt sich aber nur, dass es eine bedenkliche Sache ist, die Literatur für die Folge den Herren Bab, und die Philosophie den Herren Cohen zu überlassen.
Dostojewskys Hauptgestalten von Raskolnikow bis Kara - masow sind so real und unromantisch, als man sich denken kann; politische oder religiöse Rebellen, napoleonide Ver - brecher und Atheisten von gestern, von heute und morgen. „ Die Empörung gegen die menschliche Ordnung ruft in ihnen auch eine Empörung gegen die göttliche Ordnung hervor “,135 sagt Mereschkowsky. „ Der Hass gegen Religion und Christen - tum, gegen den Heiland wird nicht nur verneint, er führt ihn auch als der Versucher selbst bis zur Bejahung der Antireligion und des Antichristentums “. Am Ende aber hält er Russland für den „ Besessenen, der von Christus geheilt ist “und die atheistischen Revolutionäre für jene „ vom Teufel besessenen Schweine, die in den Abgrund stürzen “. Seine Flucht in die Orthodoxie ist sein vorletztes Wort, sein letztes Wort aber die Erklärung dieser Flucht, eine Tagebuchnotiz, ehe er am 1. März 1881 starb. „ Es naht das Ende der Welt, der Antichrist kommt “. Und ebenso sein Schüler Solowjew, der jenes Sterbewort in seiner „ Geschichte des Antichrist “wiederholt; Solowjew, dessen Lehre darin besteht, dass die orthodoxe Autokratie, und nicht nur für die russische gilt das, sondern für die protestantisch-preussische noch viel mehr, einer der grössten weltgeschichtlichen Wege zum Reiche des apokalyptischen Tieres ist14).
In Italien wurde der Kampf gegen Papst - und König - tum vom asketischen Geiste Giuseppe Mazzinis geführt. Die mit Garibaldis Waffenhilfe erzwungene Flucht des Papstes 1848 nach Gaëta war Mazzinis Werk, der als Prä - sident der römischen Republik die theologisch gestützte Autokratie im Bewusstsein des italienischen Volkes ein für allemal erschütterte. Mazzinis Idee eines unabhängigen Christentums und der religiösen Demokratie war in edelstem Fanatismus unerbittlich und streng. In seinem Hauptwerk „ I doveri dell 'uomo “bekämpfte er die aufgeklärte Vernunft - moral der französischen Revolution, wie er im Kampfe gegen die atheistische und materialistische Arbeiter-Interna - tionale und ihr Genuss-Philisterium, im Sinne Tolstois und Dostojewskys das „ höchste Glück im Opfer “forderte15).
Wie Mazzini sich gegen das Papsttum in Italien und den Atheismus des 19. Jahrhunderts gleichzeitig wandte, so wandte er sich, eine der suggestivsten und brennendsten136 Gestalten seiner Zeit, gegen die „ Apostolische Majestät “auf dem habsburgischen Throne — „ mein gefährlichster Feind “, sagte Metternich von ihm — und so hätte er sich, wäre er 1871 noch jung genug gewesen, auch gegen den protestantischen Papst zu Berlin gewandt. Die Menschenpflichten gegenüber den Menschenrechten hat niemand beredter und grossartiger gefordert als er, und geriet er damit auch, wie Dostojewsky und Tschaadajew, in eine fatale Allianz mit der „ schwarzen Seelenpolizei “, so musste sein mächtigster Gegner, Michael Bakunin, doch anerkennen, dass er der „ Grossiegelbewahrer des religiösen, metaphysischen und politischen Idealismus “blieb16).
Im christlichen Streite wider die Theokratie fühlte Mazzini, „ dass Italien bei seinem Auferstehen der Beginn eines neuen Lebens, der Beginn einer neuen gewaltigen Einheit für die europäischen Nationen sein werde “; empfand er, „ dass in Europa eine Leere bestand, dass die Autorität, die wahre, die gute und heilige Autorität, in deren Erforschung doch immer das Geheimnis unseres Lebens liegt, ob wir es uns zugestehen oder nicht, von all denen unvernünftig verneint wird, die mit ihr ein Ge - spenst verwechseln, eine lügnerische Autorität, indem sie glauben, Gott zu leugnen, wenn sie nur die Götzen leugnen “17). Er spricht von den Päpsten, „ die einst so heilig waren, als sie heute verrucht sind “; und von den Revolutionen sagte er: „ man muss sie mit Bildung vor - bereiten; sie reifen mit der Vorsicht, vollziehen sich mit der Kraft und heiligen sich, indem man sie zum allge - meinen Guten leitet “. „ Meine jungen Mitbrüder “, spricht er uns heutigen Republikanern zu, wie er zur Zeit Jung - deutschlands unseren Vätern zusprach, „ fasset Mut und seid gross! Vertrauet auf Gott, auf euer Recht und auf uns! Erhebet diesen Ruf und vorwärts! Die Ereignisse werden uns zeigen, ob wir uns täuschten, wenn wir ausrufen: die Zukunft gehört uns “18). Und an die Dichter des 19. Jahr -137 hunderts (1832): „ Die individuelle Welt, die Welt des Mittel - alters, ist vergangen. Die soziale Welt, die neue Zeit beginnt. Wer wird nach Napoleon den europäischen Despotismus versuchen; die Völker mit Eroberung beherrschen, den Gedanken der Kultur mit seinem eigenen ersetzen können? Eine Weltrepublik ist notwendig, und eine Weltrepublik wird sein “! 19)
Italien ist das klassische Land der politischen und religiösen Konspiration. Wo gab es ausser in Russland eine ähnliche Macht gegen die Theokratie und ihre Jesuiten, wie im Italien der Carbonari und der Freimaurerorden? Wer kann es wissen, ob nicht in unseren Tagen noch der Palazzo Giustiniani in Rom triumphiert über den Vatikan; die Menschheit und Menschlichkeit über den theologischen Cäsar des Abendlandes, wie sie in Russland triumphierte über den Cäsar des Orients? Das Papsttum beseitigt zu haben, die letzte regenerative Stütze der Kaiserthrone von Habsburg und Hohenzollern, mag einst der unsterbliche Ruhm Italiens sein!
Es ist interessant genug, nach einem Kampf gegen die religiöse Despotie in den deutschen Ländern zu fragen. Das Problem ist hier kaum bewusst. Es gibt eine „ Apostolische Majestät “deutscher Zunge zu Wien und einen protestantischen „ Summus Episkopus “zu Berlin, ausserdem aber eine Entente théologique beider theokra - tischer Systeme mit der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese furchtbare und gewaltige doktrinäre Macht antichristlicher Tendenz ist gerade infolge ihrer Dreifaltigkeit und einer mitunter verfeindeten, dann wieder verbündeten jesuitischen Politik schwer zu fassen; es scheint, dass sie nur durch den universalen bewaffneten Aufstand im Bündnis mit der interessierten Intelligenz aller christlichen Völker, den138 Kreuzzug, zu Bewusstsein gebracht und gebrochen werden kann.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente, Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf20). Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renais - sance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution, der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum war, dass er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und französischen Geiste21). Und ebenso setzte Bakunin sich in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz22), indem er seinen Sturmlauf gegen den theologischen Staat ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus23). Beide suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszu - rotten und trieben, indem sie nicht nur die Götzen, sondern auch die Götter bekämpften, dem Abgrund zu.
In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen Folgen gehabt, die er in Deutschland haben musste, wenn er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen liess. Als echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Missbrauch, die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die Staatsomnipotenz24). Und auch Bakunins konsequenter Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten wollte, am Ende zur Stärkung des rationalistischen Staats - und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines aben - teuerlichen Lebens, seine russische Seele und die apostolische Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte. Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben infolge einer von deutschen Sozialpatrioten grosszügig in - szenierten Verleumdungs - und Unterdrückungskampagne25),139 gerade dort unbekannt, wo sie hätten wirken sollen, in Deutschland, und so kann man auch von Bakunins Atheismus sagen, dass er nur dem Pangermanismus zustatten kam, indem er nämlich durch Marx auf die romanische Inter - nationale und Russland lokalisiert blieb, und dort zur Schwächung der Resistenz beitrug26). Die Voltaire'sche Geissel schwang in Deutschland erst Nietzsche. Die Origi - nalität der von ihm vorgebrachten Argumente verblasst jedoch bedenklich nach der Lektüre von Bakunins Schriften „ Antithéologisme “(1867) und „ Dieu et l'état “(1871), deren letztere, publiziert 1882 von Cafiero und Elisée Reclus, Nietzsche vielleicht sogar vorlag27). Beide Schriften gingen hervor aus der toskanischen Freimaurerei, mit der Bakunin durch ihren Grossmeister Dolfi in Verbindung trat28).
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist es allein die einsam überragende Persönlichkeit Franz von Baaders, die in Deutschland bewusst und mit mächtigen Argumenten für das Christentum und die Einheit des Gött - lichen eintritt gegen die antichristlichen Philosophien. „ Ἐν ῾Χριστῶ εἰσι πάντεϛ οἱ δησαυροὶτῆϛ σορίαϛ καὶτῆϛ γνώσεωϛ ὰπόκρυφοι “: mit diesem Satze der philosophia occulta kämpft er gegen die pantheistischen und rationalistischen Allerweltshumanisten und Schwärmer; gegen Kant, Hegel gleicherweise wie gegen Schelling, dessen Naturphilosophie ihm nur ein „ Ragout mit allerhand, auch christlichen Ingredienzien “ist.
Jenseits von Systemkonstruktion und patentiertem Sitten - kodex stellt er eine unabhängige christliche Moral als „ höhere Physik des Geistes “auf. „ Aller Missbrauch der Kraft “, schreibt er in seinen Tagebüchern, „ alle Usurpation muss schlechterdings aufhören. Sie muss in Trümmer gehen oder eine neue Organisation empfangen. Die meisten Menschen seufzen durch unsere widersinnige Politik unter diesem elenden Selbstbetruge und schrumpfen zu kümmer - lichen Tieren ein “. „ Die gütige Natur oder vielmehr140 Gott hat jedem Menschen ein Ideal, Vorbild von Güte und Grösse eingegraben, dem er sein ganzes Leben durch nachleben und sich ihm nachbilden soll, das sich aber in dem Verhältnisse, in dem er sich ihm nähert, erweitert und vergrössert: denn wer hienieden hat wohl sich selbst er - reicht “29)? Er glaubt, „ dass das sicherste Verhinderungsmittel alles Bösen nicht die Steinernen Tafeln allein, sondern ein lebendiger Enthusiasmus fürs Gute ist “. Er lebt nach der Maxime „ wo immer ein Wesen meiner Art sich mir nähert, erkenne ich dasselbe Prinzip in ihm, dieselbe Natur; und die (erkannte) Vernunftsympathie (und keine bloss gefühlte) sei das Schibboleth, an dem sich Menschen und Menschen unter den übrigen Naturwesen suchen, finden, erkennen, vereinen und lieben “30).
So kommt er zu seinem Fahneneid auf die Wahrheit, „ fernher den Gedanken des Allmächtigen nachzudenken, mich seiner, der himmlischen Vernunft, zu fügen “31). Und so türmen sich in einem Impetus philosophicus für das Weihnachtsfest die herrlichen Sätze: „ Was zanken doch unsere grossen Chaldäer, Sternseher, Wahrsager und Zeichen - deuter um diesen göttlichen Friedensfürsten, den sie doch nicht haben. Er ist zu Bethlehem und nicht zu Babel “, er ist „ im zerknirschten, demütigen Geist und zerbrochenen Herzen, nicht aber in ihrem Gehirn, Büchern und hohen Schulen “32).
Tiefe Heiligkeit verbindet ihn mit Thomas von Aquin und Franziskus, mit den grossen Mystikern des Mittelalters und Jakob Böhme. Aber auch mit Pascal und d'Aurevilly und den Slavophilen Samarin und Chomjakow33). Er ist der einzige christliche Philosoph grossen Stiles, den Deutsch - land gehabt hat, doch ersetzt er — die Neuausgabe seiner Schriften wird es zeigen —, ganze Schulen und Genera - tionen. Er kann, wenn nur die Jugend ihn verstehen will, zum Magnetberg werden, der einem ganzen Volke das Eisen aus den Händen windet. In Gott sah er die Ursozietät. 141Er verwarf — unter Deutschen ein Unikum — weder die Tradition noch die Schrift, weder die guten Werke noch den Glauben.
Die Denkkräfte sind nicht das Letzte, was wir heiligen müssen. Die zentrifugale Richtung der ganzen modernen, von Gott abgekehrten Philosophie, den Abfall der Geister, hat niemand so klar erkannt und umfassend bezeichnet wie Baader. „ Liebe “, heisst sein schönstes Wort, „ ist das allge - meine Band, das alle Wesen im Universum an und inein - ander bindet und verwebt. Ohne Affinität kein Ganzes, keine Welt, nicht einmal denkbar; unser Erdball ein wüstes, ewig totes Chaos “. „ Satan trennt “, schreibt er anderswo, „ er ist Mörder von Anfang. Christus trennt, um zu ver - einen “; und ein Wahn ist es ihm, „ dass man das Christen - tum aufgeben müsse, um die intellektuelle und soziale Freiheit zu gewinnen, oder letztere aufgeben, um das Christentum aufrecht zu erhalten “34). Gegen den Klerus aber sind heftigere Worte nie geschrieben worden als die folgenden: „ Auch in deiner Bude war ich, du Priester, der du die Schriften zwar noch hast, aber sie sind dir nur ein siebenfach verschlossen Schloss und den Schlüssel dazu hast du verloren. Mit elendem Sklavensinn klebst du am Buchstaben! Dein Abgott ist eine Mumie, woran nur noch die Form gut ist. Also diese und jene, und alle öffentlichen Buden des Marktes der grossen Babel sind leer und dar - innen ist weiter nichts als Theer und Schmiere zu holen, die Schnellfahrt jüngster Literatur zu befördern! “35)
Das war Baader. Wo aber sind seine Nachfolger? Wer ausser ihm und den grossen Mystikern und Musikern hat sonst noch in Deutschland eine Apologie Christi ge - schrieben und den Antichristen bekämpft? Auch Hegel glaubte, eine Theodizee geschrieben zu haben in Ueber - einstimmung mit dem Christentum. Er war aber nur in Uebereinstimmung mit dem Protestantismus und dem ab - solutistischen Preussentum. Durch die Staats - und Rechts -142 lehre seiner platten Servilität war er Lutheraner und Napo - leonist, ohne Ahnung des Göttlichen, das er verhöhnte.
Macchiavellisten wurden sie alle. Friedrich II. war Macchiavellist, und Fichte „ legte sich auf das Studium Macchiavells “36). Hegel wollte „ gleichsam der Macchiavell Deutschlands “werden. Treitschke und Bismarck haben den Macchiavellismus „ erweitert “. Nietzsche war Macchiavellist, und Macchiavellist ist heute Herr Rathenau. Oberster Grundsatz ist der individuelle und Staatsvorteil als Direk - tive der Moral. Das Philosophie - und Kulturideal hält zum Staate, indem es eine Idee als Abstraktum aufstellt oder verhängt und Subordination verlangt. Der Staat wird auf der lüsternen Willfährigkeit der Untertanen errichtet. Der Wille zur Macht, der im Grunde nur identisch mit der Ohnmacht ist, bedient sich der Lüge, der Hinterlist und jeder Methode der Treulosigkeit, um zu Erfolg und zum Ziel zu gelangen. Das ist die macchiavellistische Kon - spiration der preussisch-deutschen Philosophie von Kant bis zu Nietzsche. Alle zusammen aber sind theoretische Epigonen der Renaissance, jener Epoche glanzvollen Rück - falls ins Heidentum; alle zusammen arbeiten sie der Despotie in die Hände, begünstigen sie das Reich des verschlagenen apokalyptischen Tieres, mögen sie im Wappen selbst die Freiheit und Emanzipation, die Revolte und das Uebermenschentum auf den Fahnen tragen.
Noch Solovjew und Lecky sprechen von der „ Ueber - legenheit der Deutschen “auf dem Gebiete der rationalen Philosophie. Solovjew im Kampfe gegen den slawophilen Chauvinismus, den er zu demütigen hoffte37). Lecky in seiner „ Geschichte der Aufklärung “, die im übrigen eines der schönsten Dokumente christlicher Gesinnung ist. Was ist das aber für eine traurige Ueberlegenheit, die Gott zum Menschen erniedrigt, um sich selbst zu erhöhen; die überall zur Enttäuschung und Katastrophe führt, weil sie ihr Mass verkennt, und die deshalb überall in die Bevormundung,143 die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem mündet! Solange wir nicht, anschliessend an die menschlich reine Tradition unserer wahrhaft Grossen, uns der Irratio - nalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals mit der Wirklichkeit empfinden; — solange werden uns die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe Ueberlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt; solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstren - gungen und Tüchtigkeit.
Man berufe sich doch nicht länger auf die „ Göttin Vernunft “, die Abschaffung der Religion und des Gottes - glaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christ - lich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer, gerade sie sind Sozialisten38).
Der christliche Sinn der französischen Revolution konnte Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten Anstoss zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng römisch-katholisch. Und war durch die französische Revo - lution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung Frankreichs von 1801 an ein immer bewussteres Sichwieder -144 besinnen auf die christliche Tradition, ein immer tieferes Erfassen und Ausgestalten hoher christlicher Werte. Ich spreche nicht vom Parade-Katholizismus und Prokatholikentum der Geister zweiter und dritter Ordnung. Ich spreche von jenem mächtigen Kathedralenbau einer christlichen Apologie, die Frankreich von Chateaubriand, De Maistre und Lammenais bis zu Charles Péguy, André Suarès und der Pascal-Schule Boutroux's, unabhängig von der Kirche zu immer mensch - licherer und tieferer Symbolik führte, zu stets luzideren und umfassenderen Gebilden, und zuletzt zu einem nationalen Jeanne d'Arc-Kult von zartester Sublimität39).
Sollte Cardinal Mercier Gegenpapst werden und eine Kirche der christlichen Intelligenz begründen: — eine seiner ersten Massnahmen müsste sein, ein der neuen Zeit ent - sprechendes Uebersetzungskollegium de propaganda fide einzusetzen, dessen Aufgabe darin bestünde, die Universalität der christlichen Renaissance ad oculos zu demonstrieren und die in Bereitschaft stehende orientalische Kirche mit der occidentalen wieder zu vereinen40). Die Zeiten sind reif. Ein gemeinsamer Glaube lebt auf. Jene deutschen Prokatholiken aber, die ihre Sympathien und Erwartungen während des Krieges zum kompromittierten päpstlichen Stuhle Benedikts wanden, werden unter dieser Aegide weder die grosse Rupture zwischen Gut und Böse vollziehen, von der Frau Annette Kolb so begeistert spricht41), noch die soziale Civitas dei, die den erwähltesten Geistern so innig am Herzen liegt42). Sie werden nur der Reaktion dienen und jener Verwesung in Christo, die das Postament des heutigen Papsttums bildet.
Und um auch davon zu sprechen: Jede Theodizee, die die Bestialität dieses Krieges als „ Grimm Gottes “zu defaitistischen und fatalistischen Zwecken benützt und damit einerseits die Rebellion verhindern, anderseits eine Philo - sophie des Irrationalen glaubt begründen zu können, ist Mystifikation, nicht Mystik; sie anerkennt den Antichristen,145 sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und lässt Messen lesen zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theo - dizee versucht heute43) das germanophile Papsttum, doch sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen44).
Die hohle Grosssprecherei, die im Gefolge Napoleons überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Be - wunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so treulichen Niederschlag, wie in der Philosophie Hegels und seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgmoral, Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in der zweifelhaftesten Ausprägung; Ueberlegenheitspose und Mangel an Selbstkritik —: das sind die Motive, die den Bewusstseinsinhalt des Atheismus ausmachen.
Doch so wenig der Osten, so wenig liess sich der Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte rus - sischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinsky, Ogarjew und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte45). Stankjewitsch starb früh. Bjelinsky und Herzen gingen be - geistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits 1842 die Hegel'sche Philosophie durchschaut und „ in sich beiseite gebracht “46). In „ Anarchie und Staatstum “(1873) wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer mit den Worten: „ An der Spitze dieser Partei stand Lud - wig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leug - nung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er10146musste seinen gesetzlichen Liquidatoren, den Vertretern der Schule der Materialisten oder Realisten weichen, deren grösster Teil übrigens, wie die Herren Büchner, Marx und andere mehr, nicht verstanden und nicht verstehen, sich von der Herrschaft des metaphysischen, abstrakten Gedankens zu befreien “47). Selbst der hervorragendste russische Hegelianer also, der Geister wie Tschaadajew und Proudhon in die Hegel'sche Phänomenologie einführte48), kam von seinem Glauben an die deutsche „ Geistesüberlegenheit “bald zurück. Jener „ germa - nische philosophische Idealismus “, den Solovjew rühmt, — gerade in Bakunin fand er später einen prinzipiellen Gegner49).
Im Westen stiessen die Junghegelianer mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Wirklichkeitsdoktrin auf den - selben Widerstand des religiösen Geistes, auf den der Na - poleonismus und Rationalismus in Russland stiess50). Im Herbst 1843 siedelten Arnold Ruge und Karl Marx nach Frankreich über, um nach dem Eingehen der „ Deutschen Jahrbücher “die „ Deutsch-französischen Jahrbücher “in Paris herauszugeben. Bei der Gründung dieser Zeitschrift ereignete sich, was sich immer ereignet, wenn Deutsche von der Zensur gezwungen werden, im Auslande zu publizieren. Die Verbreitung in der Heimat stösst dann auf „ unüber - brückbare Hindernisse “und die Finanzen versagen. Noch heute zieht man daraus nicht den Schluss, dass nur ein resoluter Bruch mit der patriotischen Klique und der Ver - zicht auf jegliche Zweideutigkeit eine neue Basis zu schaffen vermag und den Gedanken erweitert. Der jungdeutschen Emigration von 1843 gelang es so wenig, die Franzosen von der deutschen Ueberlegenheit zu überzeugen, wie es der neudeutschen von 1914 / 18 gelang, die europäische Idee zu exaltieren und neue Prinzipien dem eigenen Lande zuzuführen51). Die Herausgeber der „ Deutsch-Französischen Jahrbücher “, an denen Heine, Herwegh, Jacoby, Marx, Engels und Ruge mitarbeiteten, erfuhren von seiten der französischen Intellektuellen eine Ablehnung.
147Franz Mehring, der zwar ein grosser Marxist, aber auch ein grosser Patriot ist, hat sich darüber bitter geäussert52). „ Lammenais hielt den Herausgebern einen zweistündigen Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann, er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige “. Louis Blanc, „ dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht von der süssen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des praktischen Lebens in irgend einer Religion zu verhimmeln und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu ver - rammeln “53). „ Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher Weise ab “. Mehring verkennt aber in krasser Weise und ungerecht wie alle Marxisten und gerade die Ueberzeugtesten sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von Lammenais '„ religiösen Mucken “. Sollte er den grossartigen prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lammenais gerade damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, dass sie nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? „ Wir hoffen “, schrieb Lammenais, „ das Reich der Gewalt zu Boden zu schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtig - keit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern der grossen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl teil hat “54). Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der Enzyklopädisten hatte ihn abgestossen, wie ihn die Megalo - manie und der Atheismus der Junghegelianer abstiess. Er suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht religiösen Brüderbewusstseins und er brach, als er die Frei - heit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der „ Paroles d'un Croyant “religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem grossen148 Vorläufer Charles Péguys auch nur etwas Aehnliches an die Seite zu stellen? 55)Es wäre wohl an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass Ludwig Börne, den Mehring frei - lich ebenso als Spiesser abtun wird, wie Heine ihn abtat, diese „ Paroles d'un Croyant “1834 ins Deutsche übertrug, weil er es für möglich hielt, „ durch ein Bündnis zwischen politischem und religiösem Radikalismus “eher als mittels rationaler Philosophie „ dem heillosen und infamen Treiben der deutschen Regierungen ein Ende zu machen “!
Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: — hatte er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend „ zwar beglück - wünschte, dass sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die Praxis des Lebens zu richten “, aber sie vor dem Atheismus warnte, „ da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie in der Politik zur notwendigen Folge habe “? Wenn er sie darauf aufmerksam machte, dass sie als Junghegelianer durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den fran - zösischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellek - tuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren? 56)Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht erhört worden, dass man unter Franzosen, Engländern oder Russen ein grosser Mann bleiben und doch ein schlechter Charakter könne gewesen sein.
Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über perfides, spiesserhaftes und verleumderisches Wesen, die sich in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden, und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe hierfür aus Chauvinismus den andern zuschiebt, statt sie bei sich zu hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, De -149 zember 1847, an Georg Herwegh): „ Die Deutschen, Hand - werker, Bornstädt, Marx und Engels, vor allem Marx, treiben hier ihr gewöhnliches Unheil. Eitelkeit, Gehässigkeit, Klatscherei, theoretischer Hochmut und praktische Klein - mütigkeit; Reflektieren auf Leben, Tun und Einfachheit, literarische und diskurierende Handwerker und ekliges Lieb - äugeln mit ihnen, „ Feuerbach ist ein Bourgeois “, und das Wort Bourgeois zu einem bis zum Ueberdruss wieder - holten Stichwort geworden, alle selbst aber vom Kopf bis zu Füssen durch und durch kleinstädtische Bourgeois ... ich halte mich fern von ihnen und habe ganz entschieden erklärt, ich gehe in ihren kommunistischen Handwerker - verein nicht und will mit ihm nichts zu tun haben “57). Alexander Herzen über die Marxisten in London: „ ... Die Bande verkannter deutscher Staatsmänner, die das Genie erster Grösse, Marx, umgaben. Sie bildeten aus seinem misslungenen Patriotismus und seiner fürchterlichen Prätention eine Art Hochschule der Verleumdung und Verdächtigung aller Leute, die mit grösserem Erfolge als sie selbst auf - getreten waren “58). Und Proudhon zum „ Libell eines Doctor Marx “über seine „ Philosophie des Elends “: „ ein Gewebe von Grobheiten, Verleumdungen, Fälschungen und Plagiaten “59).
Ich habe die Zeugnisse dreier führender Geister des damaligen Westens nebeneinander gestellt. Sie zeigen eine merkwürdige Uebereinstimmung und erklären zur Genüge die Abneigung, die man Marx und seinem Kreise nach kurzer Bekanntschaft überall entgegenbrachte. Das kam daher: die Deutschen fühlten sich als Vertreter des „ aus - erwählten Volkes in der Philosophie “, als Verkörperer des Weltgeistes und der Weltseele. Ihr hohes doktrinäres Selbst - bewusstsein liess sie keinen Augenblick an ihrer inneren Ueberlegenheit zweifeln. In den grossen runden Flaschen ihrer Köpfe trugen sie den Spiritus der absoluten Idee. Ihre Rechthaberei machte sie zu unerfreulichen Räsonneuren, und wo sie von ihrer Gottähnlichkeit stillere Geister nicht zu150 überzeugen vermochten, dort schimpften sie „ Bourgeois, Spiesser, Utopist “.
Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche Literatur der französischen und englischen Sozialisten des beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über - haupt nicht existieren würde, — durch die despotische Eifer - sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel - tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch, dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten60). Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte „ Mistgabelstil “, der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien, Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor - kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend in seinen Bannkreis zu ziehen.
Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man mit nach Paris? Heine spricht von den „ Schriftstellern des heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion, und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel sind “61). Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk - lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf. Italiener behaupten, der Sammelruf „ Jungdeutschland “selbst sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische Aufsätze „ Unterweisung für die Verbrüderten des jungen Italien “, „ Manifest der Giovine Italia “und „ Vom jungen151 Italien “alle 1831 und 1832 erschienen, und, bei Mazzinis Mitarbeit an deutschen Journalen, in Deutschland nicht ge - ringeres Aufsehen erregten als im übrigen Europa62).
Für Jungdeutschland charakteristisch ist der Mangel einer freiheitlichen Tradition, verbunden mit dem Mangel an Praxis und einem klar sichtbaren Angriffspunkt. Man litt unter der Zensur aller fünfzig Duodezfürsten und ihrer Polizei, ohne doch die Zentralkabinette der Humboldt und Metternich systematisch angreifen und kompromittieren zu können63). Revolutionen von allen Seiten her (Griechenland, Flandern, Italien, Frankreich) und kritische Fortschritte in der Philosophie begünstigten eine Art Sympathie-Rebellentum von Hörensagen. Aber die Reaktion im Leibe infolge Ver - giftung durch Fichte und Hegel, blieb es beim Lärm. Man nannte wohl Goethe einen „ gereimten “und Hegel einen „ ungereimten Knecht “(Börne); man brach mit der besten klassizistischen Bildungstradition, ohne die neue preussische jedoch ganz zu begreifen. Schlimmer war, dass weder eine Kritik des klassizistischen, noch des Hegel'schen Systems in grossen Formen das Volk erreichte. Die protestantisch - rationalistische Philosophie galt für revolutionär (siehe Heine), Feuerbach für ultrarevolutionär. Man glaubte sich Voltaire bei weitem überlegen, schon deshalb, weil man in der Evangelienkritik mit dialektischen Methoden den grösseren Anschein von Tiefsinn verband und hielt das Uebertrumpfen im Atheismus für Freiheitsgeist64). Was man aber für Hoffnungen daran knüpfte, das verrät wiederum Heine: „ Wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome “65).
152Die grossen Reaktionsmächte der Zeit wurden syste - matisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, ver - griff sich im Ziel und im Mass. Man war Räsonneur, Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert andern Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich (nach Mehring) als „ persönliche Inkarnationen der Kritik, des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spiele “66). Und doch übersah man den Zusammenhang Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang, der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewusstsein kam; und übersah den Mendelsohn'schen Messianismus, der sich in Hegels „ auserwählter “Philosophie so bewusst schon zur Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer Hebbel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien kam67): er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei, — das traf genau so auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütter - lich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegel'schen Reglementierungs - und Disziplinarparagraphen, aber ohne jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren.
Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das kontrerevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, wider - sprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte. Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleicher - massen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen. Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats - und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung, die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revo - lution erinnert. Die politische und theologische Naivetät153 bildeten schlimmere Barrikaden als die auf den Strassen. Der von Marx und Engels neu entdeckte Sozialismus sabotierte das Zusammengehen mit der bürgerlichen Opposition und Herweghs badischer Bauernlegion. Der zynische Nihilismus Stirners blieb in der Weinstube sitzen. Und die Berliner Barrikadenkämpfer waren Leute, deren Namen überwiegend auf sky und ic endigten; Führer der Dresdener Maiaufstände waren Russen und Polen.
Instruktiv ist ein damaliger Briefwechsel. Berlin, August 1848, Bakunin an Herwegh: „ Deutschland stellt jetzt das interessanteste und sonderbarste Schauspiel dar: nicht ein Schattenkampf, — ein Kampf von Schatten, welche sich für Wirklichkeiten nehmen und doch in jedem Augenblick ihre unermessliche Schwäche fühlen und unwillkürlich zeigen. Die offizielle Reaktion und die offizielle Revolution wetteifern in Nichtigkeit und Dummheit, und dabei alle hohlen, philoso - phisch-religiös-politisch-gemütlich-gewichtigen Phrasen “68). Oder Köthen, 8. Dezember 1848, Bakunin an Herwegh: „ Nirgends ist der Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch, aber der deutsche Bourgeois ist niederträchtig mit Gemüt - lichkeit. Selbst die Art dieser Leute, sich zu empören, ist empörend. Dies mein letztes und wirklich ein sehr begrün - detes Urteil: wenn die deutsche Nation bloss aus der grossen, leider zu grossen Masse der Spiessbürger, der Bourgeois bestünde, aus dem, was man heute das offizielle, sichtbare Deutschland nennen könnte, — wenn es unter dieser offiziellen deutschen Nation nicht Stadtproletarier, besonders aber eine grosse Bauernmasse gäbe, dann würde ich sagen müssen: es gibt keine deutsche Nation mehr, Deutschland wird erobert und zugrunde gerichtet werden “69). Bakunin stand 1848 — man weiss das in Deutschland noch heute kaum — im Mittelpunkte der Konspiration, er sprach aus Erfahrung. Er war der Führer der Dresdener Mai - aufstände, befreundet mit Ruge, Varnhagen von Ense, Jacoby, Wagner, Röckel, Heubner, und damals auch noch mit Marx.
154Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch, die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen wusste, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die Köpfe bewegte, war — ob man es sich eingestand oder nicht —, der napoleonisch-macchiavellistische Kaisergedanke, dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin vor, und es handelte sich nur darum, ob Preussen oder Oesterreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum „ annehmen “würden.
Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848, — es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution geäussert wurde: „ Wären die deutschen Demokraten weniger doktrinär und dafür revolutionärer gewesen, als sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in National - und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden, — so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der voll - kommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden, im März und April der Triumph einer ernstlichen Revo - lution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und so kann man sagen, dass der Pseudorevolutionarismus der155 deutschen Patrioten von 1848 für den Bismarckianismus von 1871 war, was in Frankreich der General Cavaignac für Napolen III: ein Vorläufer “70).
Einem deutschen Handwerksburschen, Wilhelm Weitling, gebührt die Ehre, jenes Bündnis zwischen politischem und religiösem Radikalismus, von dem Börne spricht, nicht nur gesucht, sondern vertreten und in weitverzweigten Brüder - schaften, die sich über den ganzen Westen Europas er - streckten, als neues geistiges Ideal aufgestellt zu haben.
Die Romantiker hatten die Handwerksburschenpoesie wieder entdeckt; Weitling, der Handwerksbursche, fand wieder: die Idee des Urchristentums. „ Es sind besonders die Handwerksburschen “, schrieb Heine in der „ Romantischen Schule “; „ gar oft auf meinen Fussreisen verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen, angeregt von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volks - lied improvisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Die Worte fallen solchem Burschen vom Himmel herab auf die Lippen und er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer als all die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln “71).
Da hat man ein Bild Wilhelm Weitlings. Die Hand - werksburschen, die Weitlings „ Bund der Gerechten “ange - hörten, zeigten einen Idealismus, ein Feuer und einen Opferwillen, die der bürgerlichen Gesellschaft verloren ge - gangen schienen. „ Von ihrem Bildungstrieb und Wissens - durst “, schreibt Mehring, „ kann man sich nicht leicht eine zu hohe Vorstellung machen “. Sie besoldeten Lehrer, von denen sie sich in den verschiedenen Wissenszweigen unter - richten liessen; sie gaben ihre ganzen Ersparnisse her für den Druck wichtiger Schriften72).
Weitling wurde geboren 1808 als preussischer Untertan156 zu Magdeburg. Er war ein Schneider und wanderte sieben Jahre lang kreuz und quer durch Deutschland. 1830 soll er sich mit satirischen Versen an den sächsischen Tumulten beteiligt haben. Dann kam er nach Paris und lebte dort bis 1841. Seine „ Garantien der Harmonie und Freiheit “(1842) enthalten die erste theoretische Begründung des deutschen Kommunismus und sind eines der hervorragendsten Dokumente der sozialistischen Literatur; sein „ Evangelium der armen Sünder “(1845) eines der schönsten und rührend - sten Zeugnisse deutschen Geistes. Durch Wilhelm Weitling wurden Karl Marx sowohl wie Michael Bakunin mit dem Kommunismus bekannt, und Weitlings Name wird unver - gessen bleiben als edler Beweis dafür, dass der Sozialismus auch in seinen deutschen Anfängen keineswegs eine Interessen - politik, sondern ein hohes geistiges Ideal war.
Marx war noch Redaktor der „ Rheinischen Zeitung “, als er die Sätze schrieb: „ Wo hätte die Bourgeoisie, ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet, ein ähnliches Werk wie Weitlings „ Garantien der Harmonie und Freiheit “in bezug auf die Emanzipation, die politische Emanzipation, aufzuweisen. Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittel - mässigkeit der deutschen Literatur mit diesem masslosen und brillanten literarischen Debut der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Pro - letariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der Bourgeoisie, so muss man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien “73). Friedrich Engels nannte Weitling den „ einzigen deutschen Sozialisten, der wirklich etwas getan habe “, und Bakunin schrieb, als er 1843 mit Herwegh nach Zürich kam, wo er nicht nur die „ Garantien “, sondern den eben aus Lausanne ein - getroffenen Weitling auch persönlich kennen lernte: „ Man muss sich hüten, den Kosmopolitismus der Kommunisten mit dem des vorigen Jahrhunderts zu verwechseln. Der theoretische Kosmopolitismus des vorigen Jahrhunderts war157 kalt, indifferent, reflektiert, ohne Boden und Leidenschaft; es war eine tote und fruchtlose Abstraktion, ein theoretisches Machwerk, das keinen Funken von produktivem, schaffen - dem Feuer in sich enthielt. Dem Kommunismus dagegen kann man keinen Mangel an Leidenschaft, an Feuer vorwerfen. Der Kommunismus ist kein Phantom, kein Schatten; in ihm ist eine Wärme, eine Glut verborgen, die gewaltig nach Licht strebt; eine Glut, die nicht mehr zu unterdrücken ist, und deren Entladung gefährlich, ja schreck - lich werden kann, wenn die bevorrechtigte Klasse ihm nicht mit Liebe, mit Opfer und mit einer vollständigen Aner - kennung seines weltgeschichtlichen Berufs diesen Uebergang zum Licht erleichtert “74).
Das war die politische Seite. Die religiöse Wirkung war nicht geringer. Ludwig Feuerbach, dem ein Handwerks - bursche die „ Garantien der Harmonie und Freiheit “über - brachte, rief aus: „ Wie war ich überrascht von der Gesin - nung und dem Geiste dieses Schneidergesellen! Wahrlich, er ist ein Prophet seines Standes. Wie frappierten mich der Ernst, die Haltung, der Bildungstrieb! Was ist der Tross unserer akademischen Burschen gegen diesen! “ 75)Und Bakunin: „ Seit das Christentum nicht mehr das zusammen - haltende und belebende Band der europäischen Staaten ist — was verbindet sie noch? Was hält noch in ihnen die Weihe der Eintracht und Liebe aufrecht, die durch das Christentum über sie ausgesprochen war? Der heilige Geist der Freiheit und der Gleichheit, der Geist der reinen Menschlichkeit, der durch die französische Revolution unter Blitz und Donner der Menschheit geoffenbart und durch die stürmischen Revolutionskriege als Same eines neuen Lebens überall verbreitet wurde. Dieser Geist ist es, aus dem der Kommunismus entstand; dieser Geist verbindet jetzt auf eine unsichtbare Weise alle Völker ohne Unter - schied der Nationen; diesem Geiste, diesem erhabenen Sohne des Christentums widerstreben jetzt die sogenannten christ -158 lichen Regierungen und alle monarchischen Fürsten und Gewalthaber, weil sie wohl wissen, dass ihr selbstsüchtiges Treiben nicht imstande sein wird, seinen flammenden Blick zu ertragen “76).
Weitlings religiöser Kommunismus kam aus Frankreich und England. In England sprach Owen von der positiven Religion, dem persönlichen Eigentum und der unzertrenn - baren Ehe als einer „ Dreieinigkeit des Bösen “, und Owen war es, der Weitling, als dieser auf der Flucht nach London kam, den „ Führer der deutschen Kommunisten “nannte77).
Ein Buch von Marie Wollstonecraft über die Frauen - rechte (1792) und Godwins Schilderungen des sozialen Elends in seinem Werke „ Enquiry concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness “hatten Franz von Baader angeregt zu dem Satze: „ Man muss zeigen, dass Könige, Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind “78). In Frankreich aber gab Buchez den religiösen Momenten des Saint-Simonismus eine praktische Wendung, indem er verlangte, die Gebote der christlichen Moral auf sozialem Gebiet zu verwirklichen. Louis Cabet lehrte unter ungeheurem Beifall: „ Der ikarische Kommunismus ist das Christentum, das Jesus Christus eingesetzt hat, in seiner ursprünglichen Reinheit, denn das Christentum ist das Prinzip der Bruderliebe, der Gleichheit, der Freiheit, der Assoziation und der Gütergemeinschaft “79). Béranger rief aus: „ Völker, schliessen wir eine heilige Allianz! “ Lammenais, der das Priestertum des Volkes aufstellte und in so vielen Dingen Prophetengabe besass, warnte vor sozialistischen Systemen, durch die „ die Völker zu einer Sklaverei verurteilt würden, wie die Welt sie noch nicht gesehen habe “; die „ den Menschen zu einer blossen Maschine, zu einem Werkzeug herabsetzen, ihn unter den Neger, ja sogar unter das Tier stellen würden “. Und noch Proudhons „ Philosophie des Elends “, desselben Proudhon, der in seinen Mussestunden159 die Apokalypse des heiligen Johannes las, zeigt deutlich genug die christliche Hilfsbereitschaft, die ihn zu seiner Kritik des Eigentums führte. Ist es ein Zufall, dass jene beiden Männer, die Bakunin die Begründer des revolutionären Sozialismus nennt80), Cabet und Louis Blanc, zugleich revolutionäre Christen waren?
Weitling hat nach Franz Mehring „ die Schranke nieder - geworfen, die die Utopisten des Westens von der Arbeiter - klasse schied “. Das ist Weitlings historisches Verdienst, nicht aber seine heutige Bedeutung.
„ Nachdem die französische Revolution eines jeden In - dividuums Menschenrechte und - pflichten proklamiert hatte “, schreibt Bakunin81), gelangte sie in ihrer letzten Konsequenz zum Babouvismus. Babeuf, einer der letzten reinen und energischen Charaktere, deren die Revolution so viele ge - schaffen und wieder vernichtet hat, vereinigte in einzig - artiger Weise die alten politischen Traditionen seines Landes mit den modernsten Ideen einer sozialen Revolution. Als er sah, dass die Revolution in ihrer ökonomischen Lage unmöglich und einer weiteren radikalen Aenderung unfähig geworden war82), schuf er, getreu dem Geiste dieser Revolu - tion, die am Ende doch jede individuelle Initiative durch die allmähliche Staatsaktion ersetzt hatte, ein politisch-soziales System, nach welchem die Republik als Ausdruck des Kollektivwillens der Bürger alles individuelle Vermögen konfiszieren und es im Interesse aller verwalten sollte. Zu gleichen Bedingungen sollten jedermann Erziehung, Unter - richt, Existenzmittel, Vermögen zukommen, und jedermann ohne Ausnahme sollten gezwungen sein, nach Massgabe seiner Kräfte und Fähigkeiten ebenso Muskel - wie Nerven - arbeit zu leisten. Die Babeuf'sche Verschwörung misslang. Er wurde mit mehreren seiner Freunde guillotiniert. Aber sein Ideal einer sozialistischen Republik starb nicht mit ihm. Seine Idee wurde von seinem Freunde Buonarotti, dem grössten Konspirator seines Jahrhunderts, in ihren160 Bruchstücken gesammelt und als kostbarstes Vermächtnis der neuen Generation übergeben “.
In den von Buonarotti gegründeten Geheimgesell - schaften der Schweiz, Belgiens und Frankreichs lebten die kollektivistischen Ideen weiter, trafen sie mit der romantisch - religiösen Bewegung zusammen und entwickelten den Kom - munismus83). Von Buonarottisten erhielt Weitling seine erste Förderung, auf Buonarottistische Brüdergemeinden gründete er seinen „ Bund der Gerechten “. Vorbild war ihm dabei allem Anschein nach jener „ Bund der Geächteten “in Paris, dem Börne angehörte, und dessen Statut bereits 1834 forderte: Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands, Begrün - dung und Erhaltung der sozialen und politischen Gleich - heit, Freiheit, Bürgertugend und Volkseinheit84).
Die Idee einer brüderlichen Durchdringung Europas im Sinne des Urchristentums ist für Weitling Bedingung auch der politischen Wiedergeburt. Hierin ist er wahrhaft modern. Man glaube doch nicht, dass das Wissen die Religion ausschliesst oder die ökonomische Analyse den Christus. Sie schliessen das theokratische Dogma aus und den Jenseitskult, nicht aber die Liebe, das Herz und den Opfermut. Die Gerechtigkeit ist es, auf der man bestehen muss. Ihre Voraussetzung aber ist die exakte Wissenschaft von den natürlichen Grenzen und Rechten.
Zu Weitlings Anhängern und Brüdern zählten nicht nur Handwerker und Arbeiter, sondern auch Bürgerliche und Besitzer. Gerade die werbende Kraft seiner Idee ist bezeichnend für ihn. Die Hassphilosophie, die durch Marx und den Klassenkampf im deutschen Proletariat aufkam, lag ihm durchaus fern85). Weitling lehnte die Jungdeutschen ab, nicht weil er sie für „ Bourgeois “hielt, — er hätte sie dafür halten dürfen —, sondern weil sie „ im Reiche des Ueber - sinnlichen nach Abstraktion im Trüben fischten “. „ Kommt alle her “, schrieb er im „ Evangelium der armen Sünder “, „ die ihr arbeitet, die ihr mühselig, beladen, arm, verachtet,161 verspottet und unterdrückt seid; wenn ihr Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen wollt, dann wird dies Evangelium euren Mut von neuem stählen und eure Hoffnung frische Blüten treiben. Die entmutigten schwachen Herzen wird es stärken, und in das Herz des Zweiflers die Macht der Ueberzeugung giessen. Auf die Stirn des Verbrechers wird es den Kuss der Verzeihung drücken und die finstern Mauern ihrer Kerker mit einem Schein der Hoffnung lichten. Der Liebe und der Freiheit Glut wird es in aller Sünder Herzen schütten. So geschehe es “86). Von Voltaire spricht er wie Erneste Hello, der ihn einen Farceur nannte: „ Die Religion muss zerstört werden, um die Menschheit zu be - freien, dies war der Grundsatz Voltaires und anderer. Lammenais und vor ihm viele christliche Reformatoren wie Karlstadt, Thomas Münzer und andere zeigten, dass alle demokratischen Ideen der Ausfluss des Christentums seien “87). Er verschmähte nicht die Ergebnisse der Evangelienkritik, er meinte nur, es sei nicht seine Aufgabe, die Widersprüche ans Licht zu ziehen, wie David Strauss es getan habe, sondern das Wesentliche und Mögliche, worauf das Christentum beruhe, als wahr anzunehmen und daraus das Prinzip des Christentums zu ermitteln88). Die deutschen Philosophen nannte er Nebler. „ Hegel ist für mich ebenso ein Nebler. Ich darf ihn so nennen, obgleich ich nichts von ihm gelesen habe. Warum? Weil niemand mir sagen konnte, was er wollte, obgleich die ganze deutsche Nebelphilosophie von ihm ein grosses Geschrei macht “. Für ihn hat in der Weltgeschichte nicht schlechthin Vernunft regiert; ihm ist sie nichts als eine „ grosse Räubergeschichte “, worin die ehrlichen Leute zu allen Zeiten die Geprellten waren. „ Aus der Freiheit und der Harmonie der Begierden und Leidenschaften entsteht alles Gute und aus der Unter - drückung und Bekämpfung derselben zum Vorteil einiger, alles Böse “89). „ Eine vollkommene Gesellschaft hat keine Regierung, sondern eine Verwaltung, keine Gesetze,11162sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits - formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung; hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern “90). Er will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die „ letzte Waffe der Armen gegen die Reichen “. Seine Religion ist die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder - lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis91). Aber „ ein neuer Messias wird kommen “, prophezeite er, „ um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer - trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab - grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver - achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist “92).
Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal - teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld, und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in163 der eine materielle und geistige Katastrophe die ganze Nation bedroht; wo der Arbeiter aus Interesse ebenso schuldig wurde wie jeder andere Bürger, und aus den Betroffenen jeder Klasse ein neues Proletariat sich bildet, ein neues Verbrechertum und ein neuer Elendsabgrund. Was aber Weitling 1843 vom Evangelium der Kleriker sagte, gilt heute ebenso vom Sozialismus der Marxisten: „ Wohl, ihr Herren, ihr habt es bewiesen, ihr habt ein Evangelium der Tyrannei, der Bedrückung und der Täuschung daraus gemacht, ich wollte eines der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft, des Wissens, der Hoffnung und der Liebe daraus machen. Wenn jene sich irrten, so geschah es aus persönlichem Interesse; wenn ich mich irre, so ge - schieht es aus Liebe für die Menschheit. Meine Absicht ist bekannt und die Stellen, aus denen ich schöpfe, ange - merkt. Der Leser mag nun lesen, prüfen, urteilen und glauben, was er will “93).
Aus dem zentralen Punkte der Bergpredigt kommen diese Sätze. Sie handeln vom „ radikalen, revolutionären Christus “, von der christlichen Republik94). Vor dem Essäertum zerstäuben Nützlichkeit, Interesse, Staat, Despotie; zerstäuben Rassenhass und patriotische Lüge, „ die den wütendsten Feinden des Fortschritts und der Freiheit aller zum letzten Notanker ihrer Irrtümer, zum Rettungsbalken ihrer Vorrechte dient “. Für Deutschland ist es geschrieben, wenn Weitling sagt: „ Welche Liebe kann heute wohl der zum sogenannten Vaterlande haben, der nichts darin zu verlieren hat, was er nicht in allen fremden Ländern wieder zu finden imstande ist “? Und ein deutsches Versprechen ist es, wenn Weitling seinen französischen Freunden in Aus - sicht stellt: „ Ihr werdet in der Folge sehen, dass uns die Idee, aus der Welt ein Zuchthaus oder eine Kaserne machen zu wollen, anekelt. Ihr werdet sehen, dass wir nicht die persönliche Freiheit der allgemeinen Gleichheit zum Opfer bringen wollen, da es gerade dieser natürliche Freiheitstrieb164 ist, der uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit macht “95). Wem aber soll der „ freie Rhein “gehören? „ Das Volk, welches zuerst das reine Prinzip der Nächsten - liebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung der Rheinfrage, sonst gibt es keine “.
Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen, und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heisst denn das: ein Utopist sein? Utopist sein heisst in der Marx'schen Terminologie Ideen äussern, die nicht verwirklicht werden können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus widerspricht. „ Die Freiheit kann verwirklicht werden “, dieser Hegel'sche Satz terrorisiert auf dem Umweg über Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermesslichen Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der er entsprang, trug nicht wenig zu jener „ geistreichen “Im - potenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotz - dem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf96). Der Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die „ Uto - pisten “wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits ver - wirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, dass sich endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen erheben, die die verpönte „ Utopie “in ihr Recht wieder einsetzen wollen. Nettlau und Guillaume zerstörten das Märchen von Bakunins „ Utopie “97); Brupbacher zerstörte die Marx-Legende98); und es mag eine Philosophie eintreffen, die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.
Gewiss, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massen - vergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder165 in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi - duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll? Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge - recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver - sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?
Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig, Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht waren alle jene französischen „ Utopisten “und Jesusschwärmer gar keine Utopisten, sondern nur — Franzosen? Und vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen, gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr — Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!
War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial - demokratie „ nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut - schen Geistes “bezeichnet wird99), ist ermunternd genug, einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch - land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus - schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten166 Material zu liefern. Ich würde mich vielmehr glücklich schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation gleicherweise einen Dienst zu leisten.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muss in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipations - kampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des alten Testaments und Moses Mendelsohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine auf - schlussreiche Broschüre „ Deutschtum und Judentum “stellt zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nachdrücklichst betont100). Ich bin ganz seiner Meinung, dass diese Allianz besteht, und ich stimme ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemo - kratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen will, aber ich bin nicht der Ansicht, dass die Herrschaft dieser Art jüdisch-deutschen Geistes der Welt und Deutsch - land selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen, weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.
Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwick - lung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alt - testamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus zum Wortlaut des neuen Testaments, und nur Luthers Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen, machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen, gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nach - weis erbracht werden kann, dass die „ protestantische Staats - idee “von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt167 die importierte Autorität dieses Staatsgedankens, und seine orientalischen Elemente, Despotie und Prostration, Isolierung im Anspruch das auserwählte Volk zu sein, Unterordnung unter eine göttliche Abstraktion, Ausbeutung durch egoistische Prinzipien, werden verschwinden vor der eigentlichen, rein menschlichen Mission sowohl des Deutschtums wie des Judentums.
Hermann Cohen betrachtet die deutsche Sozialdemo - kratie mit Recht als ein Hauptbollwerk dieser autoritären Allianz. Doch sie war mehr. Man vergegenwärtige sich das Ziel, das er dem jüdisch-deutschen Einvernehmen stellt, nämlich einen Staatenbund zu errichten, dessen Mittelpunkt und Vormacht Deutschland ist; einen Staatenbund, der gleichwohl den „ Frieden der Welt begründen und in ihm die wahrhafte Begründung einer Kulturwelt stiften wird “! 101)Indem es Karl Marx gelang, die jüdische Internationale mit der sozialistischen zu verbinden und den deutsch - jüdischen Messianismus an die Spitze beider Internationalen zu stellen; indem Lassalle das Proletariat gleichzeitig an das Preussentum fesselte — war ideell die Diktatur des Deutschju - dentums, die jüdisch-junkerliche Weltherrschaft gesichert. Es bedurfte nur noch des Weltkrieges zu ihrer Bestätigung102).
Wer der Ansicht ist, dass die messianische Vorherr - schaft irgend eines Staates den Frieden und die Wohl - fahrt der Welt bedeutet, der wird Paulus und Luther, den preussisch-protestantischen Staatsgedanken und Hegel, der wird den Macchiavellismus Fichtes und Treitschkes, die „ deutsche “Sozialdemokratie der Herren Marx und Lassalle, der wird Walter Rathenaus Staatskommunismus und Cohens Staatsmetaphysik befürworten müssen. Wer aber der andern Ansicht ist, dass nicht die Ausbeutung der Welt, sondern die Wohlfahrt, Freiheit und Selbständigkeit der Individuen Sinn dieses Daseins ist, der wird einem prussifizierten Europa unter jüdischer Direktive nicht allzuviel Erwartung entgegen - bringen, sondern die Alternative stellen: Christus oder Jehova.
168Eine Etappe im jüdischen Emanzipationskampf nannte ich die Gründung der deutschen Sozialdemokratie, und dieser Anschauung ist gerade auch Cohen. „ Für den deutschen Arbeiter, für die Mehrheit des deutschen Volkes “, schreibt er, „ ist dadurch der geschichtliche Begriff des Juden von jener Beschimpfung erlöst, durch deren sprungweise Er - neuerung auch das Vaterland Lessings auf verhängnisvolle Abwege zeitweilig verlockt wurde “103). Während aber Cohen das Verdienst der Marx und Lassalle in der Anerkennung und Stärkung der deutschen Staatsidee sieht, sehe ich keinen Anlass, über den damit für das Judentum errungenen Vor - teilen den Preis zu vergessen, den Europa dafür zahlte: die Auslieferung der sozialen Idee an den messianisch un - sozialen, preussisch-deutschen Gewalt - und Erfolgsstaat; die Ermöglichung des furchtbarsten aller Kriege, die Ver - nichtung von 20 Millionen Menschenleben und den Ruin Deutschlands. Denn, das sollte eigentlich keines Hinweises bedürfen, der Sozialismus verhält sich zur deutschen Sozial - demokratie, wie die Freiheit sich verhält zu ihrer Falle und zu jener „ Freiheit im Gesetz “, die Hegel und mit ihm die gesamte protestantische Philosophie postulierten.
Bakunin hat in seiner Schrift „ Aux citoyens rédacteurs du Réveil “(1869) die Frage aufgeworfen, wie weit jüdischen Naturen überhaupt der freie Sozialismus entsprechen konnte104). „ Ihre Geschichte hat ihnen lange vor der christlichen Aera schon eine wesentlich merkantile und bürgerliche Richtung gegeben, und daher kommt es, dass sie als Nation betrachtet vorzugsweise von der Arbeit der andern leben und eine natürliche Abneigung und Furcht vor Volksmassen haben, die sie im übrigen demonstrativ oder heimlich verachten. Die Gewohnheit, auszubeuten, entwickelte zwar hervorragend ihre Intelligenz, gab ihr aber zugleich eine bedauerliche Richtung zum Exklusiven, die sowohl den Interessen wie den Instinkten des Proletariats widerspricht. Ich weiss wohl, dass ich mich, indem ich so freimütig meine intimsten Ge -169 danken über die Juden ausspreche, grossen Gefahren aus - setze. Viele teilen diesen Gedanken, aber nur wenige wagen, ihn offen auszusprechen. Die jüdische Sekte stellt heute in Europa eine viel furchtbarere Macht dar als die katholischen und protestantischen Jesuiten. Sie regiert despotisch im Handel wie in der Finanz. Sie hält drei Viertel des deutschen Journalismus und einen sehr beträchtlichen Teil des Jour - nalismus der andern Länder besetzt. Wehe also demjenigen, der das Ungeschick hat, ihr zu missfallen “105).
Von Antisemiten werden diese Sätze immer zu Unrecht aufgetischt werden. Sie gehen weit übers Ziel und finden ihre Erklärung nur in dem unerbittlichen Vernichtungskrieg, den die sozialistischen Deutschjuden von 1870, alle die Hess, Borkheim, Marx in zeitweiliger Allianz mit Liebknecht und sogar mit Bebel gegen Bakunin und die föderalistische Internationale führten. Aber es muss doch zugestanden werden, dass die exploitatorische und merkantile Tradition den jüdischen Geist tiefer besessen hält als ihm selbst zu Bewusstsein kommt, und nicht zu unterschätzen ist die generelle Methodik der jüdischen Rasse, in der nicht die Leistung des Einzelnen entscheidet, sondern das Resultat, zu dem seine konspiratorische Arbeit oft erst nach Gene - rationen führt. Der Einzelne opfert sich für die jüdische Idee. Der Einzelne kann Revolutionär sein, er kann seine Rasse scheinbar verraten. Die Entwicklung aber wird be - weisen, dass er doch nur ihr allein verantwortlich war. Karl Marx kann man als Juden nicht beurteilen, ohne erlebt zu haben, wie ein späterer Jude, Walter Rathenau, die von Marx und Lassalle organisierten und politisierten Massen mit staatskommunistischen Vorschlägen der Regierung und der Expropriation direkt auszuliefern versucht106).
Die Hingabe sowohl Marxens wie Lassalles zu Beginn ihrer Laufbahn ist nicht zu bezweifeln. Zwar lässt sich kein grösserer Gegensatz denken als das Ideal der Weitlingianer, an deren Spitze sie traten, und die positive Methode ihrer170 dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische Entrechtung eines Breslauer Juden der 40er Jahre wie Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewe - gung grundsätzlich die grösste Förderung. Gerade jüdi - scher Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie das Preussen der Junker und eine wirtschaftliche Situation wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Nie - mand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx. Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten, wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit, dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen, um als Ziel mit ebenso grossem politischem Wagemut wie ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzi - pation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu erwirken.
Wie kam es, dass die Emanzipation gleichwohl aus - blieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu vertreten schien, aber verhältnismässig rasch in den Bürger -, Beamten - und Militärstaat einging? Marx sowohl wie Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es ab, sich ausserhalb der offiziellen Machtaspirationen zu stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht vorgebrachten Bedenken107). Die deutschen Rebellen waren sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv. Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber171 liebäugelten sie mit dem zentralistischen Reichssystem und wollten nicht abseits stehen, als der Erfolg und Milliarden - segen hereinbrach108).
Ein Wort Bakunins bezeichnete treffend ihre historische Situation: „ Wie der Doctor Faust, verfolgten diese her - vorragenden Patrioten zwei Ziele, zwei Tendenzen, die einander widersprachen: sie wollten zugleich eine mächtige nationale Einheit und zugleich die Freiheit. Indem sie zwei unversöhnliche Dinge vereinbaren wollten, lähmten sie das eine mit dem andern, bis sie schliesslich, durch die Erfah - rung belehrt, sich entschlossen, die Freiheit zu opfern, um die politische Macht zu erobern. Und so kommt es, dass sie gegenwärtig (1871) damit beschäftigt sind, auf den Ruinen — nicht ihrer Freiheit, denn sie waren nie frei, — sondern ihrer liberalen Träume, ihr grosses prusso-germanisches Kaiserreich zu errichten “109).
Lassalle wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren, wo nach Eduard Bernstein bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell emanzipiert waren. Das Bewusstsein, von jüdischer Herkunft zu sein, war ihm, ebenfalls nach Bernstein, „ eingestandenermassen noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich “1). Nach seinem erst um 1890 veröffent - lichten Tagebuch ist es die Qual seiner jüdischen Abstam - mung, die ihn leitet und die den Schlüssel gibt für sein Leben. Schon als Fünfzehnjähriger schreibt er: „ Ich könnte wie jener Jude in Bulwers ‚ Leila‘ mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reissen. Ich würde selbst das Schaffot nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu einem geachteten Volke machen “2). Sein Lieb - lingstraum ist, „ an der Spitze der Juden, mit den Waffen in der Hand, sie selbständig zu machen. “ Der Stachel der Torturen, von denen er spricht, drängt ihn, sich um jeden Preis Anerkennung und Geltung zu verschaffen. Alle seine hochfliegenden Pläne gelten der jüdischen Emanzipation. Er führt den sogenannten „ Kasettenprozess “der Gräfin Hatzfeld, führt ihn mit allen Mitteln, Spionage, Bestechung, Klatsch und Schmutz, nur um als jüdischer Ritter einer adligen Dame den Beweis zu liefern, dass das Talent entscheidet, nicht der Geburtsadel eines preussischen Junkers, gegen den der Prozess sich richtet. Seine Pas - sion, durch aussergewöhnliche Unternehmungen zu ver - blüffen, entspringt einem Heisshunger nach Glanz, Macht und Ruhm.
Einen jüdischen Alzibiades erlebt Deutschland. 1845173 tragen ihm Leipziger Weitlingianer ihre Führung an. 37 jährig stellt er sich an die Spitze einer Bewegung, mit deren freiwilligem Verzicht auf Genuss, Macht und Ruhm, ja mit deren kommunistischer Intention, von Weitlings christlicher Idee ganz zu schweigen, er nicht das Geringste gemeinsam hatte; denn typisch wie sein Ziel, diese Bewe - gung „ zu einem Heerbann für seine hochfliegenden Pläne zu gestalten “3), ist der Vorwurf, den Marx ihm später machen konnte, er habe das „ Kommunistische Manifest “gefälscht oder nicht verstanden.
Er lässt sich von seiner Freundin Hatzfeld phantasti - sche Unterredungen mit Bismarck vermitteln und schlägt ihm, kurze Zeit vor Ausbruch des Krieges von 1866, der als Bruderkrieg keineswegs Aussicht auf Volkstümlichkeit hatte, die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts und Produktivgenossenschaften mit Staatsmitteln vor, zwei Vor - schläge, die einem groben Vertrauensbruch der ihm blindlings ergebenen Arbeiterschaft gegenüber gleichkamen4). Seine masslose Eitelkeit gefällt sich in der Rolle eines Vertrauten Bismarcks, dem er von allen seinen Veröffentlichungen durch das Sekretariat des „ Allgemeinen deutschen Arbeitervereins “ein Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert mit der Auf - schrift „ persönlich “senden lässt5); und der Ehrgeiz, Bräuti - gam eines adligen Fräuleins zu werden, zeigt diesen selt - samen jüdischen Revolutionär bereit, zum Katholizismus überzutreten, bei Ministern zu antichambrieren und junker - liche Duelle auszufechten6). Er verwechselt in naivster Weise den äusseren mit dem inneren Adel. Er kennt keine Rücksichten und Hemmungen, wenn seine „ Ehre “(bei Junkern!) und seine Karriere (unter Deutschen!) auf dem Spiele steht, und gleichwohl schwuren auf dem „ Gothaer Einigungskongress “zwischen Marxisten und Lassalleanern (1875) zwei Drittel der jungen sozialdemokratischen Partei auf seinen Namen. Zu spät verrieten seine Tagebücher das Ge - heimnis seiner Pläne, in denen das Proletariat nur die Rolle174 eines von ihm benutzten Instrumentes spielte, die Rolle einer Waffe, mit der er die persönliche Kraftprobe zu liefern gedachte.
Man kennt die schmeichelhaften Worte, die Lassalle für die deutschen Arbeiter fand: „ Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll! “ Oder messianisch: „ Der deutsche Volksgeist ist die meta - physische Volksidee und seine Bedeutung besteht darin, dass die Deutschen die hohe weltgeschichtliche Bedeutung haben, aus dem reinen Geiste heraus (!) demselben nicht bloss eine reale Wirklichkeit, sondern sogar die blosse Stätte seines Daseins, sein Territorium zu schaffen! “ 7)Um so erstaunlicher, wie viel Nachsicht Eduard Bernstein noch 1892 für die delikate Natur der Lassalle'schen Verhand - lungen mit Bismarck besitzt. Bismarck schrieb zwar 1878 „ Was hätte Lassalle mir bieten und geben können! Er hatte nichts hinter sich! In allen politischen Verhandlungen ist das do ut des eine Sache, die im Hintergrunde steht, wenn man auch anstandshalber einstweilen nicht davon spricht “, und er hatte darin Recht! Aber ist es, nachdem das ‚ all - gemeine Wahlrecht‘ und die ‚ Sozialgesetzgebung‘ der pro - letarischen Opposition die Spitze abbrachen, angebracht, mit fast Lassalle'schem Stolz hierauf zu antworten: „ Etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache war nur die, dass es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen “8)? Ist es die Rasse, die auch bei Bernstein spricht und zu schützen versucht? Mit welch beschämender Nachsicht versucht sie es!
Bismarck charakterisierte Lassalle sehr richtig: „ Er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im grossen Stile war, durchaus nicht Republikaner; er hatte eine ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung. Seine Idee, der er zustrebte, war das deutsche Kaisertum, und darin hatten wir einen Berührungspunkt. Ob das deutsche175 Kaisertum gerade mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der Dynastie Lassalle abschliessen sollte, das war ihm viel - leicht zweifelhaft, aber monarchisch war seine Gesinnung durch und durch “9). Hierzu bemerkt Mehring, bei diesen Unterredungen sei Bismarck der arme Teufel gewesen und sein Versuch, mit dem Sozialismus Kirschen zu essen (doch wohl Lassalles Versuch, mit Bismarck Kirschen zu essen), habe denn auch damit geendet, dass Bismarck die Steine bekam10). Das ist jedoch eitel Grosssprecherei, wie überhaupt die Sozialdemokratie unterm Einfluss des „ Idealismus “zur Renommage neigt11). Lassalles Schwäche lässt sich nicht bemänteln. Er selbst gesteht: „ Ich weiss nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-repu - blikanische Gesinnungen habe wie Einer, so fühle ich doch, dass ich an der Stelle des Grafen Lavagna (in Schillers Fiesko) ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte besehe, dass ich bloss Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein “12). Und am Ende seiner Karriere: „ Ach wie wenig Sie au fait in mir sind! Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik loszuwerden. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar ich würde so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste Ereignisse da wären oder wenn ich die Macht hätte oder ein Mittel sähe, sie zu erobern — ein solches Mittel, das sich für mich schickt (!); denn ohne höchste Macht lässt sich nichts machen “13).
Diese Gesinnung ist keineswegs als vorübergehende Depression oder als Scherz aufzufassen. Sie drückt die Ent - täuschung Lassalles über das Misslingen seiner allerpersön - lichsten Machtpläne aus. Sie begleitete Lassalles Leben, und lebte in seiner Partei auch fort nach Lassalles Tode, als seine Testamentsvollstreckerin, eben jene Gräfin Hatzfeld,176 auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung in die Hände zu spielen14).
Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia - lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle wusste und schrieb an Marx: „ Die preussische Justiz scheinst du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom ersticken wollte! “ 15)Gleichwohl konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in Frage stand, Preussen solle mit einem „ revolutionären “Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen16). Und vor denselben Richtern, die den „ täglichen Justizmord “doch praktizierten, sagte er gelegentlich: „ Wie breite Unter - schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene modernen Barbaren “17).
Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor - stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht - sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein kaiserliches Grossdeutschland? Der „ Sozialdemokrat “, das Organ des „ Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins “bot Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines „ freien und177 einigen Deutschland “, I. B. von Schweitzer, jener Nachfolger Lassalles, den seine deutschen Genossen im Auslande selbst als Spion Bismarcks verschrien, betonte nach Mehring „ namentlich, dass er und die Arbeiter seiner Richtung dem Auslande gegenüber auf preussischer Seite ständen “18). Von den beiden damaligen Fraktionen warfen die ‚ Lassalleaner‘ den ‚ Eisenachern‘ vor, es sei ihnen mit dem proletarischen Klassenkampf nicht ernst, sie seien „ Halbsozialisten “; die Eisenacher aber rächten sich, indem sie in ihrem „ Volks - staat “schrieben: „ Wäre Lassalle nicht von selbst gekommen, so hätte Bismarck ihn erfinden müssen “19).
Lassalle versuchte als Jude ein Arrangement zu treffen mit der protestantisch-liberalistischen Tradition seines Vater - landes. Das verlieh seinen Argumenten eine gewisse Basis und Kraft, seinem Enthusiasmus Schwung. Einen Ausgleich seiner Aspiration und Begabung scheint er empfunden zu haben im Attachement an Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen, jene beiden ritterlichen Oppositionelle des 16. Jahrhunderts, die Luther ein Bündnis anboten wider den Papst und für ein einiges Deutschland; und eine sym - pathetische Vorliebe für Fichte und Hegel, die spekulativen Macchiavellisten. In einem Versdrama „ Franz von Sickin - gen “(1859) zeigt dieser buntscheckige „ Sozialist “sich als all das, was er nicht hätte sein dürfen, wenn er als Rebell für die Frei - heit auftrat; zeigt er sich als Vernunftapologet, Schwert - apostel und Monarchist. „ Ehrwürdiger Herr! Schlecht kennt ihr die Geschichte, Ihr habt ganz Recht, es ist Vernunft ihr Inhalt “, lässt er sich hegelianisch vernehmen. Oder: nachdem er Oekolampadius (ist das ein Pseudonym für Weitling?) von der Entweihung der Liebeslehre durch das Schwert hat sprechen lassen, bringt er einen „ Panegyrikus auf das Schwert “, an dem Bismarck und die Pangermanisten aller Zeiten ihre helle Freude haben konnten, und der schliesst:12178„ So vor - wie seitdem ward durchs Schwert vollendet Das Herrliche, das die Geschichte sah, Und alles Grosse, was sich jemals wird vollbringen, Dem Schwert zuletzt verdankt es sein Gelingen “20).
Eine hübsche Prophezeiung von 1871 und eine Pro - phezeiung noch des Herrlichen, dessen liquidierende Zeugen wir heute geworden sind. Dass Bismarck aber in seiner Tage - buchnotiz den Nagel auf den Kopf traf, wenn er diesen Mann keinen Republikaner, sondern einen Monarchisten nannte, bestätigen die Worte Sickingens zu Hutten:„ Was wir wollen — — — — — — Das ist ein ein'ges, grosses, mächt'ges Deutschland, — — — — — — — — — — Und machtvoll auf der Zeit gewalt'gem Drang Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd Ein — evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze Des grossen Reichs “21).
Monarchisten mögen in Frankreich Gründe anführen, die diskutabel sind. Das französische Königtum hat der Welt Jeanne d'Arc und die französische Literatur geschenkt. In Deutschland dürfte es etwas mehr Anstrengung kosten, der Monarchie Geschmack abzugewinnen. Stellt sich aber an die Spitze eines Weitlingianerklubs ein streberischer Aventurier, ohne die Prinzipien seiner ersten Anhänger auch nur zu diskutieren, so sollten sozialistische Geschichts - schreiber endlich auch in Deutschland die Jugend aufmerk - sam machen, dass leider ein Pseudorebell einer der frühesten Führer war.
Hatte Lassalle eine deutsche Tradition für sich, so ist es typisch für Marx, dass er mit ihr brach und im franzö - sischen und englischen Ausland neue Prinzipien suchte. Der jüdische Emanzipationskampf findet in Marx einen179 Vertreter von ungleich tieferer, grundsätzlicher Bedeutung. Fast hat es den Anschein, als sei das Judentum in der Figur Marxens aufgehoben. Das ist jedoch nur eine Täuschung.
Marx begann als Student der Rechtswissenschaften und der Philosophie. 1842 trug er sich noch mit der Absicht, sich als Dozent für Philosophie zu habilitieren. Als seinem Freunde und Studiengenossen, dem Theologen Bruno Bauer die venia legendi entzogen wird, geht Marx 24jährig als Redaktor der „ Rheinischen Zeitung “in den Journalismus über. Damit beginnt seine Laufbahn als Gelehrter und Revolutionär, als Jude und Preusse, als Pamphletist und Organisator.
Das jüdische Problem tritt bei Marx nicht nur tiefer und energischer, sondern auch differenzierter und in grösse - rem Umriss zutage als bei Lassalle. Es darf nicht nach seinen einzelnen Aeusserungen und Werken beurteilt wer - den, es ergibt sich nur aus dem Zusammenhang seiner Persönlichkeit mit der geistigen und politischen Situation seiner Zeit, ja seines Jahrhunderts. Die Sympathien und Antipathien Marxens entscheiden dabei oft mehr als sein persönliches Geständnis, und man würde das Werk dieses Mannes, der einer der verantwortlichsten Führer der Nation wurde, sehr unterschätzen, wenn man seine Prätention mehr im Auge behielte, als den politischen Umkreis, in den er sich stellte.
Mit ungestümem Temperament tritt Marx zur Zeit Jungdeutschlands auf. Erst völlig im Banne der Hegel - schen Doktrinen, deren talmudistische Dialektik, deren theo - logischen Autoritätsglauben und abstrakte Subordinations - methode er nie bezweifelte, ist er bemüht, unter Bauers und Feuerbachs Einfluss mit Hegel'schem Werkzeug eine realistische Antithese gegen die Hegel'sche Philosophie auf - zustellen: eine Welt schonungsloser Verneinung sowohl auf politischem, wie auf ökonomischem und religiösem Gebiet; eine Welt der Materialität gegen die theologisch-idealistische180 Theodizee; eine Welt der Revolte gegen den verhätschelten Staat; des Wissens gegen den Glauben, des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Sein doktrinärer Widerspruch, sein gewollt antithetisches System zwangen ihn zu Gewaltsam - keiten und Gegensätzen, die heute nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Gegensätze wie Materialität und Idealismus, Wissen und Glauben, Proletariat und Bourgeoisie gibt es kaum mehr in solch schneidender Schärfe wie Marxens Methode sie vortrug. Auch schätzen wir nicht mehr Kritik für Kritik und die Negation um ihrer selbst willen. Aber das Nein auf das Ja, der Widerspruch, der als Rebellentum galt, war immerhin neu und von Wert einer Zeit gegen - über, die mit stets schmunzelndem Wohlgefallen sogar noch den Abgrund bewundern konnte.
Die „ Deutsch-Französischen Jahrbücher “zeigen den Jüngstdeutschen Marx als ebenso scharfsichtigen wie selbst - bewussten Kämpfer. In politischer Hinsicht zeigte er sich radikal in einem Masse, dass eine Steigerung kaum mehr denkbar war. Neben den heftigsten Ausfällen gegen die Monarchie findet sich eine fast zynische Verachtung aller derer, die sich beherrschen lassen. Der „ Philisterstaat “Friedrich Wilhelms IV. ist es, dem unter offenbarer Nach - wirkung romantischen Geniekultes sein ganzer Hass und Abscheu gilt. „ Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise Recht zu geben “. „ Dem Philister gehört die Welt, um so genauer müssen wir diesen Herrn der Welt studieren. Es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen “22).
Louis Blanc hatte Recht, wenn er sagte, das sei ein löblicher Vorsatz. Aber hat Marx ihn befolgt? Hat er den „ Herrn der Welt “, den Philister, studiert? Er analysierte die Anfänge Friedrich Wilhelms als den Versuch eines ge -181 scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum alten Diener - und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku - larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf - fassung des „ Bourgeois “, die die Ideologie unterschätzte, die übersah, dass nur der Verzicht auf den Besitz die mo - ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht, des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten nicht an jenen „ Schlaf der Welt “, vor dem Hebbels Kan - daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch - österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn - röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter - licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi - listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött - liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da - malige Marxens: „ Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche “musste notwendig an der Oberfläche bleiben, solange es unter „ Kämpfen “nur die wirtschaft - lichen Klassenkämpfe und unter „ Wünschen “nur die Auf - teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen182 blieb, was da so aufgeregt vor Bismarcks Zeiten nach Re - volution schrie.
Das Eine sah Marx, dass Deutschland hinter den anderen Staaten unendlich weit zurückblieb. Er fand, Deutschland sei längst noch nicht dort angelangt, wo Frankreich schon vor 1789 stand; sah, dass Deutschland zwar keine moderne Revolution mitgemacht, dafür aber die Restaurationen aller anderen Völker geteilt habe. „ Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten “. „ Die Deutschtümelei ist sogar in die Materie gefahren; während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität “23). Einzig die Philo - sophie, und zwar die Hegel'sche findet Anerkennung. Sie ist ihm „ die einzige, mit der offiziellen modernen Gegen - wart al pari stehende deutsche Geschichte “24). Das war die Hegel'sche Philosophie zwar nicht, wenigstens wurde sie in Paris nicht al pari anerkannt, und Paris entscheidet nun einmal über den letzten Wert von Philosophien. Aber sie bot immerhin die Möglichkeit eines antithetischen Systems der Un-Vernunft, das, in Hegel'schen Massen aufgestellt, al pari mit der historischen Entwicklung Europas hätte stehen können25), und wenn weder Marx, noch Bauer, noch Feuer - bach ein solches System lieferten, so blieb ihnen als dok - trinären Atheisten, Materialisten und Anthropomorphisten das Verdienst, zwar die englische und französische Aufklärung von Grund aus zu verstehen, nicht aber den neuen christ - lichen Geist, den in England und Frankreich das Elend des Proletariats wachrief. Marx irrte sich genau wie Heine, wenn er, von Hegel und Feuerbach erfüllt, die protestan - tische Philosophie als Ausgangspunkt einer Revolution über - schätzte. Nicht nur, dass die politische Situation in Deutsch - land, zerrissen und zerspalten wie sie war, in keiner Weise183 die französische und englische Parallele ertragen konnte. Philosophien und Systeme haben selbst heute noch im deutschen Volk gar keine Wurzel. Anzunehmen also wie Marx, die Theorie der Philosophie werde die Massen er - greifen und dadurch Macht gewinnen26), hiess leere Ver - sprechungen machen oder sich täuschen.
Aufschlussreicher als die Stellung zur Nation und zur Philosophie ist die Stellung des jungen Marx zur Religion. Sie führt ihn in einer Polemik mit Bauer zum jüdischen Problem und zwingt ihn, seine innersten Ueberzeugungen zu formulieren. Ein Aufsatz „ Zur Judenfrage “in den „ Deutsch-französischen Jahrbüchern “ist für die Beurteilung Marxens von der grössten Wichtigkeit. Bauer hatte in seiner „ Kritik der evangelischen Geschichte “(1841) hervorgehoben, dass der Weltherr in Rom, der alle Rechte repräsentiere, der Leben und Tod auf seinen Lippen trage, an dem Herrn der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauch seines Mundes den Widerstand der Natur bezwinge oder seine Feinde niederschlage; der sich schon auf Erden als den Weltherrn und Weltrichter ankündige, einen feindlichen Bruder zwar, aber einen Bruder habe27). Bauers Kritik streifte bereits bedenklich den alttestamentarischen Obrig - keitsgott Jehova, den rächenden, strafenden Judengott. Ludwig Feuerbach vollends analysierte im „ Wesen des Christentums “(1841) die jüdische Religion als die Religion des selbstischen Interesses. „ Die Juden haben sich in ihrer religiösen Eigentümlichkeit bis heute erhalten. Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip der Welt —, der Egoismus, und zwar der Egoismus in der Form der Reli - gion. Der Egoismus ist der Gott, der seinen Diener nicht zu schanden werden lässt. Der Egoismus ist wesentlich monotheistisch, denn er hat nur eines, nur sich zum Zwecke. Der Egoismus sammelt, konzentriert den Menschen auf sich, aber er macht ihn theoretisch borniert, weil gleich - gültig gegen alles, was nicht unmittelbar auf das Wohl des184 Selbst sich bezieht “28). Und wiederum meinte Bauer, so lange die Juden Juden blieben, könnten sie nicht emanzipiert werden; das aber sei für die Juden, die sich von jeher dem geschichtlichen Fortschritt widersetzt und in ihrem Hasse aller Völker sich das abenteuerlichste und beschränk - teste Volksleben geleistet hätten, deren Religion tierische Schlauheit und List sei, ausserordentlich schwer, wenn nicht unmöglich29).
Durch solche Kritik und Betrachtung war die jüdische Religion und Absonderung tief kompromittiert, und so findet sich in Marxens Polemik mit Bauer jener verzweifelte Sprung aus der Tradition seiner Väter, den Marx mit dem Satze unternimmt: die Kritik der Religion sei die Voraus - setzung aller Kritik. Ohne die humanistisch sich neigende Haltung Feuerbachs einzunehmen, der die jüdischen Ele - mente des offiziellen Christentums abzulösen gedachte mit erlöster Liebe des Menschen zum Menschen, also mit dem neuen Testament, warf Marx die Religion als Kategorie beiseite wie ein verbrauchtes Gewand, ohne in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die er ja ebenfalls später für Phrasen erklärte, einen Ersatz zu finden. Die Religion ist ihm jetzt „ die phantastische Verwirklichung des Menschen “, „ das Opium des Volkes “, denn in der Religion „ kommt das menschliche Elend zum Ausdruck, und durch sie wird gleichzeitig das Bewusstsein eingeschläfert “; die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks “30). Aber nicht genug damit. Marx wendet sich gegen die ebenfalls kompromit - tierte ökonomische und egoistische Voraussetzung dieser Religion, den „ weltlichen Grund des Judentums, den Schacher “und dessen „ weltlichen Gott, das Geld “31). Er zeigt im Judentum ein „ allgemeines, gegenwärtiges, anti - soziales Element “, das um so gefährlicher geworden sei, als auch das Christentum sich wieder in das Judentum auf - gelöst habe und der praktische Christ wieder Jude geworden185 sei. Er trifft auf die „ chimärische Nationalität des Juden “ 'die Nationalität des Geldmenschen und Kaufmanns, und gelangt am Ende dieser Selbstzerfleischung zu dem Schlusse: „ Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Eman - zipation der Gesellschaft vom Judentum “. Er wurde damit zum Apostaten, aber es wäre nur zu wünschen, dass diese letzte Offenheit den Angehörigen jeder Rasse zu eigen wäre.
Für diese Untersuchung ist es wichtig, festzustellen, dass also Marxens Kritik des Kapitals seiner eigenen Auf - fassung nach ursprünglich eine Kritik des Judentums dar - stellen soll, und es ist wichtig, zu betonen, dass sein Auf - satz „ Zur Judenfrage “von 1844 nicht nur das religiöse, sondern auch das ökonomische Problem im Hinblick auf die politische Emanzipation der Juden behandelt. Seine Irreligiosität und sein Auftreten gegen das Kapital sind Opfer des Juden, der, da er seine eigene Religion und die Finanzwut seiner Rasse zu opfern gezwungen ist, jegliche Religion und jegliches Eigentum geopfert wissen will32).
Einen Unterschied zwischen altem und neuem Testa - ment erkennt Marx nicht an. Ein gegen den Staat gerich - tetes oder wenigstens ausserhalb des Staates konstituiertes Christentum im Sinne Weitlings und Tolstoi liegt ihm ganz fern. Die Trennung von Kirche und Staat, ohne beide ein - ander entgegenzusetzen, genügt ihm. Und so versucht er, uns glauben zu machen, dass „ dort, wo der Staat ein politischer Staat ohne Staatsreligion ist “, die Judenfrage „ gänzlich ihren theologischen Charakter verliert und zu einer weltlichen Frage wird “33).
Die Frage: wie sollen die Juden weiterhin „ emanzipiert “, wie soll das Vorurteil gebrochen werden, das gegen sie besteht, führt ihn begeistert zum Kommunismus, dem er eine streng materielle, Religion und Moral zerstörende Wendung gibt. Er ist geschickt genug, sich nicht nur gegen die pri - vilegierte Religion, den „ christlichen Staat “(und zwar leider mehr gegen die Christlichkeit als gegen den Staat) zu186 wenden, sondern auch gegen das privilegierte Kapital. Er hofft, als ob solcher Optimismus nicht sträflich wäre, innerhalb Preussens und der gemeinsamen Staatsidee die Elemente eines neuen Staates vorbereiten zu können, in dem die Wissenschaft die Theologie ablöst und der Gelehrte den Rabbi34).
So wie die Reformation theoretisch begonnen wurde, soll auch die Revolution der Zukunft theoretisch begonnen werden. Vom Proletariat, und zwar von dem durch die Fabrik schon halb militarisierten Fabrikproletariat, soll diese Revolution ausgehen. Das Proletariat wird das Kapital und die Produktionsmittel säkularisieren; das atheistische Pro - letariat wird mit der Religion die Judenfrage wegräumen und zugleich die Geldwirtschaft. Die Vergewaltigung ist nicht die Fabrik, die Maschine, die Entpersönlichung durch Akkordarbeit, sondern nur die Usurpation dieser Abstrakta durch ein noch abstrakteres Abstraktum, das privilegierte Kapital, das Geld.
Marx entfaltet eine fieberhafte wissenschaftliche Tätig - keit. Proudhons Kritik des Eigentums wird eine „ Art Offen - barung “für ihn. Babeuf und Owen, Saint-Simon und Fourier lösen Hegel ab. Noch schreibt er in Briefen: „ Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflan - zen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzu - helfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klar machen “35), und doch schreibt er auch schon, dass die religiösen und politischen Fragen in die „ selbstbewusste menschliche Form “gebracht werden sollen. Noch findet er, „ der Kommunismus, wie ihn Cabet, Dezamy und Weitling etc. lehren, ist eine dogmatische Abstraktion “36), und doch wird er später unduldsamer als der Papst gegen Andersgläubige. Während das Proletariat in Deutschland „ erst durch die herein - brechende industrielle Bewegung zu werden beginnt “, gelangt er bereits zur Auffassung, dass die politische Oekonomie, und sie allein, die Analyse der bürgerlichen187 Gesellschaft ermöglicht und sieht er in der grobmateriellen Produktion die Geburtsstätte für alle Geschichte37).
Seltsam genug: dieser Revolutionär ohne revoltierbare Nation hat ein Interesse an der industriellen Zentralisierung, weil sie ein deutsches Proletariat schaffen wird, und auf diesen Zustand arbeitet er hin, weil er ein zentralisiertes Proletariat braucht für die Emanzipation, die er träumt. So wird er nach Brupbachers treffendem Wort der „ ökonomische Psy - choanalytiker “und „ technische Verstand “der Arbeiter - bewegung, und obgleich ihm die französischen und eng - lischen Klassenkämpfe viel mehr Voraussetzungen liefern als die deutschen, empfindet er besonders seinen franzö - sischen Lehrern gegenüber doch nur wenig Dankbarkeit, ja sogar eine gewisse Feindschaft38). Das rein intellektuelle Interesse steht im Vordergrund, nicht die Liebe. Der Ehr - geiz, Autorität und Führer zu sein, diktieren ihm, nicht das Herz und der Glaube an Menschenrechte39). Wohlgefallen am eigenen Geist ersetzt ihm die Religion, und für den Stachel des Apostatentums rächt er sich durch eine hämisch - sarkastische, mitunter wohl auch perfide Polemik, wenn er im Allerheiligsten, seiner Eitelkeit, sich verletzt fühlt40).
Weitlingianer und Buonarottisten sind es, an deren Spitze er, aus Paris vertrieben, 1845 in Brüssel tritt. So paradox die Berufung Lassalles durch Anhänger Weitlings war, so paradox ist es, dass die konspiratorische Führung des kommunistischen Handwerkervereins in Brüssel gerade an Marx übergeht. „ Weisst du “, plaudert er 1848 in Berlin, „ ich stehe jetzt an der Spitze einer so wohldisziplinierten sozialistischen Geheimgesellschaft, dass, wenn ich einem ihrer Mitglieder sagen würde: töte Bakunin, er dich töten würde “41). Weitlings Urchristentum mit der unendlichen Bedeutung des Individuums und der Freiheit, abgelöst von einem abstrakt subordinierenden und herrschsüchtigen jüdi - schen Gelehrten hier, von einem ehrgeizigen jüdischen Flagellanten dort! Beide aber als Staatsdoktrinäre und188 Wissenschaftsabsolutisten Hegel'scher Provenienz in tiefem innerem Widerspruch mit dem Brüderbewusstsein, wie es in den Weitling'schen Zirkeln der vierziger Jahre im Auf - leben begriffen war!42).
Das Wissen, wo es als höchstes Prinzip auftritt, tötet notwendig den Enthusiasmus, den Geist und jenen aus irratio - nalen Quellen fliessenden menschlichen Instinkt, der für die Konflikte die einfachste Lösung findet. Das Wissen multi - pliziert die Probleme, die Begeisterung löst und vereinfacht sie. Das Wissen lähmt und verwirrt, die Begeisterung stärkt und befreit. Das Wissen wird unter Marxens Führung zum Tabernakel des Weltgeistes, dessen erhabener Besitzer Karl Marx der Stifter wird einer Doktrin, an der so wenig ge - rüttelt werden darf, wie am allein seligmachenden Glauben der katholischen Kirche.
Hiess es bei Weitling noch: „ Wir armen Sünder glauben auch alle an Gott, obwohl wir nicht viel davon sprechen und selten zu ihm beten; was aber wissen wir von Gott? Nichts “43), so ist jetzt die Losung: „ Selbstver - ständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche “44). Hiess es bei Weitling noch: „ Christus ist ein Prophet der Freiheit, seine Lehre ist die der Freiheit und Liebe. Dieser Christus muss uns armen Sündern Freund und Bruder sein, kein übernatürliches, undenkbares Wesen, sondern wie wir, denselben Schwächen unterworfen “45), so wurde nun aus dem in 20 Sprachen auf der Londoner Mitgliedskarte des kommunistischen Arbeitervereins stehenden Motto „ Alle Menschen sind Brüder “, die Parole „ Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “46)
Nach der gelenkigen Abfertigung unbequemer Rivalen blieb die Arbeiterbewegung denn auch „ vom christlichen Sozialismus “wie Mehring verkündet, „ nicht lange mehr behelligt “. Als Marx und Engels auf dem Londoner Bundes - kongress 1847 ihr „ Manifest der kommunistischen Partei “vorlegten, wussten sie (ebenfalls nach Mehring), „ dass in189 harten Klassenkämpfen nichts ausgerichtet wird mit jener dünnen und unfruchtbaren Stimmung, die der Philister sein menschliches Mitleid und seine sittliche Entrüstung nennt “47); „ keine Spur von Sentimentalität war in ihnen “. Aber dann ist es auch eine Philisterphrase, von ihnen zu sagen: „ sie liebten das helle Lachen der Kinderwelt; am Christus der Bibel gefiel ihnen nichts so sehr als seine Kinderfreund - schaft “48).
Für Marx war die Ware gleich Arbeitskraft und die Arbeitskraft gleich Ware. Die revolutionäre Klasse war ihm „ von allen Produktionsinstrumenten die grösste Produktiv - kraft “49); er addierte sogar den Lebensunterhalt seiner Herden - tiere wie ein abgefeimter Kapitalist zum Herstellungspreis der Ware. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verdarben ihm als Imponderabilien notwendig die Rechnung, und man kann sogar sagen, dass Marx als erster Deutscher dem Be - griff „ Menschenmaterial “zu theoretischem Ausdruck verhalf.
War der Materialismus solcher Betrachtungsweise „ revolutionär “, protestierend? Marx lieferte nicht nur der Arbeiterbewegung, er lieferte auch dem kritisierten Kapital die handfesten Begriffe. Und es ist doch merkwürdig genug, dass sich 1867, als das „ Kapital “erschien, nach Freiligraths Zeugnis „ am Rheine viele junge Kaufleute und Fabrik - besitzer für das Buch begeisterten “50). Arbeitern ohne Gymnasialbildung musste es bei seinem undurchdringlichen Stil notwendig verschlossen bleiben.
Hat Marx die Religion seiner Väter wirklich verraten? Ist sein spiritueller Materialismus, die desillusionierende Betrachtungsweise, die er Kritik nennt, im konventionellen Sinne nicht jüdisch geblieben? Und spiegelt sich darin nicht viel mehr die Anschauung des Fabrikherrn wieder als die des Arbeiters? Gewiss, er verlangte im „ Kommu -190 nistischen Manifest “die Expropriation der „ Bourgeoisie “und den Uebergang der Produktionsinstrumente an das Proletariat. Das waren, solange die Gegensätze so schnei - dend zutage traten wie in der ersten Hälfte des 19. Jahr - hunderts, unmissverständlich Prinzipien einer sozialen Re - volution. Aber er schrieb auch von „ Arbeitszwang “und „ Armeen von Arbeitern “51), und wenn man diese Dinge umdreht, heissen sie „ Zwangsarbeit “und „ Arbeiterarmee “. Wohin musste seine Umsturzpartei gelangen, wenn er das Staatsmonopol bestehen liess? Wenn er, 1847, den Feuda - lismus von der Bourgeoisie für „ zu Boden geschlagen “halten konnte52), während dieser Feudalismus wenige Jahr - zehnte später eine Militärmacht aufstellte, die, auf den Namen Bismarcks getauft, den Kontinent erzittern liess; und 1871 sogar riet, auf dem Boden des gerade von ihm doch so grimmig befehdeten Bourgeoisstaates den parlamentarischen Kampf aufzunehmen? 53)
Marx zerlegte den Mechanismus der Fabrik, des Kon - tors und des Marktes. Er war ein glänzender Wirtschafts - analysator. Seine Zweiklassenteilung Proletarier — Bürger ver - gass jedoch in der Rechnung den beide sehr bald beherrschenden Junker, und von dem Moment an, wo in Deutschland der souveräne Junkerstaat mittels Wahlrecht und einer umfassenden Sozialgesetzgebung den Proletarier zum Bürger und Beamten arrivieren liess, um ihn für die Armee zu gewinnen, hatten der Fabrikarbeiter sowohl wie Marxens System zunächst aufgehört, die Freiheitsprinzipien zu verkörpern54).
Marxens Internationale war von allem Anfang an nicht die der Freiheit, der Religion oder Moral, sondern die der Wirtschaftsinteressen und des Arbeitsmarktes, eine Staats - doktrin κατ᾽ ἐξοχὲν. Jene nach seinen eigenen Worten „ chimärische Nationalität des Juden “, die Internationale des Geldmenschen und Kaufmanns ist es, die ihn beschäftigt. Dass er die Bedarfs - und Gebrauchsgegenstände über die191 religiösen und ideellen stellte, die Materie über den Geist, — diese Ueberschätzung des Schachers, die mit dem An - spruch einer Philosophie auftritt, trotzdem sie im Reich der Idee nichts zu suchen hat, diese Umwertung aller Werte, ist sein Werk. Seine Internationale ist weder die Weit - ling'sche des Christentums, noch die Bakunin'sche einer auf die Arbeitssolidarität gegründeten Freiheit und Huma - nität, sondern eine Internationale des Angebots und der Käuflichkeit, der moralischen Destruktion55). Sie zielt auf die Abschaffung der Qualität und der Ritterlichkeit ab, auf die Verflachung der nationalen und persönlichen Individuen. Ihre zynische Ueberzeugung ist: der Profit regiert die Welt. Der Profit ist — die Weltseele.
Nach Marx sind die Probleme überall gleich, weil mit dem Aufschwung der Industrie der Häuptling von Owambu und der Telegraphenbeamte in Stockholm gleicherweise Röllchen tragen; nach Marx bestimmt in Amerika, England und Russland gleicherweise „ das Kapital “die letzten Ziele der Nation, weil der Weizen dort wie hier riecht, auch ebenso schmeckt und nur im Preis differiert56). Marx ist weit davon entfernt, aus der universalen Materialität, die er erkannt zu haben glaubt, den Schluss zu ziehen, dass dieser Zustand aufgehoben werden muss, und zwar durch seinen Gegensatz, die universale Idealität. Er erkennt ihn vielmehr an, er wird sein Prophet. Indem er bemüht ist, ihn überall nachzuweisen und ihn sogar als Prinzip der Geschichte aufzustellen, depraviert er als einer der tödlichsten Volks - feinde die letzte Kraftquelle der Moralität, die Armut, das pro - letarische Volk.
Die für Marx charakteristische Geringschätzung der kulturellen und sittlichen Unterschiede zwischen den Völ - kern stellt sich nicht zufällig gerade im System eines Deutschjuden dar. Hervor ging die marxistische Internatio - nale aus der Desperation eines deutschen Patrioten, der sein Volk weder wirtschaftlich noch moralisch auf der192 Höhe des übrigen Europa sah und bei einer General - gleichmacherei alles zu gewinnen, nichts aber zu verlieren hatte57). Das Desinteressement aber am nationalen moralischen Wettstreit, der Anationalismus des Juden, ist doppelt schlimm für uns Deutsche, die wir der nationalen und menschlichen Emanzipation nie allzuviel Kräfte gewidmet haben58).
Die grosse christliche Bewegung, die auf das Auftreten Napoleons folgte, verkannte Marx völlig. Er zerlegte haar - scharf die materielle Situation des Fabrikarbeiters, aber er verweigerte ihm ein seelisches Residuum und die Kraft, sich gegen die Entwertung seiner Persönlichkeit im autori - tären Staat zu behaupten. Zum Vorteil des Staates und Unternehmertums zerstörte er mit vollem Bewusstsein den Freiheitsgedanken. Indem er nur Quantum und Masse be - dachte, führte er denselben nihilistischen, auflösenden Geist in das Proletariat ein, der die Finanz beherrschte, revoltierte er zwar die Wissenschaften, nicht aber die Personen. Seine unduldsame Haltung gegen allen Individualismus, der in der Arbeiterbewegung sich geltend machte, musste not - wendig den Enthusiasmus verwirren und furchtbar werden, wenn der Einzelne erst begann, seine menschliche Mission über der Interessenpolitik zu vergessen.
Es hat an Warnungen vor dieser „ Philosophie “diktatur - lüsterner Notdurft nicht gefehlt. Um so mehr, da sie nicht nur auf den moralischen, sondern auch auf den politischen Idealismus verzichtete. Im Frühjahr 1868, zur selben Zeit, da Marxens „ Kapital “erschien und die „ Internationale “ihre ersten Kongresse abhielt, schrieb Michael Bakunin in einem Briefe an Chassins „ Démocratie européenne “in Paris: „ Ich bedaure gleich Ihnen die Verblendung jener hoffen wir an Zahl nicht allzu beträchtlichen Arbeiterpartei in Europa, die sich einbildet, dass sie ihren materiellen Inter - essen desto besser dient, je mehr sie sich in den politischen Fragen ihres Landes jeder Intervention enthält, und die glaubt, sie werde ökonomische Gleichheit und Gerechtig -193 keit auf einem anderen Wege als auf dem der Freiheit er - langen können. Die Gleichheit ohne die Freiheit ist eine heillose Fiktion, geschaffen von Betrügern, um Dummköpfe zu täuschen. Die Gleichheit ohne die Freiheit bedeutet den Staatsdespotismus. Unser aller grosser Lehrer Proudhon sagte in seinem schönen Buche von der „ Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche “, die unglückseligste Kombination, die kommen könne, sei die, dass der Sozia - lismus sich mit dem Absolutismus verbände; die Bestrebun - gen des Volkes nach ökonomischer Emanzipation und ma - teriellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration aller politischen und sozialen Gewalten im Staat. Mag uns die Zukunft schützen vor der Gunst des Despotismus; aber bewahre sie uns vor den unseligen Konsequenzen und Ver - dummungen des doktrinären oder Staatssozialismus. Seien wir Sozialisten, aber werden wir nie Herdenvölker .... Suchen wir die Gerechtigkeit, jede politische, ökonomische und soziale Gerechtigkeit auf keinem andern Wege als auf dem der Freiheit. Es kann nichts Lebendiges und Mensch - liches gedeihen ausserhalb der Freiheit, und ein Sozialismus, der sie aus seiner Mitte verstiesse oder sie nicht als ein - ziges schöpferisches Prinzip und als Basis annähme, würde uns geradenwegs in die Sklaverei und die Bestialität führen “59).
Wie stand Marx zur politischen Freiheit? Wie stand die Sache der Juden im „ christlich-germanischen “Staat? Hören wir Mehring, einen der berufensten Kenner: „ Der christlich-germanische Staat misshandelte, unterdrückte, ver - folgte die Juden, während er sie zugleich duldete, begün - stigte, ja liebkoste. Im 18. Jahrhundert hatte der alte Fritz (Friedrich II. ) die Juden vollständig rechtlos gemacht, ihnen aber zugleich einen weitreichenden Schutz gewährt, haupt - sächlich deshalb, um ‚ Handel, Commerce, Manufakturen, Fabriquen‘ zu fördern. Der philosophische König gab den Geldjuden, die ihm bei seinen Münzfälschungen und sonsti -13194gen zweifelhaften Finanzoperationen halfen, die Freiheit von christlichen Bankiers “. „ In den vierziger Jahren des vorigen (19.) Jahrhunderts verfolgte Friedrich Wilhelm IV. die Juden mit allen möglichen Scherereien, aber das jüdische Kapital wurde deshalb nicht weniger durch die ökonomische Ent - wicklung gefördert. Es begann sich die herrschenden Klassen zu unterwerfen und schwang seine Geissel über die be - herrschten Massen, über das Proletariat als Industrie -, und weit mehr noch über die grosse Masse der kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen Klassen als Wucherkapital. “60).
Gegen die jüdische Idee, als die „ Religion des selbstischen Interesses “, war Feuerbach aufgetreten. Gegen das unter königlichem Schutze stehende „ jüdische Kapital “versprach Marx in seinem Aufsatze „ Zur Judenfrage “die Feder zu führen. Aber das war eine prekäre Sache. Man musste den königlichen Schutz und das Kapital zugleich angreifen, wenn man gegen das letztere etwas ausrichten wollte. Gegen den „ Philisterstaat “Front machen, hiess nur das Problem divergieren, und vom „ christlich “- germanischen Staat sprechen, hiess ebenfalls nur den Blick von der viel wesentlicheren jüdisch-germanischen Staatsidee ablenken, die immer bewusster die Grundlage des Preussentums bildete. Marx, der missglückte Professor, entschloss sich, den privi - legierten Besitz anzugreifen, es beim königlichen Schutze aber bewenden zu lassen.
Für seine Ansicht über das Verhältnis vom Gelde zum Souverän ist eine Stelle in seiner Kritik der Proudhon'schen „ Philosophie des Elends “bezeichnend. Nach Proudhon waren Gold und Silber zu Geld geworden durch die sou - veräne Weihe, die ihnen das Siegel des Monarchen auf - drückte. Proudhons System war anarchisch. Die Abschaffung des Geldes bedeutete für ihn zugleich die Abschaffung der Monarchie und des Staates. Marx dagegen betonte: „ Man muss jeder historischen Kenntnis bar sein, um nicht zu wissen, dass die Souveräne sich zu allen Zeiten den wirt -195 schaftlichen Verhältnissen fügen mussten, aber ihnen nie - mals das Gesetz diktiert haben. Sowohl die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Vorsehung. (!) Das Recht ist nur die offizielle Anerkennung der Tatsache “61).
In diesen Sätzen findet sich nicht nur der Marx'sche Superlativismus, der die Resultate gerade der französischen Wirtschaftskritik übertreibt, es findet sich bereits auch die völlige Verkennung der preussischen Dynastie, die sich gerade seit Friedrich II. entschlossen hatte, selber die Vorsehung zu spielen und ihre lieben Geldjuden dazu heranzuziehen. Und es findet sich darin die später bei Marx und den Marxisten immer wiederkehrende Geneigtheit, die Monarchie trotz ihrer ungeheuren theologischen und militärischen Stützen als eine passagere, vom Kapital abhängige Erscheinung dar - zustellen, während man zu bemerken unterlässt, erstens dass der Monarch in gewissen Staaten der grösste Grundbesitzer und Kapitalist ist, zweitens dass infolgedessen die Finanz das grösste Interesse an der Aufrechterhaltung der Dynastie besitzt, wofür drittens die Dynastie mit allen ihr zu Gebote stehenden Machtmitteln und Repräsentationstiteln die kapi - talistische Ausbeutung fördert. Die einseitige Bekämpfung des Industriekapitals durch einen gegen die agrarische Junker - dynastie nachsichtigen Juden konnte von Bismarck sogar als eine besondere Demuts - und Ergebenheitsgeste aufgefasst werden, und wenn Marx auch die Mitarbeit am amtlichen Staatsanzeiger ablehnte, — der Antrag wurde ihm gestellt62) — so ist doch durch eine Publikation des preussischen Pressechefs Otto Hammann bekannt geworden, dass die preussisch-deutsche Regierung bereits unter Caprivi die marxistische Opposition gegen die Industriekonzerne ganz bewusst gewähren liess, ja dass gerade einer der Gründe für Bismarcks Entlassung sein kurzsichtiger Terror gegen - über der Sozialdemokratie war. 63)
Marxens Kampf geht um die jüdische Aktionsfreiheit196 in der proletarischen Gesellschaft; nach Beseitigung der beiden stärksten Hindernisse, der „ bürgerlichen “Ideologie (alias Moral) und der staatlich geschützten Religion (alias Christentum). Wozu aber den Staat selbst bekämpfen, der in Deutschland wie nirgends sonst eine Zwangsmacht dar - stellt? Wozu auch nur die Monarchie angreifen, die vor - erst den Juden schützt, später aber von selbst verschwindet? Ist sie doch nur eine zufällige Verwaltungsform! Trägt sie doch dazu bei, die Masse gefügig zu machen, sie zum willigen Instrument abzurichten, dem jede Autorität, auch die eines Gelehrten, gebieten kann, wenn er versteht, mit dem Anschein profundester Rebellion die Geste des Men - schenfreundes zu verbinden!
Marx bekämpfte das Kapital, aber innerhalb einer ge - schonten Monarchie, deren Willkürregiment ihn trotz eines Korrespondenten wie Lassalle nicht weiter beunruhigt. 64)Ja, er sympathisiert mit den offiziellen Erfolgen des Junker - staates. Beförderten sie doch den Zentralismus, den Marx für seine Verelendungstheorie braucht, trugen sie doch dazu bei, das Schwergewicht der Arbeiterbewegung allmählich nach Deutschland zu verlegen. Und darin konspirierte er mit Lassalle, der ja ebenfalls vom preussischen Geiste sich allerhand Nutzen für die Organisation der „ revolutionären “Arbeitermassen versprach. Als aber die Revolution nicht hielt, was sie erst versprochen hatte — erlebte man nicht, dass Hermann Cohen 1915 in seiner zitierten Schrift gerade die Staatstreue der Marx und Lassalle der antisemitischen Auto - kratie in Rechnung stellte?
Es ist interessant genug, die historische Entwicklung des politischen Marxismus zu verfolgen. Im „ kommunisti - schen Manifest “von 1847 kämpft „ die kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt “, noch „ gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Mo - narchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei “65). 1848 aber, als es Ernst wird mit der deutschen Revolution,197 wenden sich Marx und Engels nicht nach Berlin, sondern bleiben, literarisch beschäftigt, in dem weniger gefährlichen Köln, dekretieren gegen die „ Revolutionsspielerei “Herweghs in Baden und spinnen Intrigen gegen den „ Panslavismus “desselben Bakunin, der als erster Europäer in Prag die Auflösung Preussens, Oesterreichs und der Türkei verlangt66).
Jener Passus im „ Kommunistischen Manifest “scheint eine Konzession Marxens an energische demokratische Strö - mungen innerhalb der Emigrantenbewegung gewesen zu sein. Denn 1843, bei der Lektüre von Weitlings „ Garan - tien “nimmt er bereits jene Scheidung vor, die Bakunin in seinem oben zitierten Briefe an Chassin als Ausflucht vor der politischen Intervention bekämpft: „ dass Deutschland einen ebenso klassischen Beruf zur sozialen Revolution habe, wie es zur politischen unfähig sei “; und 1847 in der Pole - mik mit Proudhon leugnete er die selbständige Macht der Souveräne, die doch gerade damals in Preussen infolge einer zielbewussten Hauspolitik und eines Bündnisses mit den schlimmsten romantischen Mächten der Reaktion schrullen - hafter und selbstbewusster dekretierte als irgendwo sonst67).
Unter dem nachhaltigen Eindruck der Ereignisse von 1849 rückt Marx noch entschiedener von der „ politischen Intervention “ab. Warum wohl? Sanktioniert denn die Aussichtslosigkeit einer Sache den Verzicht auf die notwen - dige Stellungnahme? Wenn es auch richtig ist, dass, um mit Marx zu reden, eine politische Revolution ohne die soziale „ die Pfeiler des Hauses stehen lässt “, so ist es doch ebenso richtig, dass eine soziale Revolution ohne die poli - tische — wenigstens solange sich die Dinge in der Theorie aufhalten —, die Rechnung ohne den Wirt macht. Beide aber sind wertlos, ja unmöglich ohne die moralische Revolution, und von der wollte Marx freilich nichts hören.
„ Das Resultat der Bewegungen von 1848 / 49 “, schreibt Brupbacher, „ war, dass Marx nach dieser Zeit im schroffen Gegensatz zu Bakunin durchaus nicht mehr an die Mög -198 lichkeit einer nahen Revolution glaubte “68). Um so mehr musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg - fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono - mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich zutage tretende Einheits - und Zentralisationsbewegung auf ihre Gefahren hin zu analysieren.
Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen das christliche Hilfsideal. „ Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von uns das Wort Proletariat! “ Marx wollte sich damit gegen die „ Phrase der Revolution “gewandt haben, gegen die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü - derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der „ Bourgeoissozialisten “‚ gehoben‘ werden sollte. Er war also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro - letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich - bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte. Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende Gesellschaft ausspielen — ist das aber nicht schon eine Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus Vertiefung der Menschlichkeit? Die Diktatur des Proletariats199 aufstellen, hiess auf die Emanzipation verzichten, zu Gewalt - methoden greifen und die Grundlagen der Gesellschaft zerstören. Wir haben die Lehre des Bolschewikentums. Die Eroberung der politischen Macht vorschlagen (Eroberung also eines verbrauchten politischen Systems), hiess auf die eigentümlichsten moralischen Kräfte der Masse ver - zichten, ja sie der Korruption ausliefern, und dieser pseudo - rebellische Widerspruch in Marxens politischem Programm, das gleichwohl mit aller Arroganz der Unfehlbarkeit auf - trat, war es, was die grossen Vorzüge seiner ökonomischen Kritik aufwog und ihn ganz wie Lassalle in eifersüchtigerem Wettstreit mit den Vertretern der offiziellen Politik, als mit den grossen Emanzipatoren der Menschheit erscheinen liess69).
Gegen den „ Bonapartismus “zur Rechten, gegen den „ Zarismus “zur Linken hatte Marx die Donnerkeile des Jupiter. Für den in der Maienblüte seiner Abscheulichkeit stehenden Bismarckianismus aber nur eitel Nachsicht und Naivität. Engels an Marx, 11. September 1868: „ Da Du Beziehungen zu Vermorel hast, könntest Du nicht dafür sorgen, dass er nicht solche Dummheiten über Deutsch - land schreibt? Er versteift sich darauf, zu verlangen, dass Napoleon III. sich liberalisiert, bürgerlich liberalisiert, und dann Deutschland den Krieg erklärt, um es von der Ty - rannei Bismarcks zu befreien! Diese Kröten etc. etc. “70). Und Marx an Engels, 20. Juli 1870, als dann, von Bis - marck provoziert, der Krieg ausbrach: „ Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preussen, so wird die Zen - tralisation der Staatsgewalt nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Uebergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiter - bewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen (!), und man hat bloss die Bewegung von 1866 bis jetzt in den beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, dass die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der200 französischen überlegen ist. Ihr Uebergewicht auf dem Welttheater (!) wäre zugleich das Uebergewicht unserer Theorie über die Proudhons “71). Eine seltsame Logik und Argumentation: preussische Siege bringen das „ Ueberge - wicht “über die Theorie Proudhons! Unterscheidet sich diese Ansicht von der Lassalles, dass durch das Schwert zuletzt alles Herrliche vollendet wird?
Brupbacher leitet Marxens geringe Wertung des Frei - heitsbegriffes aus der „ Besitznahme von Marx durch Hegel “ab. „ Marx wird durch Hegel zum Propheten der Idee der historischen Notwendigkeit für die Vergangenheit, aber auch für die Zukunft. Er wird Mitwisser der Gesetze des Welt - geistes und erhält das harte rücksichtslose Selbstbewusstsein der Wissenden gegenüber den Unwissenden. Er wird wie Engels die Schweizer, die für ihre Freiheit kämpfen, Re - aktionäre schelten, weil die Weltgeschichte Zentralisation verlangt und sie für Föderalismus und Freiheit eintreten. Er hat nicht das Bewusstsein, ein Autoritär zu sein, aber er weiss, die Weltgeschichte ist autoritär, und er ist ihr Diener auf Erden “72). Das heisst idealistische Erklärungen finden für sehr materielle Beweggründe. Es ging um die Macht, und Marx wusste das Proletariat tüchtig zu hand - haben.
Ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wo der Weltgeist mit Preussen denn eigentlich hinwollte und ob der Weltgeist nicht samt Preussen zum Teufel unterwegs sei, trat Marx bereits 1852 gegen Bonaparte auf. Und die zweite Auflage seiner Schrift „ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte “erschien just 1869, als der deutsch - französische Krieg vor der Türe stand! Statt den österreichisch - preussischen Rivalitätsstreit um die deutsche Kaiserkrone seiner hohen Aufmerksamkeit zu würdigen, wandte er sich 1866 in seinem Pamphlet „ Herr Vogt “wiederholt mit den heftigsten Ausfällen gegen die „ verrottete bonapartistische Wirtschaft “. Statt die Thronbesteigung Wilhelm I., die Heeres -201 reform und die Blut - und Eisenpolitik derer von Roon und Bismarck mit einem Gedenkblatt zu versehen, enthalten die Statuten der „ Internationale “(1864) in aller Allgemein - heit nur den hinterhältigen Paragraphen, dass die politische Aktion der ökonomischen als Mittel unterzuordnen sei73). Die Erstausgabe des „ Kapital “(1867) enthält noch den später verschwundenen Passus: „ Wenn in Europa die Ent - wicklung des kapitalistischen Einflusses gleichen Schritt hält mit dem wachsenden Militarismus, den Staatsschulden und Steuern etc., möchte die vom Halbrussen und ganzen Moskowiter Herzen so ernst prophezeite Verjüngung Europas durch die Knute und obligate Infusion mit Kalmückenblut schliesslich doch unvermeidlich werden “74). 1868 aber, als die Luxemburger Streitfrage mit dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich drohte, erscheint auf dem Berner Kongress der „ Friedens - und Freiheitsliga “mit Marx'schen Instruktionen der Deutschjude Borkheim, um gegen die „ Friedensagitation “zu sprechen, die nur aus - gespielt werde gegen eine „ Einzelregierung Zentral - und Westeuropas “(also Deutschland) und in deren Hintergrund Russland, der „ erklärte Feind der ökonomischen Entwick - lung “stehe75).
Wer sich einen Begriff davon machen will, mit welchen Mitteln Marx gegen den „ Panslavismus “auftrat, ohne den Pangermanismus mit einem Wort zu erwähnen, der lese zwei Schriften Bakunins „ Aux citoyens rédacteurs du Réveil “(1869) und in „ L'Empire knoutogermanique “von 1870 / 71 den Abschnitt „ L'alliance russe et la russophobie des Alle - mands “. Es ist kein Zufall, dass beide Schriften um die Zeit des deutsch-französischen Krieges erschienen. Sie enthüllen restlos nicht nur den mit der Bismarckpolitik konspirierenden Charakter der Marx'schen Aktion und eine der unerhörtesten Verleumdungskampagnen; sie beweisen auch, dass Marxens Panslavistenhetze, in die alle deutschen und deutsch-jüdischen Sozialisten seiner Zeit einstimmten, schon damals als das202 erkannt wurde, was sie war, ein Versuch deutscher Patrioten, die Aufmerksamkeit von dem in Aussicht stehenden pan - germanischen Kaiserreich auf das „ die westliche Kultur bedrohende “Russland abzulenken76).
Wie sehr Bakunin Recht behielt, als er schon 1871 das neue deutsche Reich als eine grössere Gefahr für die Zivilisation empfand als das zaristische Russland, hat die russische Revolution von 1917 erwiesen, und es ist nicht nur sehr zu bedauern, sondern es kennzeichnet die Wut und Nachhaltigkeit der marxistischen Intrige, dass die für die Beurteilung Marxens wichtigsten Schriften Bakunins noch 1918 ins Deutsche nicht übersetzt sind. Etwas mehr Kenntnis dieser Dinge hätte vielleicht 1914 in Deutsch - land und 1915 / 1916 auf den Konferenzen von Zimmer - wald und Kienthal dazu beigetragen, die Stellungnahme zu erleichtern.
Man kann bei den Geschichtsschreibern der deutschen Sozialdemokratie immer wieder in der gehässigsten Varia - tion die dunkle Nachricht vernehmen, dass ein gewisser Utopist Bakunin die erste (deutsche) Internationale gesprengt habe. Warum er diese Frivolität beging, vernimmt man nicht. So soll es hier mit klaren und unzweideutigen Worten stehen: weil er sie als ein Propagandainstitut für die Bismarck'schen Pläne empfand, wie wir heute die Reste der zweiten (sozialdemokratischen) Internationale, die marxistische Zimmerwald-Kienthal-Gründung, als ein Pro - pagandainstrument Ludendorffs bekämpfen und die Beweise in den Friedensverträgen von Brest-Litowsk vorzeigen77). Die Marx'sche Doktrin vom abstrakten internationalen Ka - pital, gegen das in erster Linie revoltiert werden müsse, und das überall, ja in England und Amerika despotischer als sonstwo, die Herrschaft führe, enthüllt sich als die Aus - flucht eines patriotischen Juden, der über die mit kontinen - talen Ansprüchen auftretende Militärautokratie seines Landes hinwegtäuschen wollte; hinwegtäuschen wollte über die203 Tatsache, dass der Sitz der Weltseele, Berlin, seit 1871 Sitz der Weltreaktion geworden war78).
Vielleicht schlägt einmal die Stunde der allgemeinen Völkerverbrüderung. Dann hat den deutschen Gedanken die Arbeit aller Generationen Europas genährt. Solange aber ist die Exaltierung der wichtigsten Idee Europas und der Welt, der Freiheit, nicht möglich, als in einem Volk von der Grösse des deutschen, die primitivsten Voraus - setzungen dafür fehlen. Die Zeit theoretischer Versprechungen ist vorbei. Die ganze Welt wartet auf uns. Werfen wir die Gewaltmethoden und die Sophistik ab, und die neue In - ternationale ist gegründet. Die marxistische Pseudologie hat Russland ins Verderben gestürzt und den Despotismus stärker gemacht als je. Sie versucht heute Revolutionen in Frankreich und Italien zu provozieren, um im eigenen Lande den Militärgeist zu retten; denn Bevormundung, „ Ordnung und Sicherheit “erscheinen dem deutschen Phi - lister und auch Proleten bequemer und weniger schrecklich als Rebellion. Unsere historische Schuld ist zu gross. Bekennen wir es! Gestehen wir's zu! Wir werden nicht eher Versöhnung finden, als bis wir in weissen Fahnen die Freiheit tragen.
Die Bedeutung des preussischen Junkertums und sein detestabler Einfluss auf die deutsche Politik konnten nur deshalb im Auslande unterschätzt werden und 1914 über - raschen, weil man im deutschen Parteileben in den wenigen Jahrzehnten seines Bestehens zu wenig politische Schule und zu viele patriotische Hemmungen hatte.
Ueber kein Thema ist in Deutschland so wenig ge - schrieben worden, wie über den deutschen Adel. Und wenn schon geschrieben wurde, so mit einer himmelschreienden Harmlosigkeit, mit einer jeder Nerven - und Phantasiekraft204 baren Devotion; ohne allen Blick für den volksfeindlichen Cha - rakter seiner Ränke, für die Gefährlichkeit seiner erheuchelten oder verschimmelten nationalen Beteuerungen; ohne die leiseste Skepsis seiner Gedankenarmut und säbelsicheren Staatsräson gegenüber. Ganz und gar aber ohne jene bis zum Exzess gehende Eindringlichkeit, die dem Gegen - stand angemessen gewesen wäre und die von unserer, der Rebellen Seite, auch der ausserdeutschen Mitwelt Neues sagen konnte.
Wer kennt im Auslande Franz Mehrings „ Lessinglegende “, in der sich das fridrizianische Junkertum und die ver - tuschende Zuhaltetaktik deutscher Universitätsprofessoren in die Geisselhiebe eines überlegenen Gelehrten teilen? Wer glaubte bei uns zu hause auch nur an die Möglichkeit ehrlicher Entrüstung und den Fanatismus, der Hermann Roesemeiers krass plakatierende Junkerskizzen mit grimmiger Ironie erfüllt? Und ist es nicht ebenso traurig wie wahr, dass bis zum Erscheinen von Hermann Fernaus Ostelbier - buch „ Das Königtum ist der Krieg “, das einen ungeschminkten Abriss der preussischen Verfassungsgeschichte und des Junkertums enthält, Mehrings Pamphlet gar vereinsamt blieb?
Das ist nur für denjenigen überraschend, der die Ge - schichte der deutschen Zensur und die Tradition der deutschen Staatsidee nicht kennt; der die Herabstimmung der freiheitlichen Forderungen durch ein rückständiges Par - lament und die überwältigende Bestechlichkeit physikalischer Kraftleistungen für deutsche Gemüter ausser acht lässt. Mit einer Naivität und Hingabe, wovon noch 1917 Herr Walter Rathenau verzeichnen konnte, dass man „ bis an die äusserste Grenze der Kraft jede geforderte Leistung her - gibt “, hat das Volk seinen Fürsten gedient. „ Pflichtbewusst - sein ist nicht der Ausdruck dieses Verhältnisses, noch weniger ist es blinder Gehorsam, weil freie Neigung mit - spielt, am nächsten ist es kindlicher Folgsamkeit verwandt “79). 205Bezeichnend für solche Gesinnung ist, dass man während des Krieges jegliche Warnungsstimme im Lande wider - standslos ersticken oder verdächtigen durfte; bezeichnend, dass man ohne nennenswerte Empörung im Reichstag nicht nur Liebknecht und Dittmann verurteilen, Muehlon und Lichnowsky für geisteskrank erklären konnte, sondern auch den 70 jährigen Mehring in Schutzhaft nahm.
Die Reden und Schriften dieser ausgezeichneten Männer sind weiten Kreisen bekannt. Gleichwohl möchte ich mir nicht versagen, Adel und Junkertum auch in ihrem ideellen Zu - sammenhang etwas näher zu beschreiben. Ihre drei Haupteigenschaften sind:
1. Die Verkrampfung in die theokratische Ideologie des deut - schen Mittelalters, die sie als Sachwalter der heiligsten nationalen Ueberzeugungen gegen befremdliche internationale Strömun - gen (Sozialismus, Pazifismus und Judentum) erscheinen lässt80).
2. Die aristokratisch-sporthafte Auffassung des Soldaten - tums, worin sie sich seit dem fridrizianischen Zeitalter dem um Hab und Gut besorgten Zivilisten und der soge - nannten Nützlichkeitsmoral überlegen fühlten; ihr Idealismus und Heroismus sozusagen, eine bäurisch dandyhafte Phi - losophie von der Nichtsnutzigkeit des Privatmanns und der Wertlosigkeit des Lebens, der in der Politik ein ebenso dreister wie grober Macchiavellismus entspricht81).
3. Ein skrupelloser Zynismus, der nicht nur weite Kreise der bürgerlichen Intelligenz, sondern auch des werktätigen Volkes zu verführen wusste; der sich trotz Ludwig XIV. und der französischen Revolution, trotz 1830 und 1848 gegen Christlichkeit und Aufklärung, gegen Humanität und Menschenrechte so wohl zu behaupten wusste, dass man heute fast sagen kann, diese Begriffe seien dem Bewusst - sein der Nation entschwunden.
„ Es soll schwer sein “, sagt Mehring, „ in der ganzen Weltgeschichte eine Klasse aufzufinden, die durch so lange Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwenglich206 reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert “82). Das ist der Ausgangspunkt.
Den zum Jenseits gewandten phantastischen österrei - chischen Kaisern zur Zeit der Reformation gelang es nicht, diesen Adel zu bändigen. In Frankreich führte die Unter - werfung der Provinzialfürsten zu jenem Hofadel, der die Blüte der französischen Literatur schuf. In England passte sich der die Revolution überlebende Adel den Interessen des Volkes an. Ja, im russischen Dekabristenaufstand ver - schwor sich der Adel sogar im Sinne der Volksemanzipa - tion und gegen seine eigenen Privilegien wider den Zaren. In Deutschland aber? „ Deutschland wimmelt von Fürsten “, schrieb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Kenner der deutschen Höfe, Graf Manteuffel, „ von denen drei Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die Schmach und Geissel der Menschheit sind. So klein ihre Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist und ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben, sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren, in - dem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist, ein Vernunftswesen zu heissen “83). Die Intelligenz aber — sympathisierte oder fluchte sie? Von Luther bis Rathenau trugen die hervorragendsten Geister zur Stärkung dieses Adels bei, indem sie sich begnügten mit der „ intelligiblen Freiheit “, die, ob sie Musik, Transzendenz, innere Civitas Dei oder „ Freiheit eines Christenmenschen “hiess, auf ein freiwilliges oder notgedrungenes Abdanken hinauslief und sogar auf eine verstockte, servile, zwinkernde Konspiration wider die Weltmoral.
207Ueberall waren die Vorrechte des Adels mit dem Auf - kommen des Bürgertums beschnitten worden, nur, dank Luther, in Deutschland und Preussen nicht. Die Bauern - kriege versanken im Blutbad. Drei weitere Revolutionen gingen spurlos vorüber. Der preussische Junker, der ver - wegenste von allen, sass und sitzt noch heute auf seinem Dominium wie ein König, mit dem Bewusstsein, sein Stammbaum ist ebenso alt, wenn nicht älter als der seines Dienstherrn. Die alten Begriffe von Lehensherrschaft und Vasallentum blieben bestehen. Die alten augsburgischen Begriffe von gottgewollter Abhängigkeit leben noch heute. In dem skurrilen Verhältnis Bismarcks zu Wilhelm I. genossen noch unsere Väter ein Beispiel davon. Bismarck: „ Er kann nicht lügen, ohne dass man es merkt “. Der König: „ Mein grösstes Glück, mit Ihnen zu leben “. Der Vasall beherrscht seinen Fürsten, setzt ihm zu, fasst ihn beim Porte-épée, macht ihn schamrot in einer Unterhaltung über Pietismus. Der König, eingeschüchtert, ist ihm verfallen wie die Taube dem Habicht. „ Warum “, fragt der Junker, „ wenn es nicht Gottes Gebot ist, soll ich mich sonst diesen Hohenzollern unterordnen? Es ist eine schwäbische Familie und nicht besser als die meine “84). Als 1848 die Truppen unter den Steinwürfen der Menge auf Königs Befehl zurückgehen müssen ohne zu feuern, rät er den Generalen ganz offen zur Insurrektion. Kadavergehorsam kennt er nicht. Oberster Kriegsherr? Zum Lachen! Nur vor der Kanaille gilt es Dekorum zu wahren.
In Preussen zeigt das Naturburschentum der Junker die rührigste Farbe. Mit einem „ üppig wuchernden, zahl - reichen, scheusslichen Krautjunkergeschlecht “balgt sich der Grosse Kurfürst um die Kontribution für sein stehendes Heer85). Die Junker sind pfiffig. Der Bauer muss schliesslich die Lasten tragen. Friedrich Wilhelm I., Be - gründer der preussischen Hausmacht, dekretiert im Jahre 1717, dass „ die Junkers ihre Autorität wird ruinieret wer -208 den. Ich aber stabiliere die souveräineté wie einen rocher von bronce “. Doch schon Friedrich II. sieht sich gezwungen, mit den Junkern zu paktieren, „ sintemalen des Edelmanns Söhne das Land defendieren und die Rasse davon so gut ist, dass sie auf alle Art meritieret, conservieret zu wer - den “86). Friedrich Wilhelm I. ging ärgerlich prügelnd mit dem Stock durch Berlin, wenn er nach dem Rechten sah, und noch Friedrich II. lässt seine Journalisten ausprügeln. In deutschen Geschichtsbüchern findet man das schnurrig genug, als vergilbte Historie, aber noch 1918 erlebte man den Prozess gegen den mecklenburgischen Junker von Oertzen zu Roggow, der einen Schnitter sich entkleiden liess, ihn an einen Baum schnürte und ihm 50 Hiebe mit der Reitpeitsche auf den nackten Körper zeichnete.
Es ist wohl ohne weiteres klar, dass in dem völlig verrohten Knuten - und Schinderstaate Preussen von milderen Regungen schwerlich die Rede sein konnte. Was die viel - gerühmte Toleranz unter Friedrich II. betrifft, so hat Lessing ihr ein Denkmal gesetzt, das gerade heute wieder eine gewisse Aktualität erlangt hat. In einem Brief an Nicolai vom August 1769 schreibt er: „ Sagen Sie mir von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion (siehe Marx und Nietzsche) so viele Sottisen zu Markt zu bringen, als man will; und dieser Freiheit muss sich der rechtliche Mann nun bald zu bedienen schämen. Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben ..., dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen ..., lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte ... und Sie werden bald die Er - fahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist “87). Man vergleiche auch die Auszüge aus den Briefen Winkelmanns, die Mehring209 mitteilt und aus denen die tiefste Verzweiflung eines preus - sischen Untertanen Friedrich II. spricht.
Nach der Niederlage von Jena und Auerstädt (1806) ist das preussische Junkertum gezwungen, sich bürgerliche Heeresreformen gefallen zu lassen. Scharnhorst und Gnei - senau als Revolutionäre, weil sie die „ Junkerstellen “im preussischen Heer abschaffen und die „ Freiheit des Rückens “, das heisst die Abschaffung der Prügelstrafen, erwirken! Im Handumdrehen aber erzwingt die junkerliche Fronde die Entlassung zweier reformlerischer Freiherren, des von Stein und des von Hardenberg, dieweil der eine eine Art „ preus - sischen Volksstaats “, der andere versöhnlicher, eine „ Revolu - tion im guten Sinne “verlangte. Die Reformen ermöglichen es gerade, dass unter Preussens Führung die „ Befreiungs - kriege “unternommen werden können, und diese verhelfen der Reaktion wieder zur Herrschaft88).
Die Philosophie aber, die grosse Führer - und Verführerin zu Freiheit und Volkswohl, die Schutzheilige und Madonna der Menschheit gegen die Attentate der Usurpatoren, diese unsere Jeanne d'Arc der Erlösung vom Dunkel und allen Verbrechen wider die Sozietät — wo blieb sie? „ In einer weltgeschichtlichen Komödie “, schreibt Mehring, „ hatte der preussische Korporalstock die deutsche Philosophie in immer höhere Höhen getrieben, bis er, was eine ge - witterschwangere Wolke war, für ein harmloses Kamel oder Wiesel ansah “89).
Die romantisch-teutschen Ideen verbanden sich mit dem Protestantismus, die Reichsherrlichkeit des feudalen Mittel - alters mit der protestantischen Prätention einer Ablösung der päpstlichen Autokratie durch das preussische Summe - piskopat. In Hegels Philosophie wurde System, was unter Friedrich Wilhelm IV. Philisterideal war: der exaltierte, vertiefte, der kirchlich begründete Absolutismus. „ Es drängt mich “, erklärte der König im April 1847 bei Eröffnung des vereinigten Landtags, „ zu der feierlichen Erklärung: Dass14210es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu be - wegen, das natürliche, gerade bei uns durch eine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konventionell-konstitutionelles zu wandeln, und dass ich es nun und nimmermehr zugeben werde, dass sich zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren “90). Es war am Vorabend der Revolution. Dem von englisch - französischen Revolutionsideen gestärkten Bürgertum riss die Geduld. Am 18. März 1848 war der patentierte Stell - vertreter Gottes gezwungen, zu dekretieren: „ Der König will, dass Pressfreiheit herrsche; der König will, dass der Landtag sofort berufen werde; der König will, dass eine Konstitution auf der freisinnigsten Grundlage alle deutschen Lande umfasse etc. etc. “
Die Nation liess sich düpieren. Sie redete und schwatzte, räsonnierte und zankte, aber sie handelte nicht. Sie war über ihren eigenen Erfolg so verblüfft, wie die Junker ver - blüfft waren über das sonderbare Schicksal ihres bislang so absoluten Königs. Die Parallele zur heutigen Situation liegt erschreckend nah. Am 27. April 1849 bereits hatte sich das Junkertum von seinem Schreck wieder erholt. Die preussische Regierung jagte die zweite Kammer auseinander. Am 28. April lud sie diejenigen Regierungen, die mit ihr die „ deutsche Einheit gründen wollten “, zu gemeinsamen Konferenzen nach Berlin ein, versicherte, dass für unvorher - gesehene Fälle alles Nötige bereit sei, und bot sich für etwaige Bedürfnisse in „ gefährlichen Krisen “sogar nach auswärts an. Die Hofkamarilla schien zwar beseitigt. Aber Wilhelm I. richtete als „ leidenschaftlicher Soldat “alsbald sein berühmtes Militärkabinett ein. Leiter dieses Kabinetts wurde von Manteuffel, Kriegsminister der junkerliche Hetzer von Roon, und der letztere erklärte gleich bei seiner Be - rufung, dass er „ von der ganzen konstitutionellen Wirt -211 schaft nie etwas gehalten habe “. Militärkabinett und Kriegs - ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den Junker Otto von Bismarck.
Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm, indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr - hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re - formation den „ zweiten Einbruch der Barbaren “in die lateinischen Sitten91). Und in der Tat: die Freude an der geglückten Zerstörung — die sogenannte Schadenfreude — und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und des Menschheitsgewissens.
Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck „ von allen Deutschen den deutschesten Mann “genannt92), und wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be - weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt als Luther und Nietzsche. Er war der „ freieste “Deutsche. Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.
Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines - wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her - vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen212 sich alle. Fichte kam dem Problem am nächsten. Deutsch sein, heisst originell sein, fand er. Und da er Lutheraner war, bedeutete das, die Originalität bestehe im Bruch mit der Tradition, in jenem stets neu und von vorne Beginnen, das die Ideen verneint, statt sie auszubauen, das den Ge - danken bekämpft, kaum dass er gefunden ist. Deutsch sein, heisst quer zu der Menschheit stehen; deutsch sein, heisst alle Begriffe verwirren, umwerfen, beugen, um sich die „ Freiheit “zu wahren. Deutsch sein, heisst babylonische Türme errichten, auf denen in zehntausend Zungen der Unsinn Anspruch auf Neuheit macht; Deutsch sein, heisst renitente Systeme voller Sophistik ersinnen aus einfacher Furcht vor Wahrheit und Güte.
Mit solcher Philosophie ist man Widersacher und Sonder - ling. Mit solcher Philosophie ist man Nörgler und Volks - feind, flieht man die Realität und das Elend und Opfer, bleibt man in Konstruktionen, Verschrobenheiten; stammelt, verneint man und schwebt in der Luft. Das erklärt zur Genüge den Beifall, den Bismarck fand, als er bestimmte: deutsch sein, heisst Erfolg haben, gleichviel mit welchen Mitteln. Es war überraschend, dass einer es wagte, sozial zu sprechen, gleichviel mit welcher Gesinnung. Es war eine plausible und handliche Formel, die viel Spintisieren und fruchtloses Grübeln beendete; auf die sich heisshungrig alle die torturierten Gemütsmenschen stürzten, die gerne Geschäfte machten, dieweil es verboten war. Das Leben bekam einen Sinn, die Nation einen Sinn, Verschlagenheit wurde jetzt Recht, Gerissenheit wurde Moral. Keine Faxen mehr, seien wir praktisch! 93)
Und Bismarck hatte Erfolg, eminenten Erfolg, wenigstens für den Augenblick von einigen Jahrzehnten. Mit den ver - wegensten Mitteln „ öffnete er Deutschland die Bahn “; war er der deutscheste Mann; glückte es ihm, Alldeutschland berauscht und gefesselt der Junkerschaft auszuliefern, wie ein geschickter Detektiv sein Opfer erst ködert und dann213 überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher, heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach? Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum übrig? Was mehr als ein Jammer?
„ Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau - chen “, soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich94). Der verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts - und Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt - choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich - keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer - den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön - geisterei.
Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie - rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch? Dem Deichhauptmann war die „ Schreiberkaste “zuwider. Er fand vielmehr die delikaten Worte: „ Die Bürokratie ist krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt, sind der natürlichste Dreck von der Welt “95). Man beachte den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!
214Die Romantik Bismarcks ist von der üblichen Romantik etwas verschieden. Sie ist eine junkerliche Romantik. Von all den abenteuerlichen geistigen Exkursionen seiner Zeit, die instinktiv zurück zum Mittelalter strebte, blieb ihm allein der Machtgedanke jener frühen Kaiser, der Scharf - richterglaube an die gewaltsame Lösung von Konflikten, die Shakespearewelt voll monströser Intrige, der Glaube an Blut und Eisen als Universalmittel politischer Kuren; und so selbstbewusst er gegen die Ideologen, Träumer und Phantasten auftrat, so sehr blieb er seiner junkerlichen Kraft -, Rauf - und Zechromantik treu96). Das Raubritter - und Vasallentum, der blutige Sadismus altteutscher Lands - knechtsmetzeleien, der rostige Waffenspektakel elisabetha - nischer Trauerspiele — in Bismarck fanden sie ihren spätesten Apologeten, geschwächt durch Nervenkrisen und Weinkrämpfe, beargwöhnt von einem fadenscheinigen „ Christenglauben “, der in beständigen Konflikt geriet mit den Wirtschaftsproblemen des 19. Jahrhunderts, aber be - klatscht vom ganzen egoistischen Pseudo-Nationalismus der Lutherschule. Wo konnte jene feudal-heroische Reichsherrlich - keit des Mittelalters, die in der Rumpelkammer und auf dem habsburgischen Throne moderte, überhaupt noch einmal auf - erstehen, wenn nicht in Hinterpommern, in Preussen? Aber musste sie noch einmal auferstehen? Das ist eine andere Frage.
Der ungeduldig sich langweilende junge Herr von Bismarck, dem es bevorstand, sich „ noch einige Jahre mit der Rekruten dressierenden Fuchtelklinge zu amüsieren, dann ein Weib zu nehmen, Kinder zu zeugen, das Land zu bauen und die Seelen seiner Bauern durch planmässige Branntweinfabrikation zu untergraben “(seine eigenen Worte), leidet an „ Verwilderung und Liebesmangel “. Der „ Um - gang mit Pferden, Hunden und Landjunkern “(seine eigenen Worte) ruiniert ihn. Er ist eine Art Rimbaud ohne Paris. Zu Königs Geburtstag wird er sich „ besaufen und215 Vivat schreien “. Im ersten Rang der Oper benimmt er sich „ so flegelhaft wie möglich “97). Aber während Rimbaud seine hochbrandende Charität aus der Verkommenheit des Kontinents zu den Negern trägt und am Ende seines Lebens in Marseille nach blendenden Wirren und Abenteuern sich schluchzend zu Jesus bekennt, ist Bismarck im Sachsenwald ein Kaliban mit umgeschnalltem Schleppsäbel und doppelten Tränensäcken, dem zwei grosse Tränen betbrüderlich aus den Augen rinnen, als Dryander ihm aus der Bibel zitiert: „ Vor unseligem Grosswerden behüte uns, o Herr “98).
Der schwarze Tag von Olmütz, wo Preussen 1850 von Oesterreich eine so komplette Abfuhr erlebte, dass sich die richtigen Junker, nach Mehring, wie Katzen in Baldrian wälzten, dieser Tage lenkte den Blick seines romantischen Königs auf ihn. Bismarck, der 1848 noch die deutsche Einheit als Gefährdung der preussischen Junkerherrlichkeit verstand und als ein echter Teufel in die Menge feuern lassen wollte, wird Vertreter des gedemütigten Preussischen Hofes am wiederhergestellten Frankfurter Bundestage, und so beginnt seine Laufbahn.
Die Aera Bismarck ist typisch junkerlich. Gekenn - zeichnet in der inneren Politik durch Staatsstreiche, Massen - verbote, „ Maulkorb “gesetze und alle empörenden Gewalt - massregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden Militärdiktatur. In der äusseren Politik erst durch allererge - benstes Zukreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frich - fröhliches Schieben (die sogenannten „ dilatorischen Ver - handlungen “), dann durch Düpierungsmanöver (1866 und 1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtliche Provokation, die preussisch-deutsche Reichsgründung. In der Diplomatie ergänzen sich Anmassung, bäurischer Jesuitismus und fröm - melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen Ueberzeugung zu verdecken. Ziel ist gleichwohl die Herr - schaft über den Kontinent.
Einige Kernsprüche Bismarcks, Parade - und Gemein -216 plätze von ebenso unbewiesener wie selbstgewisser Wucht, mögen die erschreckende Geistesarmut belegen. „ Revolu - tion machen in Preussen nur die Könige “. (Zu Napoleon III., Abschiedskonferenz, 1862). Oder: „ Die einzige gesunde Grundlage eines grossen Staates ist der staatliche Egoismus, nicht die Romantik “. (Vor dem preussischen Landtag, 1853). Oder: „ Die Einflüsse und Abhängigkeiten, die das prak - tische Leben mit sich bringt, sind gottgewollte Abhängig - keiten, die man nicht ignorieren soll und kann etc. etc. “99). Als er gegen Oesterreich rüstet, hält er die „ Phrase vom Bruderkrieg “für nicht stichfest. Es gibt nur eine „ un - gemütliche Politik, Zug um Zug und bar “. Und an An - drassy schreibt er nach Abschluss des deutsch-österrei - chischen Defensivvertrages von 1879: „ Si vis pacem, para bellum. Nicht unsere guten Absichten, nur unsere ver - bündeten Streitkräfte sind die Bürgen des Friedens “100). In seinen „ Gedanken und Erinnerungen “gesteht er: „ Das europäische Recht wird durch europäische Traktate ge - schaffen, wenn man aber diese Traktate nach den Grund - sätzen der Gerechtigkeit und der Moral für haltbar hielte, wäre das eine Illusion “. Und erst im Alter wächst dieser „ ehrliche Makler, der das Geschäft wirklich zustande bringen will “nach den Worten seines Predigers „ in eine immer freiere und weitere Frömmigkeit hinein “und bringt denen, die „ keine Offenbarung mehr glauben “(!) im Reichstag von 1882 zum Bewusstsein, dass „ ihre Begriffe von Moral, Ehre und Pflichtgefühl wesentlich nur die fossilen Ueberreste des Christentums ihrer Väter sind “101).
Ist der Staat an sich schon die Negation der Mensch - lichkeit, und der preussische insbesondere, weil seine mili - tärischen, juridischen und theologischen Grundlagen die Grausamkeit und den Hohn korrumpierter Klassen systematisch zur Geltung bringen, so muss er unter der Despotie einer Per - sönlichkeit wie Bismarck unerträglich und für die ganze Welt eine um so empörendere Herausforderung werden, je weniger217 die Nation, die ihm zum Opfer fällt, ein Empfinden dafür zeigt. Aber nicht nur die Gewalt, noch mehr empört seine pharisäerhafte Unaufrichtigkeit.
Bismarck ist ebenso typisch Protestant wie Junker. Ja, man kann sagen, dass er dem Begriff des Protestan - tismus unter Deutschen zu einer Renaissance verholfen hat: durch Einbeziehung romantischer Kaiserideen, die wesentlich auf das vorlutheranische Mittelalter zurück - gingen102). Als Privatperson: er geht zum Abendmahl, und Tränen rollen ihm über die Wangen. Es handelt sich jedoch nicht um das Mysterium der Liebe, sondern um den Staat, „ denn im Reiche dieser Welt hat Er (der Staat) das Recht und den Vortritt “. Er hält Betstunden ab mit seinem Prediger, aber dem Konsul Michahelles legt er seines Glaubens Zeugnis ab: „ Ja, wir stehen alle in Gottes Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein an - zutreten braucht “103). Durch die Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten werden 500 Familien brotlos. Die Höhe der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen verteilt sich auf 1500 Personen und beläuft sich auf etwa 1000 Jahre. Aber die berühmte Sozialgesetzgebung, einer der grössten und verhängnisvollsten Korruptionsversuche aller Zeiten, erfolgt „ im Anschluss an die realen Kräfte des christlichen Volks - lebens “und ist eine Eingabe „ praktischen Christentums “, wie das stehende Heer des Grossen Kurfürsten eine Eingabe praktischen Christentums und protestantischer Armenpflege war104).
Wann überzeugt man sich in Deutschland, dass jener Mönch von Wittenberg ein Verhängnis war? Oder besteht noch ein Zweifel, dass infolge seiner Religion Gott selbst zu Bismarcks Zeiten auf die Deutschen herunterkam? Wenn Friedrich Naumann fand: „ Die katholische Gegenreformation war das Grab des deutschen Geistes an der Donau “, so nannte man Bismarck den „ zweiten Luther “, den „ grössten218 der Protestanten “, denn er verdrängte ja die reformations - feindliche Dynastie Habsburg aus Deutschland und ersetzte sie durch das Haus Hohenzollern. Wenn die „ Preus - sischen Jahrbücher “für 1900 von den Befreiungskämpfen schreiben konnten: „ Der Genius Luthers zog in dem Früh - lingsbrausen des Jahres 1813 vor seinem heiligen Volke einher wie die Feuersäule vor dem Volke Israels in der Wüste “, wie sehr hatte dann jener Superintendent Meyer recht, der Bismarcks Kaiserreich als die „ nationale Krönung des Reformationswerkes “bezeichnete! Einen rosigen Blick in die Zukunft aber eröffnete Treitschke, indem er verkündete: „ Es ist Preussen, die grösste protestantische Macht der Neuzeit, welche den andern dazu helfen wird, die Fesseln der allumspannenden Kirche abzuschütteln “105).
Da hat man neben der protestantischen Politik auch die protestantische Philosophie: sie „ schüttelt die Fesseln ab “. Der Krieg ist für Bismarck „ doch eigentlich der natür - liche Zustand des Menschen “. Das Jägerleben ist „ doch eigentlich das dem Menschen natürliche “. Also Jagd auf Tiere und Menschen. „ Gefangene? “, ruft er in Versailles aus, „ dass sie noch immer Gefangene machen. Sie hätten sie der Reihe nach füsilieren sollen! “ Und als man ihm von verlassenen Häusern spricht, deren Wertsachen für die Kriegskasse konfisziert worden seien, lobt er dies und meint: „ Eigentlich sollten solche Häuser niedergebrannt werden, nur träfe das die vernünftigen Leute mit, und so geht es leider nicht106). Eigentlich. Eigentlich ...
Wie Bismarck blasphemisch zur Religion steht, so steht er höhnisch zum Volke. Das Parlament nennt er ein „ Haus der Phrasen “, was sich gut sagen lässt, wenn man geladene Gewehre hinter sich weiss, und er hält dafür: die äussere Politik, die er zu seiner Privatsache gemacht hat, sei schwer genug; durch „ dreihundert Schafsköpfe “könne sie nur noch mehr verwirrt werden. Ein Gemütsmensch, ohne Zweifel; „ von allen Deutschen der deutscheste Mann “. Kennt er219 praktische Rücksicht? Praktische Güte? Er kennt nur praktische Brutalität. Er folgt „ dem Naturtrieb ohne grosse Skrupel “. Ihn empört es nun einmal, wenn ein preussischer General sich mit der Bevölkerung von Tours, die die weisse Fahne hisst, in Verhandlungen einlässt. Er, Bismarck, hätte „ mit Granaten gegen die Kerls “fortgefahren, bis sie „ 400 Geiseln herausgeschickt hätten “107). Es ist die satt - sam bekannte, in ihrem rüden Tonfall immer wiederkeh - rende Sprache der Junker, die nicht erst Schule zu machen brauchte, und die zwischen Feinden und den eigenen Volksgenossen nicht einmal einen Unterschied kennt. Es ist jene wüste Instinktbarbarei, welcher schöngeistige Feuilletonisten wie Herr Emil Ludwig vergebens den Goethe'schen Mantel der Dämonie und der Problematik umzuhängen bemüht sind. Es ist jene Erhebung der heiligen Blut - und Gewaltmenschen, die den preussisch-deutschen Parnass auszeichnet108).
Das Aufkommen Bismarcks und seiner Gesinnung be - deutet: dass die Bestialität sich fürder ihres Namens nicht mehr zu schämen braucht; dass sie Philosophie wird. Das Aufkommen Bismarcks bedeutet die Vorbereitung des dritten und letzten Einbruchs teutscher Barbarei in die romanische Zivilisation: den Weltkrieg von 1914. Pascal und Rous - seau, wenn sie vor Ueberhebung warnten und auf die nahe Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier hinwiesen, meinten ein Demutsideal. Bismarck und Nietzsche, indem sie die Tierinstinkte als den eigentlich menschlichen Natur - zustand bezeichneten, rissen die Humanität nieder und forderten den Dompteur, als Nihilisten und Zyniker. Das Ueberhündische wird heroisches Ideal, wieder ist der Weg gefunden, auf dem man originell ist, und die Ueber - zeugung verbreitet sich: auch moralische Erfolge werden mit dem Ellenbogen erstritten, mit Drohungen erlistet, mit Gerissenheit erschoben.
Will man erfahren, worin Frankreich und Russland220 1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der andern, sondern lese in Léon Bloys „ Sueur du sang “jenes Kapitel „ Bismarck chez Louis XIV. “nach, aus dem zu er - sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois 1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint als „ une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui - naire cafard qui déconcerte “, und das Haus der Frau Com - tesse de Jessé, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder verlassen hat109).
Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch - land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu - mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste Generation.
Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken, „ als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben “; als sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 „ dazu bestimmt, das Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen, als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst) und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got - tes “110). Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang ihm damit, die „ Heiterkeit “der lutheranischen Mehrheit auf seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja selbst für das „ monarchisch-christliche Prinzip im Staate “111), und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen221 Interessenpolitik herab. Die Kulturkampf-Initiative war auf Seiten Bismarcks gegen die römische Kirche, statt umgekehrt, und es gelang dem Kanzler, damit sogar die Sympathie rationalistischer Rebellen zu gewinnen, die auf politischem Gebiet seine wildesten Gegner waren.
Für die Sozialdemokratie bekannte sich August Bebel im neuen Reichstag „ zum Atheismus auf religiösem, zum Republikanismus auf politischem, und zum Communismus auf wirtschaftlichem Gebiete “, und gewiss war Bebel über - zeugt, damit eine Formel tödlicher Feindschaft aufgestellt zu haben. Aber er war doch bei all seiner ehrlichen Tapfer - keit ein preussisches Soldatenkind, das bereit war, für eine anständige Sache auch den „ Schiessprügel auf den Buckel zu nehmen “, und leider musste man den junkerlichen Krieg von 1870 für solch eine anständige Sache halten. Bekannte doch selbst Mehring noch: „ Mochte Bismarck was immer gesündigt haben, und der norddeutsche Bund wie wenig immer mit einem Idealstaate gemein haben, so galt es, dem Auslande endlich einmal zu zeigen, dass Deutschland ent - schlossen und fähig sei, seinen eigenen Willen zu haben. Durch alle diplomatischen Lügen hindurch (durch alle?) sah das Volk nur die eine Tatsache, dass der Krieg geführt werden müsse, um die nationale Existenz sicher zu stellen “112).
Erst eine 9monatige Gefängnishaft belehrte Bebel dar - über, dass das Volk nicht für die Freiheit und nicht um seine nationale Existenz gekämpft hatte, sondern im Gegenteil für die Freiheit der Junker und ebenso für deren nationale Existenz. Den „ Atheismus auf religiösem Gebiete “brauchte Bismarck nicht zu fürchten, und den „ Kommunismus auf wirtschaftlichem Gebiete “ebenso wenig. Den ersteren ver - trat er selbst viel gründlicher wie Bebel, wenn auch in pietistischer Verbrämung, den Staatskommunismus aber durchschaute er in seiner materiellen Lüsternheit und warf ihm die Gnaden - und Versöhnungsbrocken der Sozial - gesetzgebung zur Stillung seines Appetits zu.
222Bismarcks System war mächtiger als seine offiziellen Gegner. In dieses System mündete der hundertjährige Mac - chiavellismus der Nation, mündeten die autoritären Systeme von den offiziellen Staatskirchen bis zum sozialdemokratischen Dogmenverband. Gierig nach Geschäften, Karriere, Genuss und Versorgung erkannten in diesem Systeme sich poten - ziert die atheistische und materialistische Schule, die anthro - pomorphe und die naturphilosophische. In ihm gipfelte jene Zerstörung der Moral, deren schlimmster Repräsentant Bismarck nach Luther und Hegel ist113).
Man halte die Deutschen nicht für oberflächlich. Sie sind tief, sehr tief, tiefer als der Tag gedacht. Sie graben unterirdische Schächte und Gänge nach allen Seiten, aber — nur in der Verschlagenheit, in der Ausflucht: wenn sie den geraden, den aufrechten, den menschlich logischen Weg gehen sollten; nur wenn es die Zerstörung, sei es der Moral, der Religion oder der Gesellschaft, wenn es ihre „ Freiheit “betrifft. Ich spreche nicht von der Musik, dem Glanze unserer Versklavung. Ich spreche von der Ver - sklavung selbst, jenem abgeblendeten, verkrochenen, unheim - lichen Wesen, das unter der albernen Oberfläche eines konzilianten, bieder schmunzelnden Optimismus die bös - willige Rache derer übt, die, lange verderbt, ihr auf - rechtes Manntum eingebüsst haben. Es ist die furchtbare Tiefe, die unsere einzige Hoffnung ist, wenn wir begeistert den Gott, statt den Teufel hinunterführen, und wieder ans Licht kommen, reiner, begeistert, wissend, zermürbt.
Im jungen Nietzsche war Bismarck eine Gefahr geboren, mächtig genug an Begabung und Schwung, den Götzen - dienst aufzuheben, das Wotanschwert zu zerbrechen. Unter Wagners sibyllischem Einfluss wuchs er heran. Tradition der Romantiker wirkte hier fort: Abschüttelung der ver - ruchten Entartung, Gottverschwärmtheit in menschlicher Nähe. Aufhebung der Pedantenschulen, die da moralische Weltordnungen erdachten und sie despotisch verhängten. 223Aufhebung der Herzens - und Geistesversklavung, Befreiung unserer verschütteten, schüchternen, süssesten vox humana: Geistige Einheit der Nation. In Wagners Musik lebten die Baader, Novalis und Hölderlin fort; lebte der Geist der Beet - hoven und Suso. Die materielle, wirtschaftliche, äussere Ein - heit hatte Bismarck gesucht; mit Pöbelmethoden, grässlich und gröblich. Die innere, geistige, höhere Einheit galt es zu suchen und finden.
Nietzsche kam aus der besten Schule: Schopenhauers und Wagners, zweier Kirchenväter der Romantik; zweier der menschlichsten, unerschöpflichsten Geister, die die Nation hervorgebracht hat. Die pessimistische Absage Schopen - hauers rührte und leitete ihn; dessen herb nach innen gerichteter Ueberschwang. Was war denn Schopenhauers Pessimismus, wenn nicht die Enttäuschung eines fanatischen Wahrheitsfreundes, der den Schwindel einer selbstherrlichen Welt voller Illusionen, einer Welt voll goldener Herzen und gemeinsten Philistertums durchschaute?114). Wer hat die „ Kultur “und das neue deutsche Reich Hegel'scher Provenienz mit seinem Kraft - und Geistprotzentum so gründlich abgelehnt wie er? Wer den allgemeinen Taumel zu Genuss so bissig und unbarmherzig gegeisselt? Mag Mehring ihn immer nach seiner Parteischablone den „ Phi - losophen des geängstigten Spiessbürgertums “nennen115). Schopenhauer wusste um einen Begriff, der leider der deutschen Entwicklung verloren ging: den der Hybris, der Sünde und Schuld; und er wusste um einen Heroismus, der die ganze teutsche Sozialdemokratie begräbt, den Heroismus des Heiligen und des Asketen116). Schopenhauer hätte nicht Kriegskredite bewilligt, Schopenhauer nicht die geistige Einheit der nationalen und politischen geopfert, und nicht die menschliche Einheit der nationalen. Und Schopenhauer hatte eine Gemeinde. Die junge intellek - tuelle Partei seiner Zeit, auf seinen Namen schwor sie den „ ruchlosen Optimismus “ab, der 1871 seine Saturnalien224 feierte und 1918 gerichtet wurde, aber noch heute darüber nicht zur Besinnung gekommen ist. In Schopenhauer stand Pascal wieder auf, die Apologie des Herzens und der Tränen, die Apologie wahrhafter Vernunft und unerschütter - licher Redlichkeit. Seine Philosophie, die an den Leiden - schaften litt, nicht sie suchte; seine Philosophie, die die Wunden des Gekreuzigten bluten sah aus jeglicher Kreatur; seine tief christliche Genielehre — das Geheimnis, das Rätsel, Gott muss erlöst werden —; seine Philosophie der Illusion, die von den Schmerzen der Isoliertheit und der Beschränkung hinausführte zur Kommunion aller in der Kunst —, das war es, was Wagner und Nietzsche gleicher - weise in seinen Bann schlug117).
Ich möchte den individuellen Erlösungsgedanken Schopenhauers keineswegs befürworten. Ich halte seine Aesthetik sowohl wie sein Nirwana für eine Ausflucht und habe dagegen denselben Einwand, den ich gegen einen andern romantischen Begriff, den der Universalität, nicht verschwiegen habe118). Es handelt sich (seit der franzö - sischen Revolution) nicht mehr darum, Selbsterlösung zu treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst und die Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesell - schaft bis ins letzte verlorenste Glied. Es handelt sich um die materielle und geistige Befreiung all derer, die leiden; um die christliche Demokratie. Doch Begriffe müssen vor - handen sein, bevor sie in fruchtbarer Weise angewandt werden können, und so gebührt Schopenhauer und Wagner das hohe Verdienst, dem Erlösungsgedanken in - mitten einer Zeit überzeugtester Philisterblüte zur Wieder - geburt verholfen zu haben119).
Man muss die Jugendschriften Nietzsches lesen, um zu ermessen, welch Pandämonium grosser und fruchtbarer Gedanken diese drei Männer verband. „ Der Schopen - hauer'sche Wille zum Leben “, schreibt Nietzsche, „ bekommt225 hier (bei Wagner) seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Extase, diese Verzweiflung, dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Akzent der Liebe und der Insbrunst “120). Und in das Studium Scho - penhauers versunken: „ Seine (Schopenhauers) Grösse ist ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen Scholastik. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso die barbarisierende Kraft der Wissenschaften, er erweckt das ungeheuerste Bedürfnis, wie Sokrates der Erwecker eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist vergessen gewesen, ebenso welche Bedeutung die Kunst für das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem im Wider - spruche, was jetzt als Kultur gilt “121).
Die Anwendung des Erlösungsgedankens auf die „ Kultur “: das war die Aufgabe, die einem redlichen Geiste gestellt war. Doch Nietzsche war Protestant, auch er; von der Selbstsucht seiner Nation und der Zeit tiefer erfasst, als er wähnte. Unter dem Einflusse Jakob Burckhardts und der Renaissance regen sich bald Bedenken bei ihm, sowohl gegen Schopenhauer wie gegen Wagner, und ach, gerade gegen dasjenige Band zwischen beiden, das er hätte stärken müssen, und das er löste; den Geist der Schuld und des Verzichts, den Geist der Demut und Schwäche, den Geist der Verfehlung und Abirrung.
Der Kompromiss, den Wagner seit der Reichsgründung mit Rom und Bayreuth einging, mit den Kommerzienräten und Beichtvätern seiner Majestät, die hysterische Materiali - sation der Erlösungsmusik, — Nietzsche leitete sie vom Pesthauche einer „ absterbenden Religion “her, statt von dem Mangel an Widerstand gegen ein prostituierendes Zwangs - system. Statt seine Verneinung gegen den Staat zu richten, der Religion und Gewissen entehrte, wendet sich Nietzsche, ganz im Sinne des Staates, gegen die vermeintlichen „ Ueber -15226reste “der Religion, die er für die Schwenkung des Meisters verantwortlich macht und von denen er behauptet, sie seien dem „ germanischen Wesen “fremd und zuwider122). Ja, er bezeichnet die christliche Moral als das eigentliche Verderben, statt eben diese Moral zum Ausgangspunkt einer Kritik der Staatsidee zu nehmen.
Jetzt findet er: „ Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein — was ist da verneint? “ Und: „ Es gibt so - viele Arten angenehmer Empfindung, dass ich verzweifle, das höchste Gut zu bestimmen “. Statt in die Schule des frühen Mittelalters, begibt er sich in die der französischen Moralisten des ancien régime, und in die Schule der Feuer - bach, Bauer und Stirner. Den germanischen „ Urtext “sucht er wiederherzustellen, den „ eigentlichen “Naturzustand des Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt, eine reine Nation nach Ausscheidung orientalischer, jüdischer Moralismen zu erreichen; und sucht das kommende Genie vor jener Ideenverwirrung und Stagnation zu retten, der er Wagner verfallen sah123). Das gewitzigte Individuum wird ihm mit Luther, Kant und Stirner Garant des Gewissens, und so gerät er, wenn auch aus Geschmacksgründen gegen die Reformation, doch in ihre Bahn und in eine Position, die dem seit 1789 neu erwachten Kollektivbewusstsein der Völker widerspricht.
Noch in der unter Wagners Einfluss geschriebenen „ Geburt der Tragödie “hatte er eine tragische Kultur pro - phezeit und die Auflösung des Individuums in der Tra - gödie befürwortet. Jetzt glaubte er radikaler zu sein, wenn er den Kampf gegen die Kirche zum Kampf gegen das Christentum als gegen die Philister - und Herdensanktion, ja gegen die Moral selbst ausdehnte124). Gerade die christ - lichsten, menschlichsten Tugenden greift er an: Nächsten - liebe, Mitleid, Charität. Der Pastorensohn regt sich in ihm. Hochmut und Selbstüberschätzung des Protestanten aus227 altem Priestergeschlecht, geboren auf dem Schlachtfelde zu Lützen.
Er wird „ originell “, er verfällt der Erbsünde des Pro - testantismus. Und er gerät in immer engere Sympathie - allianz mit dem preussisch-protestantischen Pflicht - und Soldatengeist. Statt die mittelalterliche Weisheit zu exaltieren, wie Schopenhauer es tat, hält er ihre Ideen für erschöpft und verbraucht, wirft er wie Marx sie beiseite125), und kann doch keinen Ersatz dafür finden. Er statuiert eine Herren - und Sklavenmoral und rechnet zur letzteren die Freiheits - ideale der grossen französischen Revolution und der Evan - gelien, zur ersteren aber die Selbstvergötterung der Renais - sance und des vorsokratischen Hellenentums. Er hofft, die Instinktkonfusion, den Mangel an Distanzgefühl, die deutsche Bassesse zu treffen und zieht in seiner Verblendung vor, es eher mit der Arroganz preussischer Zucht - und Diszi - plinarvorschriften, als mit der hierarchischen Rangordnung der katholischen Kirche und der geistigen Disziplin der Mönche zu halten126). Er glaubt, den Todesschlaf der Welt zu erschüttern, indem er dem Teutonentum seine letzten Gewissensketten abnimmt, und er wird wider Willen der Herold und Totengräber jener rastaquierenden Hyänen mit hellblauen Augen und einer Sadistenfalte um den verzerrten Mund, die nun aus Gründen der Philosophie die nationalen Leidenschaften aufpeitschen und hetzen.
Bei vollem Bewusstsein und im Gefühle seiner Verant - wortung untergräbt er Schritt für Schritt und immer prin - zipieller seine eigene Basis, gegen sein Gefühl, gegen seine Nerven, ja gegen seine Einsicht127), und je mehr er sich isoliert, desto lauter nennt er diese Isolation seinen neuen Heroismus, seine bessere Geistigkeit, seine Tapferkeit. Bis er zuletzt, ohnmächtig zu fesseln, was er selbst entbunden hat, jene höchste Gewalt verliert, die Gewalt über sich selbst, die persönliche Schlüsselgewalt, und in dem Augenblick zusammenbricht, wo er mit dem grössten Satanisten der228 neueren Geschichte, mit Napoleon Bonaparte, zusammentrifft, und sich gezwungen sieht, die strengste Despotie, die Züchtung, die Dressur zu fordern.
Es kann nicht die Absicht dieser Untersuchung sein, in den Disput theologischer Schulen einzutreten. Gleich - wohl ergibt sich die Notwendigkeit, dafür zu stimmen, dass die Religion völlig befreit, statt völlig vernichtet werde, und so jene mächtigste Kaste der Intelligenz zu rütteln, die der Priester und Seelenbeamten.
Zwei gewaltige Strömungen haben in ihrem Wider - spruch das Gedankengebäude der Kirche errichtet: die Lehre der offiziellen Orthodoxie und die Lehren der Heiligen, Mystiker und der Propheten. Ich sage, in ihrem Wider - spruch, um nicht Gegensatz zu sagen; denn oft wusste die Orthodoxie nicht, ob ihre Heiligen Ketzer waren oder Söhne Gottes, und diese Tatsache allein könnte zureichen, den Begriff der Kirche als der Inkarnation Christi und der Person Christi als der Inkarnation Gottes zu erschüttern. Zwei Worte des Evangeliums widersprachen einander: „ Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen “und: „ Mein Reich ist nicht von dieser Welt “.
Die Evangelienkritik der verschiedensten Zeiten und Schulen hat ergeben, dass die Evangelientexte schon von frühesten jüdischen Ekklesiastikern und Rabbinern bearbeitet wurden; ja dass die Apostel selbst bewusste oder unbewusste Redakteure des göttlichen Wortes waren. Christliche Inten - tion und guter Wille mögen mich und den Leser vor Unheil schützen, wenn ich in theologicis die Partei Thomas Münzers und jenes Abt Joachim nehme, die da leugneten, dass Jesus Christus wahrhaft Gott und der Evangelientext des 4. Jahrhunderts wahrhaft Gottes Wort sei. Jesus Christus gab Zeugnis, die Evangelien geben Zeugnis. Gott kann229 weder inkarniert noch dargestellt werden. Es gibt keine Wunder, es gab Wunderbares, mitten unter uns. Ein Wunder wäre die vollendete Inkarnation des Ewigen in zeitlicher Gestalt. Sie war nie, und wird nie sein. Gott und die Freiheit sind eins. Reich Gottes auf Erden ist Sakrileg. Sichtbare Kirche ein Sakrileg. Unfehlbarer Stellvertreter Gottes ein Sakrileg. Theokratie, von Gott eingesetzte Ge - walt, das Sakrileg aller Sakrilegien. Gott ist die Freiheit des Geringsten in der geistigen Kommunion aller. Gott ist All-Güte, All-Liebe, All-Mitleid, All-Weisheit, höchster Ge - danke, nie zu erreichen und stets zu erstreben. Gott ist die Qual und die Sehnsucht erdgebundener Menschen. „ Söhne Gottes “, Propheten und Heilige, werden sich ihm nähern, um desto tiefer nur ihre Schuld an die Menschheit zu finden.
Der Offenbarungsglaube theologischer Akademien führte die grundlegenden Irrtümer ein, auf denen das sichtbare Kirchengebäude errichtet wurde. Die Lehre von der Inkar - nation Gottes in der Person Christi, erfunden gegen den Judenhass der römischen Aristokratie und um der neuen Lehre im abergläubigen Volke mehr Autorität zu verleihen, schuf die absolute Heilswahrheit und eine falsche, über - triebene, individuelle Erlösungslehre. Alles ist getan, die Welt ist erlöst, der Mensch schuldet nichts mehr als den Glauben. Die Lehre von der Inkarnation der vollendeten Heilswahrheit in der Kirche schuf das Monopol der Hostien - verwaltung. Die göttliche Intelligenz ist Privileg des Klerus, die Unwissenheit der Laien verlangt die Bevormundung, die Bevormundung fördert den Gegensatz eines theologischen Adels und eines animalisch-profanen Proletariats.
Wenn das Evangelienwort von Petrus, dem Fels, und der Kirche, die darauf gebaut werden soll, authentisch ist, war die Sünde Christi, dass er aus einem Zeugen Gottes zum Religionsstifter wurde; die Sünde der Apostel aber, dass sie aus dem Buchstaben des Evangeliums einen Er -230 lösungsbetrieb ableiteten. Demut, Schuldgefühl und Zer - knirschung beruhen auf freimütiger Einsicht und sind Postulate hoher moralischer Selbstverpflichtung, die nicht fürs Gesetzbuch dogmatischer Verfassungen taugen. An die Liebesgebote Christi, wie sie einfach und aller Kreatur verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus, der bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der per - sönlichen Tragödie Christi, und die Lehre vom Opfertod eines Gottmenschen mit all ihrer tiefen, aber auch volks - fremden und schwerverständlichen Symbolik sicherte der kirchlichen Intelligenz die Suprematie über den Laien - verstand.
Positive Pragmatik und jüdische Exaltationslust haben das Werk eines Meisters entstellt und ein verderbliches Regiment für die Seelen errichtet. Im 4. Jahrhundert schloss die Kirche einen Kompromiss mit dem heidnischen Staat, wovon sogar Iwan Karamasow gesteht, dass es eher einem irdischen Königreiche entsprechen sollte, sich in die Kirche zu transformieren und auf Ziele zu verzichten, die mit der Kirche nicht in Einklang zu bringen sind, als umgekehrt. Und im 10. Jahrhundert schloss die Kirche einen weiteren Kompromiss, mit der Wildheit deutscher Könige, denen sie die Würde von Schutzherren und „ Kaisern der Christen - heit “gegen die Zusicherung der Verbreitung des Christen - glaubens durch das Schwert übertrug. Die theologische und die feudale Aristokratie gingen ein patriarchalisches Bündnis ein, das trotz aller gegenseitigen Befehdungen in Fragen des Vorrangs eine universale Intelligenz - und Militär - Despotie über einer gemeinsamen Herde errichtete, die all ihren Besitz an Leib und Geist, an Gut und Blut bewusst darzubringen und zu opfern hatte. Der Universalstaat und seine wohlbestallten geistigen und weltlichen Beamte ver - walten mit abgefeimter Arroganz die gesamte Arbeitskraft leibeigener Sklaven. Die „ gottgewollte Gesellschaftsordnung “, die „ gottgewollten Abhängigkeiten “, die „ gottgewollten231 Realitäten “datieren von da und wirken noch heute. Der Kompromiss der Kirche mit dem Staat liess das Evangelium der Armen in Vergessenheit fallen und rückte die Opfer - tragödie in den Vordergrund der Betrachtung. Der Kom - promiss der Theologie mit dem irdischen Reich abstrahierte vom „ Opfertod “Christi blutsaugerische Ausbeutungsmethoden den gekreuzigten Völkern gegenüber, schmorte die Ketzer und Rebellen und verwies etwaige Glücksansprüche der Herde auf ein besseres Jenseits. Die Theokratie wurde Züch - tungssystem aller erdenklichen Servilität.
Nicht auf das Glück, auf das Leiden war sie gegründet. Das Leiden war Dogma. Von göttlicher Sendung bezog sie die Ehrfurcht, vom Glauben der Untertanen die Autorität. Die Liebeslehre ward mit Gewalt verbreitet, das Leiden gewaltsam aufrechterhalten oder erzwungen. Gehorsam war höchste Tugend. Die Welt ist ein trügerischer, zu über - windender Schein. Die allgemeine Verworfenheit bedarf eines konzentrierenden Fürsten. Treue, Schlichtheit, Pflicht - erfüllung finden „ Gnade “. Auf dem Stellvertreter Gottes ruht die Gnade des Himmels, auf dem weltlichen Fürsten die Gnade des Papstes. Es ist das Christo-Chinesentum eines Totenreiches. Die Welt ist erlöst. Gott hat gelebt. Alles ist geschehen.
Dass die Ideologie dieses auf götzenhaften Voraus - setzungen beruhenden Systems (die ganze Inkarnationslehre ist Götzendienst) heute noch in Kraft und keineswegs zu leerem Zauber und zur Zeremonie herabgesunken ist, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass noch vor kurzem die hierarchischen Titel des österreichischen Kaisers eine Welt von Jesuiten und Lakaien in Bewegung hielten oder der deutsche Kaiser als Summepiskopus der protestantischen Kirche Pastoralreichskanzler bevorzugt hat. Nein, auch die Servilität blieb bestehen. Noch immer finden sich freige - borene Intelligenzen, die der katholischen oder der pro - testantischen Staatskirche ihre Gedankensysteme anbieten. 232Der preussische König als summus episcopus war zugleich Rector magnificentissimus seiner Universitäten und oberster Chef des Generalstabs. Die Universitätslehrer waren seine wissenschaftliche Leibgarde. Sie konnten abkommandiert werden wie Unteroffiziere und wurden es auch.
Im theokratischen Sinne muss man die Handlungen der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierungen und die Haltung der ihnen unterstehenden Volksmassen interpretieren, wenn man den Sündenturm wahrhaft erkennen will. Alle Vorurteile der alldeutschen Ideologie weisen zuletzt auf Vorurteile der Theokratie und des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation zurück. Die Anmassung moralischer Ueberlegenheit und des Messiasberufes, die An - massung kultureller Superiorität, das Recht auf gewaltsame Unterwerfung der „ Randvölker “und die Ueberzeugung von der sittlichen Minderwertigkeit dieser Randvölker; die Richterallüre im Kriege und in Fragen der europäischen Politik, die Strafexpedition wegen Hochverrats gegen das „ moralische Herz und Zentrum Europas “: das alles sind Vokabeln aus dem romantischen Wortschatz des mittelalter - lichen Universalstaats und jener langen Jahrhunderte, da ein gemeinsamer heiliger römischer „ Kaiser der Christen - heit “gerade von Deutschland aus die Kulturwelt „ schützte “und Deutschland der Schauplatz seines Gepränges, aber auch Tummelplatz seines Gesindels und seiner betrunkenen Heerlager war.
Das christlich-germanische Dogma von der Herrschaft Gottes über die Welt und des Geistes über die Materie, oder von der Vormundschaft des Kaisers über seine Unter - tanen und der Gelehrtenkaste über die unwissende Plebs, hat dann zur Zeit der Reformation eine Spaltung erfahren. Die Theokratie des katholischen Adels bevorzugte das Jen - seits, die des protestantischen das Diesseits. Das Aufkommen der Hohenzollern und die Ausdehnung ihrer Herrschaft von Preussen auf Deutschland war nur möglich infolge der233 Vernachlässigung Deutschlands unter politisch universal, religiös aber weltflüchtig gerichteten habsburgischen Kaisern wie Rudolf II. und Karl V. Der katholische Zweig zeichnete sich aus durch „ passives “Christentum, grössere Spiritualität, Weltverachtung, Musik, Romantik und Geheimdiplomatie; der protestantische mehr durch „ praktisches “Christentum, um - fassende Versuche einer Sanierung der überkommenen Nichts - nutzigkeit und Verschlampung, Staats - und Rechtspflege, Gefängnis - und Armenwesen, Erziehungsanstalten, Sachlich - keit und vollendete Zwecksetzung (Organisation genannt). In Oesterreich dominierte die „ Kulturmission “, begleitet von Brutalitätsanfällen, in Preussen die „ ehrliche “Säbelautorität. In Preussen ward Ideal und Sinn der Theokratie der zum Soldaten begnadigte Sträfling (siehe Kapitel II, Abschnitt 5). In Oesterreich der disziplinierte göttliche Schwärmer, Spion und Schauspieler der Sinne, der weltmännische Jesuit. Oesterreichs glänzendster Name ist Metternich, Freund des Papstes, Bezwinger des groben Napoleon, Schöpfer der „ Heiligen Allianz “, über die er sich lustig macht, und Di - rigent jenes „ Europäischen Konzerts “von 1815, des erlauch - testen Reaktionskongresses theokratischer Herrscher und Diplomaten. Preussens heiligster Name: Friedrich II., pro - testantischer Papst (er zuerst entdeckte das), Besieger einer „ Weltkoalition “, despotisches Gerippe der Pflichterfüllung und des Sadismus, erster Diener des Staates und Meister einer stammelnden deutschen Intelligenz, der in französischer Sprache er preussische Haltung beizubringen das Zeug und die Laune hat.
Die Geschichte des Macchiavellismus in Deutschland müsste geschrieben sein! Sie würde erstaunliche Resultate ergeben. Sie würde zeigen: erstens, dass den preussischen Herrschern die theologische Idee im Rivalitätskampfe mit Habsburg aufging (unter Friedrich II. ), dass aber die preus - sischen Macchiavellisten auf Thron und Katheder diese Idee von Anfang an nur nach ihrem Nutzwerte schätzten, so234 dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck), dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter - warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens: dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na - poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs - gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd - lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens ergeben, dass selbst der protestantische „ Idealismus “der deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das ontologische (Trägheits -) Prinzip ihrer Systeme entspricht dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt, um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver - nunft — zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.
In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz - lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch - land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich235 der volksfremde Kastengeist und die Scholastik sogar der humanistischen Glanzperiode Deutschlands, deren Repräsen - tanten Kant, Fichte, Schelling, Humboldt und Hegel in ihren politischen Spekulationen sämtlich noch von der Bös - artigkeit und Verworfenheit der Individuen ausgehen, auf denen der Staat zu errichten ist. Der deutsche Schulmeister, der die Kriege von 1866 und 1870 gewonnen haben soll, hütete sich, die liberalistische Attitüde der deutschen Denker ins Volk und bessere Meinungen vom Volk und der „ Herde “in die hagestolzen Gelehrtenzirkel zu tragen. Es fehlte an Liebe, Hingabe und Leid. Russische Nihilisten, Pioniere der Intelligenz für das Volk, gab es in Deutsch - land nicht. Es gab nur Pedanten, Träumer und Streber.
Und so gebe ich wie zu Beginn so zum Ende in tiefer Verehrung und Liebe Dostojewsky das Wort, der 1870 aus Dresden an Maikow schreibt: „ Die Professoren, Doctoren und Studenten sind es, die die Aufregung und das Gezeter machen, nicht das Volk. Ein Gelehrter mit weissen Haaren schreit: ‚ Man muss Paris bombardieren!‘ So weit brachte sie ihre Albernheit, wenn nicht ihre Wissen - schaft. Mögen sie immer Gelehrte sein, sie sind darum nicht weniger kindisch. Eine andere Bemerkung: das Volk kann hier lesen und schreiben, aber es ist trotzdem unglaublich ungebildet, stupide, beschränkt und von den niedrigsten Interessen geleitet “. Oder am 5. Februar 1871: „ Sie schreien: ‚ Jungdeutschland!‘ Ganz umgekehrt ist es. Sie sind eine Nation, die ihre Kräfte erschöpft hat, denn sie bekennt sich zur Schwert -, Blut - und Gewaltidee. Sie hat nicht die geringste Ahnung, was ein spiritueller Sieg ist, und sie lacht darüber mit einer soldatischen Brutalität “.
Was Dostojewsky in Deutschland sah, war der ver - wilderte Doctor Faust, die martialische Totenmaske einer erschöpften Theokratie.
In den vorhergehenden Kapiteln habe ich versucht, Gesichtspunkte für eine Kritik der alldeutschen Ideologie zu finden. Ich weiss, dass ich hierin nicht der Erste bin. Ich schlug der deutschen Intelligenz eine Revision ihrer Heroen vor und zeigte im deutschen Gedankenbau die verderbliche, staatspragmatisch gerichtete protestantische Filiation, als deren Hauptvertreter Luther, Hegel und Bis - marck erschienen. Nochmals betonen möchte ich, dass es die Verbindung von Religion und Staat, die göttliche Sanktionierung der Autokratie, die Verwirklichung Gottes und der Idee, die Ideenverwaltung durch eine wilde Staats - autorität und das Streben nach dem militärischen „ Reich Gottes auf Erden “war, was ich antichristlich, Blasphemie und Satansdienst nannte. Der Protestantismus ist eine Irr - lehre, eine Irrlehre der Katholizismus, der sich auf der Erde etabliert. Gott und die Freiheit können nicht verwirk - licht werden, sie sind Ideale. Staat ist ein Zustand und Zufall, von der göttlichen Idee zu durchdringen und in sie aufzulösen, nicht umgekehrt.
Eine Vervollständigung der Kritik des theokratischen Systems der Mittelmächte würde ergeben, dass die Schuld - frage in letzter Instanz sich gegen das Papsttum richtet, als gegen das letzte Refugium militärischer Bevormundungs - systeme, die auf die Gottesweihe und Gottesstellvertreter - schaft sich berufen; die als Verteidiger der „ heiligsten Güter Europas “auftraten, just als die Stunde ihrer Nieder - lage schlug, und die damit das Gewissen der Welt zu ver - wirren und täuschen versuchten trotz himmelschreiender Schändlichkeiten. Die Zukunft freier deutscher Geister sehe238 ich in der Solidarität des europäischen Geistes gegen den theokratischen Anspruch jeder Staatsmetaphysik: nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die intellektuellen Pro - bleme verwalten zu wollen. Die wirtschaftliche Verwaltung ist einem Bund freier Völker, die intellektuelle einer Kirche freier Individuen zu überlassen. Eine Internationale produk - tiver Natur, eine moralische Einheit der Welt und der Menschheit sind nur möglich, wenn der protestantisch - katholische Gottes - und Despotenstaat mit seiner wirtschaft - lichen Stütze, einer zuchtlosen Finanz, und seiner theologi - schen Stütze, dem unfehlbaren absolutistischen Papsttum, hinweggeräumt ist. Unter der Last aller Verbrechen dieses Krieges wird er zusammenbrechen. Eine Syntax freier Gottes - und Menschenrechte aber wird die demokratische Kirche der Intelligenz konstituieren, an die die Verwaltung der Heiligtümer und des Gewissens übergeht.
1919 BUCHDRUCKEREI GOTTFR. ISELI BERN
Matthias SchulzDienstleister (Muttersprachler)Note: Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.2012-02-17T09:20:45Z Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, AkademiebibliothekNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2012-02-17T09:20:45Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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