PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 20]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Vetter Isidor.

Julius Waldemar Grosse, geb. zu Erfurt am 25. April 1828, erhielt seine Gymnasialbildung in Magdeburg, wohin sein Vater als Militär-Oberprediger im Jahre 1833 versetzt worden war. Den Gedanken, Architekt zu werden, gab er, nachdem er schon das Staatsexamen als Geometer bestanden hatte, wieder auf und widmete sich 1849 52 in Halle der Jurisprudenz. Auch dieser Berufswahl machten ihn seine künstlerischen Neigungen wieder untreu. Von 1852 1854 besuchte er in München die k. Akademie, um sich zum Maler auszubilden, bis er als sein eigentliches Talent das dichterische erkannte, das schon auf der Universität in dramatischen Versuchen sich angekündigt hatte. Sein Aufenthalt in München, wo er vom Jahre 1855 bis 1869 an der Redaction verschiedener Zeitungen Theil nahm, wurde im Jahre 1856 durch eine italienische Reise unterbrochen. Drei Jahre später erfolgte seine Verheirathung mit einer Münchnerin, im Jahre 1870 seine Uebersiedlung nach Weimar, wo Julius Grosse seitdem als General-Secretär der Schillerstiftung lebt und in rascher Folge eine große Anzahl epischer Gedichte, Romane und Novellen veröffentlicht hat. (Rienzi, ein Trauerspiel, 1851. Gedichte, 1857. Epische Dichtungen, 1861. Untreu aus Mitleid, Roman, 1868. Die Novellen: Maria Mancini, Ein Revolutionär, Eine alte Liebe, Vox populi, 1869. Neue Gedichte: Aus bewegten Tagen, 1869. Dramen, 7 Bändchen, 1870. Wider Frankreich, Gedichte, 1870. Erzählende Dichtungen, der Wasunger Noth, Abul Kazims Seelenwanderung, 1871 1872. Die Romane: Gegen den Strom, 3 Bände,

1871, Der neue Abälard, 1872, Offene Wunden, Novellen, 3 Bände, 1873, Der Stadtengel, 1874.)

Mit so großem Beifall Grosses epische Dichtungen aufgenommen worden find, noch Schöneres und Erfreulicheres hat der Dichter unseres Erachtens in der Lyrik geleistet, was sicherlich zu allgemeinerer Anerkennung kommen würde, wenn er uns mit einem Bande ausgewählter Gedichte beschenken wollte, aus welchem alles jugendlich Unreife ausgeschieden wäre. Wie man ihn auf diesem Gebiete treffend mit Achim von Arnim verglichen und ihn den letzten Romantiker genannt hat, so erinnern auch seine Novellen trotz alles realistischen Bemühens vielfach an die Weise der Auffassung und Darstellung, wie sie in romantischer Zeit üblich war.

Die hier ausgewählte Novelle hat den Vorzug vor manchen andern erhalten, nicht nur, weil unsere Literatur besonders arm ist an maßvoll gehaltenen humoristischen Erzählungen, sondern auch weil bei den ernsten und tieferen Problemen, die Grosse sich in feinen Erzählungen zu wählen pflegt, häufig ein gewisses Missverhältnis zwischen der fast überreichen Phantasie und der künstlerischen Durchbildung sich fühlbar macht, jene rische, um die Wirklichkeit unbekümmerte Stimmung, die Grosse eben mit A. von Arnim gemein hat. Dass in beiden ein wahrhaft dichterischer Geist selbst in ihren barocken Unregelmäßigkeiten und phantastischen Wagnissen sich rege, wird niemand bestreiten, und in dieser Hinsicht kann der novellistische Schwank, den wir hier mittheilen, von dem tiefsten Wesen des reichbegabten Dichters allerdings nur eine ungenügende Vorstellung geben.

I.

Die Sonne scheint hell herab auf den Strom am Wald, auf den Fahrweg und die Brücke, unter welcher die Enten des Dorfes, oder vielmehr der Vorstadt, an jedem Morgen hindurchschwimmen. Heute umzittern goldene Lichter die grünblauen Schatten auf den breiten, lautlos hinströmenden Wassern, goldene Lichter umspielen das frisch angestrichene Thor des großen Hofgutes und nicht minder das bescheidene Gärtlein der Frau Conrectorin, das dem Vorübergehenden nur wie eine grüne Wildniß von Himbeerbüschen erscheint. Die Obstbäume stehen in dem Gärtchen so dicht, daß sie das schindelgedeckte saubere Wohnhaus gänzlich verbergen; auch die Bewohnerin, welche mit einer alten Magd auf diesem Wittwensitz haus't, sieht von der Welt nichts als grüne Wipfel, flatternde Tauben und ziehende Wolken. Ist sie damit nicht zufrieden, so muß sie in das kleine chinesische Gartenhäuschen gehen, das vorn am Wasser liegt und dessen Fenster von buntem Glase theils auf die Landstraße, theils auf den Strom und Wald, theils auf die ferne, weithin gestreckte, im Duft verschwimmende Hauptstadt blicken.

Dort saß auch heute die Frau Conrectorin in sauber gebügeltem weißem Häubchen mit ponceaurothen Bändern und schenkte so eben Kaffee aus silberner Kanne, doch nicht bloß für sich.

Ja, ja, Vetter Isidörchen, sagte die Frau Conrectorin, sehen Sie, so lebe ich alle Tage, die Gott giebt, und bin vergnügt und zufrieden, wenn mich die Welt nur in Ruhe läßt, ich will auch nichts mehr von ihr. Von Ihnen aber ist's schön, daß Sie meine stillen Sonntage mit Ihrem Besuch erfreuen, man hat dann doch eine Ansprache und kann eins plaudern von vergangenen Tagen. Noch ein Täßchen gefällig, Herr Substitut oder Herr Archivar, wie muß man den eigentlich sagen? Sie sind ja wohl avancirt, wenn mir recht ist?

Sagen Sie immerzu Vetter, Frau Conrectorin, es ist einmal wieder nichts gewesen.

Ah, das ist aber schade, na denn ein andermal; man muß nie die Courage verlieren, und zuletzt kann's Ihnen ja gleich sein, Vetter Isidörchen; mit Ihrem Vermögen können Sie bequem leben. Ich dachte nur, weil Sie heute so besonders wie soll ich sagen? so festlich herausgemustert sind.

Sie spaßen, Frau Conrectorin.

Nun, nun, werden Sie nur nicht so roth, Vetter Isidörchen, es war ja nicht böse gemeint. Die weiße Weste steht Ihnen ganz gut, dazu die weißen Handschuhe, die schöne, feuerrothe Cravatte und der neue Strohhut das macht Effect, das imponirt; das zeigt gleich von weitem, daß Sie etwas im Schilde führen, und irgend eine junge Dame wird dann schon wissen, woran sie ist.

O, was denken Sie, Frau Conrectorin! sagte der junge Mann, welcher ihr gegenüber saß, und sein fahles Gesicht mit den wasserblauen Augen, mit den weißen Augenwimpern und den langen, hobelspanblonden Locken färbte sich wirklich dunkelroth. Er räusperte sich einigemal und knips'te irgend ein unsichtbares Stäublein von seinem flohfarbigen Sommerpaletot.

Sie wissen, ich bin so zu sagen, Idealist, setzte er feierlich hinzu und erhob wie beschwörend seine ziemlich große, starkknochige Hand.

Ja, ja, ich verstehe schon, sagte die Frau Conrectorin und strickte etwas rascher, indem sie den Vetter über ihre Hornbrille hinweg schelmisch ansah. Sie schwärmen nur für das Ueberirdische, für das Unerreichbare, für das Aetherische, o das kennt man schon. Aber eigentlich ist's doch sehr unrecht von Ihnen, Vetter Isidörchen. Ein Mann von Ihrem Vermögen und Ihrem Alter na, machen Sie nur keine Gesichter, Vetter, Sie haben just zweiundvierzig Jahre, zwei mehr als ich, wir sind ja zusammen in die Schule gegangen denken Sie, das vergießt sich so leicht? Und im Uebrigen sind Sie nicht übel gewachsen und haben sich leidlich conservirt wo es noch fehlt, kann immer die Frau nachbessern. Ihre Stellung am Archiv kann auch nicht lange mehr so unsicher bleiben. Sie sind ja auf dem besten Wege, endlich einmal Carriere zu machen, als Gelehrter, als was weiß ich. Ah, ein solcher Mann thut schwere Sünde, wenn er

Ich muß denn doch freundlichst bitten, Frau Conrectorin, unterbrach sie der Vetter, dieses in der That unerquickliche Thema

Aber im Ernst, Vetterchen, worauf warten Sie denn eigentlich?

Ich warte gar nicht, sagte der Vetter mit ausdrucksvollem Aufschlag der wasserblauen Augen, ich habe resignirt, ich finde doch nichts mehr, Frau Conrectorin.

Weil Sie sich keine Mühe geben, sagte die Frau mit etwas ungeduldigem Tone. Glauben Sie denn, die gebratenen Tauben sollten von selbst kommen? Nein, Vetterchen, so kommen Sie nicht zum Ziel.

Keine Mühe gegeben ich muß sehr bitten, Frau Conrectorin, sagte Vetter Isidor und fuhr durch seine Hobelspanlocken; im Gegentheil, sehr im Gegentheil. Sie glauben nicht, welche Erfahrungen ich gemacht habe seit zwanzig Jahren. Ich mochte meine Wohnung so oft wechseln, als ich wollte, überall dieselben Versuchungen, dieselben Gefahren, derselbe Abgrund! O, wenn ich Ihnen alles erzählen könnte, wie man es eingeleitet hat, mir Nachstellungen zu bereiten, mir Fallen zu legen, mich verkuppeln zu wollen. Man hat mir Briefe geschrieben, man hat mir Blumen geschickt und Bildnisse, weibliche Bildnisse, Frau Conrectorin, und zwar von allen Arten Töchter und Frauen, Wittwen und Großmütter auf feine und unfeine, auf alle erdenkliche Art hat man sich angetragen!

Ihnen? rief die Conrectorin und rückte ihre Hornbrille, indem sie den Vetter im flohfarbigen Sommerpaletot mit etwas ungläubigem Blicke musterte.

Ja wohl, meiner Wenigkeit, wenn Sie gütigst erlauben, sagte der Vetter mit einem Anlauf von Stolz. O, glauben Sie nicht, Frau Conrectorin, daß man ohne allen Eindruck auf das schöne Geschlecht gewesen sei. Man hat seiner Zeit seinen Walzer getanzt, man hat seinen Vers gemacht, man hat seine Arie gesungen, man hat auch sein Pfänderspiel gespielt

Natürlich, und Sie können nichts dafür, wenn Sie unzähligen Schönen das Herz gebrochen haben; aber warum in aller Welt sind Sie denn nicht angekommen, Vetterchen?

Warum? der Vetter schwieg eine Weile und schnellte mit seinem gelbseidenen Tuch den Staub von einen Zeugstiefeln.

Sehen Sie, Frau Conrectorin, die Weiber verstehen uns nicht.

Ja, um des Himmels willen, was verlangen Sie denn eigentlich, Vetterchen?

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Idealisten mit der weißen Weste, während sein verwittertes Gesicht einen Ausdruck von Verklärung und Salbung annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte.

Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig.

Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr!

Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden.

Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch ...

Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon

Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte!

Hören Sie nur endlich auf, Vetterchen; ich weiß es nun schon, wir sind wahre Ungeheuer, sagte die Conrectorin scherzend, aber wo wollen Sie denn hin?

Ich sehe schon, sagte der Vetter beleidigt, auch Sie wollen mich nicht verstehen, und er hatte sich von seinem Stuhl erhoben und zum Strohhut gegriffen, sowie zum Regenschirm. Ich muß eilen, daß ich in die Stadt komme, es ist spät geworden, heute Abend wird Romeo und Julia gegeben. Sehen Sie, Frau Conrectorin, das ist's, was ich meine, da ist Poesie, da ist Größe, da ist Leidenschaft; aber unsere Zeit, unsere Erziehung, unsere Julien, daß Gott erbarm ' ich empfehle mich, Frau Conrectorin.

Die gutmüthige Frau lachte laut auf, als sie ihm die Hand zum Abschied gab. Also eine Julia suchen Sie, alter Romeo, ha, ha, Sie müßten sich gut ausnehmen auf einer Strickleiter, Vetter Isidörchen, und erst im Grabgewölbe, hu, hu! und die Frau wollte fast kein Ende finden im Lachen.

Ja, aber was haben Sie denn auf einmal? unterbrach sie sich plötzlich und blickte mit Staunen auf den langgewachsenen Idealisten, der am offenen Fenster stand, und eine tiefe Verbeugung machte, die er noch zwei - oder dreimal wiederholte. Gleichzeitig langte er rasch sein Opernglas aus den Taschen des Paletot und setzte das riesige Instrument an seine wasserblauen Augen.

Eilig schritt die Frau Conrectorin zu dem Nebenfenster und schalte durch die halbgeschlossenen Jalousieen. Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten.

Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden.

Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend.

Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen?

Die also, Vetter Isidörchen, Die also! und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. Nein, liebes Vetterchen da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar!

Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde:

Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte, so giebt es keine Unmöglichkeit in der Welt wir haben schon andere Schwierigkeiten überwunden, und ich sage Ihnen, Frau Conrectorin

Ereifern Sie sich nur nicht, Vetterchen, beschwichtigte ihn die Conrectorin. Alles, was Sie wollen, aber nur nichts Unerlaubtes. Es giebt Mädchen genug noch, aber nur nicht diese Eine. Vetterchen, seien Sie vernünftig, geben Sie mir Ihre Hand nur näher ich will Ihnen etwas anvertrauen und sie näherte ihren Mund seinem Ohr, nachdem sie vorsichtig alle Fenster des Gartenhäuschens geschlossen hatte. Da drüben, Vetter, fuhr sie fort, waltet ein Geheimniß, ein schweres Geheimniß, lassen Sie es auf sich beruhen, das Unglück ist heilig.

Unglück? Geheimniß? Vetter Isidor hatte sein Opernglas wieder vom Auge genommen und putzte es mit seinem gelbseidenen Tuche, während er mit seinen wasserblauen Augen die Frau Conrectorin anstarrte, gleichwie ein Ertrunkener.

Unglück Geheimniß, das ist ja höchst romantisch, Frau Conrectorin; ich bitte, ich beschwöre Sie, wer ist diese liebliche Erscheinung? Sie kennen sie, Sie dürfen mir nichts mehr verhehlen. Noch nie habe ich das Urbild der Poesie in solcher Verwirklichung gesehen.

Ja wohl, Poesie, sagte die ältliche Frau und nickte ernst vor sich hin, ja wohl, das ist Romeo und Julia, wie sie im Buche stehen. Gehen Sie nur ins Theater, Vetter Isidörchen, gehen Sie nur, dort sehen Sie alles, und ich brauche nichts zu erzählen ...

Aber Vetter Isidor stellte seinen Regenschirm wieder in den Winkel und kreuzte die Arme wie ein Feldherr über die Brust.

Sie spannen alle meine Nerven auf die Folter, Frau Conrectorin, aber ich gehe nicht von der Stelle, bis ich Alles weiß. Ich beschwöre Sie noch einmal: reden, sprechen Sie, reißen Sie mich aus den Qualen der Ungewißheit!

Sie sind schrecklich tragisch, Vetterchen, sagte die Conrectorin, indem sie sich wieder setzte und ihre Schürze glättete, aber es hilft Ihnen nichts. Ja, ja, wenn die Leute drinnen vor den Lampen sitzen und die schönsten Scenen mit ansehen, wie sie sich begegnen auf dem Maskenball, wie der junge Herr über den Balkon steigt und die Amme sie verkuppelt, das gefällt ihnen, und wenn der alte Capulet sammt seiner Frau über den Scandal nachher Lärm macht, dann hüpfen alle Herzen vor Schadenfreude über den alten Philister. Das ist das heilige Recht der Leidenschaft, heißt es, und Julie bleibt sittenrein, unschuldig, tugendhaft und nachahmungswürdig vor aller Welt.

Natürlich, weil das Poesie ist! rief der Vetter mit starker Stimme.

Ich höre schon, Vetterchen, sagte die Conrectorin. Wenn aber dergleichen im wirklichen Leben vorkommt, genau so vorkommt, so zeigen sich dieselben weisen und klugen Leute ganz anders. Zuerst freilich brechen sie den Stab über Diejenigen, die ein bischen weiter sehen und fürchten, solch eine romantische Geschichte könnte ein schiefes Ende nehmen. Da wird von Leidenschaft gefaselt und ihrem göttlichen Recht und ähnlichem Unsinn; geht es aber nachher wirklich unglücklich aus und haben die Philister wirklich Recht gehabt, dann sind die Leute verdutzt, und kein Mensch spricht mehr von Poesie . Dieselben Leute, die den Roman romantisch fanden und auf Seite des Liebespärchens standen, verläumden nachher, kichern schadenfroh und treten den Scandal breit, wenn der Ausgang wirklich traurig war. Ja wohl, das haben sie dann gleich vorausgesehen, gleich vorausgesagt, und sie sind die Klugen, Tugendhaften, allzeit Gerechten. Ja, ja, so ist's, und gerade Die da drüben ist ein lebendiges Beispiel dafür, wohin die Dinge heute kommen, wenn man einer sogenannten Leidenschaft freien Lauf läßt.

Frau Conrectorin, Sie reden sehr sinnvoll und sehr logisch, allein ich verstehe wirklich kein Wort davon, rief der Vetter Isidor unmuthig, und wenn Sie mi kein Vertrauen schenken wollen, so werde ich anderwärts Erkundigungen einziehen. Ich empfehle mich ganz gehorsamst.

Na, na, bleiben Sie nur, Vetterchen, bleiben Sie nur und nehmen Sie mir meinen Frieden nicht mit, sagte die Frau und führte den Vetter zu seinem Platz zurück. Ich sehe schon, ich muß Ihnen die ganze Geschichte erzählen, damit Sie Alles auf einmal wissen. Die junge Dame drüben ist eine weitläufige Verwandte, eine Stiefenkelin des alten Herrn von Schnorrigl, des alten Generals auf dem Hofgut. Sie selbst ist verwais't und verarmt, ein bedauernswerthes Geschöpf. Der alte Herr hat das Gut, das ihren Eltern gehörte, Schulden halber übernommen, mitsammt der Armen; ich mag die Leute nicht und rede selten oder gar nicht mit ihnen, wenn auch die arme Julia mein Liebling war und geblieben ist.

Julia heißt sie? rief der Vetter mit leuchtendem Auge, und seine Hand fuhr abermals durch die hobelspanblonden Haare.

Ja wohl, Julia heißt sie und hat das Gnadenbrod bei dem alten General.

Gnadenbrod, ich bitte Sie, wie herzlos, wie prosaisch, wie unästhetisch, Frau Conrectorin!

Nur Geduld, das Poetische wird schon kommen. Also meine Julia kenne ich schon von klein auf, früher nämlich besaßen ihre Eltern das Hofgut, der Vater ist lange todt, ihre Mutter, die Großnichte des Generals von Schnorrigl, war meine beste Freundin. Wir sahen uns alle Tage, und die kleine Julia war grade vier Jahre, als wir vor bald zwanzig Jahren hierher zogen, ich und mein seliger Mann, der Conrector.

Wir haben keine Kinder gehabt, aber die kleine Julia gehörte uns beinah noch mehr, als ihren Eltern, sie war oft wochenlang bei uns und wuchs unter unseren Augen auf, wie unser eigenes Kind. Es war ein lustiges, übermüthiges Ding, voll der närrischsten Einfälle von Jugend auf, dabei grundgut von Herzen, unverdorben, arglos und talentvoll über ihre Sphäre hinaus. Alles, was sie begann und unternahm, gelang wider Erwarten, und selbst ihre tausenderlei kleinen Schalksstreiche standen ihr gut zu Gesicht. Wenn der Herr Vetter Isidor vor zehn Jahren uns besucht hätte, er würde seine Freude an dem Kind gehabt haben, und vielleicht wäre dann Alles anders gekommen. Wir hatten eigentlich kein großes Zutrauen zu ihrer Zukunft, denn sie war als Kind nicht besonders schön; braun und schwarz wie ein Zigeunerkind aus dem Wald heraus. Erst als sie aus der Pension kam, wo sie drei Jahre gewesen, war sie wunderbar aufgeblüht, ein wildes Waldröschen, herzig zum Küssen, ich war selbst ganz vernarrt in das Ding und machte mit ihrer Mutter hundert Pläne über ihre Zukunft. Aber was hilft alle Vorsicht! Zwar wir schlossen sie ab vor der Welt, aus Furcht, ihre seltene Schönheit könne ihr Verderben werden, und glücklicherweise liegt das Hofgut so einsam und weltverloren, daß sich von den schlechten Menschen keiner hierher verirrt. Aber, wie gesagt, was hilft alle Vorsicht! Damals es war im Winter vor sieben Jahren waren Verwandte zum Besuche da, Mädchen aus der Provinz, die einen Mann suchten in der Hauptstadt, wie das so geht. Es gab allerlei Lustbarkeiten und Feste. Auch ein großer Maskenball in der Ressource sollte mitgemacht werden. Julia war damals erst sechzehn Jahre und sollte auch diesmal noch zu Hause bleiben; sie war überhaupt noch nie auf einen Ball gekommen und galt noch ganz als Backfischchen und Gänschen.

Backfischchen und Gänschen, Frau Conrectorin, ich muß bitten, Ihre Sprache zu ändern, ich kann solche Ausdrücke wirklich nicht dulden.

Mein Gott, Vetterchen, heute sind Sie wie von Zucker, na also, als die Lulu hört, daß sie auch diesmal zu Haus bleiben sollte, gab es ein großes Lamento, sie legte sich aufs Weinen und Bitten und wollte ja auch nichts weiter, als blos zum Zuschauen mitgehen. Endlich gut mein Gott, ich bin selbst mit Schuld daran gewesen, denn ich redete zu und stand auf ihrer Seite, denn das Kind that mir leid. Und so setzten wir es durch, daß sie zum Zuschauen mitgehen durfte. Aber da es einmal ein Maskenball war, mußte auch sie maskirt werden. Die fremden Cousinen gingen als Armiden, Marquisen und Königinnen der Nacht was weiß ich, die Lulu bekam nichts als ein blaues Röckchen mit Sammet und ein rothes Mieder. Dazu ein Blumenkörbchen, denn sie sollte ein Gärtnermädchen vorstellen. Die Kleine war außer sich vor Freuden und kam auch zu mir herüber, um sich zu präsentiren. Da sah ich erst, wie reizend das kleine Ding gewachsen war das kleine Ding, wie wir sie nannten, obwohl sie stattlich genug war. An dem Abend hab 'ich ihr noch einmal und feierlich das Wort abgenommen, nicht zu tanzen, aber wer kann sich auf die Jugend verlassen und auf ein Mädchenherz! Lieber Himmel, wenn andere Mädchen auf einen Ball gehen, so beten sie vorher zu ihrem Schutzheiligen, daß sie nicht sitzen bleiben, und wie viele müssen die Marter erleben, wie auf einem Sclavenmarkt feil dazusitzen und wie Waare ausgeboten zu werden zu harren und zu hoffen, bis endlich ein mitleidiger Käufer kommt, der sich ihrer erbarmt; meine kleine Lulu braucht nur in den Saal zu treten, und die Tragödie beginnt.

Tragödie Sie erschrecken mich, Frau Conrectorin.

Na, ich meine, das sogenannte Poetische beginnt das, wie es im Buche steht von den Montecchi und Capuletti, von dem schönen Pilgersmann und so weiter. Kurz und gut, kaum ist das kleine Gärtnermädchen sichtbar geworden, so drängt sich ein junger Mann an sie, um sie zu engagiren natürlich weigert sie sich, aber der kleine Schlaukopf giebt zugleich den Grund an, das Tanzen sei ihr verboten. Der junge Mann gleich hin zu den Gardedamen und Cousinen und weiß so artig zu schwadroniren, so elegant zu tanzen mit den fremden Cousinen, daß diese endlich ihre Erlaubniß geben. Er führt die Julia zum Walzer, und nun war's um sie geschehen.

Mein Gott, was Sie für Ausdrücke wählen, Frau Conrectorin! war's um sie geschehen, was soll das wieder heißen?

Ja, ja, das war nicht zum Spaßen. Es war um sie geschehen für heut und immerdar und ihre ganze Lebenszeit. Einen ersten Schritt machen in die Welt hinein, und gleich den sogenannten Rechten finden auf den ersten Griff, nicht wahr, Vetterchen, das kommt nicht oft vor, höchstens in Romanen und auf dem Theater. In Wirklichkeit müssen die meisten Mädchen Jahre lang warten und nachher doch den Ersten Besten nehmen, denn mit der ersten Liebe verrechnen sich von Hundert Neunundneunzig hab 'ich Recht, Vetter? fragte die ältliche Frau und warf einen forschenden Blick auf den langgewachsenen Idealisten, der mit gebeugtem Haupte vor ihr saß und die großen Hände in den weißen Handschuhen auf dem Knie gefaltet hielt. Nach einer Weile murmelte er etwas Unverständliches zwischen den Zähnen hervor, es klang wie: Fahren Sie fort.

Was ist da viel zu erzählen? sagte die Frau Conrectorin nach abermaliger Pause. Gleich am andern Tage kommt der junge Mann zu der Mutter, stellt sich vor und erklärt sich. Es war ein sogenannter schöner Mann, ganz anders als Sie, Vetter Isidörchen, groß, schlank, mit gebrannten schwarzen Locken, ein kleines Bärtchen, feinste Pariser Wäsche und neuestes Costüm, kurz, gerade wie die Köpfe, die beim Friseur im Ladenfenster stehen na, ich will Ihnen nicht wehe thun, Vetterchen, Sie sind mir doch noch lieber, als solch ein Maikäfer. Die Mutter meiner Lulu und der Vormund, der alte Herr von Schnorrigl, machten natürlich große Augen, als er um das sechzehnjährige Kind anhält. Der General wollte den kecken Gesellen gleich aus dem Hause werfen, er hätte die Julia auch keinem Anderen gegeben, denn er war ganz vernarrt in das Kind. Nur die Mutter ließ sich blenden und machte die Derbheit des Alten durch Artigkeit wieder gut. Man suchte Ausflüchte, um Zeit zu gewinnen und Erkundigungen einzuziehen. Sie sehen, Vetter, es ging alles mit rechten Dingen zu. Und übrigens war das Resultat der Erkundigungen im Ganzen kein schlechtes. Man erfuhr zwar allerlei, aber nichts eigentlich Schlimmes. Der junge Mann war Compagnon eines Zuckerfabrikanten und hatte außerdem eine neue große Parfümerie - und Seidenfabrik angelegt. Man konnte es schon von weitem riechen.

Schon von weitem nein, es ist zu arg, Frau Conrectorin! und der Idealist mit der weißen Weste sprang auf. Sie stellen mein ästhetisches Gewissen auf eine harte Probe.

Du meine Güte, Vetterchen, jede Blume hat ihren Duft, und seine eaux de lis und eaux de mille fleurs hatten mehr als einen Preis davongetragen. Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrer Zimperlichkeit wollen, ich habe ja nicht von grüner Seife gesprochen. Also gut das war noch die Lichtseite, im Uebrigen erfuhr man nicht viel Gutes. Der junge Herr Aloys Heister, so war sein Name, war ein Lebemann, er fuhr und ritt fleißig spazieren, auf dem Eise und in der Manège, auf dem Tanzplatz und beim Billard war er der Erste, er hatte seine Loge im Theater und seinen Livreebedienten und Jockey, kurz, es war ein Lion, wie er im Buche steht. Sonst konnte man nichts erfahren, was seinem Charakter oder seiner bürgerlichen Ehre geschadet hätte, aber das war schon genug. Die Mutter zwar war von dem schönen jungen Mann und seinen Vorzügen geblendet, aber der alte General schnob Feuer und Flammen über den Gecken, Windbeutel und Schwindler, denn anders nannte er den Freier nicht. Kurz, es gab heftige Auftritte im Hause, bis Julia rundweg erklärte: Den oder Keinen!

Aber das Alles sind ja langweilige Dinge, Frau Conrectorin, sagte Vetter Isidor.

Aha, Sie warten auf die Strickleiter und auf Mord und Todtschlag; nur Geduld, Vetterchen. Es kommt noch anders. Meine kleine Lulu also setzt es durch, daß sie mit ihrem liebsten Romeo verlobt wird. Aber nun ging der Spectakel erst recht los. Alle Stadtfraubasen und Philister in der Stadt, das heißt, die soliden Leute, schrieen Zeter und Mordio, daß daraus nichts Gutes kommen werde, und daß es schlimm ausgehen müsse. Anonyme Briefe kamen, daß der junge Herr bereits anderweitig engagirt sei und nur das Vermögen Juliens erobern wolle; Warnungen kamen, daß er ein Lufticus sei und von seinem Fache eigentlich gar nichts verstehe, daß sein eigener Vater sich von ihm losgesagt habe, weil er schon Unsummen am grünen Tische durchgebracht habe und tief in Schulden stecke kurz, die ganze Litanei des Neides, der Bosheit, der Ver - leumdung aller Art. Der junge Herr Aloys aber benahm sich dabei sehr schlau. Es fiel ihm gar nicht ein, sich zu vertheidigen, er lachte nur über die bösen Zungen, aber er erschien niemals auf dem Hofgut ohne kostbare Geschenke. Bald war es eine Marmorvase, bald ein Korb Früchte, bald seltene Blumen oder eine Spitzengarnitur Pariser Luxuswaaren, türkische Teppiche, Südfrüchte, Cameen, Bijouterieen das waren seine Antworten, und damit brachte er ganz die Mutter auf seine Seite und auch mich, die er für die zweite Mutter Juliens ansah.

Auch Sie, Frau Conrectorin! sagte Isidor mit dem Tone des Entsetzens.

Ja, verzeih 'mir's Gott, auch mich. Wenn der Böse einmal seine Hände im Spiel hat, so braucht er immer die alten Mittel; ich kann den Faust seitdem nicht mehr lesen, noch sehen, denn die Frau Martha ist gar zu sehr nach dem Leben gezeichnet. Also gut um dem alten General auszuweichen, kamen die Liebesleutchen hier zusammen, im Garten oder hier im Häuschen, und so hab' ich mein Theil redlich mitgeholfen. Eigentlich mochte ich den Menschen nicht recht leiden, er sprach wenig und ging nie aus sich heraus, ich bin nie dahinter gekommen, ob er ein Duckmäuser oder ein Simpel war, es kann auch bloße Unerfahrenheit und Schüchternheit gewesen sein, aber mich dauerte das junge Blut, und so hatte das Unglück seinen Lauf.

Frau Conrectorin, Sie werden doch nicht sagte der Idealist mit niedergeschlagenem Auge.

Freilich werde ich nicht was denken Sie, Isidörchen, schämen Sie sich! sagte die Frau und gab dem Vetter einen kleinen, sanften Schlag auf den mageren Arm. Nein, um aber das Schlimmere zu verhüten, drang ich auf rasche Heirath, und so ist's auch gekommen, hier im Gartenhäuschen ward die Hochzeit gefeiert.

Wie sie ist verheirathet?! Das war dem Idealisten mit der weißen Weste zu viel. Er sprang auf, sein Hals reckte sich noch einmal so roth und noch einmal so lang aus der rothen Cravatte, während er die gelben Locken schüttelte und die weißen Handschuhe zusammenschlug.

Verheirathet! und ich hielt sie für ein schuldloses, blumenhaftes Wesen, für eine jungfräuliche Vestalin, für eine

Nun, nun, suchen Sie nur nicht nach Ausdrücken, Vetterchen; ich glaube, Sie gehören auch zu dem Publikum der Galerie und der Dachstube, mitunter auch der Salons, wo man einen Roman nur so weit lies't, bis sie sich gekriegt haben, denn nachher hört angeblich alle Poesie auf. Was seid ihr für Menschen, Vetterchen!

Heirathen ist eine Infamie! schrie der Vetter Isidor mit Stentorstimme. Ich habe genug, Frau Conrectorin, leben Sie wohl!

Eine Infamie, so, so dann ist's wohl noch eine größere Infamie, Familie zu haben, Vetterchen? Ihr verdient eigentlich gar nicht auf die Welt gekommen zu sein, denn die Welt hätte wenig an Euch verloren, Isidörchen, und Eure gute Mutter hätte auch besser gethan, Nein zu sagen, statt solchem Stockfisch das Leben zu geben, da sehe mir doch Einer! Die brave Frau Conrectorin hatte sich fast in Zorn geredet, der jedoch sofort verflog, als sie sah, daß Vetter Isidor an der Thüre noch einmal umkehrte; sie mußte lachen, denn der Vetter spielte wirklich eine drollige Figur.

Er hatte bereits seinen Strohhut, den ein himmelblaues Band schmückte, auf den blonden Locken, als er sich noch einmal umwandte.

Also Die da drüben, und er deutete mit dem Knopf des Regenschirms auf das Hofgut, hat auch schon Familie gehabt?

Sie lassen einen ja nicht ausreden, Vetter, und zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts weiter hören. Nein, Kinder hat Frau Julia nie gehabt.

Erzählen Sie weiter, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und lehnte sich nachdenklich an einen altmodischen Schrank, auf welchem in chinesischen Vasen alte Blumensträuße aus Schilfblüten und getrockneten Pflanzen prangten.

Die Frau Conrectorin sah den wunderlichen Vetter eine Weile über die Brille weg an, und zwar mit seltsam spöttischem, halb mitleidigem Blick. Dann nahm sie wieder ihren Strickstrumpf und fuhr weiter fort:

Mit der Heirath hatte es noch eine besondere Bewandtniß. Es zeigte sich, daß Herr Aloys Heister ein Mennonit war, und da sie keinen Geistlichen finden konnten, der sie trauen mochte, so mußten sie sich mit einem Civilact begnügen. Das aber war ein eigentliches Unglück. Denn Juliens Verwandten haben auch diese Civiltrauung und damit die ganze Ehe nie anerkannt, und eigentlich ist's auch keine nach unserer Manier, sagte die Conrectorin, na, wir wollen uns nicht von Neuem streiten, darüber ein andermal. Also gut. Eine Weile ging die Sache ganz nach Wunsch. Aloys und Julia triumphirten und lachten die böse Welt aus, die sie nicht hatte zusammenkommen lassen wollen, und die böse Welt mußte verdutzt stillschweigen und erstickte am Neid, selbst der alte Schnorrigl sagte nichts mehr, er brummte nur und machte Gesten in der Luft. Er war der Einzige, der Herrn Heister nie hat verzeihen wollen. Julia durfte nie wieder das Hofgut betreten, und die bösen Zungen sagten, es sei bei ihm nur der Zorn gewesen, weil er Juliens Vermögen und das war nicht klein hätte herauszahlen müssen. Das Vermögen aber wurde in die Parfümeriefabrik gesteckt, und zum Theil auch beim Compagnon angelegt. Eine Weile also ging es ganz gut. Das junge Pärchen bezog eine prachtvolle Wohnung in der Stadt und lebte herrlich und in Freuden, man sah sie auf allen Promenaden fahren und reiten. Julia bekam das Neueste und Eleganteste, was in den Pariser Modemagazinen aufzutreiben war. Ihr Gemahl trug sie auf den Händen, denn der leiseste Wunsch war ihm Befehl, und daß die junge Frau von allen Seiten um ihr Glück beneidet wurde, war nur natürlich. Im Sommer nahm man Landaufenthalt in einem besuchten, vornehmen Bade, den Winter füllten Zerstreuungen aller Art, Concerte, Bälle, Gesellschaften und Maskeraden; zu ihrem Salon drängte sich Alles, was sich zur guten Gesellschaft zählte sehr natürlich, wo Honig ist, fliegen die Wespen zu, und sie hielten offenes Haus und lebten auf großem Fuß.

Aha, nun kommt der bekannte Hausfreund

Nein, der kommt nicht, mein kluger Herr Vetter, den überlassen wir lieber den Romanschreibern. Freunde allerdings hatte Aloys von allen Arten und in allen Ständen, denn er hatte es doch verstanden, sich sehr beliebt zu machen. Seinen Leuten bescherte er prächtig und überreich zu Weihnachten, seinen Freunden gab er feine Diners und gemüthliche Feste, ja selbst seine Feinde mußten zugeben, daß er ein ganz besonderes Genie besitze, Landpartieen und Wasserfahrten zu arrangiren, Familienbälle und Maskeraden zu veranstalten. Seine Frau wie seine Schwiegermutter, natürlich auch seine Verwandten und Freunde, erfreute er bei jeder erdenklichen Gelegenheit mit den kostbarsten Geschenken. Zuletzt begann er auch die Künstler zu protegiren und legte eine große, kostspielige Gemäldesammlung an. Daß er Pferde, Equipagen, Dienerschaft besaß, versteht sich von selbst. Kurz, er lebte wie ein kleiner Fürst und gab der goldenen Jugend der Stadt ein nachahmungswerthes Beispiel, wie man seine Mittel mit Geschmack und Eleganz verschwenden solle und könne. Seine Julia, wie gesagt, trug er auf den Händen, und die junge Frau lebte wie in einem glücklichen Traum und Taumel dahin. Es fiel ihr gar nicht ein, zu fragen, woher die Mittel zu dem colossalen Aufwande kamen. Du hast jährlich deine zehntausend und brauchst vor keiner Gräfin und keiner Ministerin zurückzustehen, hatte ihr Mann ihr in den ersten Tagen schon gesagt, und die junge Frau glaubte an ihn wie an ihren Gott. Nannten ihn auch manche vorsichtige und scharfblickende Leute einen Verschwender, so konnte ihm doch Niemand ernstlich gram sein, denn je sinnloser seine Vergeudung, desto mehr entfaltete sich seine persönliche Liebenswürdigkeit. Wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, kommt es mir vor, als ob er sich mit Absicht in diesen Strudel von Zerstreuungen stürzte, um selbst zu vergessen, über welchem Abgrund er schwebte. Zwar seine Zuckerfabrik wie die Parfümeriefabrik gingen glänzend, und seine Firma gewann mit jedem Jahr einen verbreiteteren Ruf; nur über sein Verhältniß zu seinem Compagnon konnte Niemand klare Auskunft erlangen.

So ging es ungefähr vier bis fünf Jahre in ungetrübtem Glück. Daß er keine Kinder hatte, mochte der einzige Schatten dieses Glückes sein, aber man hörte ihn niemals darüber klagen. Der plötzliche Tod seiner Schwiegermutter, meiner theuren Freundin, war der erste Schlag, der den wolkenlosen Himmel verfinsterte, aber dieser Trauerfall machte es ihm um so mehr zur Pflicht, die arme Julia zu zerstreuen und sie ihren Verlust vergessen zu machen; man unternahm eine Reise nach Venedig. Damals schon meinten einige böse Zungen, die Reise sei nur ein Vorwand, um sich seinen Verbindlichkeiten zu entziehen. Einige Gläubiger meldeten sich, andere wurden unruhig. Die Katastrophe drohte hereinzubrechen, aber Herr Heister kam mit seiner Frau zur festgesetzten Zeit zurück, heiter und sorglos wie immer. Einige der Gläubiger wurden sofort befriedigt, anderen gab man Sicherheit, den dritten Vertröstungen. Dies genügte für den Augenblick, aber das Mißtrauen war nun einmal erwacht und zu stark, um wieder ganz eingeschläfert zu werden.

Seit dieser Zeit machte Herr Heister öfter kleine Reisen, er kam aber immer verstimmt zurück. Fremde wollen ihn in Wiesbaden und Homburg gesehen haben. Während einer dieser kleineren Reisen, die er stets allein unternahm, wurden Wechsel präsentirt, und das Unglück wollte es, daß Frau Julia zu Hause war. Die junge Frau ruft den Kassier er erscheint und macht ein bestürztes Gesicht, als er die Wechsel sieht. Frau Julia befiehlt, sie auszuzahlen. Der Kassier sucht nach Ausflüchten, sie wird gereizt und läßt sich zu einer unbesonnenen Aeußerung über seine Pflichttreue hinreißen. Das verletzt den empfindlichen Mann auf das Aeußerste, und er läßt jede Rücksicht schwinden. Mit dürren Worten erklärt er, daß die Kassen erschöpft und überhaupt keine disponiblen Mittel mehr vorhanden seien.

Noch an demselben Abende kam Herr Heister von seiner Reise zurück. Frau Julia erzählt ihm den Vorfall mit ungläubigem Lachen und verlangt, er solle den insolenten Kassier auf der Stelle entlassen. Aber Herr Aloys scheint keine Neigung dazu zu haben; sie wird ernster und dringender, er bleibt zerstreut und nachdenklich, endlich giebt er zu, daß momentane Verlegenheiten wohl vorhanden sein könnten. Frau Julia bietet ihr ganzes Vermögen an, er zuckt die Schultern. Mein Kind, du hast vergessen, daß dies längst in das Geschäft gesteckt worden ist. Und dein Compagnon? fragt sie. O, das ist ein vorsichtiger Mann, der hat sich, als ich heirathete, gleich die größere Hälfte des Geschäfts verschreiben lassen, und heute gehört ihm alles, wenn uns dein alter Herr, der General, nicht hilft. Er allein kann uns noch retten!

Noch in der Nacht eilte die junge Frau heraus, um dem Alten ihren Besuch zu machen, den ersten, seit er mit auf dem Hofgute wohnte. Der alte Schnorrigl war nämlich erst herausgezogen, seitdem er pensionirt war, und Juliens Mutter hatte ihm längst zu ihren Lebzeiten das Hofgut verpfändet. Herr Aloys Heister hatte sich nämlich schon früher mehreremale unter der Hand an sie gewendet, und die leichtgläubige, gutmüthige Frau hatte Hypothek über Hypothek aufgenommen. Als sie starb, beschwor sie den General, alle diese Papiere an sich zu bringen, und so war der Alte factischer Eigenthümer von Juliens Familiengut geworden. Von alledem wußte die junge Frau keine Silbe, als sie sich auf den Rath ihres Mannes an den Alten wendete.

Aha, kommst du endlich? rief der alte General; ist die Stunde da, wo dir die Augen aufgehen, wie es mit dir bestellt ist? Er ließ sie gar nicht zu Worte kommen, als wüßte er Alles, was sie wollte, Alles, wie es stand. Du bleibst jetzt hier, sagte er noch, ich werde morgen früh meinen Secretär zu dem Menschen schicken, der sich deinen Mann nennt, um seine Bücher zu untersuchen. Dann wollen wir ein letztes Wort mit einander reden.

Die Nacht war zu weit vorgerückt, als daß Frau Julia zurückkonnte, und sie mochte sich durch eine übereilte Entschiedenheit nicht die letzte Hoffnung rauben, die sie auf eine Untersuchung der Bücher setzte. Sie hielt Alles nur für eine momentane Calamität, und um den alten General bei guter Laune zu erhalten, blieb sie die kurzen Stunden.

Am andern Morgen in aller Frühe es war just um dieselbe Zeit, wie jetzt, wo die Himbeeren reif werden, und ich war gerade hier im Gartenhäuschen auf der nämlichen Stelle da höre ich plötzlich ein Traben und Rasseln, und ein bepackter Reisewagen kommt angefahren und hält dort an der Brücke. Neugierig, was das zu bedeuten hat, trete ich an das Fenster, da sehe ich, wie Herr Aloys Heister aus dem Wagen steigt und auf das Hofgut losgeht; aber ehe er noch an die Thüre kommt, tritt der alte General auf die Treppenrampe vor dem Hause und befiehlt ihm, draußen zu bleiben. Ueber den Gartenzaun weg haben sie die letzte Unterhandlung geführt; sie war kurz genug, denn auf eine Untersuchung der Bücher wollte sich der Herr Heister nicht einlassen, da es doch zu Nichts helfen würde.

So, mein Herr, ruft der Alte, aber von mir erwarten Sie Hülfe es thut mir leid, Ihnen zu sagen, daß Sie umsonst gekommen sind. Von mir haben Sie nichts zu erwarten, nicht einmal nach meinem Tode!

So verlange ich meine Frau von Ihnen! ruft er. In demselben Augenblick tritt Julia auf die Galerie, um zu hören, was es gebe.

Zu welchem Zwecke verlangen sie meine Enkelin, die Sie angeblich schon Frau nennen? ruft der alte General.

Können Sie es über das Herz bringen, uns in das Elend zu stoßen, so wird Julia mein Schicksal theilen. Ich bin im Begriff, in das Ausland zu gehen, und rufe meine Frau zu ihrer Pflicht, mir zu folgen!

Ja wohl, um ein Pfand zu haben, um uns auszubeuten, ruft der Alte mit Ingrimm, daraus wird nichts, mein Freund!

So zwingen Sie mich, Gewalt zu brauchen, schreit Aloys und stürmt auf die Thür los.

In demselben Moment ruft Julia: Ich komme zu dir! und will sich von dem niedrigen Altan hinunterstürzen, um ihrem Gatten zu folgen, sie that es auch wirklich, brach aber mit einem Schrei zusammen. Im Nu der alte Schnorrigl zu ihr, um sie aufzuheben und zurückzuhalten, und im selben Augenblick zieht Herr Heister ein Terzerol und schießt auf den Alten. Der Schuß ging fehl, glücklicherweise; aber er brachte die ganze Nachbarschaft in Aufruhr. Frau Julia hatte den Fuß gebrochen und mußte in das Haus zurückgetragen werden. Von allen Seiten stürzten Menschen herbei, um wie es hieß den Mörder zu fangen. Herr Heister konnte nur mit genauer Noth den Wagen erreichen, um dann sofort allein abzufahren. Es war ein Zeter und Mordio auf dem Platz hier, ein Aufruhr und Getümmel, grade wie auf der Bühne, recht dramatisch, Herr Vetter, recht tragisch, rein zum Herzzerreißen!

Nun, und weiter?

Was weiter, Herr Vetter! Die Sache ist zu Ende. Die Behörden erließen einen Haftbefehl gegen den Flüchtling, der aber hatte längst die Grenze erreicht. Frau Julia lag lange Wochen zwischen Leben und Sterben, und als sie wieder aufstand, war die schöne, junge Frau kaum mehr zu erkennen. Leider fiel die Untersuchung der Bücher noch ungünstiger aus, als man gefürchtet hatte. Die Bücher waren überhaupt völlig in Unordnung. Juliens Vermögen war längst verbraucht, beide Fabriken, sofern sie nicht schon dem Compagnon gehör - ten, hoch überschuldet; auch von dem Verbrauch der Summen, die Juliens Mutter als Hypothek aufgenommen und dadurch ihr eigenes Besitzthum preisgegeben, waren keinerlei Nachweise zu finden. Trotz alledem traf den Herrn Heister doch nicht die ganze Schuld des Unglücks. Er verstand allerdings nicht viel vom Geschäft, er kaufte die Rohproducte zur Fabrication zur unrechten Zeit ein und bekümmerte sich wenig um deren Verwendung. Dann kamen bedeutende Diebstähle vor, die er theils aus falscher Furcht, sich lächerlich zu machen, theils aus falscher Humanität, Anderen nicht schaden zu wollen, verschwieg. Inwiefern der Kassier selbst mittelbar oder unmittelbar bei den letzten verzweifelten Finanzoperationen betheiligt war, ist nie zu Tage gekommen: gleich nach der Abreise Heister's war auch er unsichtbar geworden, und es läßt sich vermuthen, daß er sein Schäfchen längst vorher ins Trockene gebracht hat. Herr Aloys hatte außerdem oftmals Bürgschaft geleistet für lockere Zechbrüder; seine Güte war oft mißbraucht worden von allerlei Abenteurern und leichten Gesellen. Vielleicht hätte ihn die Bürgschaft des alten Generals und eine neue, überwachte Ordnung noch einmal herausreißen können, aber die moralische Bürgschaft fehlte vollkommen, daß Aloys jemals ein anderer Mensch werden könne. Es war ihm von Jugend auf zu gut gegangen, und das Feuer der Noth und Trübsal hatte ihn noch niemals stählen können. Genug, das Factum stand fest: er war ein Bettler geworden, und Frau Julia ward in denselben Abgrund mit hinunter - gerissen. Die Gläubiger belegten Alles mit Beschlag, soweit nicht der Compagnon Ansprüche erhob. So ging Alles verloren, und die Philister behielten vollständig Recht, die von Anfang an Unheil prophezeit hatten. Die arme Julia mußte aber noch froh sein, daß der alte Schnorrigl ihr ein Asyl auf dem Hofgut gab und sie als Waise zu sich nahm, als hilflose Waise, der man das Gnadenbrod giebt, ja, Vetterchen, das Gnadenbrod, das ist das Ende der sogenannten Poesie und der sogenannten Ideale!

Eine lange Weile saß der Herr Vetter Isidor wie versteinert, dann sagte er mit kleinlautem Ton:

Aber damit kann doch die Geschichte nicht zu Ende sein. Was ist denn aus dem Mann geworden?

Doch, die Geschichte ist zu Ende, Vetterchen, auf immer zu Ende. Eine Weile kamen aus dem Auslande noch flehende, bald drohende Briefe aus tiefster Noth heraus. Es hieß, er sei Apotheker geworden, nachher Commissionär, zuletzt Zettelträger und Colporteur; wer weiß, was Wahres daran ist. Zuerst verlangte er wiederholt, daß Julia zu ihm kommen solle, und auf jeden solcher Briefe fiel das arme Kind wieder in lebensgefährliche Krankheit. Zuletzt hieß es, er sei gestorben; seitdem ist sie ruhiger geworden und ergiebt sich in ihr trauriges Schicksal.

Sie ist Wittwe? rief Vetter Isidor, mit Begeisterung aufspringend und mit langen Schritten das Gartenhäuschen durchmessend, warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt, Frau Conrectorin, und spannen mich auf eine so entsetzliche Folter!

Ja wohl, Vetterchen, sie ist Wittwe, aber der alte General macht ein Geheimniß daraus, um etwaige neue Annäherungen und Romane unmöglich zu machen. Das arme Kind lebt unter strengster Aufsicht, darf keinen Brief fortschicken und keinen empfangen, den der Alte nicht gelesen, ebensowenig darf sie Besuche annehmen oder erwidern, ach, und das thut mir grade am allerwehsten, daß mir der Alte so zu sagen das Haus verboten hat, denn mich hält er für die Anstifterin des ganzen Unglücks, und er hätte mir wohl schon das Haus über dem Kopfe weggekauft, wenn es feil wäre, oder wenn ich Schulden hätte. Nun wissen Sie Alles, Vetter Isidörchen, wie die Sachen stehen. Am besten, Sie lassen sich jeden Gedanken an die schöne Frau Julia vergehen und machen, daß Sie in das Theater kommen. Die Poesie, die Traumwelt, das ist Ihr Reich, Vetterchen, die Wirklichkeit ist nichts für Sie!

Vetter Isidor stand noch eine geraume Weile am Fenster und schaute mit gleichsam andächtigen Blicken zu dem Hofgut hinüber. Seine Hände waren auf dem Rücken gekreuzt und stützten sich dort auf den Knopf des Regenschirmes. Seine wasserblauen Augen hatten den schwärmerischsten Ausdruck, dessen sie fähig waren, und der flohfarbige Sommerpaletot schien seine dunkle Farbe noch um einen Grad tiefer nachgedunkelt zu haben, um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen.

Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können.

Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen.

Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß.

Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. Aha, hab 'ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem Vermögen hat man ihm die Eroberungen immer so nahe gelegt, daß sie den Reiz verloren, und sein Mißtrauen verdarb Alles. Na nur zu, Isidörchen, nur zu, ich wollte mich freuen und selbst gerne vergessen, was ich vor Jahren geträumt habe. Das wäre eine Partie für dich, wie keine, aber man darf's um Himmels willen nicht verrathen, daß man die Sache wünscht und begünstigt, sonst ist Alles wieder verschüttet. Nun ich denke, jetzt ist er auf dem besten Wege.

Damit trippelte die gutmüthige Frau in das Haus zurück und lächelte stillvergnügt in sich hinein, wie Jemand, der ein gutes Werk gethan hat.

Die Nacht sank herab auf Wald und Strom, auf den Fahrweg und die Brücke, auf das schindelgedeckte Landhäuschen und das weitläufige Hofgut, mit seinem schönen, eisernen Geländer, mit seinen hohen Mauern und seiner palastähnlichen Front. Durch die laue Nacht klang von einem nahen Wirthshause her Gesang und Citherspiel bisweilen schlug ein Hund in der Ferne an oder klappte ein Fenster in den lustigen Villen und Landhäusern. Ferner aber braus'te wie ein meilenweites Stromesrauschen das Geräusch der großen Stadt, mit ihren rollenden Wagen, ihren wimmelnden Menschenmassen, ihren tausenden von Gasflammen, deren Widerschein wie ein blaßrothes Nordlicht am dunklen Himmel stand. Das Hofgut des Herrn von Schnorrigl und das Landhaus der Frau Conrectorin lagen in einer der weitläufigen Vorstädte, die, von Gärten und Wald umgeben, zugleich ländlichen Charakter haben und entlang dem Strom eine Menge anmuthiger Einsiedeleien bieten, den Weltmüden ein Asyl, den Kranken eine Erholung und den Ausgestoßenen eine sichere Zuflucht, dahin die bösen Zungen nicht dringen, noch die Laster der Großstadt.

II.

Und es war wieder an einem Sonntage, und die treffliche Frau Conrectorin saß wieder in ihrem Gartenhäuschen am Wasser, philosophirte über Menschen und Dinge und schälte Aepfel, welche gewelkt werden sollten.

Vetter Isidörchen war einen Sonntag ausgeblieben, und das stimmte die gute Frau Conrectorin, die über Alles die regelmäßige Ordnung liebte, ziemlich verdrießlich; sie hatte sich an den wundersamen Pedanten, der von nichts träumte, als von Idealen und Abenteuern, nicht erst seit gestern gewöhnt.

Sonderbar zuerst war sie gefaßt darauf, den Schwärmer in Folge ihrer Mittheilung schon am nächsten Tage wieder erscheinen zu sehen, denn er hatte freie Zeit genug, und sein Interesse für die schöne Nachbarin war doch sicher kein Strohfeuer gewesen. Sollte sie den empfindlichen alten Junggesellen wirklich beleidigt haben, daß er nun schon vierzehn Tagen hingehen ließ, ohne etwas von sich hören zu lassen oder sich selbst zu zeigen oder war ihm ein Unfall zugestoßen, war er krank geworden? Die weichmüthige Frau Conrectorin beschloß etwas zu thun, nur war sie noch unentschieden, ob sie selbst in die Stadt fahren, oder durch den Milchmann vorerst Erkundigungen einziehen sollte.

Das Letztere erschien als das Empfehlenswerthere, und sie hatte bereits dem lahmen Joseph eingehende Aufträge gegeben, wie er ein schönes Compliment von der Frau Conrectorin ausrichten solle und so weiter. Zur Unterstützung ihrer Einladung hatte sie einen großen Korb voll frischer Butter in grünen Weinblättern, nebst einem gerupften Huhn, zwei Paar junger Tauben und einer Schale frischgepflückter Himbeeren beigefügt. Der lahme Joseph wollte sich so eben mit vielen Kratzfüßen entfernen, als plötzlich schwere Tritte auf der kleinen Brücke erklangen.

Frau Conrectorin sah auf und erkannte mit freudiger Ueberraschung den Vetter, der mit großen Schritten einhergestiefelt kam. Er war diesmal in schwarzem, altmodischem Frack, und statt des Strohhutes mit himmelblauem Bande thronte der unvermeidliche Cylinder auf den gelben Locken, auch die rothe Cravatte war von einer schwarzen verdrängt, so daß Vetter Isidor heut halb wie ein Candidat der Theologie, halb wie ein Oberkellner oder Leichenbitter aussah.

Was hat denn das zu bedeuten? sagte die Frau Conrectorin fast erschrocken und ließ den eben geschälten Apfel zu Boden gleiten.

Zwei Minuten später stand Vetter Isidor im Gartenhause. Sein ganzes Wesen hatte heute etwas Feierliches, Gehobenes, Verjüngtes. Seine Stirne strahlte wie die eines Predigers, der eben eine weihevolle Predigt gehalten, seine Augen schimmerten in einem verklärten Glanze, und die weiße Weste, wie die neuen weißen Handschuhe vervollständigten den Ausdruck des Festtäglichen.

Nun, wo kommen Sie denn heut her, Vetterchen? sagte die Frau Conrectorin. Ich dachte schon, Sie wären krank, oder hätten etwas übel genommen. Und wie feierlich Sie kommen, ganz in Gala, als müßten Sie zur Audienz bei Hof! Ja, was hat es denn nur gegeben? Eigentlich sollte ich Ihnen recht böse sein, Vetterchen, nicht einmal eine Entschuldigung seit vierzehn Tagen.

Vetter Isidor strich in halber Verlegenheit mit der Ellenbogenseite des Aermels den schwarzen Seidenhut glatt, und seine wasserblauen Augen umschleierten sich verschämt mit den großen Augenlidern und ihren dichten, hellblonden, fast weißen Wimpern.

Es ist wahr, es mag den Anschein haben, hochverehrte Frau Conrectorin, sagte er beklommen wie unter einer unsichtbaren Centnerlast aber ich sage Ihnen, ich habe Welten erlebt, Welten überwunden, Welten in mich aufgenommen! O meine theure Frau Conrectorin und dabei haschte er nach ihrer Hand wenn ich Ihnen nur eine schwache Ahnung geben könnte von der erhabenen Freude, von dem heiligen Entzücken von den unsagbaren Wonnen alle Worte unserer irdischen Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen

Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen.

Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt

Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn?

Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation.

Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor.

O wie prosaisch! Wie schmerzt es mich, Frau Conrectorin, daß Sie eine hochgestimmte Seele, ein fühlendes Herz so wenig verstehen wollen, verstehen können! Ich sehe, ich muß ausführlicher sein, fuhr er nach einer Pause fort. Sie waren das Letztemal so freundlich, ein erschütterndes Lebensgemälde zu entwerfen von einer Dulderin, einem Seraph, einem Wesen, welches

Nehmen Sie mir's nicht übel, Vetterchen, wenn ich Sie unterbreche, sagte die Conrectorin etwas verdrießlich. Ich habe es schon hundertmal bereut, daß ich fremde Geheimnisse nicht besser zu bewahren verstand. Es thäte mir sehr leid, wenn Ihr reines, unerfahrenes Gemüth dadurch alterirt und mit unheiligen Dingen erfüllt würde.

Unheilige Dinge ich verstehe Sie heute nicht, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und richtete den matten Blick seiner wasserblauen Augen, so fest er konnte, auf die schelmische Frau.

Sprechen Sie mir, wovon Sie wollen, fuhr die Frau Conrectorin fort nur nicht von Der da drüben.

Nur nicht von Der da drüben? Vetter Isidor saß in der That jetzt mit offenem Munde.

Ja wohl, Vetterchen, fuhr die Frau fort, und diesmal mit eifrigstem Tone. Gott weiß, was für eine Schilderung ich gemacht habe, und wie ich dazu gekommen bin, Ihnen jene dumme Geschichte zu erzählen. Es war eben das reine Mitleid, aber man ist immer noch unbedacht in seinen alten Tagen; inzwischen sind mir die Augen aufgegangen, und ich habe Dinge erfahren, Vetterchen, Sachen von haarsträubender Art. Wollen Sie wohl vom Fenster weg? Was haben Sie denn da zu suchen? Das Gucken hilft Ihnen doch nichts, und wenn Sie ein Riesenteleskop nähmen, statt Ihres Opernglases, wirklich, es thäte mir leid, wenn Sie jene Person nicht längst wieder vergessen hätten

Person! rief Isidor mit zorniger Fistelstimme. Ich muß schon bitten, Frau Conrectorin, sich näher zu erklären: was in aller Welt kann Sie veranlassen, sich eines solchen gravirenden Ausdrucks zu bedienen?

Mein Gott, sagte die Frau Conrectorin verdrießlich, wer lernt ganz aus in der Menschenkenntniß? Ja, ja, diese Person habe ich einst auf meinen Knieen geschaukelt als Kind und habe sie beten gelehrt und in die Kirche geführt. Nachher ist Glück und Unglück über sie gekommen, und sie lebte wie eine Heilige, wie eine Büßerin, ehrbar und streng und ein wahres Muster von Tugend, und nun macht sie mir auf einmal solche Streiche!

Streiche! und Isidor schnellte abermals empor, wie ein Hahn, der mitten im Krähen von einem Stein getroffen wird.

Ich will nichts davon sagen, daß sie seit einiger Zeit in die Stadt läuft, fuhr die Conrectorin fort, obschon es sich nicht schickt; aber was sagen Sie dazu, Vetterchen: ich bin dahinter gekommen, daß sie heimliche Zusammenkünfte hat, ganz offen im Stadtpark, die un - vorsichtige Person, die alle Welt für blind ansieht. O, ich lasse mir kein X für ein U vormachen, ich habe ihr den lahmen Joseph nachgeschickt, und der hat Alles gesehen, Alles, Vetterchen. Nein, daß ich das an ihr erleben muß! Und was sagen Sie denn dazu, Vetter? Sie sind ja auf einmal ganz still geworden?

Auf Vetter Isidor's Antlitz hatte während dessen ein merkwürdiger Mienenwechsel stattgefunden. Der Ausdruck der Entrüstung war erst in den des Staunens und Verblüfftseins, dann des Spottes, endlich der völligen Ruhe übergegangen.

In den Stadtpark geht sie? sagte er phlegmatisch langsam; nun, wenn es weiter nichts ist !

Wenn es weiter nichts ist, Vetterchen? Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen!

Man kann ja nicht wissen, wen sie dort spricht, sagte er mit unverwüstlicher Ruhe; es kann ja ein ordentlicher Mensch sein.

Ja wohl, ordentlicher Mensch ! rief die Conrectorin in voller Empörung. Ich habe mich auch darnach erkundigt. Ein Wüstling soll es sein, ein frecher Mädchenjäger, ein Mensch voll Schulden und vom allerschlechtesten Ruf aber so sind die Weiber ja leider muß ich's selbst sagen statt sich einen ehrbaren, discreten, soliden Anbeter zu wählen, werfen sie sich dem ersten, besten Abenteurer an den Hals, und ein Patron, der mit allen sieben Todsünden gezeichnet ist, der ist ihnen dann der interessanteste das nennen sie dann romantisch und dämonisch, und Zucht und Ehre und Tugend zerstieben wie Spreu im Winde. Ja wohl, das ist dann das hohe Lied von der Leidenschaft na, ihr Großvater sollte nur eine Ahnung davon haben, und er jagte sie aus dem Hause, dazu kenne ich den Alten!

Damit dieses eben nicht geschieht, Frau Conrectorin, deßhalb bin ich hier, sagte der Vetter mit räthselhaft lakonischer Kürze und Bestimmtheit.

Sie, Vetterchen? rief die Conrectorin erstaunt. Ja, wissen Sie denn schon darum und lassen mich reden und reden? So kennen Sie wohl auch diesen verruchten Wicht ohne Ehre und Gewissen, o ich könnte ihn vergiften, wenn ich ihn hier hätte noch ein Täßchen Kaffee gefällig, Herr Vetter? warf sie mit geschwätziger Zunge ein, fuhr aber doch gleich wieder fort in ihrem Zorne: aber ich weiß schon, was ich thue; was meinen Sie, Vetterchen? die Polizei muß uns helfen, dies berüchtigte Subject unschädlich zu machen.

Nein, nein, Frau Conrectorin, lassen wir die Polizei lieber aus dem Spiel, sagte Vetter Isidor mit selbstgefälligem und verschmitztem Lächeln. Ich glaube, wir sind immer noch besser, als unser Ruf.

Vetterchen, wie meinen Sie das? fragte die Conrectorin fast erschrocken.

Nun, flüsterte der verschämte Idealist, indem er die Hand an seinen Munde führte, als handelte es sich um ein wichtiges Staatsgeheimniß: was sagten Sie dazu, Frau Conrectorin, wenn jenes berüchtigte Subject kein Anderer wäre als ich selbst?

Frau Conrectorin betrachtete den Verwegenen einen Augenblick, dann brach sie in ein lautes, unaufhaltsames Lachen aus.

Sie, Vetterchen? Nein, das machen Sie mir nicht weiß mir nicht, um die Welt nicht!

Vetter Isidor stand beleidigt auf.

Wenn Sie ausgelacht haben werden, Frau Conrectorin, bitte ich, es mir mitzutheilen. Ich werde dann in Erwägung ziehen, ob ich Ihnen noch mehr sagen darf, einstweilen Gott befohlen, ich werde im Garten promeniren und damit wollte er zur Thüre hinaus.

Aber eilfertig folgte ihm die Conrectorin und hielt ihn am Zipfel seines Frackes fest.

Nein, nein, mein Schatz, hier geblieben, hier geblieben und gebeichtet! Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, so könnte ja Alles gut werden; denn Sie, Vetterchen, sind doch höchst ungefährlich!

Meinen Sie, Frau Conrectorin? sagte der Vetter mit entschieden verletztem Selbstbewußtsein. Nun, das käme denn doch immer noch sehr darauf an, meine hochverehrte Frau.

Frau Conrectorin war nahe daran, wieder in lautes Lachen herauszuplatzen, aber sie nahm sich zusammen.

Ja, ja, ja, ich will ja glauben, daß Sie ein wahrer Don Juan sein können, wenn Sie wollen, Vetterchen, aber nun erzählen Sie! Damit setzte sie sich, strich ihre Schürze glatt und rückte ihre Hornbrille zurecht, als wenn sie dann deutlicher sehen könnte, was sie hörte.

Frau Conrectorin sind wohl sehr neugierig, sagte der Vetter mit neckendem Zögern.

Mein Gott, machen Sie sich nur nicht so kostbar, rief die Frau zwischen Lachen und Unwillen. Wenn Sie nicht beichten wollen, so behalten Sie lieber Alles für sich, ich bin gar nicht begierig darauf. Es wird auch was Rares sein, was Sie zu erzählen haben.

Seit wann kennen Sie denn die junge Frau? fragte sie dann mit verändertem Ton.

Seit einigen Wochen bereits, ja ich kann sagen, seit zwei Monaten schon genoß ich das unaussprechliche Glück, zuweilen mit diesem seltnen Wesen zu verkehren, ohne jedoch sie zu kennen, und deßhalb sahen Sie mich vor vierzehn Tagen so erstaunt, sie plötzlich hier zu sehen.

Damals kannten Sie sie schon und spielten also den Duckmäuser? O Sie schlaues, heimtückisches, durchtriebenes Vetterchen!

Die Sache war so, fuhr Isidor fort. Sie wissen, Frau Conrectorin, ich bin gewöhnt, jeden Nachmittag meinen Kaffee in Achatsried zu trinken und dann auch wohl ein Bad zu nehmen. Die Regelmäßigkeit geht mir über Alles, und deshalb bin ich auch Gottlob immer gesund geblieben und habe die Skropheln endlich aus dem Felde geschlagen dieses Erbübel unsrer Familie. Doch wo blieb ich doch stehen? Ganz recht, in Achatsried Sie kennen doch den lieblichen Ort, Frau Conrectorin? Man geht durch den Stadtpark über die Brücken, man sieht dort weit in das Thal hinaus, und flußabwärts in die unermeßliche Ebene. Das ist mein Lieblingsplätzchen, weil es allerlei Gedanken anregt. Man hört die Wasserfälle rauschen im Seitenthälchen, man übersieht die menschlichen Wohnungen und Vorstädte mit ihren Gärten und Wiesen. Man kommt in einen Zustand contemplativer Beschaulichkeit nach innen und außen, und wie Schiller so schön sagt

Nur keine Citate, Vetterchen, und keine Beschreibungen. Sie wollten ja von Frau Julia erzählen

Ich nähere mich schon diesem Gegenstand, Frau Conrectorin. Sie wissen also, der Weg nach Achatsried geht durch den Stadtpark. Man kommt dabei an einem lustigen Buchenwäldchen vorüber, dicht neben den alten Ulmen. Schon einigemal im Frühling sah ich dort eine Dame auf einer Bank sitzen, oder vielmehr ich sah sie nicht, denn die Bank steht ziemlich versteckt, aber ein schöner Schwalbenschwanz, dem ich schon lange nachstellte, führte mich eigentlich auf die Spur, denn er flatterte vom breiten Wege in das Dickicht, und als ich ihm folgte, fand ich ihn sitzen auf den Schultern einer schönen, jungen Frau, die dort unbeweglich saß und in einem Buche las.

Ohne an etwas Arges zu denken, wollte ich meinen schönen Schwalbenschwanz, papilio machaon heißt er, Frau Conrectorin, ergreifen, als mir ein weißes Hündchen entgegenfuhr. Ich entschuldigte mich und setzte meinen Weg weiter fort. Einige Tage später sah ich abermals die schöne, junge Dame, aber auf einer anderen Bank. Ich muß es gestehen, daß mir dies höchst gleichgültig war, Sie kennen ja meine Ansichten über die modernen Frauen, aber nicht gleichgültig war mir der kleine, weiße Köter, der mir jedesmal kläffend entgegenfuhr nun habe ich aber von Natur aus dieselbe Aversion gegen Hundegebell, wie der große Goethe Sie wissen Frau Conrectorin, der Dichterfürst konnte drei Dinge nicht leiden

Bitte, keine Literaturgeschichte, Vetterchen, nur bei der Sache geblieben

Gut also, um auf besagtes Hündchen zurückzukommen, so trug ich glücklicherweise ein Stückchen Zucker bei mir. Sie wissen, Frau Conrectorin, ich nehme niemals den ganzen Zucker, den man so verschwenderisch in den Kaffeehäusern vergeudet denn der allzusüße Trank verursacht mir leicht Zahnweh gut also, ich nahm das Stückchen Zucker und warf es dem kleinen, kläffenden Köter hin, der es begierig verschlang. Den zweiten Tag versuchte ich denselben Kunstgriff mit etwas Semmel, und ich kann sagen, mit nicht viel weniger Glück, o man muß nur die Eigenthümlichkeiten der Thiere studieren ein jegliches Thier hat seine individuellen, man könnte sagen, persönlichen Qualitäten

Ich bitte Sie, Vetterchen, um des Himmels willen keine Naturgeschichte. Wie benahm sich denn Frau Julia dabei?

Darauf wollte ich eben kommen; sie rief jedesmal das Hündchen zurück und wollte es nicht leiden, daß es etwas aus fremder Hand annähme. Da mußte ich denn natürlicher Weise das Hündchen vertheidigen, und so kamen wir allmählich in das Gespräch zuerst einige gleichgültige Worte, das nächstemal wurden es mehr

Sie sind köstlich, Vetterchen, rief die Conrectorin; was gäbe ich darum, wenn ich Sie hätte sehen können in dieser romantischen Situation! Wovon haben Sie denn gesprochen?

O von allerhand, von Hunden und Eichhörnchen, von Shakespeare und Linné und so weiter. Die Dame war unendlich gütig, aber sie schien auch unendlich traurig zu sein. Ein süßes, dunkles Geheimniß schien um ihre Gestalt zu schweben, und jedes Wiedersehen hatte einen unsagbaren magischen Reiz für mich. Sie war nicht täglich dort, nur zuweilen, und immer schien es ein holder Zufall zu sein, der uns wieder zusammenführte, denn fast niemals traf ich sie auf derselben Bank wieder. Einmal wagte ich es, neben ihr Platz zu nehmen, da erhob sie sich sofort, ein andermal bat ich sie um die Gunst, meine Begleitung anzunehmen da sagte sie mit entschiedenster Zurückweisung: Ich muß bitten, mein Herr, mich zu verlassen. O wenn Ihnen diese Begegnung unangenehm ist, mein Fräulein, sagte ich, so kostet es Ihnen nur ein Wort, mich nie wiederzusehen. Da sah sie mich mit einem Blicke an, Frau Conrectorin, mit einem Blicke, so wehmüthig und innig, so vertraut, leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden!

Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt.

Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter

Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist.

Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn noch immer Nichts? Sie sind nur ein harmloses Spielzeug für sie gewesen

Nun, nun, Frau Conrectorin, es wird sich zeigen, ob man harmlos bleiben wird, es wird sich zeigen, wie lange man Widerstand leisten wird o, meine verehrte Frau Conrectorin, man weiß immer noch seinen Mann bei den Frauen zu stellen

Ja wohl, Sie sind unwiderstehlich, Sie sind höchst gefährlich, Vetter Isidörchen, lachte die Frau, ohne sich mehr Zwang anzuthun. Sagen Sie einmal, wie viel Abenteuer haben Sie wohl schon erlebt in Ihren schönen Zeiten?

Vetter Isidor schlug die wasserblauen Augen nieder und erröthete. Ich werde Niemand compromittiren, sagte er, sonst könnte ich wohl erzählen von einer Dame

Der Sie einmal aus dem Wagen geholfen haben, und da sie den Tritt verfehlte, sprang sie und lag Ihnen plötzlich an der Brust; das ist bekannt, Vetterchen; weiter!

Von einem Fräulein

Das Ihnen einmal eine Brieftasche gestickt hat, weil Sie die Briefe ihres Verlobten heimlich besorgten ist auch bekannt!

Von einer Gräfin

Der Sie ein verlorenes Taschentuch zurück brachten, und die Ihnen dafür eine Sonate von Beethoven vorspielte

Dann von einem Mädchen vom Lande

Ja wohl, das Sie beinahe geheirathet hätten, wenn sie nicht schon verlobt gewesen wäre, oder vielmehr, mit der Sie sich verlobt hätten, wenn Sie nicht einen dummen Zank angefangen hätten wegen Romeo und Julia wissen Sie noch, Vetterchen? Sie sind doch eigentlich schon in der Jugend unter die Leute gegangen, die einen Zopf tragen, einen ellenlangen Zopf.

Spotten Sie nur, Frau Conrectorin, spotten Sie nur, sagte Isidor mit einem Seufzer. Sehen Sie, das war ewig mein Unglück mitten im Glück mein tragischer Punkt. Immer stieß ich auf Andere, auf elende Schranken, auf unglückliche Barrieren, die der freien Entwicklung meines Genius entgegentraten! Der alte Neid der Götter gegen die allzu Glücklichen

Sie sind ein komischer Philosoph, Vetterchen, sagte die Frau Conrectorin, aber wie steht es denn diesmal? Ich dächte, Sie wären noch nicht zu Ende mit Ihrer neuesten romantischen Geschichte.

Doch, ich war zu Ende, in diesem Stadium zu Ende, Frau Conrectorin. Von dem Augenblick an, wo Frau Julia mich hier entdeckte und daraus schließen konnte, daß ich ihre Wohnung, ihren Namen, ihre Familie endlich ausfindig gemacht, ist sie niemals wieder im Stadtpark erschienen.

Aha, sie fürchtet den Verfolger, den Don Juan, sagte die Conrectorin lachend nun, gehen Ihnen noch nicht die Augen auf, Vetter?

O, was wollen Sie, Frau Conrectorin, wie häßlich sind Ihre Deutungen, ich sage Ihnen, ich durchschaue dieses himmlische Geschöpf sie will eben nicht, daß eine heilige, reine Neigung vor den Augen der Welt entweiht werde, sie will meine gütige Fee, mein Seraph, meine Isis sein im Schleier des Geheimnisses. Aus diesem Grunde allein bin ich auch vierzehn Tage ausgeblieben und nicht einmal zu Ihnen gekommen, Frau Conrectorin, um Frau Julien zu beweisen, daß ich sie nicht verfolge, daß es reiner Zufall war, der sie mich hier entdecken ließ.

Das muß man sagen, Sie sind ein discreter Mann, Vetterchen.

Auch ein vorsichtiger, Frau Conrectorin. Ich bin auch deßhalb weggeblieben, um mich selbst auf die Probe zu stellen, ob ich wirklich schon in Fesseln schmachtete das Resultat war das günstigste: ich habe überwunden, ich bin in keinen Fesseln!

Und zur Belohnung dafür kommen Sie wieder, Vetterchen? Sie sind wirklich köstlich, aber auf diese Manier kommen Sie keinen Schritt weiter.

Das wird sich zeigen, Frau Conrectorin; ich bin nicht so prüde, mich selbst zu verleugnen. Alles, was ich Ihnen sage, habe ich ihr auch geschrieben

Sie haben geschrieben, Unglücksmensch? rief die Conrectorin wirklich erschrocken, dann ist Alles aus!

Vetter Isidor lächelte mit voller Ueberlegenheit des Geistes und sagte:

Sie werden schon noch daran glauben lernen, Frau Conrectorin.

Was in aller Welt, Vetterchen?

Daß man nicht ohne Eindruck auf dieses himmlische Frauengemüth geblieben ist Sie hat mir auch geantwortet.

Geantwortet! Vetter, entweder Sie sind nicht bei Sinnen, oder Frau Julia hat den Kopf verloren übrigens, was liegt an einer Antwort? Sie wird Sie schon in Ihre Schranken zurückgewiesen haben

Sie belieben sich seltsam auszudrücken, Frau Conrectorin. Der Brief ist so wie ich vermuthete und erwartete, hier lesen Sie selbst und er zog ein zerknittertes Blättchen aus seinem dicken Notizbuch, das er aus der Brusttasche des Frackes nahm. Die Frau Conrectorin mußte wieder lachen, als sie sah, daß er dies Heiligthum auf dem Herzen trug und sie las:

Verehrter Herr! Wiederholt muß ich Sie bitten, eine Unglückliche nicht zu verfolgen, die ihr letztes Asyl verlöre, wenn es jemals ihren Verwandten bekannt würde, daß sie so unvorsichtig gewesen, mit einem Fremden zusammenzutreffen. Sie haben sich zwar in den Schranken des Anstandes gehalten, und diese Zartheit hatte bereits mein Vertrauen gewonnen. Seit ich jedoch erfahren mußte, daß Sie mich bis in meine Wohnung verfolgen, seit ich vermuthen darf, daß Sie nun die traurige Lage, in der ich mich befinde, in ihrem ganzen Umfange kennen, muß ich darauf verzichten, Sie wieder - zusehen. Ich würde damit meinen guten Namen auf das Spiel setzen und mir unabsehbare Verlegenheiten bereiten. Ich weiß Niemand auf der Welt, der etwas zu meiner Rettung beitragen könnte, und gesetzt auch, Sie wären vielleicht der Einzige gewesen, der mein Befreier werden konnte, so hat Ihre Zudringlichkeit dieses Vertrauen im Keim zerstört.

Gottlob! sagte die Conrectorin, nachdem sie den wunderlichen Brief gelesen, die arme Julia ist doch brav geblieben und weiß am Besten, was sie sich schuldig ist. Nun, was wollen Sie noch, Vetterchen? Die Sache ist aus.

Aus in jener Form, aber sie muß in einer neuen Form beginnen, und dazu müssen Sie mir rathen und helfen, Frau Conrectorin.

Ja, wie soll ich in aller Welt?

Mit Einem Wort, wertheste Freundin, Sie müssen gestatten, daß wir in diesem Gartenhause Zusammenkünfte haben dürfen, Sie kennen Frau Julien, und es wird sich sicherlich leicht machen lassen. Lesen Sie diesen merkwürdigen Brief noch einmal fällt Ihnen nichts daran auf? o ich sage Ihnen, Frau Conrectorin, wir kennen die Sprache der unterdrückten Leidenschaft, der verschleierten Glut, der reizendsten Schalkheit und der fieberhaften, sich vergebens verleugnenden Ungeduld; lesen Sie nur, lesen Sie; im Grunde wünscht Julia nichts Anderes, als ein baldiges Wiedersehen, eine schleunige Erlösung, o man muß nur die Lettern zu deuten verstehen! Was Talleyrand von der Sprache sagt, daß sie die Gedanken verberge, gilt in noch viel höherem Grade von der Schrift. Nun, was meinen Sie, Frau Conrectorin?

Sie sind ein Narr, Vetterchen, ein completer Narr! rief die Conrectorin in heller Entrüstung. In diesem Gartenhaus ein Rendezvous? Das fehlte noch!

Aber warf der Idealist etwas eingeschüchtert ein Sie haben doch damals ihre Liebe protegirt, wenn ich Ihrer Erzählung Glauben schenken darf!

Das war ganz etwas Anderes das war ein solides Verhältniß, ein loyaler Brautstand vor der Hochzeit. Ja, wenn Sie im Stande wären, einen Entschluß zu fassen, Vetterchen einen muthigen Entschluß wenn Sie Frau Julien wirklich heirathen wollten, wozu dann die krummen Wege? Gehen Sie einfach zu ihrem Großvater und halten Sie um ihre Hand an wie ein ehrlicher Mann, nachher können Sie Ihre Braut alle Tage bei mir sehen, Vetterchen. Das wäre auch für mich der einzige Weg, beim General wieder in Gnaden zu kommen.

Vetter Isidor ging mit starken Schritten im Gartenhaus auf und ab; seine langen Arme fuhren wiederholt mit kühnem Schwunge empor, um die ausgespreizten Finger in den hobelspanblonden Locken wühlen zu lassen.

Sie sind grausam, Frau Conrectorin, Sie sind ohne Idealität, ohne Poesie Sie haben kein Verständniß, kein Herz, kein sympathisches Gefühl für die erhabensten Regungen der Seele. Sie suchen nach Ausflüchten und Vorwänden, um zu verbergen, daß in Ihrem Gemüth alle Altäre umgestürzt, jeder letzte Funke des heiligen Feuers längst erloschen ist!

Vetterchen, hören Sie endlich auf mit Ihren bombastischen Redensarten, oder Sie machen mich ernstlich böse, sagte die Frau, indem sie sich dicht vor ihn stellte. Ich denke, ich habe mich deutlich genug ausgesprochen. Wollen Sie Frau Julien heirathen ja oder nein?

Heirathen auf keinen Fall!

Die brave Frau Conrectorin stand starr. Ja, was wollen Sie denn, Vetterchen? wollte sie sagen, aber der Laut erstarb auf ihren offenen Lippen.

Sie wissen, fuhr der Vetter mit gesteigerter Emphase fort, wie ich in diesem Punkte denke kommen Sie mir nicht mit Ihrer Philistermoral, mit dem Kochlöffel der Tugend und Sittlichkeit. Muß es denn gleich geheirathet sein, wenn die Seelen einig sind in heiliger Weihe? Würden Sie nicht selbst lachen und spotten, wenn Faust höflichst um Jungfer Gretchen angehalten hätte, würden Sie es nicht selbst verächtlich und gemein finden, wenn alle jene hohen, ewigen Gestalten einer Beatrice, Vittoria, Laura, Magdalena und so weiter glücklich unter die Haube gekommen wären, damit sie vor dem Richterstuhl der Kaffeeschwestern und Stadtfraubasen beständen damit die Nachwelt den Trost hätte, daß nunmehr jedes Pensionsfräulein, jeder Backfisch ihre Ge - schichte lesen dürfe, ohne an ihrem ewigen Seelenheil Schaden zu leiden?

Ja, aber um des Himmels willen, was wollen Sie denn sonst, Vetter? Die Sache muß doch einen Zweck haben und ein Ziel!

Ziel und Zweck die Sprache der nüchternen Utilitarier, der Nützlichkeitsmenschen, die keine blasse Ahnung haben, was es heißt, wenn eine heilige Leidenschaft, eine süße Neigung gleichgestimmte Seelen beflügelt und in göttlicher Vereinigung verschmilzt. Nein, Frau Conrectorin, Sie haben mich niemals verstanden, niemals verstehen können!

Gehen Sie mit Ihren hohlen Redensarten, Vetter. Sie haben sich närrisch gelesen und passen nur noch zum Don Quixote. Ich aber werde mich hüten, Ihre Dulcinea in die Falle zu locken, auch wenn Ihre Schwärmerei ganz unschädlich und bloß lächerlich wäre. Schade, daß Frau Julia nicht Ihren Sermon gehört hat, sie würde doch etwas zu lachen haben in ihrer traurigen Einsamkeit.

Frühes Lachen wird spätes Leid haben, sagte Vetter Isidor mit salomonischem Ton, lachen Sie nur, lachen Sie nach Herzenslust, so viel und so lange Sie mögen. Ich aber werde Ihnen beweisen, daß ich Manns genug bin, dieses holde Wesen dennoch aus seinem Elend zu erlösen, und die Stunde wird kommen, Frau Conrectorin, wo wir über Sie lachen werden die Stunde, in welcher sich unsere Seelen verschwistert und in ewiger Freundschaft vermählt haben werden!

Höre mir nur einer diesen alten, verliebten Schäfer, lachte die Frau Conrectorin. Vetter, Sie sind doch eigentlich ein recht unsittlicher Mensch geworden. Wer hätte das von Ihnen denken sollen! Wissen Sie denn auch und dies muß ich Ihnen jetzt noch als Warnung mit auf den Weg geben wissen Sie auch, daß, selbst wenn Sie ernstlich eine Heirath im Sinne hätten, dies seine bedeutenden Schwierigkeiten haben würde? Denn es stände dann noch eine Scheidung dazwischen oder wenigstens eine Nichtigkeitserklärung ihrer ersten Ehe. Das vorigemal erzählte ich Ihnen, daß Juliens Mann, Herr Aloys Heister, gestorben sei inzwischen habe ich erfahren, daß er noch am Leben ist. Nun wissen Sie, an welchem Abgrund Sie stehen!

Vetter Isidor stand einen Augenblick wie verdutzt, dann rief er: Bah, was liegt an hundert solchen Männern? Gar nichts liegt an diesem Patron, gar nichts an diesem Caliban! Hat er diesen Engel in das Elend stürzen können, so verdient er auch keine Schonung. Ich bin zu jeder Schandthat fähig!

Ja, das glaub 'ich, rief die Conrectorin empört. Und nun kein Wort mehr, Sie ruchloser Mensch. Nein, nein, ich will nichts mehr hören, nichts in der Welt, nichts in der Welt! und indem sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt, lief die ehrliche Frau aus dem Gartenhäuschen in den Garten und von dort in das Wohnhaus.

Noch eine geraume Weile stand der ruchlose Mensch in Gedanken und knüpfte dann vor dem kleinen Spiegel seine schwarze Cravatte von Neuem, die in der Hitze des Gefechts aufgegangen war. Auch ein kleiner Kamm durchfurchte seine blonden Locken, die auf dem Scheitel sichtlich dünn waren und an einzelnen Stellen in das Graue hinüberspielten. Dann zog er wieder sein unvermeidliches Opernglas aus der Tasche und recognoscirte das feindliche Terrain , wie er es nannte. Mit der Alten ist nichts zu machen, ich muß auf eigene Faust handeln, sagte er und verließ voll unbestimmter, aber gleichwohl kühner Entwürfe das Gartenhaus.

Bereits war er bis zur Ausgangspforte gekommen, die über eine kleine Brücke auf die Landstraße führte, als er plötzlich seinen Namen hörte.

Er wandte sich und sah, wie die Frau Conrectorin ihm winkte, sie stand halb verdeckt von den mannshohen Himbeersträuchern.

Mühsam schlug sich der Vetter durch die grüne, duftende Pflanzenwildniß, und beide gingen dann den engen Kiesweg, bis sie zu dem kleinen Platz vor dem Hinterhause kamen, wo die Bienenstöcke standen.

Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichem, versöhnlichem Ton, ich will nicht, daß Sie in Unfrieden von mir gehen. Obwohl Sie alt genug sind, um verantwortlich für Ihre Handlungen zu sein, liegt mir doch daran, daß Sie unserem Namen und unserer Familie keine Unehre machen, und daß Sie dabei stahl sich ein Seufzer über ihre Lippen noch glücklich werden. Eigentlich dauern Sie mich, daß Sie in ihrem langen Leben immer so um das Glück herumgekommen sind.

Ich bitte die Einleitung abzukürzen, Frau Conrectorin, sagte der Vetter mit Ungeduld. Was haben Sie mir noch zu sagen?

Also hören Sie mich ruhig zu Ende. Lassen Sie vorerst jeden Gedanken an irgend eine Unbesonnenheit aus dem Spiel. Sie sollen Frau Julien sprechen

Aha, Sie sind zur Vernunft gekommen, Frau Conrectorin.

Lassen Sie mich ruhig ausreden, Vetter. Bestimmt kann ich Ihnen jenes Versprechen noch nicht geben, ich muß erst Mittel und Wege ausfindig machen, und es wird seine großen Schwierigkeiten haben. Außerdem aber habe ich meine Bedingungen.

Lassen Sie hören, sagte der Vetter, und stützte sich rückwärts auf seinen Regenschirm.

Meine erste Bedingung ist, daß Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, die Sache gleich richtig zu machen. Ein bloßes Abenteuer oder ein unsittliches Verhältniß begünstige ich unter keiner Bedingung. Mir liegt selbst daran, daß die arme Frau Julia eine neue Ehe schließt und in bessere Verhältnisse kommt. Die erste Civilheirath war ja eigentlich keine echte, und es wird ihr nur ein Segen sein, wenn sie sich auf immer von dem Schwindler und Windbeutel losmachen kann, dem sie ihre Jugend geopfert hat. Bitte, lassen Sie mich nur ausreden, Vetterchen, ich will's Ihnen jetzt sagen, daß es lange schon mein Lieblingsgedanke war, Sie könnten vielleicht der Rechte sein für die arme Frau, aber Ihnen darf man ja keinen Vorschlag machen, sonst denken Sie gleich, man wolle Sie verkuppeln. Nun ist der Zufall zu Hülfe gekommen, und Sie kannten das liebe Kind schon, ehe ich nur ein Wort davon gesprochen. Die ersten Schritte sind auch nicht unglücklich gewesen, denn als ordentliche Frau konnte die brave Julia nicht anders handeln, und sie hat sich ganz taktvoll aus der Affaire gezogen, aber nun heißt's hübsch im Geleis geblieben, sonst ziehe ich meine Hand zurück.

Und was belieben Sie das Geleis zu nennen, Frau Conrectorin?

Sie verstehen mich recht gut, Vetterchen; wenn Sie mir, wie gesagt, versprechen wollen, der jungen Frau einen bestimmten Antrag zu machen, so will ich Alles veranstalten, daß Sie sie hier sprechen können.

Vetter Isidor stand eine Weile in nachdenklicher Erwägung und bohrte mit seinem Regenschirm in einen Maulwurfshügel, als könne er seinen Entschluß da herausgraben. Es ist also doch richtig dachte er wie ich immer fürchtete, die Alte will mich verkuppeln. Sie ist eben so, wie alle anderen. Himmel und Hölle, aber wiedersehen muß ich den Engel, so oder so ein bloßes Wort verbindet ja zu Nichts warum soll ich der guten Frau nicht den Gefallen thun?

Wenn Sie es denn so wünschen, Frau Conrectorin, sagte er nach einer langen Pause, gut, so seien Sie unser Pater Lorenzo dabei lächelte der blasse Idealist schalkhaft und schlug mit dem Regenschirm nach einer Hummel, die mit drohendem Summen seine Nase umschwärmte.

Gut, so gehen Sie jetzt, sagte die Frau; ich muß nun erst versuchen, mich mit Frau Julien in Verbindung zu setzen; wie ich das anstellen soll, weiß ich noch nicht, aber ich werde es Ihnen sagen lassen, Vetterchen, ob und wann Hoffnung vorhanden ist, daß Sie das liebe Kind hier sprechen können.

Aber kann denn das nicht gleich geschehen?

Nur nicht so ungeduldig, Bester! Jetzt gehen Sie dort hinaus zur Hinterthür, damit Sie nicht gesehen werden. Ich will sehen, was ich thun kann und wie sich die Sache arrangiren läßt. Morgen vielleicht bekommen Sie Nachricht durch den Milchmann stolpern Sie nur nicht, sondern schauen Sie hübsch auf den Weg.

Vetter Isidor wandte sich noch einmal um und streckte ihr mit überschwänglicher Wärme seine Hand entgegen. Sie bleiben doch meine gute, alte Freundin!

Ja wohl, viel zu gut für Sie, Vetterchen, viel zu gut aber was will man machen, wenn altes Holz einmal Feuer fängt, wie bei Ihnen, so schlägt die Flamme gleich zum Dach hinaus. Gute Nacht, Vetterchen, gute Nacht; vor allen Dingen Geduld, Besonnenheit und ehrliches Spiel, hören Sie, ehrliches Spiel!

Damit schob sie ihn zur Thür hinaus. Die hohen Himbeerbüsche nickten hinter ihm, und die Bienen summten. Die Rosen dufteten, und die Schwalben flogen niedriger in der Abendkühle um das schindelgedeckte Wohnhaus und die grüne, dichte Gartenwildniß am Wasser.

III.

Die gute Frau Conrectorin hatte genau genommen mehr versprochen, als sie halten konnte, ja sie hatte im Grunde etwas zugesagt, was gefährlich für alle Theile war. Frau Julien selbst hatte sie seit Monaten nicht gesprochen, denn der alte Schnorrigl hatte ihr peremptorisch das Haus verboten, als sie nach den erwähnten Unglücksfällen einen Besuch machen wollte. Zwar fehlte es nicht an Gelegenheiten, Frau Julien indirect eine Botschaft zukommen zu lassen. Da war zuerst der lahme Milchmann, dann der rothe Hansjürge, der zuweilen Fische brachte, auch die Zeitungsfrau und der Postbote ließen sich gewinnen, aber die brave Frau Conrectorin wollte einmal keine krummen Wege gehen.

Außerdem aber war sie unzufrieden mit sich selbst, denn sie hatte sich gleichsam überrumpeln lassen und dem Vetter Dienste angeboten, die ihr Gewissen nicht gutheißen konnte.

Dann war noch ein sonderbarer Umstand dazugekommen, der ihre Unruhe nicht wenig vermehrte.

Als sie nämlich mit hereinsinkender Nacht das Gatterthor des Gartens abschloß, wie es ihre Gewohnheit war es fiel dies eine Stunde später, nachdem Vetter Isidor Abschied genommen, da geschah es, daß das Gatterthor hastig aufgerissen wurde und ein Mann ihr entgegenstürmte.

Erschrocken trat die Frau Conrectorin zurück.

Wer sind Sie? Wo wollen Sie hin? fragte sie. Es war schon ziemlich dunkel, und da sie ihre Hornbrille bereits abgelegt hatte, konnte sie nichts mehr deutlich unterscheiden.

Erschrecken Sie nur nicht, kam es mit athemloser Stimme zurück. Ich bin es ja, Frau Conrectorin.

Staunend erkannte sie Vetter Isidor.

Ja, Vetter, um Alles in der Welt, was fällt Ihnen denn ein, was wollen Sie denn noch? Die brave Frau hatte sich auf eine Gartenbank setzen müssen; es zitterten ihr die Kniee, so war ihr der Schrecken in die Glieder gefahren.

Das ist sehr einfach, liebe Frau Conrectorin, sagte der Vetter, und ich bin ein Pecus campi, daß es mir nicht gleich eingefallen ist. Ich will bei Ihnen wohnen, einige Tage, einige Wochen, jenachdem

Bei mir wohnen? Der Conrectorin erstarb das Wort im Munde.

Und was wäre dabei? Sehen Sie, morgen gehen ohnehin unsere Sommervacanzen an, ich hatte das ganz vergessen. Anfangs hatte ich mir einen Ausflug in den Seewald vorgenommen, daran ist natürlich nun nicht mehr zu denken. Sie, Frau Conrectorin, haben Feuer in meine Seele geworfen nun helfen Sie es auch löschen. Ich werde meine Sommervacanz bei Ihnen zubringen. Es könnte sich gar nicht günstiger treffen. Sie haben ein hübsches Fremdenstübchen, einen großen Garten, alte Bücher und frische Butter, gesunde Landluft und kuhwarme Milch, was will ich mehr?

Vetter, ich durchschaue Sie, sagte die Conrectorin. Sie wollen noch ganz andere Dinge hier. Sie streuen mir keinen Sand in die Augen.

Nun ja, erwiderte der Vetter flüsternd, wozu ein Geheimniß daraus machen? Ich will die Entwickelung der Sache hier abwarten, vor allen Dingen Eine Luft mit ihr athmen, mit der Göttlichen, bis Sie Wort gehalten haben werden, Frau Conrectorin.

Vetterchen, thun Sie mir den einzigen Gefallen und fangen Sie nicht wieder von Neuem an zu schwärmen, ich bin wirklich zu müde dazu. Sie sind doch der curioseste Kauz von der Welt hätten Sie mir heute Nachmittag den Vorschlag gemacht, ich würde Nein gesagt haben und hundertmal Nein nun sind Sie einmal da und thun mir beinah leid, daß Sie den weiten Weg hin und zurück und wieder heraus dreimal gemacht haben.

Sie wollen mich also behalten, einzigste, goldenste Frau Conrectorin?

Unter einer Bedingung, Vetterchen: wenn Sie mir versprechen, keinerlei Scenen zu machen, keinerlei Wirrwarr anzurichten, sich immer still auf dem Fremdenstübchen zu halten und dort ruhig zu studiren, jetzt aber vor allen Dingen gleich zu Bett zu gehen

Mit tausend Freuden eingeschlagen, Frau Conrectorin! Und sofort war er der braven Frau in das kleine Fremdenstübchen gefolgt, das nach der Kirche zu über dem Kuhstall an der Westseite des Hauses lag.

Eine Stunde später schlief Isidor bereits den Schlaf des Gerechten, nachdem er zuvor noch eine Satte saure Milch, einige weiche Eier und ein umfangreiches Butterbrod verzehrt hatte. Vetter Isidor konnte trotz seiner leicht entzündlichen Seele jederzeit schlafen, wann er wollte, und er hatte sicher keine Ahnung davon, daß seine unvermuthete Zurückkunft und seine kühne Idee der guten Frau Conrectorin allen Schlaf genommen hatten. Daß ein fremder Mann wenngleich ein Verwandter als ungebetener Gast im Hause sei, daß es gerade Vetter Isidor sein mußte, der dies bisher noch nie gewagt hatte, und endlich, daß sie bei seiner steten Gegenwart gleichsam nicht mehr Herrin ihrer Entschlüsse war, die jeden Augenblick von dem Phantasten gekreuzt werden konnten: das Alles ließ die brave Frau nicht zur Ruhe kommen, und sie trippelte noch in später Abendstunde rastlos durch das Haus und den Garten.

Die Nacht war inzwischen völlig hereingesunken. Schwarz standen die Wipfel der Obstbäume gegen das sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt wie alle wirthschaftlichen Frauen.

Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte.

Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum.

Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim - mern zu bewegen; jetzt kamen die Stimmen in das nächstgelegene. Es war offenbar die Stimme des alten Generals selbst und seiner Enkelin Julia. Die Conrectorin war schon öfter unfreiwilliger Zeuge solcher Auftritte gewesen, aber so arg wie diesmal schien der Sturm noch niemals gewesen zu sein.

Sagen Sie, was Sie wollen, Herr General, es war Juliens Stimme, die dies sagte es muß endlich einmal klar zwischen uns werden. Sie haben unverantwortlich an mir gehandelt, und jetzt wollen Sie die unerträgliche Tyrannei auf die Spitze treiben.

Das ist immer die Art der Undankbaren, meine Liebe, kam es mit heiserem Tone zurück. Wenn man sich schuldig fühlt, so kommt man mit Vorwürfen zuvor. Es bleibt dabei, was ich dir gesagt habe, du wirst dich entschließen müssen zu heirathen. Herr von Senkenberg ist ein braver Mann, ein reicher, ein angesehener Mann und glücklicher Weise längst über alle Jugendthorheiten hinaus. Er wird sich morgen die Antwort auf seinen Antrag holen.

Der Herr wird sich diese Mühe sparen können. Sie wissen, Herr General, daß mein Mann noch lebt.

Der Mensch ist todt für uns alle ich muß bitten, seiner nie mehr zu erwähnen, es wird kaum einer regelrechten Scheidung bedürfen, um sich von ihm loszumachen.

Das dürfte wohl noch auf mich ankommen, Herr General Sie zwingen mich zu der Forderung, mich zu meinem Manne zu schicken!

Bah was willst du dort, meine Liebe? Du würdest in dein Verderben gehen. Wovon will er dich ernähren? Eines Packträgers Frau kann meine Enkelin nicht sein.

Und wenn es meine Pflicht ist, jedes Leid mit ihm zu tragen

Pflichten faule Fische, meine Liebe! Die Schande zu theilen ist Niemand verpflichtet. Ihm könnte es wohl passen, dich als Pfand bei sich zu haben zu neuen Erpressungen, das kennt man schon, das kennt man, mein Kind.

Bitte sehr, Herr General. Sie belieben seine Lage anders darzustellen, als sie wirklich ist. Ich wiederhole Ihnen, daß es Ihnen nicht mehr gelingt, mich zu täuschen. Ich weiß es bestimmt, daß er sich wieder aufgeschwungen hat. Ich will seinen Leichtsinn in früheren Jahren nicht entschuldigen. Ich war vielleicht selbst mit schuldig daran, daß ich nicht bei Zeiten seinen Verschwendungen Einhalt that. Sein Elend und mein Unglück wir haben es Beide verdient, aber jedes Leid muß seine Grenzen haben. Mögen Sie es immerhin wissen, ich habe allerdings an seinem Charakter, an seiner Redlichkeit gezweifelt, seit jenem schrecklichen Morgen, aber er hat sich alle meine Achtung und Liebe wiedergewonnen, seit ich weiß, daß er ein anderer Mensch geworden, daß er sich wieder emporgerafft hat durch Fleiß und Arbeit und redliche Thätigkeit. Sie haben kein Recht mehr, mich ihm vorzuenthalten, denn er ist fähig, eine Frau zu erhalten, und seine neue, achtungswerthe Stellung muß jeden Verdacht entkräftigen, als wäre es ihm um etwas Anderes zu thun, als seine Schuld wieder gut zu machen.

Phantasieen, meine Liebe, Phantasieen! Wenn es so wäre, wie du dir einbildest, warum hat er nichts mehr von sich hören lassen ?

Weil Sie seine Briefe zurückbehalten haben! rief die Stimme Juliens mit Heftigkeit. Sie sehen, ich weiß Alles und kenne Ihre sogenannten Maßregeln. Oder wollen Sie leugnen angesichts dieser Briefe? Hier sind sie!

In dem Gespräche des Generals und seiner Enkelin trat eine minutenlange Pause ein. Dann erhob sich die heisere Stimme wieder mit drohendem Tone.

Die Frau Conrectorin verstand nur: Du erlaubst dir, ungerathenes Ding! dann ging es in unverständliches Grollen und Poltern über.

Wagen Sie es nur, rief Juliens Stimme wieder, mir mit Mißhandlungen zu drohen, es wird wohl noch Gesetze und Behörden geben. Meine Art ist es nicht, heimlich Schränke zu öffnen. Sie haben heute Ihre Papiere vermuthlich offen liegen lassen, und der Wind wehte ein Blatt in den Garten, dort hab 'ich es gefunden, und aus diesem einen Briefe schließe ich auf die anderen. Können Sie noch leugnen? Lesen Sie, es ist Aloys' Hand es sind die rührendsten Klagen, die bittersten Vorwürfe, die unbestreitbarsten Zeugnisse und dies Alles haben Sie mir verheimlicht, wie können Sie diese große Sünde verantworten?

Wieder vernahm die Frau Conrectorin ein dumpfes Poltern und Brummen, dann unterschied sie deutlicher die Worte:

Alles Lug und Trug und Schwindel. Ja, es ist wahr, ich habe jene Briefe zurückbehalten, weil sie reines Gift für dich waren, weil du die Welt nicht kennst, und weil ein Mensch niemals seinen Charakter ändern kann. Mich täuschen die schönen Worte dieses Patrons nicht. Er ist und bleibt, was er war ein Lump in Folio!

Sie vergessen, daß es mein vor Gott angetrauter Mann ist.

Und du vergissest, daß wir diese Ehe niemals anerkannt haben. Wir waren von Anfang an dagegen, weil ich den Menschen durchschaute. Er hat sich wie ein Dieb in unsere Familie eingeschlichen, und wie ein Mörder ist er davongegangen zum großen Glück für uns alle!

Sie wissen wohl nicht, was Sie sagen, Herr General. Sagen Sie lieber, daß Sie ihn gehaßt haben und noch hassen, daß Sie ihn verfolgt haben vom ersten Tage an und eigentlich sein Unglück verschuldet haben, denn Sie konnten ihm helfen, wenn Sie wollten.

Hat auch seinen guten Grund gehabt; denn wir können dir leider mit Zahlen beweisen, wie viel wir selbst mitverloren haben. Du weißt doch, daß deine gute, selige Mutter sich selbst vollständig ruinirt hat, und daß du selbst, mein Kind eben nur ein Asyl hier hast.

Meine gute, selige Mutter ach, wenn sie noch lebte! und lautes Schluchzen unterbrach die nächtliche Stille.

Aber die heisere Stimme fuhr fort:

Du weißt ferner, Julia, daß dieser Patron, der bis auf den letzten Faden fertig war, seine gewaffnete Hand gegen mich erhoben hat, und daß ich es nur der Fügung der Vorsehung zu danken habe, daß ich am Leben geblieben bin. Du weißt auch, daß er als Verbrecher hier verhaftet werden würde, wenn er sich jemals blicken ließe.

Ja wohl, das mag wahr sein. Ihr habt diese unglückliche Sache nicht umsonst an die große Glocke gehängt, sonst würde er mich längst geholt haben.

Wie es scheint, mein Kind, bist du noch immer so verblendet wie am ersten Tage, aber man wird Sorge tragen, meine Liebe, daß du keine neuen Streiche mehr machst.

Was wollen Sie damit sagen, Herr General?

Ho, die Spatzen auf den Bäumen zwitschern ja bereits davon, daß man in gewissen Waldpartieen abermals auf zärtliche Abenteuer ausgeht. Dabei finden sich denn immer hülfreiche Freundinnen, schlaue Kupplerinnen, wie die da drüben zum Beispiel

Erschrocken trat die Frau Conrectorin zurück. Ja, ja, es ist wahr, der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand '.

Sie verlästern eine brave Frau, ebenso wie mich! rief Julia.

Nimm dich in Acht, meine Liebe. Leider ist's ebenso wahr, was das Sprichwort sagt: es ist leichter einen Sack voll kleiner brauner Husaren zu hüten, als ein leichtsinniges Frauenzimmer; aber nimm dich in Acht, diesmal wird man keine Gnade üben!

Wenn es Ihnen so schwer fällt, mich zu hüten, Herr General, so lassen Sie mich ziehen, stoßen Sie mich hinaus. Es wird mir immer noch eine Wohlthat sein.

Ja wohl, damit du Kapital machest aus dem Mitleid der Leute und sie gegen uns verhetzen kannst; was wolltest du sonst draußen ohne alle Mittel, ohne alle Kenntniß und Welterfahrung? etwa dich durchbetteln bis zu jenem Halbgott, der Zettel herumträgt und vielleicht auch Laternen anzündet? Nein, mein Kind, diesmal werden wir anders verfahren. Die wohlthätige Strenge, mit welcher du bis jetzt bewacht wurdest, war noch nicht hinreichend. Wir werden sie verdoppeln und nöthigenfalls an ein Kloster denken.

Dazu wird doch wohl meine Einwilligung nothwendig sein.

So wenig, wie für ein Correctionshaus oder eine Irrenanstalt, meine Gute, wenn der ärztliche Nachweis geführt ist, daß man es mit einer Verlorenen zu thun hat, der mit einer Detention nur ein Dienst geschieht.

Die Frau Conrectorin hörte einen lauten Aufschrei, dann war Alles still eine lange, lange Weile. Alsbald aber begann die heisere Stimme des Alten von Neuem auf die Gebeugte und Zerknickte hineinzureden und ihre Schwäche zu nützen, um sie nach seinem Willen zu beugen. Die Frau drüben konnte jedes einzelne Wort hören.

Nimm du Vernunft an, Frau Julia! Der Name jenes Patrons, der sich deinen Mann nannte, ist für immer gestrichen in unsrer Familie. Machst du den geringsten Versuch, dich mit ihm in Verbindung zu setzen, so weißt du, was deiner harrt. Sei klug. Du kannst deine Vergangenheit nur durch Ein Mittel vergessen machen; ich habe es dir schon angedeutet. Baron von Senkenberg fragt nach nichts, er nimmt deine Person und deine Vergangenheit in Pausch und Bogen an seiner Seite kannst du wieder in die Gesellschaft treten, und ich werde dich wieder unsere liebe Enkelin nennen.

Die Schluchzende antwortete nichts.

Bis du nicht einen Entschluß fassest in unserem Sinne, fuhr die alte Stimme fort, ist dir jeder Ausgang untersagt.

Auch in die Kirche? stöhnte die junge Frau.

Von der Kirche will ich dich nicht zurückhalten. Bete du immerhin, bete, damit der Himmel dein Herz erleuchte und deinen Hochmuth und Eigensinn in den Staub beuge. Ich werde Herrn Baron von Senkenberg bitten, noch einige Tage zu warten, dann entweder Kloster oder Correctionshaus!

Haben Sie Gnade, General! und der Conrectorin schien es, als ob die junge Frau sich zu den Füßen ihres Tyrannen geworfen hätte.

Nichts da, nichts da, nur keine Komödienscenen, meine Liebe! sagte der Alte. Du machst mir ja die ganze Nachbarschaft rebellisch. Ein Glück, daß die alte Eule da drüben schläft; aber sie könnte doch etwas hören

Wieder trat die gute Frau erschrocken zurück, und im nächsten Momente wurde das offene Fenster im Hofgut zugeschlagen, daß die Scheiben klirrten. Sie hatte übrigens genug gehört, und ihr Entschluß war gefaßt.

Für den Vetter konnten die Aussichten nicht günstiger stehen, wie nämlich die Frau Conrectorin meinte.

Er war offenbar mit Frau Julien im Stadtpark gesehen worden, man wollte sie zu einem neuen, verhaßten Bündniß zwingen, um sie los zu werden warum nicht? eine neue und bessere Heirath konnte sie allein retten, die Unglückliche und hatte sie nicht selbst an den Vetter geschrieben mit ausdrücklichen Worten: Sie wären vielleicht der Einzige gewesen, der mein Befreier werden konnte ? O, der Vetter hatte alle Ursache, zu hoffen, und sie selbst die schönste Aussicht, sich an dem alten Bären zu rächen, der sie eine Kupplerin ja noch entsetzlicher eine Eule genannt hatte.

Und wie es anzustellen sei, um zum gewünschten Ziele zu kommen, wußte sie nun auch und begab sich zufrieden zur Ruhe. Dieser ereignißvolle Tag hatte ganz nach Wunsch geendet, und die brave Frau entschlief mit so ruhigem Gewissen, als habe sie wunder was für ein treffliches Werk gethan.

IV.

Die Nacht, eine schöne, klare, sternhelle Sommernacht, war für die Insassen des Hofgutes ziemlich unruhig vergangen, desto sanfter schliefen die Bewohner des schindelgedeckten Landhauses der Conrectorin namentlich war es Vetter Isidor, der einen Riesenschlaf that und nicht eher erwachte, als bis die rothe Morgensonne durch die kleinen, bleigefaßten Fenster auf seinen Gesichtserker schien und ihn dadurch heftig zum Niesen brachte. Jäh erweckt durch diese unerwartete Eruption sah sich Vetter Isidor erschrocken um und entdeckte sich in einem gänzlich fremden Raume.

Ziemliche Zeit brauchte es, bis er seine Gedanken gesammelt und sich völlig wieder auf alle Vorgänge besonnen hatte. Dann dachte er über den tiefen Traum nach, aus dem er durch das Niesen erweckt worden war, und es war ihm höchst unlieb, daß er mit aller Anstrengung seiner nicht mehr habhaft werden konnte unlieb aus dem Grunde, weil er ihn benies't hatte und nun sicher auf Erfüllung desselben zählen durfte. Während er noch nachdachte, hörte er ein leises Pochen an der Thür.

Mit kräftigem Tone rief er Herein! aber die Frau Conrectorin steckte nur den Kopf durch die Thür und sagte:

Vetterchen, machen Sie, daß Sie aus den Federn kommen, ich gehe jetzt in die Kirche, bald bin ich wieder da. Lassen Sie sich finden unten im Gartenhäuschen, da kann etwas Großes geschehen; verstanden?

Mit diesen Worten war sie eilig davon.

Hm! dachte Vetter Isidor, diese bevorstehenden großen Ereignisse könnten wir also benies't haben.

Dann erhob er sich langsam und war mit einem entschlossenen Sprunge aus dem Bett. Zunächst wusch er sich und kämmte sich den Schlaf aus den Haaren, dann revidirte er das wohlassortirte Pfeifensystem des seligen Herrn Conrectors. Richtig fand er eine schöne Meerschaumpfeife, welche noch gestopft war. Diese setzte er in Brand, öffnete das Fenster und sah in die klare, sonnige Morgenlandschaft hinaus, zunächst auf den alten Gottesacker hin. Dort standen die eisernen und hölzernen Kreuze von der stillen, goldenen Morgensonne beschienen. Die Bienen summten um die Blumen, hoch im Aether schossen die Schwalben vorüber, und über dem Flußarm am Wald tanzen die Mücken im rothen Sonnenduft. Neben diesem lautlosen Leben war die schöne Landschaft menschenöde und friedlich wie an einem Sonntag; sonntäglich wenigstens hallte ein leiser Orgelklang, der durch die geöffnete Thür der Dorfkirche, durch die Blätter und die blumenreiche Stille zitterte.

Vetter Isidor befand sich in eigenthümlicher Stimmung. Es war ihm so feierlich zu Muth. Der Geruch des Kuhstalles und der Duft verschiedener Obstsorten stimmten ihn entschieden idyllisch, elegisch in der Hauptsache Geßnerisch mit einigem Beigeschmack von Mathisson , wie sich Vetter Isidor ausdrückte. Plötzlich tönte ein Klirren und Klappern wie von Tassen an sein Ohr; er beugte sich aus dem Fenster und sah, wie der lahme Milchmann Joseph den Kaffee in das Gartenhäuschen trug. Dieser Anblick rief seine Gedanken zu den irdischen Dingen herab.

Zugleich fielen dem Vetter die letzten Worte der Frau Conrectorin ein. Wie ein ertappter Sünder stellte er rasch die Meerschaumpfeife hin und warf sich mit höchster Geschwindigkeit in seine Kleider, um noch zur rechten Zeit am Platze zu sein. Besonderen Schmerz machte ihm dabei der schwarze Frack, er hatte sich so darauf gefreut, in einem alten Schlafpelz des seligen Conrectors es sich bequem zu machen nun mußte er schon des Morgens in unbequemer Gala erscheinen.

In der Kirche verhallten jetzt die Orgelklänge.

Seit Beginn der Messe kniete in der ersten Reihe eine schwarzverschleierte Dame, auch ihre Wange war mit einem schwarzseidenen Tuch verbunden. Neben ihr beteten einige Dorfkinder und alte Frauen der Nachbarschaft. Eine Weile nachher war auch die Frau Conrectorin erschienen und hatte in der letzten Reihe Platz genommen; sie hatte nur einen grauen Shawl übergeworfen und eine wollene Kapuze aufgesetzt.

Jetzt, als die Wandlung vorüber und der dicke Meßpriester mit dem Sacristan davongeschritten war, zerstreute sich die kleine Gemeinde, aber die Dame in Schwarz lag noch lange im Gebete; endlich, als schon Alle das Kirchlein verlassen, erhob sie sich und schritt zum Ausgang; sie war schon über die Schwelle getreten, als die Frau Conrectorin sie einholte und neben ihr hinschritt.

Nun, Frau Julia, kennen wir uns gar nicht mehr? sagte sie leise.

Bitte, reden Sie mich nicht an, Frau Conrectorin, erwiderte die junge Frau und wagte kaum aufzusehen. Sie stürzen mich in tausend Verlegenheiten.

Ach was! hier zwischen den Gräbern, wo uns nur der liebe Gott sieht, hat's nicht Gefahr; haben Sie nur keine Angst. Sie arme Julia, wie hat es mich gedrängt, Sie einmal zu sprechen, Sie zu küssen und Ihnen zu sagen, wie innig Theil ich an Ihrem Schicksal nehme. Du meine Güte, wer hätte es gedacht, daß es so kommen sollte! Und nun seien Sie einmal ohne Sorgen und richten Ihr Köpfchen auf.

Aber Frau Julia schien diesem Zuspruch wenig Gehör zu schenken, noch zu vertraulichem Geplauder aufgelegt zu sein. Ihre Miene behielt einen ernsten und gedrückten Zug.

Was wünschen Sie von mir, Frau Conrectorin? Bitte, sagen Sie es schnell. Haben Sie etwa Nachrichten von ihm?

Von ihm, von Herrn Heister, meinen Sie? Gott behüte nein, ich mische mich auch in keine fremden Dinge mehr, nein, um keinen Preis, dabei kommt nichts Gutes heraus!

Aber was wollen Sie denn von mir? und Frau Julia blieb zwischen den Gräbern stehen, und ihr dunkles, großes Auge richtete sich forschend auf die Begleiterin.

Mein Gott, was kann man wollen? Sich das Herz ausschütten, von alten Zeiten reden, von Ihrer seligen Frau Mutter, meiner geliebten Freundin ach, daß sie so früh von hinnen mußte! Wäre sie noch am Leben, vielleicht wäre Alles jetzt anders und dann Ihre Lage! Man kann dabei vielleicht Rath und That brauchen, meine Theure?

Wieder sah Julia sie forschend an, aber die redselige Frau ließ sich nicht stören.

Ja, was ich noch sagen wollte: mögen Sie nicht einmal wieder unsere Himbeeren versuchen? Früher war das ein Freudenfest für Sie o, ich sehe Sie noch als Kind, als meine kleine Lulu, wie Sie in weißen Höschen durch die grünen Büsche schlüpften und vor Freude sprangen, wenn Sie wieder eine reife Beere erwischt hatten und jetzt gerade ist Alles reif.

Ja, die schönen Jugendjahre, sagte Julia, wo sind sie hin? Kommen Sie, Frau Conrectorin, Sie haben Recht, wir wollen ein Stündchen verplaudern und verträumen. Zwar Sie wissen, es ist mir verboten, zu Ihnen zu kommen.

Ach was, der alte Herr soll sich was schämen, Sie wie ein kleines Kind zu halten! Er soll nur kommen, ich will's ihm schon zeigen. Uebrigens gehen wir durch das Hinterthürchen, und wenn der alte Bär aufsteht, sind Sie längst wieder zu Hause; kommen Sie nur schnell, mein Schätzchen.

Noch einmal blieb die junge Frau stehen und musterte die Nachbarin mit mißtrauischem Blicke.

Ich weiß nicht, was mich warnt, Frau Conrectorin, aber mir ist, als sollte ich nicht gehen.

Mein Gott, ich glaube gar, Sie mißtrauen mir, liebe Frau Julia. Sie wissen ja, wie sehr mir zu aller Zeit Ihr Glück am Herzen gelegen ist, und wie ich noch jetzt Alles thun könnte, Sie wieder glücklich zu sehen. Hab 'ich Sie doch immer wie mein eigenes Kind geliebt. Du meine Güte, es geht Alles so rasch vorüber auf der Welt Jugend und Liebe, Glück und Leid, Sorgen und Freuden, und eh man sich umsieht, ist man eine alte Frau geworden. Man würde es gar nicht merken, wenn nicht Alles um uns heranwüchse. Gestern kleine Krabben und heute große Menschen, da schaut man wohl einmal in den Spiegel und merkt allmählich, daß man ins Hintertreffen gekommen.

So und noch weiter plaudernd schritt die Conrectorin trippelnd voran, indeß Frau Julia in wunderlich gemischter Stimmung von Bangen und Neugier folgte.

Jetzt kamen sie an die Dorfstraße. Die Conrectorin ging über den Bach, dann durch die versteckte Gartenthür und durch die hohen, grünen Himbeerstauden.

Endlich stand sie am Gartenhäuschen und faßte die Klinke.

Spazieren Sie nur herein, liebe Julia, hier wollen wir es uns bequem machen und werden auch von Niemand gesehen.

Mit diesen Worten öffnete sie die Thür.

Ah, da sind Sie ja, Vetterchen! rief sie mit geheucheltem Staunen und wandte sich dann zu Julien; ach, ich hab 'ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß mein Vetter, der Archivsecretär Isidor Schnittlauch, bei mir einen kleinen Landaufenthalt genommen hat. Er ist eine gute Haut, setzte sie leiser hinzu; Sie können mit ihm machen, was Sie wollen. Ich bin gleich wieder da.

Damit schlüpfte sie behende fort.

Julia stand einen Augenblick überrascht und auf das Peinlichste berührt, nun dennoch in eine Falle gegangen zu sein; doch die komische Art des Vetters, der aufgesprungen war und mit Grandezza und Pathos eine Fülle von Complimenten entwickelte, ließ sie zu keinem ernsthaften Zorn kommen.

Meine hochverehrteste gnädigste Frau wie soll ich dem Himmel für die namenlose Gnade danken, die Sie mir Unwürdigen durch Ihre huldvolle Herablassung zu erweisen nicht verschmähen! rief er mit Ekstase.

Ihnen, mein Herr? sagte Frau Julia erstaunt; ich muß bemerken, daß ich von Ihrer Anwesenheit erst in diesem Augenblick erfahren, und hätte ich früher davon gewußt, so würde ich Bedenken getragen haben, hier einzutreten.

Mein Himmel, gnädigste Frau! rief der Vetter bestürzt. Was können Sie gegen meine unbedeutendste Wenigkeit haben? Noch immer jenes unglückseligste Mißverständniß, das mich seit vierzehn Tagen Ihres beglückendsten Anblicks beraubt? O, diese Mißverständnisse, das Verhängniß unseres Jahrhunderts, das Gespenst zwischen Völkern und Königen, wäre es möglich, daß es auch hier festen Fuß fassen sollte?

Ganz scheint es doch nicht beseitigt zu sein, Herr Secretär, sagte Julia, sich nach dem Ausgang umsehend, ob die Frau Conrectorin nicht bald zurückkehren würde. Sie kennen mich ja gar nicht.

Sagen Sie das nicht! rief der Vetter mit leidenschaftlicher Emphase. Ich kannte Sie nicht, meine Gnädigste, so lange ich nur das unsagbarste Glück hatte, Sie zuweilen im Walde zu begrüßen. Damals umschwebte der zarteste Schleier eines süßesten, unauflöslichsten Geheimnisses Ihr räthselhaftes Sein. Sie waren mir, so zu sagen, eine Fee des Waldes, eine Dryade, eine Shakespear'sche Rosalinde; allein seit der willenloseste Zufall mich Sie hier entdecken ließ, kenne ich auch Ihre Geschichte, und ich darf wohl sagen, daß sie mich auf das Tiefste erschüttert hat. Ich weiß um all Ihre Leiden, Ihre Enttäuschungen, Ihre traurigen Erfahrungen doch rühren wir nicht an diese heiligen Dinge. Lassen Sie mir die Befriedigung, zu sagen: ich kenne Sie, ich verstehe Sie, ich blicke in die Tiefe eines Menschenschicksals. Sie sind eine Unglückliche, eine Dulderin, ein Opfer feindlicher Mächte. O, meine liebe, gnädige Frau und pathetisch streckte dieser Malvolio seine dürre Hand aus , wohin wir auch blicken mögen im Leben, in der Kunst, in der Geschichte und Legende, was ist das Erhebendste, das unwiderstehlich Rührendste, das philosophisch, ethisch und psychisch stets ungelös'te heilige Mysterium? Es ist das duldende Weib! das ewig Weibliche in seiner Verklärung des Leides! Gleichviel, ob es uns als mater dolorosa, als Niobe, Antigone oder Sakuntala entgegentritt gleichviel, ob wir es in Hekuba und Ariadne, in Medea oder Magdalene, Andromache oder Gretchen verkörpert sehen überall ist das leidende Weib heilig gewesen und hat die edelsten Geister zu den edelsten Thatenwerken und Offenbarungen inspirirt!

Julia blickte den Schwärmer einen Augenblick von der Seite an. Sie empfand zugleich Lachlust über die maßlosen Uebertreibungen des Pedanten und Buchmenschen und zugleich eine Art Mitleid mit sich selbst, in eine so fatale Situation gebracht zu sein.

Das möchte doch wohl zu viel gesagt sein, flüsterte sie mit halber Stimme eigentlich nur um etwas zu sagen.

Zu viel was denken Sie, meine Gnädige! begann er von Neuem. O, Sie scheinen es nicht zu ahnen, mit welch geistigem Zauber der Schmerz verschönt. Das haben die Bildhauer und Maler aller Zeiten und aller Nationen mehr oder weniger klar gewußt und haben aus diesem Instinct heraus ihre bedeutendsten Ideale geschaffen. Und wie in der Kunst so im Leben. Sehen Sie, selbst dies reizende Zahntuch, welches Sie um die Wange tragen, offenbar um gegen Rheumatismen geschützt zu sein es giebt Ihrem edelsten Antlitz ein je ne sais quoi, einen nonnenhaft leidenden, einen interessant languissanten Ausdruck o solches Zahntuch allein wäre hinreichend

Nun lassen wir den Scherz bei Seite! sagte Julia ernst.

Ich scherze niemals, gnädige Frau, sagte der Vetter mit feierlicher Erhebung seiner dürren Hand, aber lassen Sie mich nochmals den ergebensten hochachtungsvollsten Dank aussprechen für den seltensten Beweis von Vertrauen und Sympathie, daß Sie, himmlische Dulderin, sich herabgelassen haben, diese schlechte Zelle zu betreten. Nein, keine Erklärungen weiter, meine Hochverehrteste; ich bin nur der Vetter der Frau Conrectorin, nichts weiter, und habe deßhalb nur mit tiefster Betrübniß und Seelentrauer vernehmen müssen, daß Sie dem Wahngebild huldigten, ich könne Sie verfolgen entsetzlich! verfolgen!

Dies betrifft die Situation, mein Herr, sagte Julia. Ich setze voraus, Sie beziehen sich auf meinen Brief.

Ja wohl, auf dies unerklärlichste, reizendste, geheimnißvollste aller Documente. O Sie ahnen nicht, hochgeehrteste Frau, wie unzähligemal ich diese theuren Zeilen studirt, Geist und Charakter dieser zierlichen, feinen Handschrift zu entziffern gesucht habe. Sie müssen wissen, daß ich mich einigermaßen darauf verstehe. Diese kühnen und doch leichten Züge deuten auf Unternehmungsgeist, diese zierlichen Anfangsbuchstaben auf hohe Idealität, diese Gleichmäßigkeit des Flusses endlich auf vollkommene Harmonie der Seele und zugleich auf festen Willen; mitten im Leid und Zweifel haben Sie durch die Handschrift allein mich zum Glücklichsten gemacht!

Ich sehe jetzt, sagte Julia für sich, es war eine große Unvorsichtigkeit, ihm zu schreiben, und sie sah sich wiederholt unruhig um, ob noch keine Erlösung komme.

Da Sie nun übrigens meine Familienverhältnisse kennen, mein Herr, sagte sie jetzt mit Entschiedenheit, so wird es Sie kaum überrascht haben, daß ich so und nicht anders handeln durfte. Ich bin in keiner freien, unabhängigen Lage, und in dieser Situation hat eine Frau noch sorgfältiger auf ihren Ruf zu achten. Seien Sie im Uebrigen überzeugt, daß mir nichts ferner lag, als Sie etwa beleidigen zu wollen.

Beleidigen! rief Isidor, und seine Stimme schmolz zum süßesten Tone, während er mit unerwarteter Kühnheit Juliens Hand ergriff. O Julia, Sie können mich zwar tödten foltern zu Grunde richten, aber beleidigen können Sie mich niemals, Julia, niemals! Dabei neigte er sich, um ihre kleine Hand zu küssen.

Julia entzog ihm rasch ihre Hand und stand auf.

Und somit denke ich, mein Herr, können wir diese Unterredung beendigen; oder was wollen Sie eigentlich von mir?

Was ich will, o Julia, und Sie fragen noch? Glauben Sie denn gestatten Sie mir diese ergebenste Aeußerung glauben Sie, daß jene wonnevollen Augenblicke im Stadtwald, jene unsterblichen Nachmittage, welche in jeder Minute Ewigkeit enthielten, jemals aus meinem Gedächtniß entschwinden könnten? Zwar die Philosophen aller Zeiten und Nationen sind nicht einig, ob eine wahre und innige Freundschaft zwischen Mann und Frau bestehen könne, ohne je in häßliche Leidenschaft umzuschlagen; aber lassen Sie uns wenigstens die erhabene Vorstellung, sei es auch ein selbstloser idealer Traum: daß bevorzugte Naturen, daß höhere Wesen, denen ein Abglanz jener urewigen Bilder des Vollkommenen in das Leben hereinleuchtet daß diese vielleicht dennoch berufen sein dürften, in der That eine solche Freundschaft zu schließen. Erlauben Sie mir hochachtungsvollst hinzuzusetzen, daß es bei solchen Naturen höherer Ordnung wirklich noch eine rein geistige Leidenschaft giebt eine Leidenschaft, geläutert von allen Schlacken gemeiner Sinnlichkeit, eine Leidenschaft, welche froh und glückselig ist in stillem Verkehr, in unbewußter Verschmelzung der Seelenatmosphären, in der heiligen Vermählung der Gedankenstrahlen. Erlassen Sie mir zu schildern, welchen wohlthuenden Einfluß Ihre bloße Nähe, Ihr Bildniß, Ihre Stimme auf mein geistiges und leibliches Dasein auszuüben im Stande ist. Ich sage nicht zu viel, wenn ich zu behaupten wage, daß seit dieser Zeit meine ganze Anschauung von Kunst und Religion, Geschichte und Politik, von Literatur und Nationalökonomie einen bedeutendsten Umschwung erfahren hat, zu schweigen von den glücklichsten Umwälzungen, die sich in der rein somatischen Sphäre, in den materiellen Gebieten der Blutbildung und Blutbewegung, des Schlafens und Wachens, der Respirations - und Transpirationsorgane vollzogen haben.

Die schöne Julia schien endlich zu wissen, weß Geistes Kind sie vor sich hatte.

Momentan blitzte ein Lächeln auf ihren Lippen auf, zugleich aber wurde ihr diese Situation doch unerträglich; sie trat zur Thür, um hinauszugehen; aber im selben Moment öffnete sich dieselbe, und die Frau Conrectorin erschien mit Früchten, Kuchen und Wein auf einer silbernen Platte, die sie mit freundlichen Worten auf den Tisch stellte, während ihre forschenden Augen vom Vetter zu Julien eilten, um das Resultat dieses seltsamen Rendezvous zu entziffern.

Vetter Isidor hatte die unwillkürliche Bewegung Juliens, ihm zu entfliehen, ganz anders gedeutet.

Meine Erläuterung der reinen Freundschaft ist offenbar unbefriedigend gewesen. Dieses schöne Weib will mehr! Bah, auch sie ist eine Evastochter wie alle! Während er so dachte, stieß ihn die Frau Conrectorin an und flüsterte ihm zu:

Vorwärts, Vetterchen, vorwärts! ich habe Ihr Wort; schmieden Sie das Eisen, so lange es warm ist. Courage! Ich will jetzt nur noch Zucker holen, meine Herrschaften, die Himbeeren brauchen viel gleich bin ich wieder da. Und abermals entschlüpfte sie.

Sie haben wohl schon oft solche Erklärungen gemacht, Herr Secretär? sagte Julia, als sie sich dem Vetter wieder allein gegenüber sah. Sie maß ihn dabei mit einem schalkhaften Blick ihrer schönen Augen.

Wie meinen Sie das, hochgeehrte Frau? antwortete Isidor Schnittlauch mit gekränkter Würde.

Oh, ich halte das nicht für gefahrlos, fuhr Julia mit munterem Tone fort. Die Unglücklichen zu trösten, sich der Verlassenen anzunehmen, das ist ja immer ein Amt jener, wie Sie es nennen, bevorzugten höheren Naturen gewesen. Wie Viele haben Sie wohl schon getröstet, Herr Vetter?

Isidor Schnittlauch balancirte mit Grazie auf dem Griffe seines Parapluies, den er gestern hier stehen gelassen hatte, dann fuhr er mit gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken.

Sie belieben zu fragen, meine Hochverehrte, wie mich gestern schon die treffliche Frau Conrectorin fragte. Ich kann keine andere Antwort geben; ich will mich wirklich nicht rühmen. Die Grenzen der Moral und Kunst sind ebenso verschieden, wie Natur und Geist, halt ich will sie auf eine Probe stellen, dachte er für sich und stürzte rasch ein Glas Wein hinunter, um sich Muth zu machen; dann mit einem kühnen Anlauf, begann er: Sie belieben da Fragen zu berühren von der weitgehendsten Bedeutung, meine Gnädige, aber das Isisbildniß Ihres eigentlichen Denkens bleibt mir noch verschleiert. Was halten Sie zum Beispiel von der Ehe?

Frau Julia blickte den Vetter einen Moment prüfend und zweifelnd an wo er mit dieser Frage hinauswolle.

Offen gestanden, Herr Vetter, diese Frage überrascht mich einigermaßen in Ihrem Munde, da Sie jedenfalls nicht besonders günstig über jenes Thema denken.

Nicht besonders günstig weßhalb, meine Gnädige?

Sonst wären Sie doch wohl nicht Garçon geblieben.

Es ist richtig, dachte Vetter Isidor, sie beißt an, sie steuert drauf los. O, sagte er dann möglichst unbefangen, das hat hundert metaphysische, psychologische und sociale Gründe; aber bitte, beantworten Sie mir doch meine Frage.

Wieder sah ihn Julia forschend an und sagte seufzend:

Die Ehe ist eine Schule der Leiden.

Nicht wahr? rief Isidor aus, dessen entzündliches Herz wieder Feuer fing, eine Schule der Enttäuschungen, Aufopferungen ...

Der Prüfungen, warf Frau Julia ein.

Eine Bahn sittenloser Erniedrigungen!

Wenigstens der Selbstverläugnung!

O sagen Sie, der Entwürdigung alles Menschenwerths, der Entweihung alles Seelenadels! rief Isidor begeistert und wie von einem Alp befreit, daß sie keine Absichten auf ihn habe und daß somit die Frau Conrectorin angeführt sei. O wir verstehen uns, Frau Julia! rief er. Sehen Sie, Sie wären ein Weib, eine Freundin nach meinem Herzen, hoch erhaben über den Dunst spießbürgerlicher Vorurtheile, geheiligt durch die Läuterung der Leiden, ein Ideal, dem man Leben und Lieben, Träumen, Denken und Fühlen hingeben kann, ohne befürchten zu müssen, in Bande geschlagen zu werden.

Jetzt machen Sie ja doch eine Erklärung, sagte Julia lachend.

Ja, Frau Julia, aber eine Erklärung der selbstlosesten Leidenschaft, der andächtigsten Verehrung. Der Eindruck Ihres Seins und Wesens wirkt immer unwiderstehlicher auf mich ein; ich kenne mich selbst nicht mehr. Ich will Ihr Freund, Ihr Bruder, Ihr Diener und Sklave sein o lassen Sie mir diese kleine Hand mit den feinen, durchsichtigen Fingern, mit den schmalen, rosigen Nägeln, die jeder Chiromant als Symbol aristokratischen Hochsinns und erregbarer Phantasie verehren würde lassen Sie mir dies weiche Händchen und seien Sie meine Elsa und Isold, die mir Liebe zugetrunken hat in diesem magischen Becher!

Lieber Freund, erwiderte Julia mit heiterem Tone, ich glaube, Sie wären im vorigen Jahrhundert ein treff - licher und gefährlicher Abbé gewesen, aber in diesem sind Sie nur ein deutscher Träumer.

In diesem Augenblick schlug die Thurmuhr der Kirche die neunte Stunde die Zeit, um welche der alte Großpapa Juliens aufzustehen pflegte.

Ich muß fort, rief sie und wandte sich zur Thür.

Fort, o Julia? und sollen diese göttlichen Minuten so schnöde enden o Julia, Sie sind eine Sirene, eine Melusine! Hier ist Ihr Brief, nehmen Sie ihn wieder hin, ich verstehe diese Phrasen von Rettung nicht. Nehmen Sie ich werde Sie niemals retten, ich gebe Sie auf, denn Sie haben nur mit mir gespielt!

Frau Julia stand schon auf der Schwelle der Thür; sie mußte bei den Worten Isidors laut auflachen. Dann kam sie noch einmal zurück.

Sind Sie ein Mann, Vetter Isidor?

Gnädige Frau, antwortete der Vetter mit plötzlicher Verlegenheit, ich trage die toga virilis bald ein Vierteljahrhundert.

Wohl es könnte eine Art geben, wie ich Ihr Bündniß vielleicht annehmen würde.

Julia! rief er wieder begeistert, Sie sind meine Göttin, befehlen Sie über mich!

Still, nicht so laut, fuhr sie hastig und flüsternd fort. Ich sagte Ihnen vorher schon höher als alle anderen Rücksichten steht mein Ruf. Hier sind wir beobachtet und von hundert Hindernissen umgeben. Ich bin unfrei, ich bin arm und mittellos würden Sie Muth und Entschlossenheit haben mich zu entführen?

Entführung! wie mit himmlischen Harmonieen und Posaunenklängen rauschte das Wort über Isidor hin. Seine entflammte Einbildungskraft sah Gondeln und Pferde, Fackeln und Masken, Gensdarmen und Piraten, Schwerter und Särge, Gift und Dolch Alles, was die Romantik und Criminalrechtspflege an die Geschichte der Entführungen knüpft, schwirrte vor seinen Sinnen. Er war berauscht und entzückt und doch zugleich wieder erschrocken, daß seine kühne Schwärmerei für die Heilige zu solchen höchst realen Entscheidungen drängen könne.

Sie zaudern, Herr Secretär Sie zweifeln und bedenken sich, sagte Julia. O, ich wußte es wohl, daß ich mit jenem Wort Ihr Mißtrauen erwecken, meiner eigenen Würde Alles vergeben würde. Sie verwerfen mich als eine Abenteurerin leben Sie wohl!

Nicht doch, nicht doch, gnädige Frau, rief Isidor und ergriff noch einmal ihre Hand. Heute, gleich, im Augenblick, wenn Sie befehlen!

Nicht heute, Herr Vetter, sagte sie beruhigt. Hören Sie wohl an, was ich sage. Es wird eine Entführung seltsamer Art sein, und Sie geloben mir im voraus Gehorsam bis zum Ziel! Wir werden zusammen reisen, wir werden in den Gasthöfen verschiedene Zimmer beziehen, Sie werden für alles Nöthige Sorge tragen und meine Wünsche stets als Befehle ansehen. Das Eine, was ich Ihnen erlaube, wird die Freiheit sein, sich in den Fremdenbüchern als meinen Bruder einzutragen, bis wir vollkommen in Sicherheit sind.

Und dann, Julia?

Und dann sollen Sie belohnt werden. Frau Julia sagte diese Worte mit gesenkten Augen und unsicherer Stimme. Wollen Sie alles Das geloben?

Ich gelobe es! rief Vetter Isidor und erhob seine Hand.

Nur nicht so laut, Vetter gut, jetzt gehen Sie und treffen Sie zu Hause alle Vorbereitungen, ich schicke Ihnen heute noch durch einen Boten weitere Weisungen, wie die Sache zu arrangiren ist. Bedenken Sie aber wohl, setzte sie mit feierlichem Tone hinzu: es wird mein Tod sein, wenn Sie nicht in allen Stücken gehorchen.

Vetter Isidor überlief es wie eine tragische Gänsehaut zu seinem höchsten Entzücken.

Frau Julia mußte fast wieder laut auflachen, als sie die verklärte Miene ihres Helden sah. Nun, nehmen Sie die Sache nur nicht gar so ernst, Herr Vetter. Besorgen Sie im voraus einen Wagen für morgen und machen Sie sich reisefertig zu einem Ausflug auf ein Vierteljahr. Adieu, mein heldenmüthiger Vetter, Adieu. Halt! noch Eines. Geloben Sie mir das tiefste Schweigen!

Ich gelobe, kam es mit grabeshohlem Tone zurück.

Schweigen gegen Jedermann, wer es immer sei auch gegen die Frau Conrectorin, hören Sie wohl? Jetzt bleiben Sie hier. Mich rufen meine Pflichten. Adieu auf morgen!

Mit einem Anfall ritterlicher Galanterie wollte der entzückte Vetter die junge, schöne Frau umarmen; sie aber wich ihm gewandt aus und entschlüpfte. Einen Augenblick später war der Vetter Isidor allein in einem Sturm von Empfindungen und Gedanken, den keine sterbliche Feder auch nur annähernd würde beschreiben können.

Die Frau Conrectorin hatte Julien davoneilen sehen.

Neugierig eilte sie zum Gartenhäuschen, aber ehe sie noch öffnete, that sich die Thür auf, und Vetter Isidor erschien auf der Schwelle. Sein Antlitz strahlte von innerer Verklärung; daneben hatte es auch den Ausdruck kühner Entschlossenheit, und jede seiner Bewegungen war von einer Wichtigthuerei und Feierlichkeit, daß die Conrectorin auf den ersten Blick merkte, etwas Entscheidendes müsse geschehen sein. Den Knopf des Regenschirms unter das Kinn gestützt, die Rechte weit von sich gestreckt, den Hut mit trotziger Entschlossenheit tief in die Stirn gedrückt so erschien er auf der Schwelle des Gartenhauses.

Nun, Vetterchen, was giebt's? haben Sie geworben? fragte die Frau Conrectorin.

Vetter Isidor nickte stumm und legte zur Bekräftigung noch den Finger auf den Mund.

Wirklich Alles in Richtigkeit, Vetterchen?

Wieder nickte er, und die ausgestreckte Hand beschrieb einen horizontalen Halbkreis, als gehöre nun die ganze Welt ihm.

Ja, mein Gott, so gehen Sie geschwind hinüber zum alten General und werben Sie offen.

Da aber machte Vetter Isidor eine verneinende Bewegung mit dem Zeigefinger. Lassen Sie mich, Frau Base, halten Sie den Retter der Tugend nicht länger zurück. Ich muß fort weit fort. Leben Sie wohl, Frau Base!

Er war schon nahe an der Gitterthür; vergeblich schickte ihm die enttäuschte Conrectorin eine wahre Flut dringender Fragen nach. Jetzt stand er still, jetzt wandte er sich noch einmal. Sein Auge hatte einen weichen, zärtlichen Ausdruck.

Leben Sie wohl, Frau Conrectorin, sagte er mit innigem Tone. Wir werden uns vielleicht lange Zeit nicht sehen, sehr lange Zeit. Denken Sie gut von mir, behalten Sie mich lieb, Frau Conrectorin. Es werden vielleicht wichtige, verhängnißvolle Dinge geschehen. Sollten Sie Glückliches hören, so dürfen Sie meines Dankes auf Lebenszeit versichert sein. Sollten Sie aber ernste Nachrichten bekommen, vielleicht von meinem Tode oder meiner Verwundung er dachte dabei offenbar an eine mögliche Verfolgung so betrauern Sie mich christlich; ich habe Sie immer lieb gehabt, Frau Base, lieb wie den Genius meiner Jugend, und nun geben Sie mir einen Kuß und dann Ihren Segen.

Bewegt schloß er sie in seine Arme, küßte sie und schritt dann rasch davon, alle weiteren Fragen gleichsam mit der Hand abwehrend.

Lange stand die Frau Conrectorin, in sprachloses Staunen versunken.

Ja, mein Gott, ist denn der Vetter ein Narr geworden, ein capitaler Narr? murmelte sie vor sich hin. Ich kenne ihn ja gar nicht mehr. Aber so viel ist richtig, Frau Julia hat ihm den Laufpaß gegeben. Es ist aus, es ist Alles aus; er will ja abreisen, wenn ich recht verstanden habe. O ich thörichte, unbesonnene Frau, was habe ich da angestellt! das hätte ich doch voraussehen können, voraussehen müssen.

Kopfschüttelnd und brummend über die Räthselhaftigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer insbesondere, trippelte sie den ganzen Tag in ihrem Anwesen herum und verwünschte von Herzensgrund die Koketterie und den Eigensinn der unbegreiflichen, schönen Frau Julia.

V.

Der Tag ging ohne bemerkenswerthen Vorfall vorüber, sonnig und still, langsam und mit den gewöhnlichen Erscheinungen, wie sonst ein Sommertag auf dem Lande. Die Enten plätscherten unter der Brücke, die Pferde wurden in die Schwemme des Stromarmes getrieben. Fernher klang das Dengeln der Sensen aus den Wiesengründen, welche zum zweitenmale gemäht wurden, und in den Wipfeln des Stromwaldes zog das leise Rauschen der warmen Sommerluft, und der vielstimmige Gesang der Vögel wechselte zu den verschiedenen Tageszeiten.

Es war das Bild eines ländlichen Idylls voll Frieden und Behagen; nur die Frau Conrectorin fand heute keinen Frieden. Vergeblich spähte sie zum Hofgut hinüber und lauschte aus den oberen Fenstern ihres Häuschens. Alles blieb dort lautlos, gleichwie ausgestorben, und nur einmal klang die Pforte. Es war am Nachmittag, und der lahme Joseph erschien. Die Frau Conrectorin sah deutlich, wie er ein weißes Blatt versteckte und seinen Milchwagen dann auf der Landstraße zur Stadt lenkte. Diese Entdeckung gab der braven Frau viel zu denken; erst am späten Abend gelang es ihr, einigen Aufschluß zu erhalten, denn der lahme Sepp war zurückgekehrt. Sie rief ihn an, während er sich in seinem steinernen Kruge den Abendtrunk holte.

Sepp, an wen war das Billet heute Nachmittag?

An den Herrn Vetter, sagte der Milchmann und zog seine Kappe. Er hat mir einen Thaler gegeben, fügte er mit verschmitzter Miene hinzu.

Diese Freigebigkeit lag ganz außer der sonstigen Natur Vetter Isidor's und riß die kluge Frau Conrectorin in einen neuen Strudel von Vermuthungen und Combinationen, die jedoch endlich zu dem erfreulichen Schluß kamen, daß keineswegs Alles schon verloren sein könne. Infolge dieser Betrachtung schlief die Frau Conrectorin die ganze Nacht durch auf das Vortrefflichste. Wie gewöhnlich ward sie durch den Schlag der Thurmuhr um Sechs geweckt. Behaglich gab sie sich noch eine Weile allerhand tröstlichen Ueberlegungen hin, bevor sie aufstand, und die meisten derselben betrafen natürlich Vetter Isidor, sowie seine möglichen Pläne und Aussichten.

Um sieben Uhr begann die Messe in der Dorfkirche; wieder kam der Frau Conrectorin die Erinnerung an die gestrigen Auftritte, und folgerichtig knüpfte sich der Gedanke daran, heute noch einmal mit Frau Julien zu reden und von ihr Aufschluß zu erhalten.

Eilfertig stand sie auf, es war wirklich später geworden, als gewöhnlich, und kleidete sich an. Dabei trat sie zufällig auch an das Fenster, und zwar im Augenblick, als Frau Julia unten vorüberging; sie war sorgfältig angezogen und dicht verschleiert; in der Hand trug sie eine kleine Tasche.

Die Conrectorin öffnete sofort das Fenster und versuchte der rasch Davonschreitenden nachzurufen. Wirklich stand Frau Julia still und grüßte mit der Hand herauf. Nun machte die Frau Conrectorin Gesten mit Beziehung auf sich und die Kirche, als wenn sie sagen wollte, daß sie auch kommen würde.

Darauf hin nickte Frau Julia flüchtig und schritt rascher als vorher davon.

Die gute Dame beeilte sich jetzt, ihren Anzug zu vollenden, aber seltsamerweise war gerade heute Alles verlegt und verwirrt, nichts wollte recht klappen und passen, und so dauerte es noch über eine halbe Stunde, bis sie über das Brückchen trippelte und zum Gottesacker hinaufschritt, wo die Bienen summten und der Flieder duftete, wo die eisernen Täfelchen an den Kreuzen blitzten und ein milder Lufthauch über die sammetnen Gräser der Gräber strich. Es war heute öde und einsam auf dem Friedhofe; nur fern auf der Landstraße rasselte eilig eine Chaise davon, und weißqualmend hob sich der Staub über die grünen Hecken.

Die Conrectorin trat in die Kirche. Es war Niemand mehr darin, die Messe war längst zu Ende, nur ein leiser Weihrauchduft schwebte noch in der Luft, und ein taubes, altes Mütterchen kniete in der letzten Bank.

Frau Conrectorin war offenbar zu spät gekommen, und doch wußte sie nicht, was sie denken sollte, daß sie Julien nicht mehr fand. Sollte sie wirklich wieder eine Promenade in den Stadtwald gemacht haben, wie es sonst ihre Gewohnheit war? wohl möglich, aber dann hätte sie ihr begegnen müssen. Um etwas zu thun, erwartete sie das taube, alte Mütterchen und versuchte ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Es war unmöglich.

Voll seltsamer und von Neuem zweifelhafter Gedanken kam sie in ihr Gartenhäuschen zurück und begann wieder Aepfel zu schälen, um sich die Grillen zu vertreiben.

Der Vormittag ging vorüber, der Nachmittag war gekommen. Die Conrectorin hatte, auch während sie einsam zu Mittag , unablässig an Frau Julien denken müssen und an den Vetter. So eben war die Mahlzeit, vorüber, und sie überlegte, ob sie es nicht vorziehen sollte, ein Nachmittagsschläfchen zu machen, als heftig an der Hausglocke gezogen wurde.

Gleich darauf trappten schwere Schritte auf dem feinen Kies der Gartenwege, und eine heisere Mannsstimme fragte nach der Frau Conrectorin, welche so eben aus dem Gartenhäuschen trat und mit halbem Schrecken ihren ungemütlichen Nachbarn, den greisen General von Schnorrigl, erkannte.

Der alte Mann stand jetzt still und stieß seinen Krückstock in den Sand. Die massive, breitschultrige Gestalt des Alten schien sich nur mit Mühe auf dem wankenden Pedal zu halten, und in seinem broncefarbigen, von Wind und Wetter gebräunten, von tausend Furchen und Fältchen zerrissenen Antlitz blitzte und wetterleuchtete es wie an einem schwülen Gewitterhimmel.

Kreuz Bataillon! rasselte die heisere Falstaffstimme. Das ist also das saubere Nest, wo man intriguirt und conspirirt. Ist's nicht bald gefällig, zu erscheinen? hola!

Ah, Herr General! flüsterte die Frau Conrectorin, indem sie hervortrat, welche seltene Ehre widerfährt meinem bescheidenen Hause!

Keine Ursach, Frau Nachbarin, keine Ursach zu einer Ehre. Sie werden so gefällig sein, nur Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit zu thun, indem Sie mir die ungerathene Person herausgeben, meine Enkelin Julia mein 'ich!

Frau Julia Heister? Diese Forderung ist mir auffallend, Herr General; ich weiß nichts von der jungen Frau.

Aber der General schien diese Antwort nicht als eine solche gelten lassen zu wollen.

Sie wissen, ich habe es auf das Strengste verboten daß sie jemals wieder Ihr Haus betritt, und ich habe meine Gründe dazu. Kreuz Bataillon! und jetzt verstecken Sie die ungehorsame, undankbare, sittenlose Person vor meinen Augen!

Ich muß bitten, Herr General, Ihre Ausdrücke zu mäßigen, sagte die Frau, indem sie etwas furchtsam vor dem alten Herrn zurückwich, der mit seinem Krückstock ziemlich ungenirt in der Luft herumfuchtelte. Ihre Enkelin ist nicht in meinem Hause. Hätte sie mir wirklich die Ehre ihres Besuches geschenkt, so wäre es auch kein Unglück, denn wir wissen etwas auf uns zu halten, Herr General, und Ihr Verbot macht uns weniger Unehre als Ihnen, besonders da uns Ihre sogenannten Gründe gar nicht unbekannt sind. Wenn Sie es wissen wollen, so sage ich es Ihnen ganz offen: ich bedauere Frau Julia und würde sie recht gern vor Ihnen verstecken, aber leider ist sie nicht in meinem Hause.

Mit starrem Blick maß der General einen Moment die Frau, welche ihm so entschieden entgegenzutreten wagte, dann platzte er heraus:

Aber bei mir ist sie auch nicht. Sie fehlt schon seit heute früh, seitdem sie in die Messe ging.

Der guten Frau fuhr es wie ein jäher Schreck in die Glieder; sie zitterte und empfand das Bedürfniß, sich auf einen Stuhl niederzulassen, wenn sie nicht zu Boden fallen wollte. Julia verschwunden! Ein Heer von schwarzen Gedanken stürmte auf sie ein.

Nun, wird's bald, Frau Nachbarin? begann wieder der Alte. Ich erwarte Erklärungen, Aufschlüsse, Nachweise; oder wollen Sie abwarten, bis man die Behörden in Kenntniß setzt? Sie sind eine Kupplerin, meine Liebe, Sie haben Zusammenkünfte begünstigt, Stelldicheins arrangirt und den ganzen Techtelmechtel von Neuem eingerührt. Wissen Sie, was darauf steht? Die Polizei wird es Ihnen sagen; Kreuz Bataillon, bisher hab 'ich noch Rücksicht genommen, Schonung angedeihen lassen, aber jetzt ist dem Faß der Boden ausgeschlagen!

Der Angriff des alten Schweden war so jäh und heftig, daß die brave Frau Conrectonn ganz aus dem Concept gebracht war; lange rang sie nach Athem und faltete die Hände, endlich gewann sie wieder Stimme.

Heilige Mutter Gottes, stehen wir schon so? Thun Sie was Ihnen beliebt, Herr General; rufen Sie auch die Polizei, dann wird sich zeigen, wer daran Schuld ist, wenn wirklich ein Unglück geschehen ist!

Unglück? Kreuz Bataillon! was wollen Sie damit sagen?

Aber nun waren die Schleusen der weiblichen Beredsamkeit geöffnet, und mit unaufhaltsamem Ergusse strömte die aufgestaute Empörung über.

O man hat auch seine fünf Sinne, Herr Nachbar, schloß sie die zornige Rede, und es ist nichts so fein gesponnen, daß es nicht käme ans Licht der Sonnen. O, man weiß es recht gut die ganze Nachbarschaft weiß es, wie Sie die arme Waise malträtiren und behandeln, daß es eine Schande ist. Rufen Sie nur die Polizei, ich werde auch Zeugen finden und ehrliche Leute. Glauben Sie, man hat keine Ohren, oder man klappt sie zu, wenn drüben das Gepolter losgeht? Alle Abende fast hab 'ich es hören müssen, und wenn einer hätte nachschreiben können, so hätte er das schönste Protocoll. Ja, ja, ja, Herr General, wir wissen Alles: wie Sie es waren, der schon den Herrn Heister nicht in die Familie lassen wollte, weil Sie Juliens Vermögen nicht gern herausgeben mochten, wie Sie mit Ihren Vorwürfen die arme Mutter Juliens zu Tode geärgert haben, wie Sie das ganze schöne Besitzthum, das einzige Muttergut Juliens an sich gebracht haben wie Sie die arme Frau torquiren und ihr das Leben sauer machen, um sie mit guter Manier wieder loszuwerden an diesen elenden Herrn von Senkenberg, diesen ausgenommenen Häring wir wissen Alles ich an Frau Juliens Stelle wäre längst ins Wasser gegangen. Nun haben Sie's, nun ist's vielleicht geschehen, und wenn Sie ihre Leiche finden hier konnte die brave Frau nicht weiter, sondern brach in lautes Schluchzen aus.

Na, na, so arg wird's doch nicht sein, Kreuz Mohren Element! rief der General und wischte sich mit seinem rothseidenen Tuche die Stirn. Der alte Mann war blaß geworden bis in die Lippen hinein; auch seine Füße knickten ein, und er sank kraftlos auf den nächsten Stuhl.

Beide saßen sich auf diese Weise eine Weile gegenüber, sprachlos, bewegungslos. Nur die Lungen arbeiteten und die Hände.

In diesem Augenblicke kam Johann, der alte Bediente des Generals, und zerrte den lahmen Sepp mit sich.

Hier haben wir Einen, der was weiß, Herr General! rief er schon von Weitem.

Beide erhoben sich sofort, bleich von Schrecken und gefaßt darauf, irgend etwas Entsetzliches vernehmen zu müssen. Wenigstens schien Miene des armen Bur - schen, den der bärenstarke Johann stampfend und stoßend hereinschleppte, nichts Gutes zu verkünden.

Seien Sie doch gut, Herr Johann, seien Sie doch gut, jammerte er, ich will ja Alles sagen.

Da ist der Herr General selber; nun wiederhol Alles, oder der Schwarze soll dich lothweis holen, sagte der schnauzbärtige Johann, der wie sein Herr das Fluchen bei den Kürassieren gelernt hatte und etwas darauf hielt.

Du meine Güte, was ist denn weiter dabei? jammerte Sepp; ich hab 'gestern dem Herrn Secretär ein Billet gebracht von Eurer gnädigen Frau.

Kreuz Bataillon! wer ist dieser Herr Secretär?

Das ist mein Vetter, sagte die Frau Conrectorin, mein braves Vetterchen, ein lieber, guter Mensch, der macht keine Fliege todt.

Also doch der gewisse Herr Galan; weiter, weiter, jetzt werden wir Licht bekommen.

Der Herr Secretär gaben mir einen Thaler und schickten mich gleich zum Lohnkutscher Kachel in der Strumpfwirkergasse. Dort sollte ich einen Wagen bestellen auf heute früh um sechs Uhr hier an die Kirche.

Einen Wagen! Beide, der General und die Frau Conrectorin, wurden jetzt aufmerksam.

Herr Gott! rief die gute Frau auf einmal. Ich hab 'ja den Wagen fahren sehen heute früh, hinter den Hecken auf der Landstraße!

Weiter, weiter! schrie der General. Bombenelement! Wird man endlich einmal hinter die Wahrheit kommen?

Und dann hat mich der Herr Secretär bestellt, daß ich Wache stehen sollte am Gottesacker und ausschauen, bis der Wagen käme, dann sollte ich der gnädigen Frau ein Zeichen geben, wenn sie zur Kirche ging. Und so ist's auch gekommen. Punkt sechs Uhr kam der Wagen mit dem Herrn Secretär, und ein paar Minuten später die gnädige Frau; sie waren recht lieb und freundlich mit mir und haben mir noch einen Gulden gegeben, ehe sie in die Kirche gegangen sind.

In die Kirche? und der General fuhr wieder in die Höhe, als müßte er noch Unerhörteres vernehmen.

Nun ja, sagte der lahme Sepp, sie haben zuvor eine stille Messe gehört, nachher sind sie in den Wagen gestiegen und fort; wahrscheinlich sind sie spazieren gefahren.

Spazieren Kreuz Bataillon! eine complette Entführung, da haben wir die Bescherung! wetterte der alte General, der blauroth vor Zorn geworden war, während seine Augen hervorquollen, wie bei einem geschlachteten Kalbe. Frau Conrectorin indessen hatte völlig ihre Ruhe wiedergewonnen. Kopfschüttelnd schlug sie mehreremal die Hände zusammen und lachte still vor sich hin; aber damit fachte sie den Zorn des Alten nur von Neuem an.

Nun, Sie Kupplerin, fuhr er mit erhöhtem Grimm heraus, wollen Sie jetzt noch leugnen, daß Sie Ihre Hände im Spiel gehabt haben daß Sie die ganze Geschichte eingefädelt und ausgebrütet haben. Kreuz Bataillon! da soll ja gleich ein heiliges Gewitter aber der alte Herr konnte den Kernfluch nicht vollenden, denn seine schmalzige, heisere Stimme ward von einem kollernden Husten unterbrochen.

Dadurch gewann aber die Frau Conrectorin wieder Zeit, zum Worte zu kommen.

Lassen Sie mich in Frieden, Herr General, rief sie, und vor Allem muß ich wiederholt bitten, sich in Ihren Ausdrücken zu menagiren. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so sage ich, mir ist's ganz recht, daß es so gekommen ist. Ich habe nichts geahnt von der verwünschten Geschichte, aber nun es einmal geschehen ist, sage ich: Glück auf und Glück zu! Es wird schon Alles recht werden.

Den Teufel wird es werden! brach der Alte von Neuem los, nachdem er sich kaum erholt hatte. Glauben Sie, man wird ruhig zusehen und abwarten? Heute noch lasse ich den Telegraphen spielen nach allen Richtungen; ich setze mich selbst auf die Eisenbahn, ich biete ein ganzes Regiment auf von Menschen, dann wollen wir doch einmal sehen.

Thun Sie nur, was Sie nicht lassen können, sagte die Conrectorin und lachte dem Alten geradezu in das Gesicht. Was geschehen soll, das wird doch geschehen, da beißt keine Maus mehr ein Fädchen ab.

So, und was soll denn etwa geschehen? Bilden Sie sich vielleicht ein, daß ich jemals einwilligen würde in eine solche Verbindung, in eine Winkelheirath mit einem Winkelschreiber? Da müßten Sie eher das Blau vom Himmel herunterraisonniren. Daraus wird nichts, sag 'ich Ihnen; triumphiren Sie nicht zu früh, Sie verblindeter Tugendspiegel. Eh' biet 'ich Gott und die Welt auf, und wenn ich bis an den König gehen müßte!

Nur zu, nur zu, Herr General! sagte die Conrectorin mit behaglichem Schmunzeln. Ich habe dabei so meine Gedanken, und die können Sie mir nicht nehmen; nein, Gott sei Dank, die können Sie mir nicht nehmen. Dabei lachte sie auf das Herzlichste.

Lachen Sie nur, lachen Sie nur, polterte der Alte. Wir wollen sehen, wer am letzten lachen wird. Jean, mein Reitpferd, ich muß in die Stadt!

Noch einmal stellte sich die Frau Conrectorin in den Weg.

Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr General, aber ich halte es für sehr unklug, die Sache an die große Glocke zu schlagen. Sie thäten am besten, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; es hilft Ihnen doch nichts mehr. Und vor allen Dingen abwarten, Herr General, abwarten!

Bis die Ehre verspielt ist und die Schande am Himmel steht; nein, meine Liebe, verschonen Sie mich mit Ihrem Rath, ich weiß schon allein, was ich zu thun und zu lassen habe. Wir wollen sehen, wer den Kürzeren zieht. Gott befohlen, Frau Nachbarin, Gott befohlen. Damit humpelte er an seinem Krückstock ächzend und fluchend davon, fluchend über das verdammte Zipperlein.

Dabei verblieb es denn auch. Das Reitpferd wurde zwar gesattelt, aber bald darauf wieder in den Stall geführt; endlich wurde sogar der Landarzt geholt, der eine sehr bedenkliche Miene machte, als er das Hofgut wieder verließ. Der alte Herr hatte aus lauter Alteration einen heftigen Gichtanfall bekommen und mußte das Bett hüten; von einer Verfolgung war keine Rede mehr.

Nachdenklich sah die Frau Conrectorin dieser Entwicklung der Dinge zu, und ein sonderbares Lächeln, eine stille Freudigkeit, ein sonntäglicher Glanz wollte nicht von ihrem Antlitz verschwinden. Das Vetterchen ein Entführer, das Vetterchen, das eigentlich nicht bis fünf zählen konnte; nein, was man nicht Alles erlebt auf dieser wunderlichen Welt! Dieser trockene, pappendeckelne Mensch weiß sich eine junge, schöne Frau wegzufischen nein, nein, aber etwas kann dabei doch nicht ganz richtig sein, etwas muß noch ein Geheimniß sein so sprach die Frau Conrectorin zu sich selbst in den ersten zwei Tagen, dann wartete sie noch zwei Tage aber es kam kein Brief und keine Kunde. Da wurde sie sichtlich ernster und ernster. Man konnte nicht sagen, daß es der Ernst der Sorge oder des Kummers sei, nein, es war ein Insichgekehrtsein, wie es wichtigen Lebensentscheidungen vorherzugehen pflegt. Oft in den Nachmittagsstunden kramte sie in alten Briefen und Papieren; sie suchte alte Stickereien und Stammbücher wieder vor, besserte auch einige Coeffuren wieder aus und durchmusterte alte, zurückgelegte Schmucksachen.

Dabei nickte sie oft bedeutsam vor sich hin, als wenn sie nun Alles hinlänglich reif bedacht hätte.

So verging eine Woche, auch die zweite verfloß, und es kam wieder ein Sonntagnachmittag, wo die Frau Conrectorin abermals in dem Gartenhäuschen saß und an einer alten Börse häkelte. In einem Kästchen vor ihr lagen himmelblaue und weiße Perlen, Schmelz und perlgraue nebst grüner Seide. Die Börse aber, welche ein Vergißmeinnicht auf grauem Grunde zeigte nebst schweren Quasten aus Schmelz, war offenbar eine alte Liebesgabe aus verschollenen Tagen eine Gabe, welche einst nicht fertig geworden, nicht weggeschenkt worden war. Ihre Hornbrille hatte die Frau Conrectorin wie gewöhnlich auf der Nase; in einer altmodischen Porzellankanne, welche auf einem Rechaud stand, dampfte Chokolade.

Eine lange Stunde schon hatte die Frau Conrectorin gehäkelt, und sie überlegte eben, ob sie nicht doch lieber die Arbeit enden solle, als plötzlich ein Schritt auf der Brücke klang, der ihr bekannt vorkam.

Zwei Minuten später öffnete sich die Thür des Gartenhäuschens nach schüchternem Anklopfen, und als die Frau Conrectorin aufblickte, sah sie den Vetter, aber in einem Aufzuge, daß sie fast erschrak. Müd, abgespannt und bestaubt machte er einen Eindruck der Verkommenheit und Verwitterung, als wenn er einen ganzen Sommer hindurch auf der Landstraße gelegen und halbverhungert auf der Wanderung durch alle Länder Europa's sich hätte von Thür zu Thür durchbetteln müssen. Seine Kleider und sein Hut, seine Fußbekleidung wie seine Wäsche, Alles erschien abgenutzt, verschossen in der Farbe, vielfach ausgebessert und defect. Es war eine jammervolle Erscheinung.

Da bin ich wieder, Frau Conrectorin, sagte er mit schüchterner, kleinlauter Stimme, die mit tiefster Melancholie gefärbt erschien, und stellte bedachtsam seinen Regenschirm in die Ecke.

Die Conrectorin musterte ihn immer noch mit staunendem Blicke und nickte dabei sonderbar vor sich hin.

Nun grüß 'Gott, Vetterchen, sagte sie, ohne sich von ihrem Platz zu erheben. Das haben Sie ja brav gemacht eine reizende, junge Frau entführen und kein Wort davon sagen, die Welt in Schrecken und Angst setzen mit romantischen Heldenthaten und sich den Pfifferling darum kümmern. Ich bin Ihnen recht böse, Vetterchen, Sie verwetterter Don Juan, Sie abenteuerlicher Romeo Sie böser, gefährlicher Mensch! Sterben wollen und Abschied nehmen auf ewig, hu, hu, das klang ja ganz grauslich und tragisch. Wie viel haben Sie denn todtgeschlagen unterdessen, Sie unvergleichlicher Held?

Spotten Sie nur, Frau Conrectorin, spotten Sie nur, sagte der Vetter. Ich verdien 'es.

Na, meinen Glückwunsch haben Sie im Voraus, Vetter. Sie sind doch jedenfalls verheirathet, oder, wie es poetischer heißt, vermählt. Wo haben Sie denn die gnädige Frau Gemahlin? Vielleicht drüben Beim Großpapa?

Da schaute sie der Vetter mit seinen wasserblauen Augen so unsäglich wehmüthig und tiefsinnig an, schlug die Wimpern aber sofort wieder nieder wie in jungfräulicher Schüchternheit, daß die Conrectorin laut auflachen mußte.

Nun das muß ich sagen, Vetter, wie ein glücklicher Ehemann oder hoffnungsvoller Bräutigam sehen Sie nicht aus.

Nein, wie ein Esel sagen Sie es nur ungenirt heraus, wie ein unsterblicher Esel in Folio, der ich bin! rief Vetter Isidor mit ausbrechendem Ingrimm und fuhr mit den gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken, als wollte er sie sämmtlich ausreißen.

Da endlich stand die Conrectorin auf und klopfte ihm begütigend auf die Schultern, obgleich sie sich des Lachens immer noch nicht erwehren konnte.

Na, machen Sie es nur nicht zu arg, Vetterchen; allzu scharf macht schartig, hab 'ich immer gesagt, aber Ihre Scharte läßt sich wohl noch auswetzen. Jetzt nehmen Sie ein Täßchen Chokolade es war ja immer Ihr Lieblingsgetränk.

Ah, Sie erwarten Gesellschaft, rief der Vetter und wollte erschrocken die Flucht ergreifen.

Ja wohl erwarte ich Gesellschaft, und sie ist schon da, Vetterchen, Sie sind es, den ich erwarte, und die Chokolade war schon alle die Tage her für Sie bereit. Ich wußte ja schon, daß es so kommen würde, wie es ge - kommen ist. Und nun keine Complimente weiter und keine Umstände. Langen Sie zu, Vetterchen, und dann erzählen Sie. Wie war es denn, ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich darauf brenne.

Was in aller Welt soll ich Ihnen erzählen! rief Vetter Isidor und setzte die goldgeränderte Tasse so heftig hin, daß sie beinahe in Stücke gesprungen wäre.

Nun die bewußte Entführung, Vetterchen; Sie sind ja jetzt ein berühmter Mann, eine poetische Persönlichkeit geworden, Herr Secretarius. Ich habe Respect vor Ihnen bekommen, und bei vorkommender Gelegenheit wird man zuerst an Sie denken müssen, setzte sie schalkhaft hinzu. Aber nun erzählen Sie hübsch der Reihe nach, Tag für Tag.

Sie spannen mich auf die Folter, Frau Conrectorin! rief Isidor tief melancholisch. Sie wissen wirklich nicht, was Sie verlangen. Was soll ich alle die alten Wunden aufreißen, und was soll ich eigentlich erzählen? Es ist so unerhört, es ist namenlos, es ist unqualificirbar. So lange die Welt steht, ist solch ein Streich nicht dagewesen! O Weiber! Weiber! Weiber!

Na, ereifern Sie sich nur nicht von Neuem, warf die Conrectorin begütigend ein und füllte abermals eine Tasse. Wie war's denn, als sie von hier fortfuhren? So weit bin ich unterrichtet. Dann reißt der Faden ab.

Der Vetter schwieg eine Weile und kämpfte sichtlich, ob er die Historie seiner Schmach erzählen solle oder nicht; doch mochte es ihm unzweifelhaft ein Bedürfniß sein, sich durch offenes Aussprechen endlich das Herz zu erleichtern, und darauf hatte die Frau Conrectorin gerechnet.

Wir kamen zunächst auf die Eisenbahn, begann er mit trockenem Tone, das heißt, ich ließ auf Frau Juliens Befehl zur Eisenbahn fahren, denn sie behandelte mich gleich von Anfang an als ihren Untergebenen und Reisecourier. Wohin wollen Sie? fragte ich. Nehmen Sie nur gleich Billets bis Chur. Gut, das geschah. Am Nachmittag schon waren wir in Rorschach. Was soll ich Sie mit allen Einzelheiten belästigen? Es war keine sehr romantische Fahrt. Mitten auf dem Bodensee, den ich zum Erstenmal sah, begann es zu regnen, und wir mußten hinab in die Kajüte. Drunten aber waren allerlei Kornmäkler und Viehzüchter, die uns mit zudringlichen Augen anstarrten, so daß wir es lieber vorzogen, wieder auf das Verdeck zu steigen. Ich sage Ihnen, wir haben elend gefroren in der Nässe, und dazu die miserable Angst. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich sah überall Gefahren. Jeder Passagier kam mir vor wie ein Spion, und da sich ein leichter Nebel über das weite Wasser legte, fürchtete ich, daß wir unfehlbar einen Zusammenstoß mit einem anderen Dampfschiff erleben würden, wie es erst neulich vorgekommen war. In Rorschach blieben wir einige Stunden, denn wir waren doch nun auf freiem schweizerischem Boden. Frau Julia wollte durchaus einen Spaziergang durch die saubere Stadt machen, aber ich fürchtete immer, wir könnten zusammen gesehen werden, und so ließ ich sie allein gehen.

Aber Vetter, was sind Sie für ein Hasenfuß mitten im Heldenthum!

Es hatte Alles seine Gründe, werthe Freundin. Uebrigens war ich nicht unthätig inzwischen, während sich Frau Julia von einem Hausknecht des Hotels auf das Telegraphenamt begleiten ließ, wo sie eine Depesche aufgeben wollte. Ich beschwor sie zuerst, dieses gefährliche Unternehmen zu unterlassen oder mir zu übertragen; aber sie bestand auf ihrem Kopf und verheimlichte mir sogar den Inhalt der Depesche in der Zwischenzeit also schlenderte ich in die Stadt, um mich für alle Fälle zu rüsten, denn die persönliche Sicherheit ist auch etwas werth; glücklicherweise fand ich auch bei einem Händler, was ich suchte, ein Paar solide, alte Feuerwaffen, zwar noch mit Steinschloß, sonst aber gut erhalten. Ein bischen theuer waren sie, das ist wahr.

Die Conrectorin mußte abermals lachen.

Warum lachen Sie, Frau Conrectorin?

Nun, ich kann es mir denken, wie Sie bei dem Trödler standen und sich ein Paar alte, verrostete Donnerbüchsen aufhängen ließen, die zu nichts mehr zu brauchen waren. Das sieht Ihnen ähnlich, Vetterchen, das sieht Ihnen ähnlich; aber fahren Sie nur fort.

Merkwürdig, sagte Vetter Isidor. Frau Julia war auch nicht damit zufrieden, als sie es erfuhr, und äußerte sich in demselben Sinne; sie wollte sogar, ich sollte sie fortwerfen oder zurücklassen; ich aber versteckte sie heimlich in meiner Hutschachtel. Nach ein Paar Stunden ging die Reise weiter durch das herrliche Rheinthal. Das Wetter war jetzt schön geworden, wir saßen zusammen in einem Coupé erster Klasse, und Frau Julia plauderte ganz harmlos und fast in ausgelassener Laune mit mir. Ich kann sagen, dies war die glücklichste Strecke der Reise, und ich fühlte mehr und mehr meine Besorgnisse schwinden. Abends waren wir in Chur, in dieser wohlhäbigen, sauberen Stadt in dem weiten Thale, das von drei Seiten von majestätischen Gebirgen eingeschlossen ist. Wir logirten in dem reizenden Gasthaus zur Stadt Bern. Rings Balkone vor jedem Fenster, schon wie in Italien, nur daß sie von Holz sind. Wir bekamen zwei reizende Zimmer. Mein Vorschlag war, den Thee oben zu nehmen, aber Frau Julia bestand darauf, in den großen Saal an die Abendtafel zu gehen. Was wollt 'ich machen? So setzten wir uns mitten zwischen die fremden Leute hinein, von hundert Augen beobachtet, von hundert Zeugen bekrittelt; ich kann sagen, ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, Frau Julia aber war von einer Sicherheit und Unbefangenheit, die mich in Erstaunen setzte. Dabei sprach sie ziemlich reichlich den vorgesetzten Speisen zu und verschmähte auch nicht ein Glas Wein. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fand plötzlich den Muth, sie um ein Plauderstündchen nach dem Souper zu bitten. Warum denn nicht? sagte Frau Julia. Wir haben ja einen Balkon vor dem Fenster, und die Nacht ist warm und sternhell.

Die Conrectorin begann hier von Neuem zu lachen.

Sie lachen schon wieder, Frau Conrectorin?

Nun ja, ich kann mir's schon denken, sie hat Ihnen das Plauderstündchen auf dem Balkon gewährt.

Allerdings, so war es, Frau Conrectorin.

Und der Balkon war natürlich getrennt?

Auch das war er, Frau Conrectorin; aber woher wissen Sie das Alles?

O ich weiß ja gar nichts, bitte, erzählen Sie doch weiter ich male mir das nur so in meinen Gedanken aus.

Vetter Isidor hielt eine Weile inne und betrachtete die Frau Base mit dem Blicke des Mißtrauens. Dann fuhr er kleinlaut fort:

Allerdings, dort auf dem Balkon unter dem Glanz des erhabenen Firmaments verlebte ich noch eine glückliche Stunde, und ohne die Tücke der schönen Frau Julia ... ja so, unterbrach er sich plötzlich, das gehört nicht hierher.

Erst recht gehört es hierher, Vetter, rief die Conrectorin und erhob drohend ihren Finger. Vetterchen, Vetterchen, ich glaube, Sie sind ein ganz schlechter Mensch geworden.

Aber wie können Sie glauben, Frau Conrectorin?

Nur losgebeichtet, nur Farbe bekannt, Vetterchen; nicht wahr, Sie haben à la Romeo über den Balkon steigen wollen?

Ich versichere Sie auf Ehre, Frau Julia stellte zuerst die Frage, ob dieses möglich sei.

Und Sie sind wirklich hinübergeklettert?

Schweigen Sie doch, Frau Conrectorin, es hat mir ja nichts geholfen!

Weil Frau Julia gleich in ihr Zimmer geflohen ist und die Thür hinter sich abgeschlossen hat.

Aber woher wissen Sie? und der Vetter Isidor saß mit offenem Munde.

Woher weil ich Sie kenne, Vetterchen, und weil ich meinen losen Schalk Julia auch kenne. Nun, und was wurde daraus, Vetterchen? Sie haben einige Minuten gepocht und gefleht, dann haben Sie denselben Weg wieder zurückklettern müssen.

Vetter Isidor nickte mit einer unbeschreiblichen Armensündermiene. Mit Lebensgefahr, Frau Conrectorin, mit Lebensgefahr.

Die Frau brach jetzt in ein wahrhaft convulsivisches Gelächter aus, das um so stärker wurde, je mehr sie es zurückdrängen wollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, nachdem sie den Erstickungsanfall überwunden hatte.

Vetter Isidor hatte beleidigt nach seinem Hute gegriffen und wollte sich entfernen, aber die Frau Conrectorin nahm ihn am Arme und führte ihn an seinen Platz zurück.

Dageblieben, Vetterchen, dageblieben. Sie sind ja Zeitlebens ein solider, braver Mensch gewesen, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Natürlich haben Sie auch einmal ein Abenteuer erleben wollen, wie andere leichte Gesellen, aber Sie sehen, was dabei herauskommt. Nun und wie ging es denn weiter? Denn die schöne Geschichte kann doch noch nicht zu Ende sein.

O wollte Gott, sie wäre es damals gewesen, denn Frau Julia wollte ja nur nach Chur gebracht sein, obgleich ich schon damals nicht begreifen konnte, was sie gerade dort wollte. Ohne mich weiter zu fragen, hatte sie noch Abends, und zwar hinter meinem Rücken, auf den andern Tag Extrapost nach Thusis und Bellinzona bestellt. Wohl oder übel mußte ich mich darein ergeben und schon um neun Uhr waren wir auf der göttlichen via mala, zwischen himmelhohen Felsenwänden und Abgründen.

Aber wie war denn ihr Benehmen gegen Sie Vetterchen?

Kühl und stolz und in sich gekehrt, als wenn gar nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Von da an behandelte sie mich vollständig als ihren Packträger. Als wir bei einer steilen Strecke aussteigen mußten, lud sie mir Schirme und Plaids, Taschen und Tücher auf, so daß ich von der großen Naturscenerie nicht mehr genossen habe, als das erste beste Saumthier. Und was das Tollste war, in Thusis mußte ich wieder ihren Ritter machen.

Ah, in Thusis; wie war denn die Geschichte?

Es ist die letzte Poststation vor dem Bernardin, und es ist immer viel Leben von Fremden dort aus Nord und Süd. Wir nahmen ein Dejeuner, und Frau Julia saß vis-à-vis einem schwarzbraunen Herrn, der sofort mit der zudringlichsten Unverschämtheit ein Gespräch mit ihr anknüpfte. Ich achtete erst nicht viel darauf, bis mir Julia in hellrothem Zorn zurief, ich möchte sie in Schutz nehmen, das sei meine Pflicht als ihr Bruder; ich hatte schon eine unzarte Antwort auf der Zunge, aber sie zwang mich mit ihren Augen, zu thun, was sie wollte. Ich mußte sie aus dem Saal führen. Der Fremde kam uns nach und versuchte einen Wortwechsel mit mir anzufangen. Da zeigte es sich, Frau Conrectorin, wozu die Vorsicht gut ist, ich griff nach meiner Hutschachtel und begann eine der beiden Donnerbüchsen, wie Sie es nennen, auszupacken und zu putzen.

Das war sehr unvorsichtig, Vetterchen, denn der Fremde wird Sie einfach ausgelacht haben.

Ja, das hat er auch, sagte Isidor, aber er entfernte sich; nachher kam er noch einmal wieder und wollte mir die kostbaren Waffen abkaufen, denn er sei ein Archäolog, wie er sagte; aber nun war die Reihe des Lachens an mir. Glücklicherweise ging die Reise gleich weiter. Eine Stunde darauf erreichten wir die Schneegrenze. Man stieg aus, und je zwei Passagiere mußten einen Schlitten besteigen; auch bekamen wir blaue Brillen gegen die Blendung des Schnees. Frau Julia wollte zwar anfangs Umstände machen, daß wir in Einen Schlitten zusammen kämen, aber sie mußte sich darein ergeben, und überhaupt hatte sie seit dem letzten Auftritt in Thusis mildere Saiten aufgezogen sie duldete es, daß ich meinen Arm um sie legte, als wir durch die unermeßliche Schneewüste fuhren. Ich weiß nicht, was ich in diesen Stunden Alles zu ihr gesagt habe; sie hörte Alles ruhig an und flüsterte nur einmal, indem sie sich wegen ihrer Zurückhaltung entschuldigte: Morgen werde dieser Zwang zu Ende sein und sich jedes Räthsel lösen. Erst spät in der Nacht erreichten wir Bellinzona, nachdem wir auf der südlichen Höhe des Bernardin abermals die Post bestiegen. Dort war es, wo uns das erste buona sera entgegenklang. In dem elenden Albergo all' angelo zu Bellinzona erhielten wir abermals zwei Zimmer mit verblichener Pracht kein Fenster und keine Thür schloß vollständig; als dies Frau Julia entdeckte, erklärte sie, aufbleiben zu wollen; sie bestellte Lichter und ein Dominospiel, was sagen Sie dazu, Frau Conrectorin? ich war todtmüde und mußte Domino spielen noch die ganze Nacht hindurch; o es war eine Qual ohne Gleichen; aber ich kann sagen, daß mich weniger der Zorn wach hielt als die Neugier, was nun am andern Tage eigentlich geschehen solle. Noch bis gegen Mittag blieben wir in dem verwünschten Nest; endlich sagte Frau Julia: es sei Zeit zum See zu fahren nach Magadino. Der kleine Ort liegt an der Nordspitze des Lago maggiore. Ich weiß nicht, wie mir zu Muthe war. Wollte sie mich wirklich in das Paradies von Italien entführen und dort erst die Meine sein, wo wir in Sicherheit vor jeder störenden Begegnung mit Deutschen waren?

Endlich waren wir in Magadino das Dampfschiff von Arona braus't heran. Die Brücke wird angelegt. Endlich bin ich am Ziel, ruft Frau Julia und läßt ein weißes Tuch wehen: vorwärts, Vetter, sagte sie zu mir, wir eilen über die Brücke auf das Dampfschiff. Da drängt sich unter dem Gewühl der Aussteigenden uns ein Herr entgegen ein völlig unbekannter Herr, der schreit auf, als er Julien erblickt, und Julia stürzt sich in seine Arme!

Natürlich, und es wird kein Anderer gewesen sein, als Heister, ihr Gatte.

Aber woher wissen Sie, Frau Conrectorin?

Nun, das ließ sich doch schon lange errathen; sie wird doch die Herren einander vorgestellt haben?

Allerdings that sie das, und der Vetter wiederholte es pantomimisch, mein lieber Mann, und dabei küßte sie ihn von Neuem, und hier mein Befreier, mein Beschützer, mein Cavalier, Secretär Vetter Isidor Schnittlauch sie hat mir keinen Tropfen des Giftes erspart. Ich muß dagestanden sein wie eine Heerde Schafe, wenn es donnert o ich muß eine unsterblich lächerliche Rolle gespielt haben, Frau Conrectorin; schonen Sie meiner nicht, lachen Sie nur zu, lachen Sie nur zu. Was ich damals empfunden, wird keine sterbliche Seele jemals wieder empfinden.

Mein Himmel, Vetterchen, Ihnen ist nur ganz recht geschehen. Aber Sie werden doch wenigstens gute Miene gemacht haben zum bösen Spiel?

O, was für eine Miene, ich weiß es nicht, jedenfalls eine sehr dumme; ich kam erst völlig wieder zu mir, als sie gleichsam zur Entschuldigung auseinandersetzte, sie hätte absolut kein anderes Mittel gewußt, sich jenen leidigen Verhältnissen zu entziehen und ein neues Leben zu beginnen. Ihr Mann selbst hätte sich hier nicht wieder zeigen dürfen, ohne seine Freiheit auf das Spiel zu setzen. Unterwegs in Rorschach hatte sie ihm telegraphische Nachricht gegeben, daß sie entflohen sei und daß er ihr bis Bellinzona oder Magadino entgegenkommen solle. Er hat bei Genua und auch bei Nizza eine neue Parfümeriefabrik errichtet dort, wo die Veilchencultur in höchster Blüte steht, und diesem neuen Parfüm verdankt er seine jetzige glänzende Stellung und auch ein namhaftes Vermögen. Mir war es allerdings unbegreiflich, daß sie nicht früher zu ihrem Gatten hat zurückkehren können!

Mir gar nicht, sagte die Conrectorin; sie wußte ja nichts davon, daß ihr Mann sich wieder emporgeschwungen hatte. Nun aber, wie war er gegen Sie, Vetterchen?

O, er war höchst liebenswürdig und charmant mit mir. Sie wollten mich mit nach Genua und Nizza nehmen und luden mich ein, den ganzen Sommer dort zuzubringen. Es mochte recht gut gemeint sein, aber es litt mich nicht eine Stunde neben ihnen; kam es mir doch vor, als wenn sie mich nur zum Besten hielten, und namentlich diese Julia, diese reizende kleine Teufelin; ich konnte sie nicht mehr ansehen, ohne mir wie ein Capitalesel vorzukommen; o Weiber, Weiber, Weiber! Mit Einem Wort: mit demselben Dampfschiff bin ich nach Magadino wieder zurückgefahren, nachdem sie glücklich auf der Bahn von Arona weitergereis't waren.

Nun, liebes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit Behagen, so haben Sie wenigstens unfreiwillig einen Vacanzausflug gemacht. Sie haben ja um jeden Preis einmal ein Abenteuer erleben wollen; nun werden Sie hoffentlich von der Romantik curirt sein.

Ja wohl, Frau Conrectorin, das bin ich gründlich bin ich curirt worden. Es nutzt nichts, das Außerordentliche zu begehren, und die Ideale haben eine ganz heillose Kehrseite. Ich bin über die Geschichte ganz dumm geworden; jeder Pfahlbauer und Philister, der nie etwas erlebt hat, kommt mir wie ein Salomo und Aristoteles vor, hundertmal klüger und erfahrener als ich. O, die Sache hat noch ihre bösen Folgen gehabt. Daß ich verschiedene meiner Sachen unterwegs in meiner grenzenlosen Zerstreutheit liegen gelassen habe auch die Hutschachtel mit den Reiterpistolen, die auf dem Dampfschiff oder in Magadino geblieben ist das war noch das Wenigste nein, da ich auch vergessen hatte, mir meine Auslagen zurückerstatten zu lassen, war ich mit meinem Reisegeld bald zu Ende, so daß ich von Chur aus zu Fuß hierher zurückmarschieren mußte, sonst wäre ich längst wieder daheim gewesen.

Sie armes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichstem Tone, da haben Sie freilich ein hartes Martyrium durchmachen müssen; aber nun sollen Sie auch gepflegt werden zur Entschädigung, daß Sie Ihre Strapazen vergessen.

Und sie nahm aus dem Wandschrank eine jener Flaschen und zwei von den grünen Römern, welche schon vor drei Wochen jenes entscheidende Dejeuner verherrlicht hatten; jetzt füllte sie dem Vetter und sich ein Glas mit edlem Rüdesheimer und stieß mit ihm an auf neues Leben.

Rasch trank der Vetter aus und versank dann wieder in brütende Betrachtung.

Seine alte Base, die Frau Conrectorin, kam ihm heute liebenswürdiger und, so zu sagen, jugendlicher als sonst vor.

Endlich fragte er: Was sticken Sie denn eigentlich, Frau Conrectorin?

Kennen Sie die Börse noch, von vor zwanzig Jahren?

Ach Gott, das ist doch nicht etwa ... stotterte der Vetter in halber Verlegenheit.

Ja wohl, das ist die verhängnißvolle Börse mit dem traurigen Vergißmeinnicht; sie wurde niemals vollendet, weil ein gewisser böser Pedant seine Freude daran hatte, sich und mich unglücklich zu machen. Die Stimme der braven Frau halte dabei einen etwas verschleierten, zitternden Ton angenommen.

Merkwürdig, murmelte Vetter Isidor in einer sonderbaren Schüchternheit.

Ja wohl, merkwürdig ist's, Vetterchen, sagte die Conrectorin mit sichrerem Tone; soll ich Ihnen etwa die Geschichte erzählen? Es wäre schon der Mühe werth, denn auf dem Gedächtniß wischen allerhand unberufene Schwämme herum, jeden Tag ein Stückchen und an manchem Tage gleich ein großes Stück. Da waren einmal zwei junge Leute beinah im gleichen Alter, die manches liebe lange Jahr miteinander in die Schule gegangen und zusammen aufgewachsen waren. Als er die Universität verließ, waren sie so gut wie Verlobte. Es ist noch ein ganzes Packet Briefe vorhanden, so zärtliche und feurige Briefe, daß sich jede Motte daran die Flügel versengen könnte. Da war es eines Tages es war ein Sommertag so schön wie heute da hatte sie eine Börse angefangen mit einem Vergißmeinnicht, denn sein Geburtstag war in einigen Wochen: da überraschte er sie unvermuthet, und er kam dahinter, für wen das Geschenk sei, und das empörte ihn ja, ja, Vetter, es empörte ihn; es war ihm nicht ideal, nicht schwärmerisch genug, sondern bloß praktisch, und er warf die Frage auf, ob Shakespeare's Julia ihrem Romeo wohl auch eine Börse gehäkelt haben würde mit einem Vergißmeinnicht. Warum denn nicht, sagte das junge Mäd - chen, wenn es gerade Mode gewesen wäre; und darüber kam es zum Zank, ein Wort gab das andere, und im hellen Zorne ging der moderne Romeo fort, ohne sich wieder sehen zu lassen. Ein halbes Jahr verging; er war auf Reisen gegangen und hatte seine Braut vergessen. Da nahm sie einen anderen, einen älteren Freund von ihrem Verlobten, einen braven, redlichen, praktischen Mann. Den nahm sie, und sie waren ganz glücklich miteinander, bis er nach zehn Jahren starb als Conrector am hiesigen Gymnasium; Gott geb 'ihm die ewige Ruhe. Der Andere aber, der ungetreue Romeo, blieb ewig ein verdorbener Student. Sie hat noch oft an ihn gedacht und bittere Thränen um ihn geweint; indeß ihr Mann rasch emporstieg, weil er sich in die Welt schickte, verkam jener und wurde nichts Rechtes, weil er nur Großes und Erhabenes erleben, weil er seine ganze Existenz in lauter Poesie verwandeln wollte. Wo eine neue Oper oder ein neues Trauerspiel gegeben wurde, mußte er dabei sein. Auf jedem Turnertag und Schützenfest, bei jeder Künstlerversammlung und jeder Säcularfeier von Dichtern mußte er seine Rede halten und seine Rolle spielen. Und bei alledem hatte er es noch ganz besonders auf die Frauen abgesehen. Ich glaube, es giebt keine Sängerin und Schauspielerin, keine junge Wittwe und keine Schönheit in der ganzen Stadt, für die er nicht eine Zeit lang geschwärmt hat, und darüber ist sein Leben zerfahren und seine schöne Jugendzeit vergangen; denn einen festen, muthigen Enschluß hat er niemals fassen können, und das Einzigemal, wo er sich zu einer That aufraffte, hat er nur für Andere die Kastanien aus dem Feuer geholt oder vielmehr hineingeschoben. Seine alte Freundin hat ihn immer noch lieb und hätte ihn um jeden Preis glücklich gesehen, wenn auch mit einer Anderen, mit einer jungen, schönen Frau. Nun ist auch diese letzte Hoffnung vereitelt.

Frau Conrectorin schwieg eine Weile, als erwarte sie eine Antwort, und wirklich nahm der Vetter ihren Ton auf.

Ja wohl, Frau Conrectorin, sagen Sie es nur offen. Er war schon in jungen Jahren ein Kalb, und ist es geblieben bis an seine alten Tage.

Auf dieses Eingeständniß trat eine lange Pause ein. Die Chocolade war längst getrunken, und die Dämmerung ließ kaum mehr die Farben der Perlen an der Stickerei erkennen.

Wann wollen Sie denn die Börse fertig sticken, Frau Conrectorin? fragte er mit schüchternem Tone.

Ja, mein Freund, das ist eine weitläufige Frage.

Nun, der Geburtstag jenes Jugendfreundes könnte doch noch einmal wieder kommen.

Was hilft's, sagte sie, ich bin eine alte Frau geworden.

Das kann man nicht sagen, Emilie, du bist immer noch eine hübsche, stattliche Frau aber kaum waren diese Worte heraus, so erschrak der Vetter über seine Kühnheit und setzte rasch in kleinlautem Tone hinzu: Ich hab 'erst eine Reise machen wollen in der Vacanz, aber du hast Recht, ein Landaufenthalt in der Nähe der Stadt ist viel gesünder und empfehlenswerther. Ich war dir damals sehr dankbar, daß du mich in deinem Hause aufgenommen. Könnte man jetzt diesen Aufenthalt nicht verlängern? Ich würde recht schön darum gebeten haben.

Die Conrectorin musterte einen Augenblick den Vetter, dessen Kühnheit ihr durchaus nicht zu mißfallen schien.

Wird das aber auch gehen? sagte sie langsam. Der Herr Nachbar ist wüthend auf dich als den Entführer seiner Enkelin. Er schießt dich nieder, wenn er dich zu Gesicht bekommt.

O, dagegen gäbe es wohl ein Mittel, ihn zu überzeugen, daß ich keinen Theil an seiner Enkelin habe.

Und dies Mittel wäre?

Hm, ich meine der Vetter machte eine Pause und nahm dann einen neuen Anlauf. Wie wär's, wenn wir ihm weiß machen, wir wären verheirathet. Der Schein wäre nur für uns. Ich habe die Stadt ohnehin satt und könnte hier in der ländlichen Ruhe meine wissenschaftlichen Werke zu Ende bringen.

Wenn wir es ihm weißmachten? die Frau Conrectorin mußte wirklich laut auflachen. Vetterchen, Sie sind über alle Maßen komisch.

Ich meine nur deinethalben, Emilie, sagte er mit festem Tone. Im Ernst wirst du es mit einem solchen Pedanten nicht wagen wollen.

Na, es käme denn doch auf einen Versuch an, sagte die Frau leise und beugte sich über seine Schultern, und damit es nicht wieder mißglückt, machen wir es lieber gleich fest. Vetter Isidor legte seinen Kopf mit den blonden Locken und den wasserblauen Augen, die im Dunkeln leuchteten, an ihre Brust, und sie zog ihn an sich. Die Augen wurden ihr feucht. Die dummen romantischen Thränen! sagte sie, indem sie die Augen rasch trocknete. Was wollen Die denn jetzt? Die hab 'ich ja im Stillen manchmal geweint und sie haben mir nichts geholfen, und die Börse wäre längst fertig geworden, wenn Thränen Perlen wären. O Vetterchen, jetzt wollen wir Alle auslachen, die das Glück über den Wolken suchen, während es ihnen vor den Füßen auf Erden zu finden ist!

About this transcription

TextVetter Isidor
Author Julius Grosse
Extent136 images; 28012 tokens; 6000 types; 182621 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-15T10:31:15Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-15T10:31:15Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Vetter Isidor. Band 20. Julius Grosse. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 103-236.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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