PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 6]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Das Kind.

Herman Grimm, der Sohn Wilhelm Grimm's, des um die deutsche Sprachwissenschaft in Gemeinschaft mit seinem Bruder Jacob hochverdienten Germanisten, wurde am 6. Januar 1828 zu Cassel geboren, studirte 1846 49 zu Berlin und Bonn die Rechte, wandte sich aber in der Folge ausschließlich der Literatur und kunsthistorischen Studien zu. Sein wissenschaftliches Hauptwerk ist das Leben Michelangelos (2 Bände, Hannover 1860-1863, 2. Aufl. 1864); seit 1865 gab er die Zeitschrift Ueber Künstler und Kunstwerke heraus, hat sich auch in neuerer Zeit als Privatdocent der Kunstgeschichte in Berlin habilitirt. Als Dichter trat er zuerst mit dem Drama Armin (Leipzig 1851) vor die Öffentlichkeit, welchem im Jahre 1854 die Dichtung Traum und Erwachen und außer mehreren im Manuscript gedruckten und hie und da aufgeführten Dramen das Trauerspiel Demetrius , 1856 seine Novellen und 1867 sein Roman Unüberwindliche Mächte folgten.

Ein gemeinsamer Zug läßt sich durch alle Grimmischen Dichtungen, ja zum Theil auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten und den geistvollen, lyrisch philosophirenden Aufsätzen erkennen, die er unter dem Titel Essay's (nach Emerson's Vorgang) im Jahre 1859 erscheinen ließ: das kunstvolle Bemühen, die Kunst zu verbergen (L’arte che studia di non parere, nach Giusti's Ausdruck). Dieser bis zur Virtuosität ausgebildeten Eigenart verdanken besonders die Novellen Grimm‘s einen höchst individuellen Reiz. Es ist, als wäre es dem Erzähler überall darum zu thun, mehr auf Hörer als auf Leser zu wirken, mit der reizenden Unscheinbarkeit und nachlässigen Munterkeit, die das gesprochene Wort vor dem geschriebenen vorauszuhaben pflegt. Dieses kunstvolle Parlando, das alles Sonore, Pathetische und rhetorisch Zurechtgemachte verschmäht, ist gleichwohl außerordentlich reich an wechselnden Tönen, die sich jeder Stimmung und Situation anschmiegen, und in ergreifenden Momenten um so wirksamer, weil es den Naturlaut nie verläugnet. Nur hie und da einmal scheint der natürliche Ausdruck allzu sehr in das Zufällige herabzusinken. Die Novelle aber, die wir uns freuen unsern Lesern hier mittheilen zu dürfen, ist an Erfindung wie im Vortrag ein Muster liebenswürdiger Feinheit und Klarheit, Vorzüge, zu denen in der Novelle desselben Bandes Der Landschaftsmaler noch der Reiz trefflich geschilderter Naturstimmungen hinzukommt, so daß die Wahl zwischen beiden lange schwankte, bis die Herausgeber erfuhren, daß der Dichter, der lange der Poesie entfremdet schien, die letztere Novelle zu einem größeren Werke auszubilden im Sinne habe. Im Uebrigen können wir getrost das Kind für sich selber sprechen lassen.

Auf einem im nördlichen Deutschland gelegenen Gute lebte Herr von , ein angesehener Landwirth, mit seinen beiden Töchtern, von denen die ältere, etwa zwanzig Jahre zählend, so ziemlich für sein Ebenbild galt; denn sie glich ihm in den Gesichtszügen, war mehr ruhig, praktisch und verständig, während ihre jüngere Schwester, lebhaft, neckisch, unruhig und ein wenig extrem in ihren kleinen Neigungen, die Welt so recht aufforderte, den zwischen den beiden Mädchen bestehenden Unterschied zu bemerken und zu beurtheilen. So galt denn die gute Therese für kühl, zurückgezogen und haushälterisch, Emma dagegen ward mit den Attributen kindisch, ausgelassen und unpraktisch belegt, und dennoch, lernte man die Schwestern genauer kennen, so war der Abstand nicht eben so groß, nur daß die eine mehr dem Vater ähnlich war, aus der andern aber die früh verstorbene Mutter herausleuchtete. Ja, wären sie beide in ihrer aufblühenden Schönheit nicht stets zusammen gewesen, so hätte man vielleicht weder an der einen noch an der andern etwas besonders Auffälliges gefunden und sich damit begnügt, zu sagen: welch ein angenehmes, liebenswürdiges Mädchen! ob sie wohl Vermögen hat? ob sie viel Geschwister hat? und was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen und zu fragen pflegt, ohne darum ein prosaischer Mensch zu sein. Auf die letzte Frage sei denn gleich bemerkt, daß Heinrich, das älteste Kind, zu der Zeit, wo unsere Erzählung beginnt, sich in Italien befand, wohin ihn sowohl der Rath der Aerzte als seine eigene Zuneigung zum Studium der schönen Künste getrieben hatten.

Es war am Ende eines heitern Herbsttages. Die untergegangene Sonne ließ die reine Luft noch nicht erkalten, aber aus dem Moose des Waldes stieg es kühl und feucht zwischen den Stämmen auf. Deßhalb eilte man, das freie Feld zu erreichen, und wenn wir zwei dunkle jugendliche Gestalten quer durch die Büsche eilen sehen, dem gelblich rothen Lichtstreifen entgegen, der, zwischen Himmel und Horizont gelagert, immer offener durch die Verwirrung des Waldes schimmerte, so wissen wir, wer die beiden sind. Auch den Vater erkennen wir, der mit gewichtigeren Schritten langsamer nachfolgt, den Herrn aber neben ihm, welcher zwar eben so fest wie er, doch zu Zeiten vorsichtiger auftrat, denn oft versank der Fuß im Boden, der sumpfig und mit reichen Kräutern bedeckt zwischen den Wurzeln lag, nannten wir noch nicht. Es ist ein langjähriger, aber jüngerer Freund des Gutsherrn, der zuerst eine Reihe von Jahren Diplomat war, dann große Reisen gemacht hat, wochenlang auf das Unterhaltendste aus jedem beliebigen Erdtheile zu erzählen im Stande ist und in seinen Koffern eine Menge überaus merkwürdiger Seltenheiten, die zuweilen fein und seltsam parfümirt sind, mit sich führt, denen gegenüber freilich kein gewöhnlicher Dieb, wohl aber ein Sammler von Kuriositäten in die bedenklichsten Gelüste verfallen könnte. Doch seine Freigebigkeit wäre dem sicherlich zuvorgekommen; er verschenkte nach rechts und links, und seine Schätze blieben trotzdem unerschöpflich wie sein Gedächtniß, seine Skizzenbücher und seine Liebenswürdigkeit.

An diesen drei Eigenschaften zehrte man auf dem Gute nun bereits länger als vierzehn Tage. Die praktische Therese ließ sich die indischen Hütteneinrichtungen bis auf den Nagel an der Wand expliciren; Emma, das gute Kind, führte stets die verschiedenartigsten verzuckerten ausländischen Früchte in der Tasche mit herum und hing sich auf den Spaziergängen vergnügt in den Arm des Freundes von Papa, den sie zuerst ohne Umstände Onkel an geredet und geduzt haben würde, wenn nicht Theresens Vernunft diese beiden Zutraulichkeiten gleich im Keime erstickt hätte.

Man langte zu Hause an. Man hatte Thee getrunken und sich müde gesprochen. Auf dem Lande sind baldige Trennungen immer angenehm; Herr von R packte seine chinesischen Malereien auf Reispapier zusammen, die Mädchen huschten fort, und Papa ging in seine Stube, in der alles Mögliche an den Wänden hing oder auf den Tischen und dem Boden umher lag, Büchsen, Pistolen, Jagdtaschen, Zündhütchen, Riemenzeug, Fruchtproben, Backsteine, Korbflaschen, Cigarrenkisten und Bücher über Gartenbau oder Pferdekrankheiten. Der wackere Mann suchte sich aus verschiedenen Packeten die beste Cigarre heraus, zündete sie an, und nach wenigen Secunden hörten die Mädchen seinen Schritt auf ihre Stube zukommen, und seine Stimme, welche Emma rief.

Ach, um Gotteswillen, was ist? rief diese, was ist, Papa?

Komm noch auf einen Augenblick zu mir herüber, Kind.

Auf der Stelle.

Sie hatte schon den Kamm aus dem blonden Haar gezogen und die vollen Flechten aufgelös't, nahm aber flugs einen großen Shawl, hüllte sich hinein und erschien so bei ihrem Vater, welcher sich in die dunkelste Sophaecke gesetzt hatte und rauchte.

Hier bin ich, Papa. Liebes Kind, da liegt ein Papier auf dem Tisch, da, neben der Brieftasche. Ja, hier. Es ist ein Brief, Emma, den ich vorgestern bekommen habe. Ja, ich sehe, vorgestern. Wie so? Nun, ich habe in der Eile ein bischen das Datum gelesen, er ist ja ganz offen. Gut, so lies auch das Uebrige.

Sie setzte sich auf die Tischkante, hielt den leichten silbernen Leuchter in der einen und den Brief in der anderen Hand und studirte.

Ach, du allmächtiger Himmel! rief sie plötzlich aus; die Emma hier bin ich doch nicht? Dabei lachte sie hell auf, ward roth bis an den Nacken und las eifrig weiter. Nun kam sie an die Unterschrift: von R , und warf das Blatt auf den Tisch. Papa! Nun, mein Kind? Will er mich denn auf der Stelle haben? Auf der Stelle bekommt dich Keiner, erwiderte ihr Vater ruhig, dazu bist du noch zu jung. Ich habe ihm das vorläufig gleich gesagt, du mußt erst wenigstens deine vollen neunzehn Jahre haben, ehe an dergleichen zu denken ist, und du bist erst siebzehn. Siebzehn und ein halbes, so gut wie achtzehn! rief sie lebhaft.

Also du bist es zufrieden, mein Kind? Es ist nur sonderbar, antwortete sie nach einer Weile und setzte sich auf einen Stuhl, der mitten in der Stube stand, daß es mir nie im Traum eingefallen wäre. Dagegen habe ich gar nichts, das ist recht gut, versetzte der Papa, und fügte nach einigen Rauchwolken hinzu: das kann ich nur loben. Ja, aber im Wachen auch nicht, Papa! Herr von R. hätte mich auf den Arm nehmen können, um mir auf einen Baum oder über eine Mauer zu helfen, und ich würde mir gar nichts dabei gedacht haben. Nun, was hättest du denn auch denken sollen? Meinst du denn, Papa, ich ließe mir das jetzt von ihm gefallen, nach dem Briefe? rief sie. Mir kommt es aber so vor, als könntest du die Hochzeit kaum erwarten.

Plötzlich sprang sie auf, nahm Leuchter und Brief und sagte, an der Thür stehend: Ich muß durchaus erst mit Therese sprechen! Gute Nacht, Papa; morgen werde ich dir das Nöthige mittheilen. Dies fügte sie mit einiger Gravität hinzu, um das Lachen zu unterdrücken, das wieder ganz vom schönen Kind Besitz genommen hatte; denn sie stand da, mehr wie ein Kind, dem beschert worden ist, als wie ein Mädchen, um dessen Hand ein Mann angehalten hat. Die Idee, Therese den Brief zu zeigen, erfüllte sie gänzlich, wie die Sonne einen Rosenbusch, und sie jagte durch die Zimmer hin, daß der Leuchter verlöschte und sie mit einem Donnerschlage gegen die Thür ins Zimmer stürzte.

Lies lies, lies! rief sie, entfaltete das Papier und hielt es ihrer Schwester hin. Lies! Dabei drehte sie sich drei Mal auf den Fußspitzen um und um, sprang zu gleichen Füßen auf den Sopha, kauerte sich in die Ecke und folgte athemlos mit den Augen denen ihrer Schwester, welche den Brief begierig durcheilte und dann mit einem Ausdruck zu Emma hintrat, der dieser plötzlich alles Blut aus den Wangen verjagte.

Himmel, Therese, du nimmst das wohl ernsthaft? Wie soll ich es denn anders nehmen? O, weißt du Das Kind sah mit seinen guten braunen Augen empor, sprang auf, fiel Theresen um den Hals und rief: Ich nehme ihn nicht, auf keinen, keinen Fall!

Nein, Therese, niemals, ich schwöre dir, ich nehme ihn nicht!

Sie zog sie neben sich. Siehst du, es wird mir jetzt schon immer ganz übel bei den Rosenperlen und den Sandelholzkasten, wenn ich das nun mein ganzes Leben lang riechen sollte, das wäre gar nicht zu ertragen. Gieb mir einen guten Rath. Nicht wahr, Therese, wir nehmen ihn auf keinen Fall?

Liebes Kind, sagte sie (sie nannte Emma immer Kind), dazu kann ich nichts sagen. Wenn du ihn lieb hast, so nimm ihn, wenn du ihn nicht lieb hast, nimm ihn nicht. Ich habe ihn aber nicht lieb. Dann nimm ihn also nicht. Damit brechen wir das Gespräch ab, das unendlich war und von Zeit zu Zeit von dem Refrain: Aber ich habe ihn nicht lieb dann nimm ihn also nicht unterbrochen wurde, bis sie darüber einschliefen.

Am andern Morgen war Herr von R. nicht am Frühstücktisch erschienen. Das Kind saß allein in der Stube, Therese war hinausgegangen, als er eintrat. Emma mit einem Sprunge auf und an die Thür.

Liebe Emma, sagte er ruhig, ich sehe, daß Ihnen der Papa gesagt hat, worüber ich ihm geschrieben. Damit ging er langsam auf sie zu, und das arme Kind hielt die Thürklinke mit beiden Händen ängstlich fest und konnte nicht los davon, wie ein Vogel an der Leimruthe.

Warum wollen Sie so rasch fort von hier, liebe Emma? redete er weiter. Sie brauchen ja nur Nein zu mir zu sagen oder etwas Aehnliches, und ich werde dann fortgehen, wenn Sie es wünschen, oder denken, es wäre nichts vorgefallen.

Das Kind schlug die langbewimperten Augen zu Boden und zitterte, aber der Griff der Thüre war unbarmherzig und ließ nicht los.

O, stotterte sie, ich bekam nur so einen Schreck. Vor mir? Setzen Sie sich doch nur einen Augenblick da auf den Stuhl. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich dort am Fenster halten und nicht einen Schritt zu Ihnen hin thun werde. Er ging aufs Fenster zu, und sie schlich zu dem Stuhle, weil sie einen unaussprechlichen Zwang fühlte, dem Manne gehorsam zu sein.

Also Sie erschraken, liebe Emma? Nein, stotterte sie fast unhörbar und sagte dann etwas freier: Ach, Herr von R., ich bin noch so jung. Dies war eine Folge ungeheurer Anstrengung; sie wollte durchaus etwas sagen, das ihm ihre Sclaverei verbergen sollte, und sprach es aus.

Ja wohl, antwortete er lächelnd, aber mit einem Accente von Wehmuth, und ich bin schon so alt? Nein, fuhr er lebhaft fort, das wollten Sie mir nicht sagen. Es ist wahr, Sie sind noch sehr jung; deßhalb hat es auch noch zwei lange Jahre mit uns Zeit, und mehr, wenn Sie wollen. Ach ja, antwortete sie, und sah voll der tiefsten Dankbarkeit zu ihm empor. Denn daß dieser Mann, von dem ein bloßer Blick sie ver - mocht hatte, wie ein furchtsames Hündchen in die Ecke zu kriechen, daß er von freien Stücken ihr zwei Jahre und mehr schenken wollte, dies kam ihr so gut und großmüthig vor, daß sie Alles hätte vergessen und ihm dankbar die Hand küssen können, wie ihrem Papa, der ihr eine unerwartete Freude machte.

Es wäre Unrecht, etwas gegen Herrn von R. zu sagen. Er war in der Mitte der Dreißiger, er war gut und sanftmüthig, war interessant, er hatte nichts in seinem Wesen, daß man ihm nicht gern die Hand gedrückt hätte. Seine Augen waren nicht unheimlich, seine Haare nicht sorgfältig zusammen gekämmt, um einen kahlen Kopf zu verdecken: nichts von alledem, aber doch Eins: man fühlte ihm das an, was er auch nicht verleugnete, daß er lange, lange in lauter Ländern gewesen war, die nicht sein Vaterland waren, unter Menschen gelebt hatte, die nicht seine Freunde oder Verwandten waren, Dinge vor Augen gehabt hatte, die er zuerst neugierig betrachtet und hinterher gleichgültig verlassen hatte, und seine Seele trug den Stempel dieser Heimathlosigkeit. Man sieht einen englischen Koffer mit Vergnügen an, in welchen eine Menge der verschiedenartigsten Bedürfnisse so eingepaßt sind, daß keines das andere drückt und jedes leicht zu finden ist, daß Alles aufs Beste, Festeste in einander eingreift und von einem einzigen kleinen blanken Schlüssel verschlossen wird, den man an der Uhrkette tragen kann; man sieht das gern an und möchte es auch wohl besitzen, aber auf immer seine ganze Habe so zusammengepreßt vor sich stehn zu haben, das möchte doch Keiner. Man will ein paar Wände, ein sonniges Fenster und Blumen davor, die man auskeimen sah und deren Blüthe man erwartet. Daran hing es bei Herrn von R. , seine Seele war eines der gemüthlichsten Necessaires von allem, was man wissen und erfahren kann, blank und comfortabel; und sein Herz, das sich nie ganz ausgedehnt, nirgends in friedlicher Stille angesiedelt hatte, das sollte zum ersten Mal einem anderen völlig angehören! Ach, und das arme junge Herz, dem dieses Glück zugedacht war, fühlte nichts als einen ungewohnten zitternden Respect vor Dem, der es ihm zu Füßen legte.

Er verließ nun doch das Fenster, er setzte sich erst etwas fern von dem Kinde nieder, immer sprechend, und saß dann neben ihm. Er sprach natürlich, er gestand frei, wie traurig er mit sich allein gelebt, und welche Hoffnungen er auf sie gesetzt hätte. Sie hörte, horchte; er sprach so einfach, so bescheiden, so resignirt; ein Mitleid überkam ihre Seele, das grenzenlos war, sie sah seine Einsamkeit, sie hätte Alles thun mögen, ihn ihr zu entreißen; sie hörte zum ersten Mal, daß es in ihrer Gewalt stehe, eines Menschen ganzes Leben glücklich zu machen: wie wäre es da möglich gewesen, seine Bitte abzuschlagen? Ihre Augen füllten sich mit Thränen, bis sie ihn schluchzend bat, innezuhalten, denn er erzählte von seinem Leben, nicht um sie zu rühren, sondern stellte ihr einfach seine sonnenlosen Jahre voll Gedanken an die Heimath vor die Seele. Freilich, daß er einmal in Neapel in die französische Gesandtin verliebt gewesen und ihretwegen ein Duell gehabt hatte, das erzählte er nicht, und einiges Andere dergleichen verschwieg er gleichfalls, aber es war kein Unrecht dabei, und was brauchte das Kind das zu wissen? Emma aber, wenn sie sich in diesem Augenblick erinnert hätte, auch nur aus der Ferne einen Bauernjungen zu freundlich angesehen zu haben, sie hätte es ihm jetzt gestanden, als er neben ihr sitzend still fortsprach, ohne sie anzusehen. Es that ihr wohl, daß er vor sich auf den Boden sah, sie hob ihre Blicke, und seine Stirn schien ihr vornehm zu sein und sein Haar auch, das so zwanglos an ihr hergestrichen war.

So also standen die Dinge; der Schmetterling war gefangen.

Die beiden Schwestern lagen wieder in der dunkeln Kammer und sprachen miteinander. Zuerst aber schwiegen sie still. Therese löschte das Licht aus, und Jede hörte, wie die Andere athmete. Da stand das Kind leise wieder auf und tappte zu seiner Schwester, umarmte sie und legte seine Wange an die ihrige. Emma war den ganzen Tag anders gewesen als sonst. Sie war mit ihrem Verlobten lange Zeit spazieren gegangen, dann hatte sie schweigsam dagesessen; sie sah aus wie eine Rose, die man gepflückt und eine Stunde in der Hand getragen hat, nicht verwelkt, aber weich und abgemattet.

Therese, sagte sie, du gehst mit mir. Albert kauft ein Gut hier in der Nähe, und du gehst mit mir. Er hat es mir schon versprechen müssen. Nicht wahr, du bleibst bei mir? Ja, Kind, antwortete Therese und sprach mit gedämpfter Stimme; das trieb Emma die vollen Thränen in die Augen. Ach, Therese, rief sie traurig, wenn ich denken soll, daß ich dich nur einen Augenblick nicht habe, dann sterbe ich vor Sehnsucht. Kind, du wirst nicht sterben. Ja gewiß, du schwörst mir, daß du bei mir bleiben willst. Ja, wenn du willst. Warum fragst du, ob ich will? sage ich es nicht? Bist du traurig? bist du mir böse, Therese? Habe ich etwas Unrechtes gethan? Siehst du, er ist so gut, so einsam; er hat keine Geschwister mehr und kaum eine Heimath. Ach, er ist so gut, Therese! Gewiß, Kind, er ist so gut, und ich gehe mit dir, und nun schlaf ein, damit du morgen nicht schlecht aussiehst.

Emma blieb aber bei ihr sitzen. Plötzlich sprang sie auf, fing an zu schieben und zu rücken und ruhte nicht eher, als bis ihr Bett neben dem Theresens stand. Sie legte sich hinein und hielt ihrer Schwester Hand in der ihrigen; so schliefen sie ein.

Eine Woche verging. Das Leben ward ein wenig einförmiger, da die beiden Verlobten sich mehr angehörten, als den Uebrigen, und Therese mit dem Vater die Sache praktisch angriff. Mehr als zwei Jahre war freilich eine lange Zeit. Albert beredete den Vater zu einer Reise nach Rom, wo man den Winter mit Heinrich zusammen zubringen wollte. Herr von , der außer in Sachen der Landwirthschaft selten Widerspruch erhob und jetzt mehr als jemals in der Stimmung war, mit Allem zufrieden zu sein, gab seine Einwilligung nach kurzen Debatten. Albert wußte die Reise himmlisch darzustellen; er war überall gewesen, kannte Weg und Steg im Süden und malte die Dinge lockend aus, die ihrer dort warteten, holte seine Skizzenbücher, zeichnete, verglich die Briefe des Bruders mit den Reisehandbüchern; es war nicht zu Athem zu kommen vor Erwartung. Man wollte so bald als möglich fortgehen.

Vorher aber sollte ein Gut in der Nachbarschaft angesehen werden, dessen Besitzer verkaufte, weil er sich in einer anderen Gegend ansiedeln wollte. Auf die Ankündigung des Besuches erfolgte eine Antwort, welche zugleich die Einladung zu einem Balle enthielt. Es war eine Art Abschiedsfest. Das Erntefest war verschoben und damit eine Zusammenkunft der ganzen Umgegend verbunden; da das Schloß zudem viel Räumlichkeiten enthielt, so konnte die Mehrzahl der Gäste dort übernachten.

Die beiden Schwestern waren entzückt über diesen glücklichen Zufall. Das Kind, das eigentlich den ganzen Tag nicht aus dem Tanztakte kam und nie eine Treppe hinabstieg, ohne dies in Galopp, Walzer oder Mazurka auszuführen, lebte auf bei dem Gedanken an die Kleider, die man möglicherweise anziehen könnte. Nun ward berathen, gekramt, genäht, es war eine Aufregung, die unbeschreiblich ist. Dazu erschien Albert mit einem geheimnißvollen Koffer, in dem prächtige türkische Stoffe lagen, leicht und mit Gold gestickt, genug, um vier Schwestern statt ihrer zwei zu kleiden. Da probirte man, wählte, verwarf das Gewählte, ergriff es dennoch wieder, und als zuletzt Alles zusammen gefunden war und die Schwestern, eh der Anzug verpackt wurde, ihn zur Probe anlegten, das war ein Anblick, zu dem die gesammte Dienerschaft andächtig sich versammelte, denn so etwas war seit Menschengedenken nicht erlebt und gesehen.

Das Kind war unvergleichlich. Was für ein Hals, was für Schultern, welch ein Lächeln, welche Augen unter den vollen Flechten! Lieber Himmel, warum darf man nicht sein Lebtage so einhergehen und den Göttern ähnlich sein!

Man fuhr ab, kam an, man fand ein allerliebstes Stübchen zum Ankleiden; es ging wie der Blitz. Wenn die Thür sich öffnete, dröhnte die Musik herauf, wenn sie sich schloß, schwieg wieder Alles. Nun war die letzte Nadel festgesteckt. Sie glichen sich beide wie zwei Strahlen aus einem Sterne, sie faßten sich an der Hand und traten ein. Alles war schon in voller Bewegung. Albert hielt sich etwas hinter dem Vater, weil von der Verlobung noch nichts declarirt war; eine ungemeine Zufriedenheit überkam ihn bei Emma's Anblick; es war kein Zweifel, so wie sie da kam, konnte sie in jedem Salon, an jedem Hofe auftreten, und dennoch war kein Titelchen Falsch an ihr.

Es dauerte nicht lange, so hatten sie alle Tänze vergeben. Albert beanspruchte bescheidentlich nur einen Contretanz und hielt sich überhaupt mehr unter den Zuschauern. Auch war der Anblick kein übler, denn die Mehrzahl der jungen Damen, welche hier tanzten, hatten bereits ihre Schule in der Stadt durch gemacht und verstanden aufzutreten. So ging es überall nach Wunsch; die Wangen wurden immer blühender, die Lust immer größer, die beiden Schwestern waren mit Herz und Seele dabei, und jeder andere Gedanke ward unbarmherzig bei Seite geworfen. Therese, wenn sie umherschwebte durch das Geräusch, wußte weder, daß ihre Schwester verlobt sei, noch daß sie nach Italien reisen wollten, auch nicht, daß der Ball jemals ein Ende nehmen würde; das Kind aber war völlig im Taumel. All die ernsten Momente, die es erlebt hatte, flogen wie Spreu von seinem Herz ab, und in einer Art Wonne, sich frei zu fühlen, ging es dahin wie ein Schwimmer, der zum erstenmal ins Meer kommt, wo die Wellen mächtiger sind, wo sie aber auch leichter tragen. Ihr Bräutigam galt ihr, als die Reihe an ihn kam, nicht mehr als jeder Andere; er drückte ihr einmal lose die Hand, sie drückte sie ihm wieder und sah ihm selig in die Augen, aber dachte sie an ihn dabei? sie sah die Lichter flimmern und hörte die Musik.

Der Cotillon kam heran. Sie war zu diesem Tanze mit einem jungen Manne engagirt, der ihr bei der ersten Vorstellung kurz seine Bitte vorgetragen hatte und dann zurückgetreten war. Er kam nun und bot ihr den Arm, um sie zu ihrem Sitze zu führen. Sie nahm ihn lächelnd, sie sahen sich in die Augen, ganz unschuldig Eines dem Andern, es war nicht anders als stände Jedes einsam an einem stillen See im Walde und fände im Spiegel seine eigenen Blicke wieder. Er schien höchstens vier oder fünf Jahre älter als sie. Die Musik erneute sich, die Paare eilten an ihnen vorüber, das Kind sah ihnen nach und dachte an nichts.

Gnädigstes Fräulein! sagte ihr Tänzer und stand vor ihr; die Reihe war an ihnen. Ach! rief sie und sprang auf, und als sie dahintanzten, blickte alle Welt ihnen nach, bis die Tour vollendet war und sie wieder auf ihrem Platze saßen.

Sie finden Vergnügen am Tanzen? sagte der junge Mann. Ich tanze für mein Leben gern, antwortete sie. Wissen Sie, setzte sie nach einem Weilchen hinzu, wir kommen so selten an die Reihe, wir sollten uns einmal heimlich einstehlen; wäre das nicht erlaubt? Und dabei warf sie den Kopf übermüthig ein wenig zurück, sah ihn etwas von der Seite an und lachte. Auf der Stelle, gnädigstes Fräulein! Es hatte Niemand daran Anstoß genommen, aber als sie sich wieder setzten, hörten sie eine Stimme hinter sich flüstern: Tanzest du auch nicht zu unbesonnen, liebste Emma?

Sie sahen sich beide um. Albert hatte hinter ihnen Platz genommen, wie man im Theater hinter einander sitzt. O nein, rief sie lebhaft. Was sagte der Herr zu Ihnen? fragte ihr Tänzer und wußte selbst nicht, warum er fragte. Er wird doch unsere Extratour nicht tadeln? Emma antwortete freundlich: O, er meint, ich tanzte zu viel. Es ist ein Freund von uns. Dabei sah sie Albert an und lachte wieder. Aber er irrt sich. Der hat mich noch nicht tanzen sehen; und mit Ihnen tanzt es sich so gut, Sie walzen vortrefflich.

Seit langer Zeit hatte sie sich nicht so glücklich gefühlt. Sie zog eine Camelie aus ihrem Bouquet und reichte sie Albert. Wer nicht tanzt, sagte sie, bekommt kein ganzes Bouquet, nur eine Blume aus besonderer Vergünstigung. Albert steckte sie ins Knopfloch und war sehr zufrieden.

O, wenn Sie Ihre Blumen vertheilen, gnädigstes Fräulein sagte ihr Tänzer und stockte plötzlich, denn Albert sah ihn an. Er wandte sich nun gegen diesen und fuhr fort: Ich hoffe, Sie erlauben, daß ich das Fräulein auch um eine Camelie bitte?

O, um das ganze Bouquet, antwortete höflich[,]aber eiskalt der Verlobte Emma sobald Sie es erhalten.

Nun, also um das ganze Bouquet, gnädigstes Fräulein; wollen Sie es mir schenken? Emma zog schon die goldene Nadel heraus, mit der es angeheftet war, und hielt es in der Hand. Sie müssen mir aber ein anderes dafür verschaffen, sagte sie. Ich bringe Ihnen hernach in der Blumentour das meinige, aber Sie dürfen dann die Schleife keinem Andern geben, denn sonst haben Sie zwei Herrn. Ich werde mich schon hüten vor zwei Herrn! rief sie; hier ist es.

Sie hielt es noch fest, er nahm es ihr aus der Hand, blickte auf Albert und steckte es darauf in dasselbe Knopfloch, in welches dieser seine Camelie gesteckt hatte. Eben tanzte Therese vorüber. Therese, rief Emma, bist du vergnügt? Ihre Schwester nickte ihr zu und war schon weit fort.

Aber die langen Kerzen waren endlich doch herunter gebrannt, und der Tag fing an durch die Bäume des Parkes in den Saal zu schimmern. Man trennte sich, und es war schon Mittag, als manche müden Augen noch nichts vom Sonnenschein wußten, in dessen Wärme sich die Gäste allmählich wieder zu sammeln begannen. Albert war mit dem Papa und dem Gutsherrn schon früh ausgefahren, um sich in dem Felde umzusehen. Therese und Emma gingen durch den Garten, und das Kind dachte nicht daran, daß es hier einst als Frau von R. auftreten und befehlen sollte. Nicht eine Ahnung stieg ihm auf, es hatte noch lange nicht ausgeträumt und den Kopf noch voll Musik und Tänze. Ein junger Mann kam auf die Schwestern zu, er hatte ein Bouquet im Knopfloch, Emma erkannte ihn auf der Stelle.

Haben Sie gut geschlafen, gnädiges Fräulein? Und Sie? zu Therese gewendet. Himmlisch! rief Emma; ich tanzte jetzt noch, wenn es die Musik nur aushielte. Es ist so Schade, wenn erst die wahre Lust kommt, ist alles zu Ende. Darauf eine Antwort, die eben so nach drei und zwanzig Jahren klang, wie die des Kindes nach siebzehn. Die Drei gingen umher, sprachen, lachten und waren seelenvergnügt.

Der junge Mann besaß ein schönes Gut in der Nachbarschaft, war reich und noch unter Vormundschaft, aber er konnte so ziemlich thun, wozu er Lust hatte. Nachdem er einige Jahre studirt und dann auf Reisen gegangen war, kam er nun zurück, um sein Eigenthum anzutreten.

Wer war denn der ältere Herr gestern Abend hinter uns, dem Sie die Camelie gaben, gnädigstes Fräulein?

Therese? rief Emma, blickte ihre Schwester schelmisch an und lachte laut auf. Sie lachte eigentlich immer, wie sie immer tanzte, das heißt, ihr freundliches Gesicht war stets in Bewegung, und da sie immer gut und glücklich war, schien ihr Ausdruck nur eine unendliche Variation desselben lieblichen Themas; sie lachte wie die Nymphen lachen, wenn sie sich im Walde jagen. Es war nicht Unbesorgtheit, nicht Uebermuth, nicht Ausgelassenheit, aber es war, als hätten die Grazien von alledem ein Paar leichte Fäden in den Schleier mit eingewebt, in den sie des Kindes Seele hüllten. Und Emil's jugendliches Herz (Emil war der Name des jungen Mannes) schien sein Gewand aus demselben Stoffe empfangen zu haben, daß sie sich Beide erkannten und begrüßten, wie zwei Vögel, die dasselbe Gefieder tragen und sich doch im Walde zum ersten Male begegnen.

Therese ging mehr schweigend neben ihnen her. Sie setzten sich endlich auf eine Bank, die unter einer breiten Linde stand. Bald sprang das Eine auf, bald das Andere und kehrte wieder zurück, dann wollte Emil auf den Baum klettern und, nachdem er die niedern Aeste betreten, das Kind überreden, auch herauf zu kommen, wogegen Therese protestirte, aber unschuldig und so, daß sie am Ende selbst Lust bekam, denn die Aeste hingen tief bis zum Rasen herab und boten sich auf das Bequemste dar. Wie wenig bedarf es zur Unterhaltung, wenn junge Leute zusammen sind! Es ist ein elektrisches Feuer in der Jugend, erquickender als die geistreichsten Gedanken. Was braucht es mehr als Wärme? was braucht die Sonne mehr, als die Erde, um sie zu überscheinen, und die Erde mehr, als erwärmt ihr Geschenk zurückzustrahlen?

So ging eine Stunde hin; da zeigte sich in der Ferne ein Fuhrwerk. Es ist Papa, rief Therese, ich erkenne ihn! und sprang fort. Die beiden Andern blieben auf dem Platze zurück. Es war am Ausgang des Parks, wo er an das freie Feld grenzte und der Fußweg in ihn einlenkte.

Ihre Blumen hebe ich auf, sagte Emil, als sie allein waren. Das Kind schwieg eine Minute lang oder zwei, dann sagte es plötzlich, als hätte er eben erst gesprochen: Zum Andenken an den Ball? Haben Sie die ganze Zeit darüber nachgedacht? sagte er. Warum nicht? Sie sah ihn an. Es war doch schön gestern Abend, ich will mein Leben lang daran denken. Und darauf, ein wenig verwundert über sich selbst, fügte sie hinzu: denn es wäre doch undankbar zu vergessen, wo man vergnügt war. Nun dann haben wir wenigstens Beide dasselbe, an das wir unser Leben lang denken werden, erwiderte er.

Emma stand auf, denn der Wagen war ganz in die Nähe gekommen, und Emil ging dicht an ihrer Seite ihm entgegen. Albert sah sie jetzt erst, sprang heraus und kam rasch auf sie zu. Der junge Mann grüßte ihn, er erwiderte kalt die Verbeugung, und indem er neben Emma trat, fügte es sich, daß er ihn unschuldigerweise von ihr fortdrängte.

Steh 'ich Ihnen im Wege? fragte Emil so gleichgültig, daß die Frage scharf klang. Albert antwortete nicht, Emma nahm seinen Arm, sie schritten absichtlich ein wenig rascher voran, um allein zu sein, und Therese folgte mit Emil langsamer nach.

Ist der Herr ein Onkel von Ihnen, gnädigstes Fräulein? Nein, ein Freund von Papa. So? und von Ihnen beiden ebenfalls? Natürlich. Und von Ihrer Fräulein Schwester noch etwas mehr als von Ihnen? Therese pflückte eine kleine Blume am Wege ab und gab keine Antwort. Es war wohl indiscret, so zu fragen, gnädigstes Fräulein? O nein. Therese blieb stehen, sah ihn an und sagte: Ich will Ihnen etwas im Vertrauen mittheilen, eigentlich dürfte ich es nicht, aber Sie verschweigen es auf Ihr Ehrenwort?

Sagen Sie es nicht! rief er aus und ergriff plötzlich die Hand des Mädchens. Nein, sagen Sie es dennoch. Nicht wahr, sie ist mit ihm verlobt? fragte er mit leiser Stimme. Ja, das ist sie, antwortete Therese. O, rief er leidenschaftlich, ich hatte es geahnt! Aber da Sie mir so viel Vertrauen zeigen, will auch ich Ihnen etwas sagen: ich verehre Ihre Schwester so sehr, wie ich nie in meinem Leben Jemand geliebt habe, nie Jemand lieben werde. Er sprach es rasch und hastig aus, und nachdem er es gesagt und Therese es schweigend aufgenommen, gingen sie, ohne ein Wort weiter zu wechseln, den Weg fort, bis sie die Gesellschaft erreichten.

Der Kauf war so gut als abgeschlossen. Nach dem Diner fingen die Equipagen an zu rollen, und Abends war unser vierblättriges Kleeblatt wieder zu Hause. Die Stuben sahen zuerst ein wenig trist und leer aus, aber am andern Morgen war Alles, wieder im alten Geleise. Albert ging fleißig mit seiner Braut spazieren, Therese nahm sich des Haushalts um so eifriger an und bereitete die Reiseeinrichtungen vor, denn die Zeit des Fortgehens rückte immer näher.

Ueber Emil hatten die Verlobten nicht gesprochen, nicht einmal der Name war genannt worden. Aber Emma war so offen und so bezaubernd freundlich gegen Albert, daß dieser ihn bald vergaß. Nur Eines war seltsam. Es gab Zeiten, wo das Kind einsam im Garten ging, stehen blieb, weiterschritt, sich an einen Baum lehnte und in die Luft sah oder einem Käfer lange mit den Augen folgte, der am Stamme hin und her kletterte. Therese schien das allein zu sehen; auch bemerkte sie, daß ihre Schwester oft die Treppe ganz langsam hinaufstieg und eben so hinab, während sie sonst immer drei, vier Stufen auf einmal zu nehmen pflegte. Auch sie hatten nur ein einziges Mal über Emil zusammen geredet. Es mochte acht Tage nach dem Balle sein, als Therese, die Nachts nicht schlief, Emma unruhig sich bewegen hörte, bis diese ganz leise ihren Namen nannte. Therese, schläfst du? Nein, Kind, warum schläfst du nicht? Ich wachte nur zufällig auf; gute Nacht. Nach einer Weile: Therese! Ja, Kind? Weißt du, als wir damals am Morgen im Garten waren und Albert dazu kam, gingst du mit dem Herrn hinter uns her. Habt ihr da noch lange gesprochen? Nein, nicht lange. Ich dachte, ihr hättet euch noch allerlei erzählt. Was sollten wir uns erzählt haben? wir waren ja gleich am Hause. Nun, der Weg war doch lang. Ja, aber er schwieg still. So, er schwieg still?

Sie schwiegen wieder; darauf begann das Kind von Neuem: Weißt du, Therese ? Ja? Weißt du, was mir immer so sonderbar ist? Als Albert im Cotillon plötzlich hinter uns saß, war mir das gar nicht recht zu Anfang, und doch bin ich nie so glücklich gewesen, als da ich ihm die Camelie gab und hinterher. Albert ist so gut. Gewiß, das ist er. Ich freue mich so auf Rom, ich wollte wir wären schon auf der Reise Das werden wir bald genug sein. Ja, recht bald; gute Nacht.

Diesmal schliefen sie beide ein und träumten, die eine von Italien, die andere von ihrer Schwester Ausstattung.

Albert hatte bei seinen Reisen in fremden Ländern einen scharfen Blick für die Dinge gewonnen. Wir nehmen es diesmal nur im äußerlichsten Sinne. Wenn er mit Emma spazieren ging, schien es ihm öfter, als rausche seitwärts etwas in das Gebüsch, wie ein Wild, das aufspringt und davon eilt, und doch meinte er, es wäre eine Männergestalt gewesen. Das Kind lachte und behauptete, die Bauernkinder stellten Sprenkel oder suchten Nüsse, denn man war ja im Herbste. Aber als er einmal allein durch das Feld ging, be - gegnete ihm Emil auf breitem Wege, sah nach links ab und ging unbefangen an ihm vorüber. Was sollte das bedeuten? Die Güter lagen doch fast eine Meile auseinander. Eines Abends endlich, als Albert so im Zwielicht den Garten durchstreifte, hörte er deutlich, daß etwas von der niedern Mauer, welche ihn umgrenzte, herabsprang, und plötzlich stand wieder der junge Mann vor ihm, that aber an ihm vorüber einige Schritte in einen Rasenplatz und rief laut, wie man einem Hunde ruft.

Herr von M ..., sagte Albert und trat an ihn heran, wenn ich nicht irre? Ja, ganz recht, guten Abend. Mein Hund ist da oben durch die Staketen in den Garten gerathen, ich hörte ihn plötzlich anschlagen und sprang rasch über die Mauer, um ihn herbeizulocken. Das Thier ist oft, als kennte es meine Stimme gar nicht mehr.

Pflegen Sie hier in der Umgegend zu jagen? wenn ich fragen darf. Nein; ich war hier in der Nähe und hatte da zu thun. Es fiel mir ein, den Rückweg zu Fuße zu machen, der Bediente mit den Pferden ist voraus. Dies antwortete er nachlässig und halb abgewandt, pfiff und drohte dem Hunde, der aus der Ferne herangesprungen kam.

Sie haben wohl öfter hier in der Nähe zu thun? fragte Albert höflich, aber mit etwas zweifelndem Accent. Warum? antwortete Emil und streckte dem Hunde die Hand hin, an der er in die Höhe sprang.

Weil ich Sie öfter hier gesehen zu haben glaube. Gingen Sie nicht neulich oben bei der Buchenschonung an mir vorüber? Das ist nicht unmöglich. Es ist Schade, daß Sie dann nicht einen Augenblick bei uns eingetreten sind. Ich werde das nächstens einmal thun, wenn Sie nichts dagegen haben. Leider werden Sie nur wahrscheinlicherweise in diesem Falle mich und die Familie meines Freundes nicht mehr zu Hause finden, denn wir reisen übermorgen nach Italien. Gute Nacht. Mit diesem Wunsche, dem eine äußerst verbindliche Verbeugung folgte, wandte sich Albert ab und setzte langsam seinen Weg fort.

Der junge Mensch stand einen Augenblick wie einer, dem ein Schuß dicht vor den Ohren unerwartet abgeschossen wird. Er ließ Emma's Verlobten ein Dutzend Schritte thun, sprang ihm nach und stellte sich ihm in den Weg. Nach Italien reisen Sie? Ja, Herr von M .... Und die jungen Damen ebenfalls? Auch die jungen Damen, deren Bruder bereits dort ist, wie Sie vielleicht gehört haben. Und Sie gehen auch mit ihnen?

Albert zögerte, hierauf zu antworten. Es war noch hell genug, um sich erkennen zu können. Emil athmete, wie wenn er eine weite Strecke in rasendem Laufe zurückgelegt hätte. Er sah ihm in die Augen, und Albert fixirte ihn durchdringend, sein Blick schien mit dem seines Gegners kämpfen zu wollen, dieser aber leistete ihm Widerstand. Ja wohl, ich gehe gleich - falls dahin, und mit meinem Freunde, und mit seinen Töchtern, sagte er langsam. Warum? interessirt Sie das? In dieser Ruhe lag etwas Schneidendes denn sie wußten beide genau, einer vom andern, was er dachte und wollte etwas beleidigend Herausforderndes. Emil besann sich nicht lange. Sie sind mit Fräulein Emma verlobt? rief er aus. Er verstand es nicht, auf Umwegen den Kampf zu beginnen, er ging gerade aufs Centrum los.

Albert war durchaus nicht aufgeregt, sondern in der That so ruhig, wie er sprach und auftrat. Kalten Blutes überlegte er mit sich: Drehst du ihm einfach den Rücken zu, wie einem jungen Menschen, der dir gegenüber fast noch ein Kind ist, oder giebst du ihm eine Antwort, auf die ein Paar Pistolen folgt, oder endlich suchst du ihn so sanft als möglich bei Seite zu schaffen, wie man einem Bettler, den man beim Stehlen ertappt hat, doch ein Stück Brod giebt und ihn leise zur Thür hinausschiebt, der Bequemlichkeit wegen? Dies schien ihm das Beste zu sein. Ja, ich bin mit Fräulein Emma verlobt, antwortete er milde. Und Emma liebt Sie? Das klang noch leidenschaftlicher. Danach fragt man nicht! antwortete er schärfer. Ich frage aber danach. Ich höre es, Herr von M.! Albert hätte auflachen können, so komisch kam ihm das Gespräch vor. Und ich sage, sie liebt Sie nicht! rief Emil, den es in immer größere Aufregung setzte, daß man ihm so kühl und ruhig abwehrend Rede stand. Ueber den Accent aber, mit dem er diesmal gesprochen hatte, triumphirte das kalte Blut des Mannes nicht. Es durchfuhr ihn etwas und klopfte ihm in den Schläfen. Was giebt Ihnen das Recht, fuhr er auf, mir hier über eine Dame Aufschlüsse zu geben, die Ihnen unbekannt ist, und von der Sie selbst annehmen, daß sie mir sehr nahe steht? Glauben Sie, ich wäre der Mann, um mich auf dergleichen Gespräche einzulassen? Gehen Sie. Werden Sie zehn Jahr älter als Sie sind und antworten Sie dann selbst in meinem Namen, was Sie als Erwiderung hier verdienten! Gute Nacht, Herr von M.

Mit diesen Worten wollte er ihn stehen lassen, aber es huschte etwas Weißes heran; kein zahmes weißes Reh, das über den Weg sprang, nein, das hätte nicht so unschuldig ausgelassen aufgeathmet: das Kind war es, das sich an Albert's Arm hing und wie durch Zauberei plötzlich zwischen beiden Männern stand.

Komm, liebste Emma, sagte ihr Verlobter und wollte kurz mit ihr umwenden. Aber das Mädchen ließ Albert's Arm los, unbewußt, als wollte sie ihn nicht zurückhalten, und sah den an, der ihr so nahe gegenüber stand. O, Sie sind es! rief Emil, und die Thränen stiegen ihm in die Augen. Dann kniete er vor ihr nieder, so leicht, so schlank, als wäre es zum ersten Mal, daß ein Mann vor einer Frau kniete, als hätte niemals auf dem Theater ein Held vor seiner Dame diese Stellung angenommen.

Das Kind schwieg und sah ihn an, und es war ihm, als wäre die von der Dämmerung verhüllte Gestalt des Jünglings leuchtender als die untergehende Sonne, so geblendet ruhten seine Blicke auf ihm. Aber auch Albert sah plötzlich klarer, als er vordem gethan; er fühlte, daß hier der Punkt war, wo eine Schlacht verloren wird, oder gewonnen. Seine Besonnenheit blieb ihm treu; er ergriff still des Mädchens Hand, legte sie wieder in seinen Arm und sagte mit gleichgültigem Ton: Wir gehen jetzt, liebe Emma; dann zu Emil gewandt mit befehlenderer Stimme: Sie erwarten mich hier, Herr von M., wir haben zusammen zu reden.

Emil blieb unbeweglich auf seinem Platz, Emma wandte sich mit Albert dem Hause zu, wo er sie in das offen stehende erleuchtete Gartenzimmer führte und zu einem Sessel geleitete. Ich gehe jetzt wieder zu Herrn von M. hinaus, begann er, und sage ihm, du wünschtest, daß er fortginge. Oder soll ich nicht? Soll er lieber bleiben? Du bist frei; es kommt nur auf ein Wort von dir an.

Frei! Lieber Himmel, sie saß da und dankte Gott, daß ihr der Athem nicht ausblieb, denn die Kehle wollte ihn durchaus nicht mehr durchlassen.

Soll ich ihm das sagen, Emma? wiederholte er.

Ja.

Aber er ging noch nicht. Liebste Emma, fragte er noch einmal sanft, thut es dir nicht leid, daß ich ihn so fortschicke? Sanft sprach er das, sanft, als wenn ein Wagen voll Federn über uns ausgeschüttet wird, der uns erstickt.

Nein, es thut mir nicht leid, antwortete sie und sagte mechanisch nach, was er gesprochen hatte, denn sie selber hatte keine Gedanken und keine Worte.

Er ging also. Emil stand noch da, wo er vor Emma gekniet hatte, sein Hund drückte sich dicht an ihn. Tausend Gedanken durchschoßen seine jugendliche Seele, wie Blitze in einer schwülen Nacht sich kreuzen, planlos hin und her. Er sah Albert wieder erscheinen und schwor sich, keinen Zoll breit nachzugeben.

Gehen wir ein wenig auf und nieder, begann dieser ruhig. Wie es Ihnen angenehm ist. Und seien Sie so freundlich mich anzuhören, denn ich habe ziemlich weit auszuholen. Desto besser.

Emil war darauf gefaßt gewesen, lebhaftere Worte zu hören. Bedurfte er all des Muthes, mit dem er seinen Gegner hatte empfangen wollen? Nein, Herr von R. fing an von sich selbst zu erzählen, wie er damals dem Kinde von sich gesprochen; Alles brachte er wieder vor, und wie er auf Emma seine ganze Zukunft gebaut hätte, wie Emil ihm nun Alles entreißen wolle, er, den er nie beleidigt. Er erzählte nur; kein Wort der Anklage, keine Bitterkeit, keine Ironie, nur die einfachen Begebenheiten. Und als er die Ereignisse des gegenwärtigen Abends eben so gemessen und ohne Leidenschaft wiederholt hatte, da plötzlich brach er ab, ergriff des jungen Mannes Hand und fragte bewegt: Was würden Sie jetzt thun an meiner Stelle? Reden Sie offen, wie ich es gethan habe! Sie sind viel jünger als ich. Ich kenne die Welt, ich bin unzähligen Charakteren begegnet, ich habe manchen Mann in Momenten gesehen, wo nichts verborgen bleiben konnte, jeder Nerv sich anspannte, jeder Gedanke seine Bewegung forderte: so lernte ich die Menschen kennen, und es bedarf jetzt nicht erst langen Studiums für mich, um Den zu enträthseln, den ich mir gegenüber habe. Glauben Sie mir, ich bin nicht oft so rückhaltlos gewesen, wie heute gegen Sie, aber ich fühlte, daß ich an Ihr Edelstes mich wenden durfte, daß ich Ihnen außerdem schuldig war, auch nicht eine vielleicht erlaubte Maske anzunehmen, mich aufgebrachter zu stellen, als ich in der That bin. Ich bin es nicht. Ich begreife Sie; Alles was ich bis heute von Ihnen sah und hörte, hat Ihnen nur meine Hochachtung erworben, und als Sie mir vorhin so leidenschaftlich in den Weg traten, da sprach Ihre Erregung eben so sehr für Sie, als jetzt Ihre Ruhe, mit der Sie mich anhören. Ich habe Ihnen wörtlich wiederholt, welche Fragen ich eben dort im Zimmer an meine Verlobte gestellt und wie sie mir geantwortet hat. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen kein Wort vom Gespräche verborgen blieb. Emma liebt Sie nicht. Urtheilen Sie jetzt frei: was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären was werden Sie 'thun in der Ihrigen?

Emil fühlte das Beschämende dieser Worte, aber dennoch empfand er dunkel, daß es darauf abgesehen war, ihn zu beschämen, und ein leiser Unwille darüber, daß auf diese Weise seine Ehre ins Spiel gezogen war, hielt den Rest des Muthes aufrecht, der ihn sonst völlig verlassen haben würde. Und als eine Stille eintrat und er mit seiner Antwort zögernd neben ihm weiter schritt, da ward ihm immer mehr offenbar, daß diese Offenherzigkeit nichts gewesen als die klügste Politik, und dieser Mißbrauch des Gefühls erbitterte ihn. Würdest du zu so plötzlicher Sanftmuth umgesprungen sein? fragte er sich, du? wenn es sich um die Geliebte gehandelt? um Emma?

Ihre Antwort, sagte Albert. Gut, ich will offen sein, rief jener aus; sei dem allem wie ihm sei, ich liebe sie dennoch und Sie lieben sie nicht!

Trennen wir uns hier, erwiderte nun schneidend sein Gegner. Vielleicht kommt Ihnen einmal der Gedanke, wie ich gegen Sie war, und wie Sie mir vergolten haben. Er wollte ihn verlassen, aber Emil hielt ihn zurück. Sie haben die Wahrheit verlangt, ich habe sie ausgesprochen. Sie sagen, daß sie mich nicht liebt; ich aber liebe sie, da giebt es kein Ende kein Aufhören. Eher wollte ich mein Leben lassen, als die Hoffnung, sie einst zu besitzen. Sie sind ruhig gewesen, Sie sind kühl und gemessen, mir steigt das Blut zum Herzen und in die Stirn; es wäre wahrlich keine Kunst, mir jetzt vorzuwerfen, daß ich wahnsinnig sei wenn ich's nicht wäre, das wäre ein Vorwurf!

Gute Nacht, mein Herr, antwortete trocken Albert, drehte sich und ging in gewöhnlichem Gange auf das Haus zu. Nach ein paar Dutzend Schritten wandte er sich um und sah den jungen Menschen noch immer da stehen, schwarz vom hellen Abendhimmel abstechend.

Er wird zur Besinnung kommen. Uebermorgen reisen wir ab. Mit diesen Gedanken trat er in den Saal, wo Therese und ihre Schwester nähend bei der Lampe saßen und unschuldig aufblickten, als er heran kam.

Am andern Morgen bat Therese Albert um einige Minuten und erzählte ihm, Emma habe ihr den Vorfall am vergangenen Abend mitgetheilt, und sie ihr nun auch nicht verschwiegen, was Emil ihr am Morgen nach dem Balle im Garten sagte.

So, das hat er dir gesagt, und das hast du ihr erzählt, Therese?

Ja, ich hielt es für meine Pflicht; denn wir nennen sie freilich das Kind, aber sie darf hier keines mehr sein selbst wenn sie eins wäre, setzte sie hinzu.

Wie verstehst du das, liebe Therese: selbst wenn sie noch eines wäre? Wenn sie eines ist, so bleibt sie eines, es mag nun das Gegentheil noch so nothwendig, und vorgefallen sein, was da will.

Dann aber, antwortete das Mädchen und erröthete leise, könnten Dinge vorfallen, die sie aufhören ließen ein Kind zu sein, und es ist die Frage, ob sie dann eine Verpflichtung hätte, zu halten, was sie als Kind versprach, oder ob sie als Kind überhaupt etwas versprechen konnte.

Was sind das für Philosophieen? rief Albert und ward unruhig. Hat dir Emma Eröffnungen gemacht, zu denen dies die Einleitung sein soll?

Nein.

Glaubst du aber, daß sie etwas verschwiegen haben könnte, wozu dies die Einleitung wäre möglicherweise?

Das weiß ich nicht.

Das heißt, du willst es nicht aussprechen.

Lieber Albert, du wirst ernsthaft und ohne allen Grund. Sei gewiß, sähe ich in dem, was geschieht, ein Unrecht, so würde ich nicht darüber schweigen; dazu habe ich das Kind zu lieb. Was Emma denkt, weiß ich wirklich nicht, sie sagte kein Wort, als ich ihr erzählte, was ich dir gesagt habe. Auch stehst du ihr darin jetzt ja viel näher als ich, und wenn du es für Recht hältst, wirst du sie fragen. Und nun bin ich zu Ende.

Er hielt ihre Hand in der seinigen, wie man einen Bekannten beim Gespräche am Rocke festhält. Sie zog sie los und ging fort. Man könnte es drucken lassen, was sie sagt, dachte ihr Albert nach, und doch keineswegs pedantisch. Ich muß auf den Grund kommen, dachte er weiter, und als es Abend war, hatte er einen langen Spaziergang mit dem Kinde gemacht. Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte Alles eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinander setzte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme man dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war Albert's Meinung, und war sie es vorher nicht ganz gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und das Kind? Mit acht Jahren war es den Sperlingen mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm gesagt, es könne sie fangen, wenn sie sich's auf den Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und da Albert es so sicher aussprach! Wie sollte es denken, sein eigenes unschuldiges Persönchen sei irgend Jemand zu seinem Glücke nothwendig, es könnte Jemand sterben vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Albert's Herablassung und konnte nicht recht begreifen, warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte.

Man war in der Stadt; die Koffer standen gepackt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten werden. Man logirte bei einer reichen alten Tante, einer Schwester des Vaters. Am letzten Abend erklärte Therese, sie werde bei ihr zurückbleiben. Eine Revolte entstand. Des Vaters Gegengründe besiegte sie, Albert's Bitten wich sie aus, Emma's Thränen überwand sie, freilich mit schwerem Herzen, und am andern Tage, als der Zug abbraus'te, sah sie ihm einige Minuten nach und rollte dann neben ihrer Tante allein vom Bahnhofe in die Stadt zurück, saß Abends hinter der großen silbernen Theemaschine und sprach mit all den alten und jungen Herrn, welche der geistreichen alten Frau allabendlich die Cour zu machen pflegten, so behaglich und lebhaft, daß ein jeder von ihnen, wenn er sie das nächste Mal nicht wieder gefunden hätte, der Meinung gewesen wäre, es sei Alles anders geworden und fehle etwas Langgewohntes, Unmuthiges und Unentbehrliches im Hause.

Als Emil an jenem Abende von seinem Streifzuge zurückkehrte, war es tiefe Nacht. Er hatte Umwege gemacht, er war noch einmal in den Garten gedrungen und hatte den Fleck aufgesucht, wo Emma gestanden, sich da auf den Boden gesetzt und denken wollen. Er wollte fort, es zog ihn wieder zurück; oft meinte er, sie riefe seinen Namen, er stand dann und lauschte, aber es war der Wind, der durch die Gebüsche zur Seite des Weges fuhr, die aufrauschten und dann wieder schwiegen, wie geheimnißvolle Wesen, die wohl sprechen könnten, wenn sie wollten, aber sie woll - ten nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und gewaltig.

Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand noch leer und uneingerichtet da; es hatte vor ihm Niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr durcheinander. Sein Bedienter erwartete ihn; er schickte ihn zu Bett und dachte selbst nicht an Schlafen. Er fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort mit den Augen ein Wort fest, das ihn lockte, und ließ es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam standen die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie unauflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen zu gewinnen.

Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, an Albert's Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu denken.

Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter in den Wegen lagen, während die grünen noch an den Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn - sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land, hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte, ein Erdbeben müßte aufbrechen und Alles durcheinander werfen.

Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken, aber sie verscheuchten sie nicht. Es drängte ihn fort. Nicht die Verzweiflung, daß Alles verloren sei, sondern die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte Emma noch einmal sehen und sprechen. Diesmal kam er direct vor das Haus; aber die Laden des untern Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das war Alles, was er von Leben sah; es fiel ihm nun ein, daß sie abgereis't sein müßten. Die Haushälterin sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt sein, wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch zu erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen, packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch zu sehen.

Angekommen in der Stadt, hatte er bald die Wohnung der Tante erfragt und gefunden. Es war noch am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht gekommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu haben, ungesäumt anzuklopfen, als hätte er die wichtigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man meldete ihn auf diese Frage ohne Weiteres an; er ward angenommen und die Thüre des Salons vor ihm geöffnet.

Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf in die Hand gestützt an einem Fenster saß. Sie erhob sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde; deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: Ich hatte gehofft Ihre Schwester zu finden.

Das thut mir leid, antwortete sie, matt lächelnd. Sie sind gestern Morgen abgereis't.

O, sie ist abgereis't! murmelte er nach und trat an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zurückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig vorüber; drüben sah ein alter Herr heraus und sein Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder neben einander auf der Schwelle der Hausthür und fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte, durch das sie nun sämmtlich nach der Reihe die Welt ansahen und strahlend vor Vergnügen waren.

Gnädigstes Fräulein, begann er, sich zu Theresen wendend, der sein Stillschweigen nicht auffiel, sie sind nach Italien gereist, nicht wahr?

Ja, antwortete sie, und stellte sich neben ihn, die Stirn, wie er, den Fensterscheiben zugewandt; er war ihr angenehm in diesem Augenblicke, weil sie ihn so gut begriff. Soll ich Ihnen einmal etwas sagen, fuhr er fort, immer noch als führe er das Gespräch nur in Gedanken, wie man oft in sich Zwiegespräche führt und die Andern antworten läßt, was man am Treffendsten selber beantworten kann, soll ich Ihnen etwas sagen, etwas das so wahr ist, als daß Sie und ich hier stehen? Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: Und dies ist, daß Ihre Schwester Herrn von R nicht liebt und er sie nicht. Ich will mein Leben lassen, wenn das nicht die Wahrheit ist!

Therese fand sich vollkommen in seine Weise. Was hilft uns beiden das? antwortete sie und sah gerade aus.

Also Sie wissen es auch? Sie wissen es? rief er feurig. Sie wissen es? Therese erwachte. Wozu nützt dies Gespräch? sagte sie. Ich werde Emma nicht loslassen, ich kann es nicht! rief Emil aus. Ich muß es wissen, ob mein Gefühl wirklich die Wahrheit ist. Er soll mir so nicht fortnehmen, was mein ist, ich reise ihnen nach! Ich muß die Wahrheit wissen!

Lieber Freund, sagte Therese und behielt seine Hand, die er ihr reichte, als wolle er Abschied nehmen, um auf der Stelle abzureisen, und wenn das Kind Albert nicht liebte, wäre es nicht vielleicht doch besser so, wie es ist? Bedenken Sie das. Ich habe es auch bedacht.

O, ich weiß, daß das nicht Ihr tiefstes Gefühl ist, das Sie so sprechen lehrt, rief der junge Mensch. Es ist etwas Künstliches in Ihnen, das so redet. Nicht wahr? Sie möchten, daß kein Unheil entstände? Es soll keins geschehen! Sie möchten, daß Ihre Schwester glücklich wird; sie soll es werden! Sie meinen, Emma wäre so jung, so biegsam, ein Mann wie ihr Verlobter würde sie am sichersten durch das Leben führen. O, ich bitte Sie, wenn Sie jemals geliebt haben, giebt es eine Sicherheit, die größer wäre, als das Glück derer, die sich lieben und sich gefunden haben? Ist nicht alles andere leere Berechnung, Schein, Jammer, zerbrechend, wenn das Schicksal wirklich kommt, statt nur spielend heranzutreten? Sehen Sie mich an, es ist keine Lüge; Sie glauben es, wie ich es glaube!

Das Feuer war ihm in die Wangen gestiegen und glühte in seinen Worten. Therese wußte nur zu gut, was er meinte; sie schwieg und er gefiel ihr unaussprechlich, er war ihr wie ein Bruder, und indem sie seine Hand hielt, schien durch seine Fingerspitzen ein Gefühl der Verwandtschaft in sie einzuströmen. Er ließ sie nun los, schritt den Saal hinunter und kam zurück, sah einige Bilder an und setzte sich dann neben sie auf den Divan, auf den sie sich gesetzt hatte. Sie sprachen nicht weiter. Nach weniger Zeit nahm er seinen Hut und sagte: Morgen reise ich. Ich kann mir bis dahin meinen Paß und das Uebrige besorgen. Sie fand es ganz natürlich. Aber Sie kommen noch einmal, ehe Sie fortgehen? sagte sie an der Thüre, bis zu der sie ihn begleitete. Ja, rief er, und es beglückte ihn, daß sie so stillschweigend seine Pläne billigte, ich komme noch ein -, zweimal, so oft ich kann. Lassen Sie mich abweisen, wenn Sie mich nicht brauchen können, aber ich komme wieder. Damit trennten sie sich.

Therese fing an, ihr Zimmerchen in Ordnung zu bringen, das sie sich im Hause zu ihrem besondern Versteck ausgesucht hatte. Sie stellte sich alle Möbeln nach ihrem Geschmack um, jedes Stück bekam eine andere Stelle, und als Alles zurecht gerückt war, sah es aus, als hätte es nie anders stehen können. Sie packte ihre Schreibmappe aus und pflückte die welken Blätter aus den Blumentöpfen, die sie ans Fenster hatte tragen lassen. Mitten aus dieser Arbeit lief sie ans Clavier, schlug es auf und fing an zu singen. Sie hatte mehr eine klare, weiche, als eine mächtige Stimme, und eine Nachtigall, die es gehört, wäre gern näher gekommen, um zu hören, statt aufgescheucht davon zu fliegen.

So traf sie auch am andern Tag Emil, den sie ohne Weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als Andere. Er lehnte sich übers Clavier und sprach, während sie allmählich die Hände in den Schooß legte und ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische, und es lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der Zukunft, die Vielen so früh verloren geht. Er erzählte, wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr Bild allein klar geblieben. Er hatte Alles bemerkt, was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte, daß sie mehr als ein Bild sei. Therese vergaß die Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrachtete Emil als wäre er in Wahrheit längst mit Emma vermählt, als wäre das abgethan und hätte sich diese Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst. Und doch, welche Luftschlösser, die sie Beide erbauten! Erst als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deutlich: die stolzen Gebäude lösten sich in Wolken auf, immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel einzig zurückblieb, unter dem sie traurig allein stand.

Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise ging von statten, wie eine aufgezogene Uhr abläuft. Die beiden Herren befanden sich vortrefflich in Emma's Gesellschaft, die sie auf das Reizendste unterhielt, ohne sie einen Augenblick zu geniren. Das Kind hatte an Allem Interesse, erröthete froh verwirrt, wenn ihm Fremde vorgestellt wurden wie einer großen Dame, sprach aber doch sehr gewandt und klug mit ihnen und erzählte Albert mit Wonne, was es beobachtete, war es nun ein Gespann prächtiger Pferde, oder ein seltsamer Thurm, oder eine Katze auf der Gasthaustreppe; jeder Regen, jeder Sonnenschein entzückte es, und nur wenn es Abends allein an Therese dachte, fielen ihm die Thränen auf das Kopfkissen, bis es darüber einschlief.

Auf dem Marcusplatze von Venedig fingen die Lichter an aufzublühen, und die Sterne über ihnen, die den reinen Himmel durchbrachen. Gelblich ins Grüne, Rothe, Violette schimmernd, aber feurig rein in einander übergehend, war seine Farbe, und sie spiegelte sich auf den Wogen des Meeres, die schaumlos anschwellend in langen Reihen dahinzogen, zu den Marmorstufen der Paläste, die sie anplätscherten, zu den schwarzen Masten der stillen Schiffe, an deren Schärfe sie sich theilten, und fern in die Weite zum Horizonte, der schwarz war und sich in Duft verlor.

Die Drei fuhren in einer Gondel mitten durch die schweigende Pracht des Abends, weit genug von der Stadt, um ihrem Treiben entronnen zu sein, und doch nahe genug, um die Musik auf dem Platze wie ein liebliches Gesumme zu vernehmen, mit dem die Winde spielten. Die Gondel flog so sicher dahin, das Kind war so glücklich. Seine Hand ruhte in Albert's Arm, in der andern hielt es einen Veilchenstrauß, der ihm am Morgen von einem blumenverkaufenden Mädchen zugeworfen ward und dessen Blüthen größer waren, als sie bei uns wachsen. Seine Seele war frei und glatt wie der Himmel, in dem sein Auge versank, nur keine Sterne darin, doch auch keine Wolken.

Viele Gondeln fuhren umher, manche ganz nah vorüber, rechts oder links ausweichend, wie Schwalben, die über die Fläche huschen, spitz, schlank und flüchtig. Plötzlich fühlte Albert, daß die Hand des Mädchens zitterte und sich seinem Arm entzog. Eine Gondel streifte an der ihren vorüber, ein paar dunkle Gestalten saßen darin: es war nicht möglich, auch nur eine Spur ihrer Gesichter zu erkennen. Was ist dir, Emma? fragte er. Sie schwieg. Du zitterst? Ja, ich zitterte. Man merkte es ihrer Sprache an. Gieb mir deine Hand wieder!

Doch sie schlug die Arme untereinander, plötzlich aber warf sie die Veilchen ins Meer und senkte den Kopf in ihre Hände. Emma, fragte er wieder, was ist dir? Nichts, antwortete sie und er fragte sie nicht weiter.

Sie hatte dagesessen und die Welt schwamm vor ihren Augen sehnsuchtslos und still vorüber. Da kam die Gondel, sie sah die eine der dunklen Gestalten, auf der Stelle erkannte sie sie, sie leuchtete, wie damals Emil im Garten, als sie von ihm gegangen war. Und als sie so rasch verschwand, da war es ihr, als dränge ein furchtbarer Schmerz in ihre Seele; sie hätte ihren Vater, Albert, Therese, Alles hätte sie verlassen können, nur um der dunkeln Gondel nachzuschweben, ihn zu sehen und ins Meer zu sinken. Und der Schmerz zitterte ihr in allen Adern, die Thränen stiegen ihr unaufhaltsam auf, und als Albert redete, war ihr seine Stimme so unerträglich, daß sie hätte ins Meer stürzen mögen, nur um sie nicht mehr zu vernehmen. Und einer andern Stimme lauschend, von der sie nie etwas gewußt, die aus ihr selbst zu ihr sprach, hörte sie von einer Zukunft, an die sie nie gedacht, von einer Vergangenheit, die ihr niemals klar gewesen. Zum ersten Mal dämmerte es in ihr auf, als könnte sie einen Willen für sich haben und die Andern zwingen, ihn als das anzuerkennen, dem sie allein gehorchen wollte.

So dachte das Kind. Sie legten am Ufer an. Albert bot ihr die Hand; sie war schon ohne seine Hülfe auf die Stufen der steinernen Treppe gesprungen. Er bot ihr den Arm, sie nahm ihn, aber sie dachte: Du thust es, weil du mußt; wäre es möglich, daß du einst nicht mehr müßtest?

Unter solchen Gedanken schlief sie ein. Aber seltsam: was ihr in der Gondel klar und leuchtend gewesen war, verschwamm mehr, und mehr am andern Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschützt neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Gedanken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute sich auf Rom und auf ihren Bruder.

Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im ersten Momente berührte ihn das energische Nichts sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich getäuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort unerklärlich bleiben, er vergaß es.

In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten Wohnung heimisch geworden. Albert's Genuß fing hier eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein so zu sagen. Emma's Bruder, Heinrich, der sich ihm auf das Herzlichste anschloß, zeigte ihm was neu war und der letzten Zeit angehörte. Emma ging auf in der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war unermüdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von Grund aus zu genießen, denn die meisten erholten sich von langjährigen Mühen, aus denen sie endlich geflüchtet waren. Dies die älteren, die jüngeren aber sammelten begierig für ein langes Leben Kenntnisse und beglückende Erinnerung. Allen aber war Emma lieb, sie wetteiferten, ihr den unendlichen Vorrath der Dinge zu erklären, jedes liebliche Bild strahlte aus ihr zurück, und ihre Augen lernten allmählich das Richtige finden.

Das dauerte vom Morgen bis zum Abend. Wie rollte es sich leicht in den Wagen durch die Campagna, wie ritt es sich lustig durch die gebirgigen Wege, wie ging es sich leicht in den Gärten, und Abends, welch ein Leben! Man sprach, man hörte Musik, man tanzte, oder die Säle mit den Statuen wurden bei Fackellicht betrachtet, und dann die Stadt selbst im Mondschein, und am andern Tage sprangen schon früh Morgens die unermüdlichen Fontaine im Sonnenglanze und lockten sie, ihrem Rauschen zuzuhören.

Der Winter ging so hin, er war ungewöhnlich milde gewesen. Sie dachten, seine Strenge würde erst in vollem Maße eintreten, als schon überall die Knospen wieder sprangen und die Wärme zunahm.

Man war eines Abends in der Soiree bei einer französischen Familie, welche an bestimmten Tagen offenes Haus hielt, und zu der sich die Welt drängte. Plötzlich sah Heinrich seine Schwester durch die Menge auf sich zukommen und still neben sich setzen. Er hatte ein geräuschloses Zimmer aufgesucht, wie das seine Art war. Emma drückte sich schweigend an ihn und legte ihre Hand in die seine; sie war eiskalt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah zu Boden, aber sie sprach kein Wort.

Kind, rief er, bist du krank? Ja, antwortete leise das Mädchen, ich glaube, mir ist nicht ganz wohl; geh mit mir nach Hause. Aber sag den Andern nichts. Laß uns so fortgehen. Ich will's nur irgend jemand sagen, damit sie sich nicht ängstigen. Er verließ sie, kam sogleich wieder und ging bald mit ihr allein durch die dunkle Nacht. Ihre Wohnung war auf dem Capitol; als sie die Stufen hinanstiegen, hielt Emma in ihrer Mitte inne und setzte sich auf einen Stein. Ich bin so müde, sagte sie, als hätte ich Blei in den Knieen. Er nahm ihre Hand und fühlte den Puls. Fieber hast du nicht, Kind; ist dir sonst etwas zugestoßen? Ach, Heinrich, sagte sie, ich wollte, wir drei Geschwister wären noch bei uns auf dem Lande, und du wärst nicht fortgegangen, und es wäre nichts vorgefallen. Wir waren da so glücklich! Sie fing bitterlich an zu weinen.

Bist du's jetzt nicht, Kind? Ich dachte doch, du wärest es? Komm, sagte sie, wir wollen hinauf gehen. Sie stiegen die letzten Stufen hinan. Es dauerte nicht lange, so erschienen Albert und der Vater, ein Arzt mit ihnen. Es ward examinirt und berathen, irgend etwas Unbedeutendes verordnet, und man beruhigte sich vorläufig.

Andern Tags kam Emma wie gewöhnlich zum Frühstück. Es hatten sich schon einige Bekannte eingefunden. Sie setzte sich still hin, ihre Augenlieder sahen matt aus und waren leise geröthet, die Wangen ein wenig blässer, und es schien, als wäre sie größer geworden. Aber sie und trank wie sonst, setzte sich dann auf den sonnigen Balkon und sah hinab in die Orangen, die unter ihm in dichten Blättern wuchsen. Albert ging ihr nach und lehnte sich neben ihr auf die Ballustrade. Du bist nicht wohl, Emma? sagte er. Sie sah ihn an, ganz fremd und kalt. O ja, ich bin ganz wohl. Dann ist dir vielleicht etwas Trauriges begegnet? Nein. Sie erhob sich langsam, ging ins Zimmer zurück und stellte sich ans Fenster. Wiederum ging er ihr nach und stand neben ihr. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleides und ergriff ein gefaltetes Papier darin, aber sie zog es nicht heraus; dann, nach einer Weile, ging sie auf den Balkon zu ihrem alten Sitze zurück; diesmal blieb Albert am Fenster stehen.

Was hat das Kind? fragte Heinrich. Der Vater trat zu ihnen, und alle Drei blickten vom Fenster aus nach dem Balkon und sahen das lichtbraune Haar und die Hand, auf die sie den Kopf stützte, unbeweglich. Geh du zu ihr, sagte endlich Albert zu Heinrich. Lassen wir sie lieber, erwiderte dieser, es läge auch in meiner Natur, mir nichts abdringen zu lassen, das ich nicht ungefragt ausspreche.

Zwei Tage gingen so hin; wie ein ermattender Wind flogen sie über Emma, die Keiner fragte. Am Nachmittag des dritten trat Albert in das gemeinschaftliche große Zimmer. Es war leer: nein, er hörte athmen, sie lag auf dem Sopha und schlief. Er trat näher, die eine Hand lag unter ihrer Wange, die andere lang ausgestreckt; aber sie hielt etwas, etwas Weißes, Gefaltetes. Albert sah schärfer hin[:]sie hielt einen Brief.

Emma's schweigendes Ausweichen hatte Albert aufgereizt; wäre nicht Heinrich gewesen, welcher ihn die Sache still abzuwarten bat, er hätte den Schleier durchrissen und wäre durchgedrungen, denn alles Zweifeln und Schwanken war ihm seiner Natur nach unerträglich. So hatte ihn der Zwang, den er sich anthun mußte, gereizt, ohne daß er es wußte, und als er jetzt den Brief sah, quoll ihm der Aerger dunkel zum Herzen; so that er, was er sonst nicht gethan haben würde, er zog leise das Papier aus Emma's Hand. Er mußte wissen was darin stand, sie war seine Braut, er hatte ein Recht, die Geheimnisse aufzuklären, die ihr Herz von dem seinigen getrennt hielten.

Aber der Brief war noch zwischen ihren Fingern, als sie bemerkte, was geschah. Mit einem Griff erfaßte sie ihn wieder, sprang auf und stand vor Albert; wahrhaftig sie war gewachsen, größer als sonst!

Was willst du? rief sie, und eine dunkle Röthe überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Unordnung gebracht, es hing ihr auf der einen Seite lang auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. Du hast mir den Brief nehmen wollen? fragte sie drohend. Ja, das wollte ich, entgegnete er in milderem Tone als gewöhnlich. Es schien mir dies eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank machte. Ich war nicht krank, rief sie; du hast es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die Unwahrheit, als ich nein sagte! Was war das für ein Ton, in dem sie redete? Aber der Brief ist Schuld, daß du so blaß umhergingst! erwiderte er heftiger; und du hattest mir versprochen, keine Briefe zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe du weißt von wem, Emma! Und daher kommt der!

Ja, daher kommt der! und ich habe ihn nicht gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach? Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt ihn schon wieder in ihren Händen.

Nein, du rührst ihn nicht an! Und er kommt wirklich von ihm! Ja, und ich bin ihm begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht gelesen, aber ich trage ihn mit mir; Keiner soll ihn berühren als ich, kein Anderer! Ich habe niemals gelogen, frage Therese und Papa, ob ich das je that. Unter mein Kopfkissen habe ich ihn Nachts gelegt, und in der Tasche trug ich ihn die Tage mit mir, manchmal faßte ich ihn heimlich an, und ich war glücklich, als ich ihn berührte. Ihre Augen glänzten von verhaltenen Thränen.

Emma! schrie ihr Verlobter auf und faßte sie am Arm, das ist Wahnsinn, was du da redest! Sie riß sich mit einer Bewegung los, setzte sich nieder, schlug die Füße über einander, kreuzte die Arme und sah ihn an.

Mach mir doch Vorwürfe, begann sie wieder, sag mir doch, ich sei dir treulos gewesen. Ich habe den Brief nicht gelesen, aber geküßt habe ich ihn: habe ich dir je versprochen, das nicht zu thun? Die Gluth ihrer Stimme erstickte in ihren Thränen, sie warf sich wieder hin und drehte das Antlitz der Wand zu.

Albert stand neben ihr. Einmal wollte er reden, doch er schnitt sich das Wort selbst ab. Er wollte gehen, aber er blieb stehn. Er wollte einen Entschluß fassen, aber wozu sich denn entschließen? Sollte er etwas thun, etwas sagen, etwas schreiben? Er stand da und hörte sie schluchzen.

Emil war in Rom. Albert hatte ihn an jenem Abend in der Soiree wohl erkannt; es war ihm lieb gewesen, daß er ihm auswich und daß Emma so bald mit Heinrich fortging. Er glaubte damals nicht, daß sie sich gesehen hätten. Er wußte, daß ihn Emma eben nicht belogen hatte. Sollte er darum den jungen Menschen fordern, erschießen, oder ihn nur aufsuchen, mit ihm reden? Was hatte dieser so Furchtbares verbrochen? Es konnte ja in dem Briefe möglicherweise nichts als die Erklärung enthalten sein, daß er sich zurückziehen werde. O, sich zurückziehen, wenn er sie jetzt hier gesehen und gehört hätte? Wenn er hier stände, und nun an ihm die Reihe gewesen wäre zu fragen: was würden Sie thun an meiner Stelle?

Da lag sie, das lieblichste Wild, das je gejagt wurde; eine Gazelle, die ermattet in der Wüste auf den heißen Sand sinkt; ein Schmetterling, dem die Regentropfen schwer auf die Flügel fallen, der taumelnd vergeblich ein Obdach sucht; ein armes Kind, das zum ersten Mal seines Herzens inne wird und so große Lasten darauf empfindet, als hätte es einen kostbaren Schatz entdeckt, aber ein Felsblock läge darauf, den es nicht bewegen könnte. Es setzt sich daneben hin und weint; da kommen im Märchen wohl mitleidige Geister aus den Felsspalten, stoßen und rollen die Last zur Seite, daß es mit vollen Händen zugreifen und in sein Schürzchen sammeln darf, was seine Augen begehren. Aber die Zeiten sind vorüber, wo Thränen Steine erweichten.

Wieder wollte er sie anreden; aber was sagen, was fragen, was verlangen? Und so ließ er sie allein, ging aus dem Hause, durchstreifte nachdenklich die Straßen der Stadt und hatte endlich, als er interesselos die Häuser ansah, eine kleine Thüre vor sich, die ihn frappirte. Er wußte nicht warum, aber es war ihm da etwas begegnet. Der Abend dämmerte schon. Auf dem Steine vor der Thüre saß eine junge Frau; auch diese fiel ihm auf. Sie hatte ein Kind im Schooße liegen, ein anderes krabbelte neben ihr auf dem Wege umher.

Albert blieb stehen und betrachtete sie. Es war nichts Auffallendes daran; Künstler pflegen das oft und überall zu thun, die Frau kümmerte das auch nicht viel, sie war wohl schon öfter so beschaut worden, wenn sie dasaß. Aber verstohlen sah sie den Fremden doch an, und als sich so ihre Augen trafen, da fiel ihm plötzlich Alles wieder ein, und auch ihr schien es so zu ergehen, denn ihre Züge bekamen einen Ausdruck zweifelhaften Lächelns, das die Lust, ihn anzureden, verrieth, und die Scheu, es zu wagen.

Vor drei Jahren war er eines Abends hier vorüber gegangen (er wußte es nun wieder, und um so lebhafter, als er sich inzwischen nie daran erinnert hatte), in derselben Hausthüre hatte ein zorniger Mann gestanden; diese Frau, die damals noch ein Mädchen war, hielt er an der Hand und wollte sie ins Haus zurückreißen, aber ein junger schöner Bursche hielt sie an der andern, und es sprühte eine Fluth von Worten zwischen den Dreien, hier drohend, dort bittend, und Verzweiflung zwischendurch, daß Albert dicht herantrat und hart fragte, worüber sie sich stritten. Die Sache war sehr einfach; der Alte wollte seine Tochter mit dem Kaufmanne verheirathen, welcher an der Ecke seinen Kram hatte, und wies den Jüngling ab, der zwar kein Gut und Geld besaß, aber der schönste junge Römer war, den Albert je gesehen hatte. Kaum trat er dazwischen, als sich augenblicklich jeder Einzelne an ihn wandte, und schließlich kam nun auch der Kaufmann aus dem Hause und schrie sein Theil mit ein. Albert war in einer Gesellschaft gewesen, wo man ihn gegen seinen Willen zu hohem Spiel verführt und wo er beide Taschen voll Goldstücke gewonnen hatte. Er wandte sich an den Vater des Mädchens. Es ist so leicht, moralisch und gut zu sein und für das Rechte in Eifer zu gerathen, wenn man ohne eigenes Interesse bei dem Handel ist: er warf dem Manne seine Schlechtigkeit vor, und dem Kaufmanne, daß er ein so schönes blühendes Mädchen einem solchen Geliebten entreißen wolle, und zum Schluß hieß er den unglücklichen Liebhaber den Hut in beiden Händen herhalten und schüttete ihm das Gold hinein, das er aus der Tasche holte. Nie hatte er einen solchen Rollenwechsel erlebt; das Mädchen fiel ihm zu Füßen und küßte ihm die Hände, der Alte stand wie geblendet, und der junge Mensch starr mit seinem Reichthum vor sich. Der Krämer aber schielte ihm höhnisch von der Seite über die Schulter und schlich sich fort.

Dieses Mädchen war die Frau. Der Vater war gestorben; sie lebte mit ihrem Manne im Häuschen, sie rief ihn heraus und eine Fülle von Segenswünschen wurde Albert zu Theil. Es waren feurige Kohlen auf sein Haupt; erst allmählich fühlte er, daß sie brannten, seine Stellung Emil und Emma gegenüber trat ihm vor die Seele, unwillkürlich ertheilte er sich die Rolle des Krämers, der davon schlich, mochte er sie nun verdienen oder nicht. Es übermannte ihn, er setzte das Kind, das er auf den Arm genommen, fast böse nieder, riß sich von den Leuten los und suchte eine andere Gasse auf.

Und nun kam der Rückschlag; er schwor sich, keinen Finger breit zu weichen[,]Emil, der sich zwischen ihn und seine Verlobte drängte, zurückzustoßen, sei es wie es sei, und seine Entschlüsse lagerten sich wie eine finstere Wolke auf seine Stirn. Es war nicht zum ersten Mal in seinem Leben, daß er durchgesetzt hatte, was sich gegen seinen Willen zu wenden Miene machte.

Emma schien ihn erwartet zu haben, als er endlich kam. Sie ging auf ihn zu und zog ihn in eine Stube, in der sie allein waren. Ihre Züge waren traurig und ihre Stimme sanft. Hier ist der Brief Albert, sagte sie, ich hätte ihn dir gleich geben sollen. Er dankte nicht, er wies ihn auch nicht zurück, öffnete ihn und las.

Gnädigstes Fräulein

daß ich Ihnen nachreise, rechnen Sie mir nicht als Sünde an; ich liebe Sie so sehr und glaubte Sie wären unglücklich. Ich beobachtete Sie überall von ferne und in der Nähe, ohne daß Sie davon wußten. Aber Sie waren heiter und strahlend wie am ersten Tage. Ich sah Sie öfter mit Ihrem Verlobten, es schien mir kein Zug in Ihrem Wesen, der mir ein Recht gäbe, mich ferner auch nur mit einem Gedanken zwischen Sie und ihn zu stellen. Verzeihen Sie mir, wenn ich mir die letzte Genugthuung nicht versage, Ihnen zu schreiben, daß ich jetzt bereue, was ich gethan habe. Ich wünsche Glück und Segen auf Ihr Leben. Daß ich Sie ewig lieben werde, ist ein Geständniß, das Sie nicht mehr belästigen wird, und mich macht es so glücklich, nur daß Sie es wissen. Begegnen werden wir uns nicht mehr. Und auch dies noch hören Sie. Mein Herz ist so besorgt, daß es mir zuflüstert: sollte ich dennoch nicht von Ihnen vergessen sein, ja sollte all Ihr Wesen nur ein Schein sein, den ich falsch deutete, sollten Sie den Wunsch haben mich zu sehen ich werde jeden Morgen von heute ab im Coliseum sein und Sie erwarten. Belächeln Sie dies als eine Schwäche, so haben Sie ein Recht dazu, und ich schließe mit der herzlichen Bitte, sie mir zu vergeben. Ihr Verlobter, der diesen Brief dann lesen wird, wird so großmüthig sein als Sie selber.

Emil von M.

Emma, hier ist der Brief, ich habe gesehen was darin steht. Lies ihn und laß uns morgen darüber reden. Mit diesen Worten, die er so kalt redete, als legte er sie kahl gedruckt vor sie hin, wollte er aus dem Zimmer gehen. Aber im Umwenden sah er sie noch einmal an; ihre Augen trafen sich wieder. Nichts von Furchtsamkeit, von Bewegung lag in Emma's Blicken, sondern eine Ruhe, eine abweisende Kälte, eine Kühnheit, die ihn in seiner unklaren Hitze aufs Aeußerste steigerten. Hör 'es jetzt! rief er aus, es steht in deiner Hand, mich von dir zu stoßen, aber erblicke ich ihn jemals da, wo ich gestanden habe, neben dir, so giebt etwas Anderes die Entscheidung als dein Wille!

Du willst ihn herausfordern? fragte sie kalt.

Ja, das will ich! Er hätte die Worte schreien können, aber die Stimme versagte ihm, er stieß sie tonlos beinahe heraus, und war verschwunden. Er stürzte wie sinnlos auf sein Zimmer, verriegelte die Thür, riß die Fenster auf, stand da und preßte die Hände gegen die Schläfen, gegen die das wilde Blut anschlug. Darauf setzte er sich an seinen Schreibtisch und tauchte die Feder ein. Mein Herr, schrieb er, Sie haben es für nöthig gefunden, noch einmal an Fräulein von , meine Braut, Mittheilungen über die Gefühle zu machen, welche Sie ein Recht zu besitzen glauben, für sie zu hegen. Ich setze Sie hiermit in Kenntniß, daß, wenn Sie noch einmal den leisesten Versuch machen, diese Verhältnisse zu berühren, ich dies als eine directe Aufforderung an mich ansehen werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu machen, die unter uns von nun an die einzige sein wird.

Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augenblicklicher Besorgung. Und Alles das ward mit einer Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen Art auf das Heftigste contrastirte. Seit Jahren war ihm das Blut so nicht durch die Adern geflogen, niemals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmerfüllten Walde. Da tönte es leise: du bist im Unrecht, du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild des Krämers durch den Kopf und die Scene des Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach.

Und wenn es ein Unrecht ist, rief er aus und sprang vom Sessel auf, er soll nicht sagen, daß er sie mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will es einlösen! Unmöglich schien es ihm, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor Kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding, nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, welcher dem das Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man vermißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre erwachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize, die sie früher nie besessen; er wollte sie über - winden, lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht.

So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen. Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine Art war, sondern trat an den Tisch, auf dem allerlei ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Dabei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich zuletzt auf einen Stuhl setzte, dessen Rücken er von der Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ.

Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hinauf gingst? fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefunden haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgültigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verletzt ward, kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute, die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den angenehmen Vorfällen des Lebens gehört und welche Die nicht begreifen, die das Bedeutende, Unerwartete stumm betrachtend im Anfange hinnehmen, sich langsam seiner Gewalt fügend, sich aber dann auch nicht gleich nach der ersten Ueberraschung von ihm abwenden und es vergessen.

Albert antwortete eben so ruhig, als Heinrich ihn gefragt hatte: Ja, ich sprach mit ihr. Warum?

Als ich nach einem Weilchen in das Zimmer trat, das leer zu sein schien, und durchgehen wollte, stieß ich mit dem Fuße an etwas, das auf dem Boden lag

Plötzlich stand Albert vor ihm, todtenbleich seinen Arm fassend, rief er aus: Um Gotteswillen, was ist mit ihr? und zitterte, daß seine Bewegung den Andern durchbebte.

Sie war ohnmächtig, fuhr Heinrich fort; ich glaubte zuerst etwas Schlimmeres. Ich machte natürlich keinen Lärm, hob sie auf, trug sie ins Zimmer daneben auf ihr Bett und rieb ihr die Schläfen mit Eau de Cologne. Sie kam bald wieder zu sich; jetzt schläft sie. Albert hatte ihn athemlos angehört. Gott sei gedankt! Gott sei gedankt! rief er aus.

Als sie dalag, erzählte Heinrich weiter, hielt sie ein Papier in der Hand, einen Brief. Sie fragte augenblicklich darnach, als sie die Augen aufschlug, ich gab ihn ihr wieder. Aber du hast ihn gelesen, Heinrich? Ja, allerdings; während ich neben ihr saß, nachdem sie eingeschlafen war, zog ich ihn leise unter dem Kopfkissen hervor, las ihn und steckte ihn wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neugier war es nicht.

Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleichgültig: Kennst du ihn? Sehr gut. Ich wollte ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich ahnte diesen nicht im mindesten. Was hältst du von ihm, ehrlich gesagt? Ehrlich gesagt, Albert, da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das aus, weil du es wissen wolltest. Albert fragte nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schweigend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen, noch einmal genau an, als erwartete er eine Fortsetzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre, sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert blieb allein.

Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken aufblickend bemerkte, daß es dunkel sei, zündete er ein Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu Emma's Thür und hörte sie athmen. Dann zurückgehend lockte ihn die offenstehende Thüre des Balkons, hinauszutreten. Die Nacht war warm und ohne Sterne. Erst allmählich unterschied sein Auge die Linie, welche die undurchdringlich finstere Masse der Häuser vom matt dämmernden Himmel trennte. Unter ihm die Orangen rührten ihre starren Blätter nicht, und kein anderer Ton störte die Mitternacht, als das verworrene Geplätscher einer Fontaine, die er nicht sah. Manchmal schallte es aus der Ferne wie Gesang, der näher zu kommen schien, aber dann verging, statt deutlicher zu werden. Er lehnte sich auf die Balustrade und sah vor sich hin. Alle bösen Gedanken lös'ten sich unmerklich von ihm ab, und eine Ruhe durchzog ihn, der sich seine ermüdete Seele dankbar hingab. Noch einmal horchte er an Emma's Thür, hörte ihren ruhigen Schlaf und suchte sein Zimmer wieder auf.

Es war gegen zehn Uhr am andern Morgen, als er herunter kam. Die Sonne schien auf die ausgespannten Rouleaux vor den offenen Fenstern. Emma's Vater saß am Tische und las mit sorgloser Miene die deutschen Zeitungen. Sie selbst ging umher und sah ein wenig blaß aus. Albert sagte ihr guten Morgen, ohne ihr die Hand zu reichen, aber nicht unfreundlich, fragte, wie sie geschlafen, und darauf, ob sie Lust hätte, mit ihm einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie sah ihn erst groß an, sagte dann kurz ja, und ging, um ihre Sachen zu holen. Er sah ihr nach, ihre schlanke Gestalt schritt so sicher dahin, nicht mehr wie ein Nymphchen, das durch die Baumstämme schlüpft und nur die Grashalme mit den Fußspitzen streift, sondern jetzt in festem Gange, und jede Falte ihres Kleides war ein Theil ihrer Schönheit.

Er führte sie an seinem Arme das Forum hinunter. Die gefangenen Könige fielen ihm ein, als er durch die Triumphbögen schritt, es kam ihm eine Ahnung von dem, was sie empfanden, als sie gefesselt dem Wagen dessen folgten, der sie besiegt. Kalt sah er die Tempel und Bildsäulen am Wege stehen. Was waren sie ihm, die er mit Enthusiasmus zuerst, mit Ehrfurcht später betrachtet hatte! Steine waren es, die nichts von ihm wußten; mochten rohe Menschen an ihnen hämmern und kratzen, kein Gedanke wäre ihm aufgestiegen, es ihnen zu wehren.

Nun traten sie in die weitausgedehnten Ringmauern, in deren Mitte einst auf Leben und Tod gekämpft worden war. Jahrhunderte hatten den Platz von Mord gereinigt und seine Pracht herabgerissen. Von den hohen Pfeilern, die sich düster gewaltig über einander aufthürmten, wallte der stille Epheu hernieder, zarte Farrenkräuter sproßten aus ihren Ritzen, Rosen und Feigen wurzelten auf ihren Vorsprüngen, friedliches Dunkel lag in den Vertiefungen, nur die Vögel flatterten da umher, und die Sonne streckte ihre Hand weit aus und milde über die Trümmer.

Die Beiden gingen da einsam, es war Niemand zu erblicken. Nein, stand da nicht in der Ferne eine Gestalt und kam auf sie zu? Albert schrak zusammen und es überlief ihn. Emma, sagte er, willst du dich ein wenig hier auf den Stein setzen? Ich sehe dort Jemand, mit dem ich ein paar Worte sprechen möchte.

Sie ließ seinen Arm los und setzte sich nieder, ohne nur aufzusehen. Anemonen sproßten üppig auf dem Platze und drängten ihr ihre weißen Blüthen entgegen. Indem er sie ansah, zögerte er einen Augenblick, dann aber faßte er sich und ging Emil entgegen, den er wohl erkannt hatte. Aber als er ihm bis auf fünfzig Schritt nahe gekommen war, konnte er nicht weiter und lehnte sich ans Gemäuer, um ihn zu erwarten. Er stand da und bedachte, was er sagen wollte; er war klar und ruhig, aber es machte ihn matt, so geduldig zu warten.

Der junge Mensch, dem die Sonne in die Augen schien, erkannte ihn erst, als er dicht an ihm vorüber gehen wollte. Er hielt seine Schritte an, trat ihm gegenüber und zeigte ihm die Blässe, die auf seiner Stirn lag.

Ah, Sie waren hier? rief er aus, Sie? Und doch hatte ich es nicht erwartet! Albert wollte das Wort nehmen. Oh, sagen Sie nichts! rief er, nichts! Wir werden uns nicht streiten hier! Sparen Sie der Mühe. Ich lasse mich durch nichts reizen. Aber hören Sie das: nicht wahr, triumphirend erwarteten Sie mich hier? Sie hatten ein Recht dazu. Aber das weiß ich, habe ich unbesonnen und unbefugt mich an Sie herangedrängt, so habe ich doch nicht ein unschuldiges Kind, das nicht wußte, was das Leben war, gezwungen, meine Sklavin zu sein! Nicht meine Geliebte! Nichts von Liebe, es wäre ein Hohn! Sie hätten anders an mich geschrieben, wenn Sie sie liebten, oder wenn Emma Sie liebte! Und als das arme Kind unbesonnen sich verpflichtete, und dann erst, als es gefesselt war, fühlte, daß es eine Freiheit gäbe, deren es nie genoß, da habe ich es nicht festgehalten mit Gewalt, wie Sie, als wäre das eine Pflicht, was ehedem ein Betrug war! So nenne ich es. Fordern Sie mich. Ich will da stehen und Ihrer Pistole in den Lauf sehen und lachen, ja, und denken, daß mich der Wahnsinn verleitete, Sie aber das kalte Blut, die kühle Berechnung, Sie das Verbrechen. Hier steh 'ich!

Er schwieg und Albert war keines Wortes fähig. Lesen Sie das, fuhr Emil fort und holte ein Zettelchen aus seiner Brusttasche, das hat sie mir geschrieben heute! Ich soll nicht mehr an sie denken, sie nie wieder sehen, aber sie liebt mich! Haben Sie das gewußt? Sie liebt mich!

Lassen Sie mich sehen! rief Albert und streckte die Hand aus. Hier, aber Sie werden es mir zurück geben, es ist mein Eigenthum!

Albert überlas die wenigen Zeilen. Er bedachte sich in Blitzeseile. Dort war sie, ohne ihn gesehen zu haben, hier Emil, ohne von ihr zu wissen. Er hatte auf sie verzichtet, sie auf ihn. Die Zeit konnte ausheilen, was so blutig zu zerreißen drohte, er durfte sie an seiner Seite behalten; so war ihr Entschluß, er las es von ihrer Hand geschrieben, oder er glaubte es zu lesen. Nie war sie ihm so schön vor die Seele getreten, nie so reizend; es war ihm, als hätte er sie heute zum ersten Mal geliebt. Aber nur ein Moment solchen Bedenkens kam über ihn; er gab Emil das Papier zurück und sagte milde: Wollen Sie hier ein wenig warten, bis ich wieder komme? Thun Sie's, ich bitte Sie darum. Damit ging er an ihm vorüber und eilte zu der Stelle, wo er Emma verlassen hatte. Diese war aufgestanden und kam ihm langsam entgegen; als sie Beide eine kleine Strecke von Emil entfernt waren, hielt er sie an.

Emma, sagte er, sieh dorthin! Geh 'Dem entgegen, der da steht! Was er von dir verlangen wird, was du ihm gewähren möchtest, schenk' es ihm aus vollem Herzen; vergiß mich, denke nicht an mich, wenn du bei ihm bist, ich erlaube es dir, ich befehle es dir, wenn ich darf, und glaube mir, was daraus entsteht, bedürft ihr Beide einer Vorsorge, einer Vermittlung, wendet euch an mich; das ist das Letzte, das ich von dir verlange.

Als er dies gesagt, wandte er sich rasch um und verließ mit eilenden Schritten das Mädchen, das wie leblos vor ihm stand und keine Silbe zu erwidern vermochte. Am Thore des Gebäudes angekommen, zwang ihn doch etwas, sich umzuschauen, und er sah, wie sie Beide in der Sonne neben einander standen; genug für seine Augen.

Fliegen wir hinweg aus dem schönen Lande, wo es schon Frühling war, fort über die Alpen, immer weiter, und mit uns die Zeit.

Es lag tiefer Schnee in den Straßen; die Sonne ging trübe auf und leuchtete bleich durch die kalte Luft. Das helle Feuer im Ofen besiegte und überstrahlte sie; doch nicht ganz. Ein freundlicher Strahl blickte in ein Stübchen, vor dessen doppelten Fenstern Blumen standen, lief quer über einen Tisch, über einen offenen Brief, der darauf lag, und über den Scheitel eines jungen Mädchens, das ihn las und laut auflachte, als sie ihn beendet.

Therese, sagte die alte Tante, welche neben ihr stand, ich würde nun nicht gerade lachen, denn der junge Mann ist von guter Familie und sehr liebenswürdig.

Das bin ich gleichfalls, Tante, das also höbe sich vorweg auf, antwortete sie und lachte wieder.

Aber reich außerdem, liebes Kind, Nun, ich hätte doch auch am Ende zu leben. Kurz, du machst dir nichts daraus? Das will ich nicht sagen. Aber es ist doch kein Unglück, bei dergleichen Gelegenheiten ein wenig zu lachen? Es kann das ja ein Zeichen von Wohlgefallen sein. Lassen wir wenigstens ein paar Tage darüber hingehen. Das brächte schon jedenfalls die Schicklichkeit von selbst mit sich, antwortete die alte Frau, küßte des Mädchens Stirn und ging leise über den Teppich hinaus. Therese blieb an ihrem Tische sitzen. Sie hatte den Brief bei Seite geschoben. Auf dem Schreibtische lagen nicht weniger als ein halbes Dutzend blanke, große Pinienzapfen, die ihr Emma geschickt hatte. Sie nahm einen nach dem andern, roch daran, streichelte ihn und legte ihn wieder an seine Stelle.

Ein Bedienter trat mit einer Karte herein. Der Herr wartete unten. Sie las den Namen und stieß einen Schrei aus. Gleich soll er herein kommen! Der Bediente ging, sie sprang auf nach der Thür und zog mit beiden Händen Albert herein. Er war ungemein freundlich und frisch von der Kälte, aber er sah ein wenig anders aus; er hatte einen gewissen Zug über den Augen und einen um den Mund, die sie sogleich bemerkte und die sogleich ihre Stimmung in der Gewalt hatten. Hier ist ein Brief für dich, liebe Therese, sagte er. Vor allen Dingen lies ihn erst, ich wärme mich so lange dort ein wenig. Damit setzte er sich in den großen Stuhl, welcher dem Ofen zugewandt war. Therese erkannte ihrer Schwester Hand, brach auf und las, und da sie im Stehen begonnen hatte, setzte sie sich während des Lesens nieder, und nach einer Weile stützte sie den Kopf in die Hand und sah über den Brief hinaus auf den glatten Tisch, während eine Thräne nach der andern auf das Papier tropfte. Sie schwieg, sie sah nach Albert, der Stuhl verbarg ihn, aber sie hörte seinen Athem. Albert, sagte sie endlich, was soll ich dazu sagen? Daß es das Beste war, liebe Therese. Sie ging auf ihn zu und stellte sich neben ihn, aber er sah nicht zu ihr auf.

Er war wie sonst und doch anders. Als er im Herbste ankam, als er sich verlobte, als er sie dann verließ, lag auf ihm ein Schimmer, der etwas Beherrschendes hatte, etwas, das im Accent seiner Rede durchklang, in seinem Gange lag, in seiner Handschrift sich aussprach: Selbstvertrauen; mehr noch, Gefühl von Unfehlbarkeit. Das war von ihm gewichen. Er saß da, wie jeder Andere. Sein Rang, seine Erfahrungen, seine liebenswürdige Art, die Menschen zu fesseln und zum Zuhören zu zwingen, alles war zu leerem Flitterkram zusammengesunken, und er nicht mehr stolz darauf. Er war ein Mensch wie alle andern und hatte ein Herz wie alle andern, eines, das sich beleidigt in ihm hin und her drehte, wie ein losgerissenes Schiffstrümmer in den Wellen, die es nicht versinken lassen, aber dahin und dorthin werfen und endlich auf den öden Strand.

Gieb mir eine Hand, sagte sie. Du bist immer die alte Freundliche, antwortete er und reichte sie ihr. Ach, Albert, sagte sie wieder, ich sehe Alles ein, es macht mich ganz traurig. Und du? was willst du nun thun? O, die Eisenbahn geht ja alle Tage ab; ich gehe nach Paris, London, Madrid, Kairo, wohin du willst. Man thut, was man gewohnt ist, wenn man nichts Nöthigeres zu thun hat. Soll ich mich etwa auf das Land setzen und alle Sonntag zum Essen hinüber fahren zu Emil und seiner Frau? Er lachte. Dann aufstehend und sich den Rock zuknöpfend: Ich wollte dich nur noch aufgesucht haben, Therese. Bleib noch ein Weilchen, sagte sie. Ist es dir lieb? Ja, sehr lieb.

Er nahm seinen Platz wieder ein. Er sah sich um, die Stube heimelte ihn an, sie war ruhig und behaglich. Draußen hörte er die Wagen im Schnee vorüber fahren, und die Räder pfiffen noch im Frost; aber der Ofen strahlte sanfte Wärme aus. Seine Kisten und Seltenheiten fielen ihm ein, als er auf einem Schränkchen Allerlei stehen sah, das er Theresen geschenkt hatte. Ein Ekel überkam ihn vor diesen Dingen, ein Ekel vor dem planlosen Umherschwärmen durch die fremden Länder und die fremden Gesichter. Eine Leidenschaft hatte er bis auf den letzten Tag zu Emma nicht gehabt, aber alle Gedanken an Glück und Zukunft mit Energie an sie gekettet. Das war nun von ihm gerissen; Jedermann war froh und an der rechten Stelle, er allein war überall zuviel; er konnte es nicht mehr ertragen, er mußte fort.

Therese, sagte er, auf die Uhr sehend, ich habe wirklich noch einige dringende Geschäfte. Leb 'wohl! Du willst durchaus fort leb wohl! Giebst du mir vielleicht ab und zu Nachricht, wie es bei euch steht? sagte er noch. Ich lasse dir für verschiedene Punkte meine Adresse hier, wenn du es erlaubst? Und das soll dein Abschied sein, und vielleicht für immer? Sie wandte sich ab, um ihre Thränen zu verbergen.

Geht es dir wirklich so nahe? Lieber Himmel, was kann ich dir sein? was soll ich hier sitzen? was haben wir zu besprechen? Ja, du hast Recht, rief sie heiter; Adieu! Er drückte ihr die Hand und stand an der Thüre, sie sah ihm nicht nach.

Therese, sagte er, thut es dir wirklich leid, daß ich fortgehe? Sie antwortete nichts; sie setzte sich hin, stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Gutes Mädchen, du läßt mich schwerer los als die Andern, die sich so leicht getröstet haben, als ich ihnen die Sache plausibel machte. Er stand neben ihr und streichelte ihr das Haar. Adieu, rief er plötzlich, nahm ihre Hand, drückte sie und war verschwunden.

Er hatte vor seiner Abreise noch einmal zu ihr gehen wollen, aber es war ihm unmöglich, er wußte selbst nicht warum; er schrieb ihr einige Zeilen und stieg in das Coupé, ohne sie gesehen zu haben. Er saß in seinen Pelz gehüllt und war ganz allein. Die Landschaft flog schwarz und weiß an ihm vorüber, der Dampf spielte über die Felder hin, oder zwischen den tanzenden Stämmen des Waldes; er sah ihm nach und verfolgte die Krähen mit den Augen, die aus den dunkeln Gipfeln der Kiefernbäume aufschwärmten.

Als er von Rom fortgereis't war, hatte ihn nicht ein so ödes, trostloses Gefühl beherrscht, wie das war, das sich seiner jetzt bemächtigte. Es erfaßte ihn plötzlich eine wahre Zuneigung zu Menschen; er glaubte, sie ließen ihn allein stehen, während er ihnen doch selbst auswich. Auf der nächsten Station suchte e[r]ein anderes, besetzteres Coupé auf; es saß eine ganze Verwandtschaft darin, welche eben erst eingestiegen war und zu einer Hochzeit reisen wollte. Sie verließen den Zug auf dem nächsten Anhaltspunkte wieder. Was für ein Gelächter und Gespaße! Jeder war nothwendig und gehörte zu der Gesellschaft. Als sie davon gingen und er abermals allein zurückblieb, sah er ihnen mit unendlichem Wohlgefallen nach; ich glaube, wäre eines an ihn herangetreten und hätte ihn eingeladen, mitzugehen, so hätte er seine große Reise nach Konstantinopel unterbrochen, um in dem Städtchen eine Nacht im Wirthshause zu tanzen. Je weiter er kam, je unerträglicher ward ihm zu Muthe. Abermals wechselte er den Sitz, fing, was er sonst nie gethan und stets vornehm abgelehnt hatte, mit den Leuten Gespräche an, nahm sich vor, liebenswürdig zu sein, und brachte es wirklich dahin, daß ein alter Herr aus der Stadt, in der er übernachten wollte und wo man zeitig anlangte, ihn auf den Abend zu sich einlud, was mit wahrhafter Dankbarkeit von ihm angenommen wurde.

Er kam um acht Uhr. Der Mann empfing ihn zuerst allein, er saß rauchend behaglich in seiner Sophaecke, stand auf, bewillkommte ihn mit Herzlichkeit, und ein kleines blondes Mädchen, das strickend hinter dem Tische saß, legte auf einen stummen Wink seinen Strumpf hin, bemächtigte sich des Hutes und brachte dann eine gestopfte Pfeife herbei. Albert dankte freundlich, er rauchte nicht. Nach einer Stunde ging die Stubenthür auf, es war der Sohn, der mit seiner Frau aus dem Theater kam. Sie erschrak ein wenig über den unerwarteten Gast, für den nichts in Bereitschaft war, Albert bewunderte ihre Schönheit und die stille Grazie, mit der sie Allerlei besorgte, ohne die Aufmerksamkeit für ihn aus den Augen zu verlieren. Nun deckte die Magd den Tisch, man setzte sich, es kam noch ein kleineres Kind zur Sprache, aber nicht zum Vorschein, zu dem die Frau nur dann und wann fortging. Albert und trank, fand alles köstlich, erzählte, sprudelte über von Heiterkeit und verbreitete ein solches Wohlsein in der Familie, daß sie zuletzt dasaßen, als kennten sie sich von den ältesten Zeiten her, und endlich auf eine Weise von ihm Abschied nahmen, die ihm ans Herz ging und ihn traurig machte.

Welch ein Gefühl, als er dann in sein prächtig kaltes Wirthshauszimmer eintrat und mit seinen beiden Koffern wieder allein war! Und so sollte es ihm von nun an immer ergehen, ein ewiges Anlangen und sich Losreißen ohne Zweck und Ziel. Er nahm die Zeitung; ein Mann zeigte an, daß er sein Geschäft mit Haus und Garten verkaufen wollte. Ich wäre im Stande, dachte er, und kaufte es, würde Bürger und Drechslermeister hier in der Stadt, hätte mein Gesinde und heirathete die älteste Tochter aus dem nächsten Nachbarhause.

Therese und Emma fielen ihm ein. Er holte ein Daguerrotyp hervor, auf dem sie beide dargestellt waren, Emma noch ganz als das Kind, Therese aber kaum anders als in den letzten Tagen. Sie sah ihn so klar und unschuldig an, wie sie es vor so kurzer Frist noch gethan. Sie ist doch schön, sagte er sich. Ich ging so neben ihr her und bemerkte es kaum. Und während er sich das sagte, stieg eine Idee in ihm auf, die ihn bald ganz einnahm. Wäre es eine Möglichkeit? dachte er. Mich, der so abgewiesen ward? der ihr so wenig bieten kann? Vielleicht! Wir folgen seinen Gedanken nicht, aber wir sehen ihn nach einer Stunde heftigen Bedenkens einen Brief schreiben, einen zweiten, einen dritten, und diesen noch zu schleuniger Besorgung früh am nächsten Tage dem Kellner übergeben, der auf sein Klingeln in verschlafener Höflichkeit herbeistürzt. Wir sehen ihn einen Tag warten, ihn dann, noch ohne Antwort zu haben, dem Briefe nachreisen, und endlich sehen wir ihn wieder in Theresens kleine Stube eintreten, wo er sie wieder allein trifft.

Die Tante, der dieser Besuch sehr auffällig gewesen war, da ja Albert so weit hatte fortreisen wollen und nun so bald wieder erschien und so sehr lange bei ihrer Nichte blieb, nahm sich endlich ein Herz und trat ein. Therese saß diesmal am Ofen, die Hände im Schooß gefaltet, Albert an ihrem Schreibtische und so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er nichts bemerkte und ruhig fortschrieb. So traf es sich denn, daß er, ohne aufzusehen zu Therese sagte: Ich schreibe gleich, daß sich deine Tante sehr gefreut hat, es bleibt ihr ja gar nichts Anderes übrig, und sie ist eine so vortreffliche Frau Hier brach Therese in lautes Lachen aus, und er sah auf.

Bleiben Sie ruhig sitzen, lieber Albert, rief die Tante und ihr ganzes Gesicht stimmte in Theresens Heiterkeit ein, und da doch von mir die Rede ist, so bemerken Sie nur gleich, daß die Tante sich allerdings sehr freute, aber die beiden Leute nicht belästigte, sondern nur gratulirte und sie allein ließ. Damit ging sie fort. Albert aber stand doch von seinem Briefe auf und setzte sich neben Therese, und die Zeit verging, als hätte sie nie so große Eile gehabt. Und wenn ja noch der letzte Funke des alten Schimmers an ihm gehangen hatte, er war nun ausgelöscht; wie er da neben ihr saß, war er nichts als ein guter Mensch, der ein Herz hat und eins gefunden, das ihn liebte.

About this transcription

TextDas Kind
Author Herman Grimm
Extent84 images; 18141 tokens; 3868 types; 110087 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-15T10:24:04Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-15T10:24:04Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Das Kind. Band 6. Herman Grimm. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 275-356.

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Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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