Julius Waldemar Grosse, geb. zu Erfurt am 25. April 1828, erhielt seine Gymnasialbildung in Magdeburg, wohin sein Vater als Militär-Oberprediger im Jahre 1833 versetzt worden war. Den Gedanken, Architekt zu werden, gab er, nachdem er schon das Staatsexamen als Geometer bestanden hatte, wieder auf und widmete sich 1849 — 52 in Halle der Jurisprudenz. Auch dieser Berufswahl machten ihn seine künstlerischen Neigungen wieder untreu. Von 1852 — 1854 besuchte er in München die k. Akademie, um sich zum Maler auszubilden, bis er als sein eigentliches Talent das dichterische erkannte, das schon auf der Universität in dramatischen Versuchen sich angekündigt hatte. Sein Aufenthalt in München, wo er vom Jahre 1855 bis 1869 an der Redaction verschiedener Zeitungen Theil nahm, wurde im Jahre 1856 durch eine italienische Reise unterbrochen. Drei Jahre später erfolgte seine Verheirathung mit einer Münchnerin, im Jahre 1870 seine Uebersiedlung nach Weimar, wo Julius Grosse seitdem als General-Secretär der Schillerstiftung lebt und in rascher Folge eine große Anzahl epischer Gedichte, Romane und Novellen veröffentlicht hat. (Rienzi, ein Trauerspiel, 1851. Gedichte, 1857. Epische Dichtungen, 1861. Untreu aus Mitleid, Roman, 1868. Die Novellen: Maria Mancini, Ein Revolutionär, Eine alte Liebe, Vox populi, 1869. Neue Gedichte: Aus bewegten Tagen, 1869. Dramen, 7 Bändchen, 1870. „ Wider Frankreich, “Gedichte, 1870. Erzählende Dichtungen, der Wasunger Noth, Abul Kazims Seelenwanderung, 1871 — 1872. Die Romane: Gegen den Strom, 3 Bände,
1871, Der neue Abälard, 1872, Offene Wunden, Novellen, 3 Bände, 1873, Der Stadtengel, 1874.) —
Mit so großem Beifall Grosses epische Dichtungen aufgenommen worden find, noch Schöneres und Erfreulicheres hat der Dichter unseres Erachtens in der Lyrik geleistet, was sicherlich zu allgemeinerer Anerkennung kommen würde, wenn er uns mit einem Bande „ ausgewählter Gedichte “beschenken wollte, aus welchem alles jugendlich Unreife ausgeschieden wäre. Wie man ihn auf diesem Gebiete treffend mit Achim von Arnim verglichen und ihn den letzten Romantiker genannt hat, so erinnern auch seine Novellen trotz alles realistischen Bemühens vielfach an die Weise der Auffassung und Darstellung, wie sie in romantischer Zeit üblich war.
Die hier ausgewählte Novelle hat den Vorzug vor manchen andern erhalten, nicht nur, weil unsere Literatur besonders arm ist an maßvoll gehaltenen humoristischen Erzählungen, sondern auch weil bei den ernsten und tieferen Problemen, die Grosse sich in feinen Erzählungen zu wählen pflegt, häufig ein gewisses Missverhältnis zwischen der fast überreichen Phantasie und der künstlerischen Durchbildung sich fühlbar macht, jene rische, um die Wirklichkeit unbekümmerte Stimmung, die Grosse eben mit A. von Arnim gemein hat. Dass in beiden ein wahrhaft dichterischer Geist selbst in ihren barocken Unregelmäßigkeiten und phantastischen Wagnissen sich rege, wird niemand bestreiten, und in dieser Hinsicht kann der novellistische Schwank, den wir hier mittheilen, von dem tiefsten Wesen des reichbegabten Dichters allerdings nur eine ungenügende Vorstellung geben.
Die Sonne scheint hell herab auf den Strom am Wald, auf den Fahrweg und die Brücke, unter welcher die Enten des Dorfes, oder vielmehr der Vorstadt, an jedem Morgen hindurchschwimmen. — Heute umzittern goldene Lichter die grünblauen Schatten auf den breiten, lautlos hinströmenden Wassern, goldene Lichter umspielen das frisch angestrichene Thor des großen „ Hofgutes “und nicht minder das bescheidene Gärtlein der Frau Conrectorin, das dem Vorübergehenden nur wie eine grüne Wildniß von Himbeerbüschen erscheint. Die Obstbäume stehen in dem Gärtchen so dicht, daß sie das schindelgedeckte saubere Wohnhaus gänzlich verbergen; auch die Bewohnerin, welche mit einer alten Magd auf diesem Wittwensitz haus't, sieht von der Welt nichts als grüne Wipfel, flatternde Tauben und ziehende Wolken. Ist sie damit nicht zufrieden, so muß sie in das kleine chinesische Gartenhäuschen gehen, das vorn am Wasser liegt und dessen Fenster von buntem Glase theils auf die Landstraße, theils auf den Strom und Wald, theils auf die ferne, weithin gestreckte, im Duft verschwimmende Hauptstadt blicken.
Dort saß auch heute die Frau Conrectorin in sauber gebügeltem weißem Häubchen mit ponceaurothen Bändern und schenkte so eben Kaffee aus silberner Kanne, doch nicht bloß für sich.
Ja, ja, Vetter Isidörchen, sagte die Frau Conrectorin, sehen Sie, so lebe ich alle Tage, die Gott giebt, und bin vergnügt und zufrieden, wenn mich die Welt nur in Ruhe läßt, ich will auch nichts mehr von ihr. — Von Ihnen aber ist's schön, daß Sie meine stillen Sonntage mit Ihrem Besuch erfreuen, man hat dann doch eine Ansprache und kann eins plaudern von vergangenen Tagen. — Noch ein Täßchen gefällig, Herr Substitut oder Herr Archivar, — wie muß man den eigentlich sagen? Sie sind ja wohl avancirt, wenn mir recht ist?
Sagen Sie immerzu Vetter, Frau Conrectorin, es ist einmal wieder nichts gewesen.
Ah, das ist aber schade, na denn ein andermal; man muß nie die Courage verlieren, und zuletzt kann's Ihnen ja gleich sein, Vetter Isidörchen; mit Ihrem Vermögen können Sie bequem leben. Ich dachte nur, weil Sie heute so besonders — wie soll ich sagen? — so festlich herausgemustert sind.
Sie spaßen, Frau Conrectorin.
Nun, nun, werden Sie nur nicht so roth, Vetter Isidörchen, es war ja nicht böse gemeint. Die weiße Weste steht Ihnen ganz gut, dazu die weißen Handschuhe, die schöne, feuerrothe Cravatte und der neue Strohhut — das macht Effect, das imponirt; das zeigt gleich von weitem, daß Sie etwas im Schilde führen, und irgend eine junge Dame wird dann schon wissen, woran sie ist.
O, was denken Sie, Frau Conrectorin! sagte der „ junge “Mann, welcher ihr gegenüber saß, und sein fahles Gesicht mit den wasserblauen Augen, mit den weißen Augenwimpern und den langen, hobelspanblonden Locken färbte sich wirklich dunkelroth. Er räusperte sich einigemal und knips'te irgend ein unsichtbares Stäublein von seinem flohfarbigen Sommerpaletot.
Sie wissen, ich bin — so zu sagen, Idealist, setzte er feierlich hinzu und erhob wie beschwörend seine ziemlich große, starkknochige Hand.
Ja, ja, ich verstehe schon, sagte die Frau Conrectorin und strickte etwas rascher, indem sie den Vetter über ihre Hornbrille hinweg schelmisch ansah. Sie schwärmen nur für das Ueberirdische, für das Unerreichbare, für das Aetherische, o das kennt man schon. Aber eigentlich ist's doch sehr unrecht von Ihnen, Vetter Isidörchen. Ein Mann von Ihrem Vermögen und Ihrem Alter — na, machen Sie nur keine Gesichter, Vetter, Sie haben just zweiundvierzig Jahre, zwei mehr als ich, wir sind ja zusammen in die Schule gegangen — denken Sie, das vergießt sich so leicht? Und im Uebrigen sind Sie nicht übel gewachsen und haben sich leidlich conservirt — wo es noch fehlt, kann immer die Frau nachbessern. Ihre Stellung am Archiv kann auch nicht lange mehr so unsicher bleiben. Sie sind ja auf dem besten Wege, endlich einmal Carriere zu machen, als Gelehrter, als — was weiß ich. Ah, ein solcher Mann thut schwere Sünde, wenn er —
Ich muß denn doch freundlichst bitten, Frau Conrectorin, unterbrach sie der Vetter, dieses in der That unerquickliche Thema — —
Aber im Ernst, Vetterchen, worauf warten Sie denn eigentlich?
Ich warte gar nicht, sagte der Vetter mit ausdrucksvollem Aufschlag der wasserblauen Augen, ich habe resignirt, ich finde doch nichts mehr, Frau Conrectorin.
Weil Sie sich keine Mühe geben, sagte die Frau mit etwas ungeduldigem Tone. Glauben Sie denn, die gebratenen Tauben sollten von selbst kommen? Nein, Vetterchen, so kommen Sie nicht zum Ziel.
Keine Mühe gegeben — ich muß sehr bitten, Frau Conrectorin, sagte Vetter Isidor und fuhr durch seine Hobelspanlocken; im Gegentheil, sehr im Gegentheil. Sie glauben nicht, welche Erfahrungen ich gemacht habe seit zwanzig Jahren. Ich mochte meine Wohnung so oft wechseln, als ich wollte, überall dieselben Versuchungen, dieselben Gefahren, derselbe Abgrund! — O, wenn ich Ihnen alles erzählen könnte, wie man es eingeleitet hat, mir Nachstellungen zu bereiten, mir Fallen zu legen, mich verkuppeln zu wollen. Man hat mir Briefe geschrieben, man hat mir Blumen geschickt und Bildnisse, weibliche Bildnisse, Frau Conrectorin, und zwar von allen Arten — Töchter und Frauen, Wittwen und Großmütter — auf feine und unfeine, auf alle erdenkliche Art hat man sich angetragen!
Ihnen? rief die Conrectorin und rückte ihre Hornbrille, indem sie den Vetter im flohfarbigen Sommerpaletot mit etwas ungläubigem Blicke musterte.
Ja wohl, meiner Wenigkeit, wenn Sie gütigst erlauben, sagte der Vetter mit einem Anlauf von Stolz. O, glauben Sie nicht, Frau Conrectorin, daß man ohne allen Eindruck auf das schöne Geschlecht gewesen sei. Man hat seiner Zeit seinen Walzer getanzt, man hat seinen Vers gemacht, man hat seine Arie gesungen, man hat auch sein Pfänderspiel gespielt — —
Natürlich, und Sie können nichts dafür, wenn Sie unzähligen Schönen das Herz gebrochen haben; aber warum in aller Welt sind Sie denn nicht angekommen, Vetterchen?
Warum? — der Vetter schwieg eine Weile und schnellte mit seinem gelbseidenen Tuch den Staub von einen Zeugstiefeln.
Sehen Sie, Frau Conrectorin, die Weiber verstehen uns nicht.
Ja, um des Himmels willen, was verlangen Sie denn eigentlich, Vetterchen?
Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des „ Idealisten “mit der weißen Weste, während sein verwittertes Gesicht einen Ausdruck von Verklärung und Salbung annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte.
Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig.
Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen — das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft — mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr!
Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden.
Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch ...
Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon —
Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte!
Hören Sie nur endlich auf, Vetterchen; — ich weiß es nun schon, wir sind wahre Ungeheuer, sagte die Conrectorin scherzend, aber wo wollen Sie denn hin?
Ich sehe schon, sagte der Vetter beleidigt, auch Sie wollen mich nicht verstehen, — und er hatte sich von seinem Stuhl erhoben und zum Strohhut gegriffen, sowie zum Regenschirm. Ich muß eilen, daß ich in die Stadt komme, es ist spät geworden, heute Abend wird Romeo und Julia gegeben. — Sehen Sie, Frau Conrectorin, das ist's, was ich meine, da ist Poesie, da ist Größe, da ist Leidenschaft; aber unsere Zeit, unsere Erziehung, unsere Julien, daß Gott erbarm '— ich empfehle mich, Frau Conrectorin.
Die gutmüthige Frau lachte laut auf, als sie ihm die Hand zum Abschied gab. Also eine Julia suchen Sie, alter Romeo, ha, ha, Sie müßten sich gut ausnehmen auf einer Strickleiter, Vetter Isidörchen, und erst im Grabgewölbe, hu, hu! — und die Frau wollte fast kein Ende finden im Lachen.
Ja, aber was haben Sie denn auf einmal? unterbrach sie sich plötzlich und blickte mit Staunen auf den langgewachsenen Idealisten, der am offenen Fenster stand, und eine tiefe Verbeugung machte, die er noch zwei - oder dreimal wiederholte. Gleichzeitig langte er rasch sein Opernglas aus den Taschen des Paletot und setzte das riesige Instrument an seine wasserblauen Augen.
Eilig schritt die Frau Conrectorin zu dem Nebenfenster und schalte durch die halbgeschlossenen Jalousieen. Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten.
Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden.
Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend.
Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen?
Die also, Vetter Isidörchen, Die also! — und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. — Nein, liebes Vetterchen — da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar!
Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde:
Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte, so giebt es keine Unmöglichkeit in der Welt — wir haben schon andere Schwierigkeiten überwunden, und ich sage Ihnen, Frau Conrectorin —
Ereifern Sie sich nur nicht, Vetterchen, beschwichtigte ihn die Conrectorin. Alles, was Sie wollen, aber nur nichts Unerlaubtes. Es giebt Mädchen genug noch, aber nur nicht diese Eine. Vetterchen, seien Sie vernünftig, geben Sie mir Ihre Hand — nur näher ich will Ihnen etwas anvertrauen — und sie näherte ihren Mund seinem Ohr, nachdem sie vorsichtig alle Fenster des Gartenhäuschens geschlossen hatte. — Da drüben, Vetter, fuhr sie fort, waltet ein Geheimniß, ein schweres Geheimniß, lassen Sie es auf sich beruhen, das Unglück ist heilig.
Unglück? — Geheimniß? — Vetter Isidor hatte sein Opernglas wieder vom Auge genommen und putzte es mit seinem gelbseidenen Tuche, während er mit seinen wasserblauen Augen die Frau Conrectorin anstarrte, gleichwie ein Ertrunkener.
Unglück — Geheimniß, das ist ja höchst romantisch, Frau Conrectorin; ich bitte, ich beschwöre Sie, wer ist diese liebliche Erscheinung? Sie kennen sie, Sie dürfen mir nichts mehr verhehlen. Noch nie habe ich das Urbild der Poesie in solcher Verwirklichung gesehen.
Ja wohl, Poesie, sagte die ältliche Frau und nickte ernst vor sich hin, ja wohl, das ist Romeo und Julia, wie sie im Buche stehen. Gehen Sie nur ins Theater, Vetter Isidörchen, gehen Sie nur, dort sehen Sie alles, und ich brauche nichts zu erzählen ...
Aber Vetter Isidor stellte seinen Regenschirm wieder in den Winkel und kreuzte die Arme wie ein Feldherr über die Brust.
Sie spannen alle meine Nerven auf die Folter, Frau Conrectorin, aber ich gehe nicht von der Stelle, bis ich Alles weiß. Ich beschwöre Sie noch einmal: reden, sprechen Sie, reißen Sie mich aus den Qualen der Ungewißheit!
Sie sind schrecklich tragisch, Vetterchen, sagte die Conrectorin, indem sie sich wieder setzte und ihre Schürze glättete, aber es hilft Ihnen nichts. Ja, ja, wenn die Leute drinnen vor den Lampen sitzen und die schönsten Scenen mit ansehen, wie sie sich begegnen auf dem Maskenball, wie der junge Herr über den Balkon steigt und die Amme sie verkuppelt, das gefällt ihnen, und wenn der alte Capulet sammt seiner Frau über den Scandal nachher Lärm macht, dann hüpfen alle Herzen vor Schadenfreude über den alten Philister. Das ist das heilige Recht der Leidenschaft, heißt es, und Julie bleibt sittenrein, unschuldig, tugendhaft und nachahmungswürdig vor aller Welt.
Natürlich, weil das Poesie ist! rief der Vetter mit starker Stimme.
Ich höre schon, Vetterchen, sagte die Conrectorin. Wenn aber dergleichen im wirklichen Leben vorkommt, genau so vorkommt, so zeigen sich dieselben weisen und klugen Leute ganz anders. Zuerst freilich brechen sie den Stab über Diejenigen, die ein bischen weiter sehen und fürchten, solch eine romantische Geschichte könnte ein schiefes Ende nehmen. Da wird von Leidenschaft gefaselt und ihrem göttlichen Recht und ähnlichem Unsinn; geht es aber nachher wirklich unglücklich aus und haben die Philister wirklich Recht gehabt, dann sind die Leute verdutzt, und kein Mensch spricht mehr von „ Poesie “. Dieselben Leute, die den Roman romantisch fanden und auf Seite des Liebespärchens standen, verläumden nachher, kichern schadenfroh und treten den Scandal breit, wenn der Ausgang wirklich traurig war. Ja wohl, das haben sie dann gleich vorausgesehen, gleich vorausgesagt, und sie sind die Klugen, Tugendhaften, allzeit Gerechten. Ja, ja, so ist's, und gerade Die da drüben ist ein lebendiges Beispiel dafür, wohin die Dinge heute kommen, wenn man einer sogenannten Leidenschaft freien Lauf läßt.
Frau Conrectorin, Sie reden sehr sinnvoll und sehr logisch, allein ich verstehe wirklich kein Wort davon, rief der Vetter Isidor unmuthig, und wenn Sie mi kein Vertrauen schenken wollen, so werde ich anderwärts Erkundigungen einziehen. Ich empfehle mich ganz gehorsamst.
Na, na, bleiben Sie nur, Vetterchen, bleiben Sie nur und nehmen Sie mir meinen Frieden nicht mit, sagte die Frau und führte den Vetter zu seinem Platz zurück. Ich sehe schon, ich muß Ihnen die ganze Geschichte erzählen, damit Sie Alles auf einmal wissen. Die junge Dame drüben ist eine weitläufige Verwandte, eine Stiefenkelin des alten Herrn von Schnorrigl, des alten Generals auf dem Hofgut. Sie selbst ist verwais't und verarmt, ein bedauernswerthes Geschöpf. Der alte Herr hat das Gut, das ihren Eltern gehörte, Schulden halber übernommen, mitsammt der Armen; ich mag die Leute nicht und rede selten oder gar nicht mit ihnen, wenn auch die arme Julia mein Liebling war und geblieben ist.
Julia heißt sie? rief der Vetter mit leuchtendem Auge, und seine Hand fuhr abermals durch die hobelspanblonden Haare.
Ja wohl, Julia heißt sie und hat das Gnadenbrod bei dem alten General.
Gnadenbrod, ich bitte Sie, wie herzlos, wie prosaisch, wie unästhetisch, Frau Conrectorin!
Nur Geduld, das Poetische wird schon kommen. Also meine Julia kenne ich schon von klein auf, früher nämlich besaßen ihre Eltern das Hofgut, der Vater ist lange todt, ihre Mutter, die Großnichte des Generals von Schnorrigl, war meine beste Freundin. Wir sahen uns alle Tage, und die kleine Julia war grade vier Jahre, als wir vor bald zwanzig Jahren hierher zogen, ich und mein seliger Mann, der Conrector.
Wir haben keine Kinder gehabt, aber die kleine Julia gehörte uns beinah noch mehr, als ihren Eltern, sie war oft wochenlang bei uns und wuchs unter unseren Augen auf, wie unser eigenes Kind. — Es war ein lustiges, übermüthiges Ding, voll der närrischsten Einfälle von Jugend auf, dabei grundgut von Herzen, unverdorben, arglos und talentvoll über ihre Sphäre hinaus. — Alles, was sie begann und unternahm, gelang wider Erwarten, und selbst ihre tausenderlei kleinen Schalksstreiche standen ihr gut zu Gesicht. Wenn der Herr Vetter Isidor vor zehn Jahren uns besucht hätte, er würde seine Freude an dem Kind gehabt haben, und vielleicht wäre dann Alles anders gekommen. Wir hatten eigentlich kein großes Zutrauen zu ihrer Zukunft, denn sie war als Kind nicht besonders schön; braun und schwarz wie ein Zigeunerkind aus dem Wald heraus. Erst als sie aus der Pension kam, wo sie drei Jahre gewesen, war sie wunderbar aufgeblüht, ein wildes Waldröschen, herzig zum Küssen, ich war selbst ganz vernarrt in das Ding und machte mit ihrer Mutter hundert Pläne über ihre Zukunft. — Aber was hilft alle Vorsicht! — Zwar wir schlossen sie ab vor der Welt, aus Furcht, ihre seltene Schönheit könne ihr Verderben werden, und glücklicherweise liegt das Hofgut so einsam und weltverloren, daß sich von den schlechten Menschen keiner hierher verirrt. Aber, wie gesagt, was hilft alle Vorsicht! Damals — es war im Winter vor sieben Jahren — waren Verwandte zum Besuche da, Mädchen aus der Provinz, die einen Mann suchten in der Hauptstadt, wie das so geht. Es gab allerlei Lustbarkeiten und Feste. Auch ein großer Maskenball in der Ressource sollte mitgemacht werden. Julia war damals erst sechzehn Jahre und sollte auch diesmal noch zu Hause bleiben; sie war überhaupt noch nie auf einen Ball gekommen und galt noch ganz als Backfischchen und Gänschen.
Backfischchen und Gänschen, Frau Conrectorin, — ich muß bitten, Ihre Sprache zu ändern, ich kann solche Ausdrücke wirklich nicht dulden.
Mein Gott, Vetterchen, heute sind Sie wie von Zucker, — na also, als die Lulu hört, daß sie auch diesmal zu Haus bleiben sollte, gab es ein großes Lamento, sie legte sich aufs Weinen und Bitten und wollte ja auch nichts weiter, als blos zum Zuschauen mitgehen. Endlich gut — mein Gott, ich bin selbst mit Schuld daran gewesen, denn ich redete zu und stand auf ihrer Seite, denn das Kind that mir leid. Und so setzten wir es durch, daß sie zum Zuschauen mitgehen durfte. Aber da es einmal ein Maskenball war, mußte auch sie maskirt werden. Die fremden Cousinen gingen als Armiden, Marquisen und Königinnen der Nacht — was weiß ich, die Lulu bekam nichts als ein blaues Röckchen mit Sammet und ein rothes Mieder. Dazu ein Blumenkörbchen, denn sie sollte ein Gärtnermädchen vorstellen. Die Kleine war außer sich vor Freuden und kam auch zu mir herüber, um sich zu präsentiren. Da sah ich erst, wie reizend das kleine Ding gewachsen war — das kleine Ding, wie wir sie nannten, obwohl sie stattlich genug war. An dem Abend hab 'ich ihr noch einmal und feierlich das Wort abgenommen, nicht zu tanzen, aber wer kann sich auf die Jugend verlassen und auf ein Mädchenherz! — Lieber Himmel, wenn andere Mädchen auf einen Ball gehen, so beten sie vorher zu ihrem Schutzheiligen, daß sie nicht sitzen bleiben, und wie viele müssen die Marter erleben, wie auf einem Sclavenmarkt feil dazusitzen und wie Waare ausgeboten zu werden — zu harren und zu hoffen, bis endlich ein mitleidiger Käufer kommt, der sich ihrer erbarmt; — meine kleine Lulu braucht nur in den Saal zu treten, und die Tragödie beginnt.
Tragödie — Sie erschrecken mich, Frau Conrectorin.
Na, ich meine, das sogenannte Poetische beginnt — das, wie es im Buche steht von den Montecchi und Capuletti, von dem schönen Pilgersmann und so weiter. Kurz und gut, kaum ist das kleine Gärtnermädchen sichtbar geworden, so drängt sich ein junger Mann an sie, um sie zu engagiren — natürlich weigert sie sich, aber der kleine Schlaukopf giebt zugleich den Grund an, das Tanzen sei ihr verboten. Der junge Mann gleich hin zu den Gardedamen und Cousinen und weiß so artig zu schwadroniren, so elegant zu tanzen mit den fremden Cousinen, daß diese endlich ihre Erlaubniß geben. Er führt die Julia zum Walzer, und nun war's um sie geschehen.
Mein Gott, was Sie für Ausdrücke wählen, Frau Conrectorin! — „ war's um sie geschehen, “— was soll das wieder heißen?
Ja, ja, das war nicht zum Spaßen. Es war um sie geschehen für heut und immerdar und ihre ganze Lebenszeit. — Einen ersten Schritt machen in die Welt hinein, und gleich den sogenannten Rechten finden auf den ersten Griff, nicht wahr, Vetterchen, das kommt nicht oft vor, höchstens in Romanen und auf dem Theater. — In Wirklichkeit müssen die meisten Mädchen Jahre lang warten und nachher doch den Ersten Besten nehmen, denn mit der ersten Liebe verrechnen sich von Hundert Neunundneunzig — hab 'ich Recht, Vetter? fragte die ältliche Frau und warf einen forschenden Blick auf den langgewachsenen Idealisten, der mit gebeugtem Haupte vor ihr saß und die großen Hände in den weißen Handschuhen auf dem Knie gefaltet hielt. Nach einer Weile murmelte er etwas Unverständliches zwischen den Zähnen hervor, es klang wie: Fahren Sie fort.
Was ist da viel zu erzählen? sagte die Frau Conrectorin nach abermaliger Pause. Gleich am andern Tage kommt der junge Mann zu der Mutter, stellt sich vor und erklärt sich. Es war ein sogenannter schöner Mann, ganz anders als Sie, Vetter Isidörchen, groß, schlank, mit gebrannten schwarzen Locken, ein kleines Bärtchen, feinste Pariser Wäsche und neuestes Costüm, kurz, gerade wie die Köpfe, die beim Friseur im Ladenfenster stehen — na, ich will Ihnen nicht wehe thun, Vetterchen, Sie sind mir doch noch lieber, als solch ein Maikäfer. Die Mutter meiner Lulu und der Vormund, der alte Herr von Schnorrigl, machten natürlich große Augen, als er um das sechzehnjährige Kind anhält. Der General wollte den kecken Gesellen gleich aus dem Hause werfen, er hätte die Julia auch keinem Anderen gegeben, denn er war ganz vernarrt in das Kind. Nur die Mutter ließ sich blenden und machte die Derbheit des Alten durch Artigkeit wieder gut. Man suchte Ausflüchte, um Zeit zu gewinnen und Erkundigungen einzuziehen. Sie sehen, Vetter, es ging alles mit rechten Dingen zu. Und übrigens war das Resultat der Erkundigungen im Ganzen kein schlechtes. Man erfuhr zwar allerlei, aber nichts eigentlich Schlimmes. Der junge Mann war Compagnon eines Zuckerfabrikanten und hatte außerdem eine neue große Parfümerie - und Seidenfabrik angelegt. Man konnte es schon von weitem riechen.
Schon von weitem — nein, es ist zu arg, Frau Conrectorin! und der Idealist mit der weißen Weste sprang auf. Sie stellen mein ästhetisches Gewissen auf eine harte Probe.
Du meine Güte, Vetterchen, jede Blume hat ihren Duft, und seine eaux de lis und eaux de mille fleurs hatten mehr als einen Preis davongetragen. Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrer Zimperlichkeit wollen, ich habe ja nicht von grüner Seife gesprochen. Also gut — das war noch die Lichtseite, im Uebrigen erfuhr man nicht viel Gutes. Der junge Herr Aloys Heister, so war sein Name, war ein Lebemann, er fuhr und ritt fleißig spazieren, auf dem Eise und in der Manège, auf dem Tanzplatz und beim Billard war er der Erste, er hatte seine Loge im Theater und seinen Livreebedienten und Jockey, kurz, es war ein Lion, wie er im Buche steht. Sonst konnte man nichts erfahren, was seinem Charakter oder seiner bürgerlichen Ehre geschadet hätte, aber das war schon genug. Die Mutter zwar war von dem schönen jungen Mann und seinen Vorzügen geblendet, aber der alte General schnob Feuer und Flammen über den Gecken, Windbeutel und Schwindler, denn anders nannte er den Freier nicht. Kurz, es gab heftige Auftritte im Hause, bis Julia rundweg erklärte: Den oder Keinen!
Aber das Alles sind ja langweilige Dinge, Frau Conrectorin, sagte Vetter Isidor.
Aha, Sie warten auf die Strickleiter und auf Mord und Todtschlag; nur Geduld, Vetterchen. Es kommt noch anders. Meine kleine Lulu also setzt es durch, daß sie mit ihrem liebsten Romeo verlobt wird. Aber nun ging der Spectakel erst recht los. Alle Stadtfraubasen und Philister in der Stadt, das heißt, die soliden Leute, schrieen Zeter und Mordio, daß daraus nichts Gutes kommen werde, und daß es schlimm ausgehen müsse. — Anonyme Briefe kamen, daß der junge Herr bereits anderweitig engagirt sei und nur das Vermögen Juliens erobern wolle; Warnungen kamen, daß er ein Lufticus sei und von seinem Fache eigentlich gar nichts verstehe, daß sein eigener Vater sich von ihm losgesagt habe, weil er schon Unsummen am grünen Tische durchgebracht habe und tief in Schulden stecke — kurz, die ganze Litanei des Neides, der Bosheit, der Ver - leumdung aller Art. Der junge Herr Aloys aber benahm sich dabei sehr schlau. Es fiel ihm gar nicht ein, sich zu vertheidigen, er lachte nur über die bösen Zungen, aber er erschien niemals auf dem Hofgut ohne kostbare Geschenke. Bald war es eine Marmorvase, bald ein Korb Früchte, bald seltene Blumen oder eine Spitzengarnitur — Pariser Luxuswaaren, türkische Teppiche, Südfrüchte, Cameen, Bijouterieen — das waren seine Antworten, und damit brachte er ganz die Mutter auf seine Seite und auch mich, die er für die zweite Mutter Juliens ansah.
Auch Sie, Frau Conrectorin! sagte Isidor mit dem Tone des Entsetzens.
Ja, verzeih 'mir's Gott, auch mich. Wenn der Böse einmal seine Hände im Spiel hat, so braucht er immer die alten Mittel; ich kann den Faust seitdem nicht mehr lesen, noch sehen, denn die Frau Martha ist — gar zu sehr nach dem Leben gezeichnet. Also gut — um dem alten General auszuweichen, kamen die Liebesleutchen hier zusammen, im Garten oder hier im Häuschen, und so hab' ich mein Theil redlich mitgeholfen. Eigentlich mochte ich den Menschen nicht recht leiden, er sprach wenig und ging nie aus sich heraus, ich bin nie dahinter gekommen, ob er ein Duckmäuser oder ein Simpel war, es kann auch bloße Unerfahrenheit und Schüchternheit gewesen sein, aber mich dauerte das junge Blut, und so hatte das Unglück seinen Lauf.
Frau Conrectorin, Sie werden doch nicht — — sagte der Idealist mit niedergeschlagenem Auge.
Freilich werde ich nicht — was denken Sie, Isidörchen, schämen Sie sich! sagte die Frau und gab dem Vetter einen kleinen, sanften Schlag auf den mageren Arm. — Nein, um aber das Schlimmere zu verhüten, drang ich auf rasche Heirath, und so ist's auch gekommen, hier im Gartenhäuschen ward die Hochzeit gefeiert.
Wie — sie ist verheirathet?! — Das war dem Idealisten mit der weißen Weste zu viel. Er sprang auf, sein Hals reckte sich noch einmal so roth und noch einmal so lang aus der rothen Cravatte, während er die gelben Locken schüttelte und die weißen Handschuhe zusammenschlug.
Verheirathet! und ich hielt sie für ein schuldloses, blumenhaftes Wesen, für eine jungfräuliche Vestalin, für eine —
Nun, nun, suchen Sie nur nicht nach Ausdrücken, Vetterchen; ich glaube, Sie gehören auch zu dem Publikum der Galerie und der Dachstube, mitunter auch der Salons, wo man einen Roman nur so weit lies't, bis sie sich gekriegt haben, denn nachher hört angeblich alle Poesie auf. Was seid ihr für Menschen, Vetterchen!
Heirathen ist eine Infamie! schrie der Vetter Isidor mit Stentorstimme. Ich habe genug, Frau Conrectorin, leben Sie wohl!
Eine Infamie, so, so — dann ist's wohl noch eine größere Infamie, Familie zu haben, Vetterchen? — Ihr verdient eigentlich gar nicht auf die Welt gekommen zu sein, denn die Welt hätte wenig an Euch verloren, Isidörchen, und Eure gute Mutter hätte auch besser gethan, Nein zu sagen, statt solchem Stockfisch das Leben zu geben, — da sehe mir doch Einer! — Die brave Frau Conrectorin hatte sich fast in Zorn geredet, der jedoch sofort verflog, als sie sah, daß Vetter Isidor an der Thüre noch einmal umkehrte; sie mußte lachen, denn der Vetter spielte wirklich eine drollige Figur.
Er hatte bereits seinen Strohhut, den ein himmelblaues Band schmückte, auf den blonden Locken, als er sich noch einmal umwandte.
Also Die da drüben, und er deutete mit dem Knopf des Regenschirms auf das Hofgut, hat auch schon Familie gehabt?
Sie lassen einen ja nicht ausreden, Vetter, und zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts weiter hören. Nein, Kinder hat Frau Julia nie gehabt.
Erzählen Sie weiter, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und lehnte sich nachdenklich an einen altmodischen Schrank, auf welchem in chinesischen Vasen alte Blumensträuße aus Schilfblüten und getrockneten Pflanzen prangten.
Die Frau Conrectorin sah den wunderlichen Vetter eine Weile über die Brille weg an, und zwar mit seltsam spöttischem, halb mitleidigem Blick. Dann nahm sie wieder ihren Strickstrumpf und fuhr weiter fort:
Mit der Heirath hatte es noch eine besondere Bewandtniß. Es zeigte sich, daß Herr Aloys Heister ein Mennonit war, und da sie keinen Geistlichen finden konnten, der sie trauen mochte, so mußten sie sich mit einem Civilact begnügen. Das aber war ein eigentliches Unglück. Denn Juliens Verwandten haben auch diese Civiltrauung und damit die ganze Ehe nie anerkannt, und eigentlich ist's auch keine nach unserer Manier, sagte die Conrectorin, na, wir wollen uns nicht von Neuem streiten, darüber ein andermal. — Also gut. Eine Weile ging die Sache ganz nach Wunsch. Aloys und Julia triumphirten und lachten die böse Welt aus, die sie nicht hatte zusammenkommen lassen wollen, und die böse Welt mußte verdutzt stillschweigen und erstickte am Neid, selbst der alte Schnorrigl sagte nichts mehr, er brummte nur und machte Gesten in der Luft. Er war der Einzige, der Herrn Heister nie hat verzeihen wollen. Julia durfte nie wieder das Hofgut betreten, und die bösen Zungen sagten, es sei bei ihm nur der Zorn gewesen, weil er Juliens Vermögen — und das war nicht klein — hätte herauszahlen müssen. Das Vermögen aber wurde in die Parfümeriefabrik gesteckt, und zum Theil auch beim Compagnon angelegt. Eine Weile also ging es ganz gut. Das junge Pärchen bezog eine prachtvolle Wohnung in der Stadt und lebte herrlich und in Freuden, man sah sie auf allen Promenaden fahren und reiten. Julia bekam das Neueste und Eleganteste, was in den Pariser Modemagazinen aufzutreiben war. Ihr Gemahl trug sie auf den Händen, denn der leiseste Wunsch war ihm Befehl, und daß die junge Frau von allen Seiten um ihr Glück beneidet wurde, war nur natürlich. Im Sommer nahm man Landaufenthalt in einem besuchten, vornehmen Bade, den Winter füllten Zerstreuungen aller Art, Concerte, Bälle, Gesellschaften und Maskeraden; zu ihrem Salon drängte sich Alles, was sich zur guten Gesellschaft zählte — sehr natürlich, wo Honig ist, fliegen die Wespen zu, und sie hielten offenes Haus und lebten auf großem Fuß.
Aha, nun kommt der bekannte Hausfreund —
Nein, der kommt nicht, mein kluger Herr Vetter, den überlassen wir lieber den Romanschreibern. Freunde allerdings hatte Aloys von allen Arten und in allen Ständen, denn er hatte es doch verstanden, sich sehr beliebt zu machen. Seinen Leuten bescherte er prächtig und überreich zu Weihnachten, seinen Freunden gab er feine Diners und gemüthliche Feste, ja selbst seine Feinde mußten zugeben, daß er ein ganz besonderes Genie besitze, Landpartieen und Wasserfahrten zu arrangiren, Familienbälle und Maskeraden zu veranstalten. Seine Frau wie seine Schwiegermutter, natürlich auch seine Verwandten und Freunde, erfreute er bei jeder erdenklichen Gelegenheit mit den kostbarsten Geschenken. Zuletzt begann er auch die Künstler zu protegiren und legte eine große, kostspielige Gemäldesammlung an. Daß er Pferde, Equipagen, Dienerschaft besaß, versteht sich von selbst. Kurz, er lebte wie ein kleiner Fürst und gab der goldenen Jugend der Stadt ein nachahmungswerthes Beispiel, wie man seine Mittel mit Geschmack und Eleganz verschwenden solle und könne. Seine Julia, wie gesagt, trug er auf den Händen, und die junge Frau lebte wie in einem glücklichen Traum und Taumel dahin. Es fiel ihr gar nicht ein, zu fragen, woher die Mittel zu dem colossalen Aufwande kamen. Du hast jährlich deine zehntausend und brauchst vor keiner Gräfin und keiner Ministerin zurückzustehen, hatte ihr Mann ihr in den ersten Tagen schon gesagt, und die junge Frau glaubte an ihn wie an ihren Gott. Nannten ihn auch manche vorsichtige und scharfblickende Leute einen Verschwender, so konnte ihm doch Niemand ernstlich gram sein, denn je sinnloser seine Vergeudung, desto mehr entfaltete sich seine persönliche Liebenswürdigkeit. — Wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, kommt es mir vor, als ob er sich mit Absicht in diesen Strudel von Zerstreuungen stürzte, um selbst zu vergessen, über welchem Abgrund er schwebte. Zwar seine Zuckerfabrik wie die Parfümeriefabrik gingen glänzend, und seine Firma gewann mit jedem Jahr einen verbreiteteren Ruf; nur über sein Verhältniß zu seinem Compagnon konnte Niemand klare Auskunft erlangen.
So ging es ungefähr vier bis fünf Jahre in ungetrübtem Glück. Daß er keine Kinder hatte, mochte der einzige Schatten dieses Glückes sein, aber man hörte ihn niemals darüber klagen. — Der plötzliche Tod seiner Schwiegermutter, meiner theuren Freundin, war der erste Schlag, der den wolkenlosen Himmel verfinsterte, aber dieser Trauerfall machte es ihm um so mehr zur Pflicht, die arme Julia zu zerstreuen und sie ihren Verlust vergessen zu machen; man unternahm eine Reise nach Venedig. Damals schon meinten einige böse Zungen, die Reise sei nur ein Vorwand, um sich seinen Verbindlichkeiten zu entziehen. Einige Gläubiger meldeten sich, andere wurden unruhig. Die Katastrophe drohte hereinzubrechen, aber Herr Heister kam mit seiner Frau zur festgesetzten Zeit zurück, heiter und sorglos wie immer. Einige der Gläubiger wurden sofort befriedigt, anderen gab man Sicherheit, den dritten Vertröstungen. Dies genügte für den Augenblick, aber das Mißtrauen war nun einmal erwacht und zu stark, um wieder ganz eingeschläfert zu werden.
Seit dieser Zeit machte Herr Heister öfter kleine Reisen, er kam aber immer verstimmt zurück. Fremde wollen ihn in Wiesbaden und Homburg gesehen haben. Während einer dieser kleineren Reisen, die er stets allein unternahm, wurden Wechsel präsentirt, und das Unglück wollte es, daß Frau Julia zu Hause war. Die junge Frau ruft den Kassier — er erscheint und macht ein bestürztes Gesicht, als er die Wechsel sieht. Frau Julia befiehlt, sie auszuzahlen. Der Kassier sucht nach Ausflüchten, sie wird gereizt und läßt sich zu einer unbesonnenen Aeußerung über seine Pflichttreue hinreißen. Das verletzt den empfindlichen Mann auf das Aeußerste, und er läßt jede Rücksicht schwinden. Mit dürren Worten erklärt er, daß die Kassen erschöpft und überhaupt keine disponiblen Mittel mehr vorhanden seien.
Noch an demselben Abende kam Herr Heister von seiner Reise zurück. Frau Julia erzählt ihm den Vorfall mit ungläubigem Lachen und verlangt, er solle den insolenten Kassier auf der Stelle entlassen. Aber Herr Aloys scheint keine Neigung dazu zu haben; sie wird ernster und dringender, er bleibt zerstreut und nachdenklich, endlich giebt er zu, daß momentane Verlegenheiten wohl vorhanden sein könnten. Frau Julia bietet ihr ganzes Vermögen an, er zuckt die Schultern. Mein Kind, du hast vergessen, daß dies längst in das Geschäft gesteckt worden ist. — Und dein Compagnon? fragt sie. — O, das ist ein vorsichtiger Mann, der hat sich, als ich heirathete, gleich die größere Hälfte des Geschäfts verschreiben lassen, und heute gehört ihm alles, wenn uns dein alter Herr, der General, nicht hilft. Er allein kann uns noch retten!
Noch in der Nacht eilte die junge Frau heraus, um dem Alten ihren Besuch zu machen, den ersten, seit er mit auf dem Hofgute wohnte. Der alte Schnorrigl war nämlich erst herausgezogen, seitdem er pensionirt war, und Juliens Mutter hatte ihm längst zu ihren Lebzeiten das Hofgut verpfändet. Herr Aloys Heister hatte sich nämlich schon früher mehreremale unter der Hand an sie gewendet, und die leichtgläubige, gutmüthige Frau hatte Hypothek über Hypothek aufgenommen. — Als sie starb, beschwor sie den General, alle diese Papiere an sich zu bringen, und so war der Alte factischer Eigenthümer von Juliens Familiengut geworden. Von alledem wußte die junge Frau keine Silbe, als sie sich auf den Rath ihres Mannes an den Alten wendete.
Aha, kommst du endlich? rief der alte General; ist die Stunde da, wo dir die Augen aufgehen, wie es mit dir bestellt ist? — Er ließ sie gar nicht zu Worte kommen, als wüßte er Alles, was sie wollte, Alles, wie es stand. Du bleibst jetzt hier, sagte er noch, ich werde morgen früh meinen Secretär zu dem Menschen schicken, der sich deinen Mann nennt, um seine Bücher zu untersuchen. Dann wollen wir ein letztes Wort mit einander reden.
Die Nacht war zu weit vorgerückt, als daß Frau Julia zurückkonnte, und sie mochte sich durch eine übereilte Entschiedenheit nicht die letzte Hoffnung rauben, die sie auf eine Untersuchung der Bücher setzte. Sie hielt Alles nur für eine momentane Calamität, und um den alten General bei guter Laune zu erhalten, blieb sie die kurzen Stunden.
Am andern Morgen in aller Frühe — es war just um dieselbe Zeit, wie jetzt, wo die Himbeeren reif werden, und ich war gerade hier im Gartenhäuschen auf der nämlichen Stelle — da höre ich plötzlich ein Traben und Rasseln, und ein bepackter Reisewagen kommt angefahren und hält dort an der Brücke. Neugierig, was das zu bedeuten hat, trete ich an das Fenster, da sehe ich, wie Herr Aloys Heister aus dem Wagen steigt und auf das Hofgut losgeht; aber ehe er noch an die Thüre kommt, tritt der alte General auf die Treppenrampe vor dem Hause und befiehlt ihm, draußen zu bleiben. Ueber den Gartenzaun weg haben sie die letzte Unterhandlung geführt; sie war kurz genug, denn auf eine Untersuchung der Bücher wollte sich der Herr Heister nicht einlassen, da es doch zu Nichts helfen würde. —
So, mein Herr, ruft der Alte, aber von mir erwarten Sie Hülfe — es thut mir leid, Ihnen zu sagen, daß Sie umsonst gekommen sind. Von mir haben Sie nichts zu erwarten, nicht einmal nach meinem Tode!
So verlange ich meine Frau von Ihnen! ruft er. In demselben Augenblick tritt Julia auf die Galerie, um zu hören, was es gebe. —
Zu welchem Zwecke verlangen sie meine Enkelin, die Sie angeblich schon Frau nennen? ruft der alte General.
Können Sie es über das Herz bringen, uns in das Elend zu stoßen, so wird Julia mein Schicksal theilen. Ich bin im Begriff, in das Ausland zu gehen, und rufe meine Frau zu ihrer Pflicht, mir zu folgen!
Ja wohl, um ein Pfand zu haben, um uns auszubeuten, ruft der Alte mit Ingrimm, daraus wird nichts, mein Freund!
So zwingen Sie mich, Gewalt zu brauchen, schreit Aloys und stürmt auf die Thür los.
In demselben Moment ruft Julia: Ich komme zu dir! und will sich von dem niedrigen Altan hinunterstürzen, um ihrem Gatten zu folgen, sie that es auch wirklich, brach aber mit einem Schrei zusammen. Im Nu der alte Schnorrigl zu ihr, um sie aufzuheben und zurückzuhalten, und im selben Augenblick zieht Herr Heister ein Terzerol und schießt auf den Alten. Der Schuß ging fehl, glücklicherweise; aber er brachte die ganze Nachbarschaft in Aufruhr. Frau Julia hatte den Fuß gebrochen und mußte in das Haus zurückgetragen werden. Von allen Seiten stürzten Menschen herbei, um — wie es hieß — den Mörder zu fangen. Herr Heister konnte nur mit genauer Noth den Wagen erreichen, um dann sofort allein abzufahren. Es war ein Zeter und Mordio auf dem Platz hier, ein Aufruhr und Getümmel, grade wie auf der Bühne, recht dramatisch, Herr Vetter, recht tragisch, rein zum Herzzerreißen!
Nun, und weiter?
Was weiter, Herr Vetter! Die Sache ist zu Ende. Die Behörden erließen einen Haftbefehl gegen den Flüchtling, der aber hatte längst die Grenze erreicht. Frau Julia lag lange Wochen zwischen Leben und Sterben, und als sie wieder aufstand, war die schöne, junge Frau kaum mehr zu erkennen. Leider fiel die Untersuchung der Bücher noch ungünstiger aus, als man gefürchtet hatte. Die Bücher waren überhaupt völlig in Unordnung. Juliens Vermögen war längst verbraucht, beide Fabriken, sofern sie nicht schon dem Compagnon gehör - ten, hoch überschuldet; auch von dem Verbrauch der Summen, die Juliens Mutter als Hypothek aufgenommen und dadurch ihr eigenes Besitzthum preisgegeben, waren keinerlei Nachweise zu finden. Trotz alledem traf den Herrn Heister doch nicht die ganze Schuld des Unglücks. Er verstand allerdings nicht viel vom Geschäft, er kaufte die Rohproducte zur Fabrication zur unrechten Zeit ein und bekümmerte sich wenig um deren Verwendung. Dann kamen bedeutende Diebstähle vor, die er theils aus falscher Furcht, sich lächerlich zu machen, theils aus falscher Humanität, Anderen nicht schaden zu wollen, verschwieg. Inwiefern der Kassier selbst mittelbar oder unmittelbar bei den letzten verzweifelten Finanzoperationen betheiligt war, ist nie zu Tage gekommen: gleich nach der Abreise Heister's war auch er unsichtbar geworden, und es läßt sich vermuthen, daß er sein Schäfchen längst vorher ins Trockene gebracht hat. Herr Aloys hatte außerdem oftmals Bürgschaft geleistet für lockere Zechbrüder; seine Güte war oft mißbraucht worden von allerlei Abenteurern und leichten Gesellen. Vielleicht hätte ihn die Bürgschaft des alten Generals und eine neue, überwachte Ordnung noch einmal herausreißen können, aber die moralische Bürgschaft fehlte vollkommen, daß Aloys jemals ein anderer Mensch werden könne. Es war ihm von Jugend auf zu gut gegangen, und das Feuer der Noth und Trübsal hatte ihn noch niemals stählen können. Genug, das Factum stand fest: er war ein Bettler geworden, und Frau Julia ward in denselben Abgrund mit hinunter - gerissen. Die Gläubiger belegten Alles mit Beschlag, soweit nicht der Compagnon Ansprüche erhob. So ging Alles verloren, und die Philister behielten vollständig Recht, die von Anfang an Unheil prophezeit hatten. Die arme Julia mußte aber noch froh sein, daß der alte Schnorrigl ihr ein Asyl auf dem Hofgut gab und sie als Waise zu sich nahm, als hilflose Waise, der man das Gnadenbrod giebt, ja, Vetterchen, das Gnadenbrod, das ist das Ende der sogenannten Poesie und der sogenannten Ideale!
Eine lange Weile saß der Herr Vetter Isidor wie versteinert, dann sagte er mit kleinlautem Ton:
Aber damit kann doch die Geschichte nicht zu Ende sein. Was ist denn aus dem Mann geworden?
Doch, die Geschichte ist zu Ende, Vetterchen, auf immer zu Ende. Eine Weile kamen aus dem Auslande noch flehende, bald drohende Briefe aus tiefster Noth heraus. Es hieß, er sei Apotheker geworden, nachher Commissionär, zuletzt Zettelträger und Colporteur; wer weiß, was Wahres daran ist. Zuerst verlangte er wiederholt, daß Julia zu ihm kommen solle, und auf jeden solcher Briefe fiel das arme Kind wieder in lebensgefährliche Krankheit. Zuletzt hieß es, er sei gestorben; seitdem ist sie ruhiger geworden und ergiebt sich in ihr trauriges Schicksal. —
Sie ist Wittwe? rief Vetter Isidor, mit Begeisterung aufspringend und mit langen Schritten das Gartenhäuschen durchmessend, warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt, Frau Conrectorin, und spannen mich auf eine so entsetzliche Folter!
Ja wohl, Vetterchen, sie ist Wittwe, aber der alte General macht ein Geheimniß daraus, um etwaige neue Annäherungen und Romane unmöglich zu machen. Das arme Kind lebt unter strengster Aufsicht, darf keinen Brief fortschicken und keinen empfangen, den der Alte nicht gelesen, ebensowenig darf sie Besuche annehmen oder erwidern, ach, und das thut mir grade am allerwehsten, daß mir der Alte so zu sagen das Haus verboten hat, denn mich hält er für die Anstifterin des ganzen Unglücks, und er hätte mir wohl schon das Haus über dem Kopfe weggekauft, wenn es feil wäre, oder wenn ich Schulden hätte. Nun wissen Sie Alles, Vetter Isidörchen, wie die Sachen stehen. Am besten, Sie lassen sich jeden Gedanken an die schöne Frau Julia vergehen und machen, daß Sie in das Theater kommen. Die Poesie, die Traumwelt, das ist Ihr Reich, Vetterchen, die Wirklichkeit ist nichts für Sie! —
Vetter Isidor stand noch eine geraume Weile am Fenster und schaute mit gleichsam andächtigen Blicken zu dem Hofgut hinüber. Seine Hände waren auf dem Rücken gekreuzt und stützten sich dort auf den Knopf des Regenschirmes. Seine wasserblauen Augen hatten den schwärmerischsten Ausdruck, dessen sie fähig waren, und der flohfarbige Sommerpaletot schien seine dunkle Farbe noch um einen Grad tiefer nachgedunkelt zu haben, um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen.
Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können.
Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen.
Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß.
Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. — Aha, hab 'ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten — endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem Vermögen hat man ihm die Eroberungen immer so nahe gelegt, daß sie den Reiz verloren, und sein Mißtrauen verdarb Alles. Na nur zu, Isidörchen, nur zu, ich wollte mich freuen und selbst gerne vergessen, was ich vor Jahren geträumt habe. Das wäre eine Partie für dich, wie keine, aber man darf's um Himmels willen nicht verrathen, daß man die Sache wünscht und begünstigt, sonst ist Alles wieder verschüttet. Nun ich denke, jetzt ist er auf dem besten Wege.
Damit trippelte die gutmüthige Frau in das Haus zurück und lächelte stillvergnügt in sich hinein, wie Jemand, der ein gutes Werk gethan hat.
Die Nacht sank herab auf Wald und Strom, auf den Fahrweg und die Brücke, auf das schindelgedeckte Landhäuschen und das weitläufige Hofgut, mit seinem schönen, eisernen Geländer, mit seinen hohen Mauern und seiner palastähnlichen Front. Durch die laue Nacht klang von einem nahen Wirthshause her Gesang und Citherspiel — bisweilen schlug ein Hund in der Ferne an oder klappte ein Fenster in den lustigen Villen und Landhäusern. Ferner aber braus'te wie ein meilenweites Stromesrauschen das Geräusch der großen Stadt, mit ihren rollenden Wagen, ihren wimmelnden Menschenmassen, ihren tausenden von Gasflammen, deren Widerschein wie ein blaßrothes Nordlicht am dunklen Himmel stand. Das Hofgut des Herrn von Schnorrigl und das Landhaus der Frau Conrectorin lagen in einer der weitläufigen Vorstädte, die, von Gärten und Wald umgeben, zugleich ländlichen Charakter haben und entlang dem Strom eine Menge anmuthiger Einsiedeleien bieten, den Weltmüden ein Asyl, den Kranken eine Erholung und den Ausgestoßenen eine sichere Zuflucht, dahin die bösen Zungen nicht dringen, noch die Laster der Großstadt.
Und es war wieder an einem Sonntage, und die treffliche Frau Conrectorin saß wieder in ihrem Gartenhäuschen am Wasser, philosophirte über Menschen und Dinge und schälte Aepfel, welche gewelkt werden sollten.
Vetter Isidörchen war einen Sonntag ausgeblieben, und das stimmte die gute Frau Conrectorin, die über Alles die regelmäßige Ordnung liebte, ziemlich verdrießlich; sie hatte sich an den wundersamen Pedanten, der von nichts träumte, als von Idealen und Abenteuern, nicht erst seit gestern gewöhnt.
Sonderbar — zuerst war sie gefaßt darauf, den Schwärmer in Folge ihrer Mittheilung schon am nächsten Tage wieder erscheinen zu sehen, denn er hatte freie Zeit genug, und sein Interesse für die schöne Nachbarin war doch sicher kein Strohfeuer gewesen. Sollte sie den empfindlichen alten Junggesellen wirklich beleidigt haben, daß er nun schon vierzehn Tagen hingehen ließ, ohne etwas von sich hören zu lassen oder sich selbst zu zeigen — oder war ihm ein Unfall zugestoßen, war er krank geworden? Die weichmüthige Frau Conrectorin beschloß etwas zu thun, nur war sie noch unentschieden, ob sie selbst in die Stadt fahren, oder durch den Milchmann vorerst Erkundigungen einziehen sollte.
Das Letztere erschien als das Empfehlenswerthere, und sie hatte bereits dem lahmen Joseph eingehende Aufträge gegeben, wie er ein schönes Compliment von der Frau Conrectorin ausrichten solle und so weiter. Zur Unterstützung ihrer Einladung hatte sie einen großen Korb voll frischer Butter in grünen Weinblättern, nebst einem gerupften Huhn, zwei Paar junger Tauben und einer Schale frischgepflückter Himbeeren beigefügt. Der lahme Joseph wollte sich so eben mit vielen Kratzfüßen entfernen, als plötzlich schwere Tritte auf der kleinen Brücke erklangen.
Frau Conrectorin sah auf und erkannte mit freudiger Ueberraschung den Vetter, der mit großen Schritten einhergestiefelt kam. Er war diesmal in schwarzem, altmodischem Frack, und statt des Strohhutes mit himmelblauem Bande thronte der unvermeidliche Cylinder auf den gelben Locken, auch die rothe Cravatte war von einer schwarzen verdrängt, so daß Vetter Isidor heut halb wie ein Candidat der Theologie, halb wie ein Oberkellner oder Leichenbitter aussah.
Was hat denn das zu bedeuten? sagte die Frau Conrectorin fast erschrocken und ließ den eben geschälten Apfel zu Boden gleiten.
Zwei Minuten später stand Vetter Isidor im Gartenhause. Sein ganzes Wesen hatte heute etwas Feierliches, Gehobenes, Verjüngtes. Seine Stirne strahlte wie die eines Predigers, der eben eine weihevolle Predigt gehalten, seine Augen schimmerten in einem verklärten Glanze, und die weiße Weste, wie die neuen weißen Handschuhe vervollständigten den Ausdruck des Festtäglichen.
Nun, wo kommen Sie denn heut her, Vetterchen? sagte die Frau Conrectorin. Ich dachte schon, Sie wären krank, oder hätten etwas übel genommen. — Und wie feierlich Sie kommen, ganz in Gala, als müßten Sie zur Audienz bei Hof! Ja, was hat es denn nur gegeben? Eigentlich sollte ich Ihnen recht böse sein, Vetterchen, nicht einmal eine Entschuldigung seit vierzehn Tagen.
Vetter Isidor strich in halber Verlegenheit mit der Ellenbogenseite des Aermels den schwarzen Seidenhut glatt, und seine wasserblauen Augen umschleierten sich verschämt mit den großen Augenlidern und ihren dichten, hellblonden, fast weißen Wimpern.
Es ist wahr, es mag den Anschein haben, hochverehrte Frau Conrectorin, sagte er beklommen wie unter einer unsichtbaren Centnerlast — aber ich sage Ihnen, ich habe Welten erlebt, Welten überwunden, Welten in mich aufgenommen! O meine theure Frau Conrectorin — und dabei haschte er nach ihrer Hand — wenn ich Ihnen nur eine schwache Ahnung geben könnte von der erhabenen Freude, von dem heiligen Entzücken — von den unsagbaren Wonnen — alle Worte unserer irdischen Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken — und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte — o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen —
Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen.
Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen — einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt —
Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn?
Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation.
Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor.
O wie prosaisch! Wie schmerzt es mich, Frau Conrectorin, daß Sie eine hochgestimmte Seele, ein fühlendes Herz so wenig verstehen wollen, verstehen können! — Ich sehe, ich muß ausführlicher sein, fuhr er nach einer Pause fort. Sie waren das Letztemal so freundlich, ein erschütterndes Lebensgemälde zu entwerfen von einer Dulderin, einem Seraph, einem Wesen, welches — —
Nehmen Sie mir's nicht übel, Vetterchen, wenn ich Sie unterbreche, sagte die Conrectorin etwas verdrießlich. Ich habe es schon hundertmal bereut, daß ich fremde Geheimnisse nicht besser zu bewahren verstand. Es thäte mir sehr leid, wenn Ihr reines, unerfahrenes Gemüth dadurch alterirt und mit unheiligen Dingen erfüllt würde.
Unheilige Dinge — ich verstehe Sie heute nicht, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und richtete den matten Blick seiner wasserblauen Augen, so fest er konnte, auf die schelmische Frau.
Sprechen Sie mir, wovon Sie wollen, fuhr die Frau Conrectorin fort — nur nicht von Der da drüben.
Nur nicht von Der da drüben? — Vetter Isidor saß in der That jetzt mit offenem Munde.
Ja wohl, Vetterchen, fuhr die Frau fort, und diesmal mit eifrigstem Tone. Gott weiß, was für eine Schilderung ich gemacht habe, und wie ich dazu gekommen bin, Ihnen jene dumme Geschichte zu erzählen. Es war eben das reine Mitleid, aber man ist immer noch unbedacht in seinen alten Tagen; inzwischen sind mir die Augen aufgegangen, und ich habe Dinge erfahren, Vetterchen, Sachen von haarsträubender Art. Wollen Sie wohl vom Fenster weg? Was haben Sie denn da zu suchen? Das Gucken hilft Ihnen doch nichts, und wenn Sie ein Riesenteleskop nähmen, statt Ihres Opernglases, — wirklich, es thäte mir leid, wenn Sie jene Person nicht längst wieder vergessen hätten —
Person! rief Isidor mit zorniger Fistelstimme. Ich muß schon bitten, Frau Conrectorin, sich näher zu erklären: was in aller Welt kann Sie veranlassen, sich eines solchen gravirenden Ausdrucks zu bedienen?
Mein Gott, sagte die Frau Conrectorin verdrießlich, wer lernt ganz aus in der Menschenkenntniß? Ja, ja, diese Person habe ich einst auf meinen Knieen geschaukelt als Kind und habe sie beten gelehrt und in die Kirche geführt. Nachher ist Glück und Unglück über sie gekommen, und sie lebte wie eine Heilige, wie eine Büßerin, ehrbar und streng und ein wahres Muster von Tugend, und nun macht sie mir auf einmal solche Streiche!
Streiche! und Isidor schnellte abermals empor, wie ein Hahn, der mitten im Krähen von einem Stein getroffen wird.
Ich will nichts davon sagen, daß sie seit einiger Zeit in die Stadt läuft, fuhr die Conrectorin fort, obschon es sich nicht schickt; aber was sagen Sie dazu, Vetterchen: ich bin dahinter gekommen, daß sie heimliche Zusammenkünfte hat, ganz offen im Stadtpark, die un - vorsichtige Person, die alle Welt für blind ansieht. O, ich lasse mir kein X für ein U vormachen, ich habe ihr den lahmen Joseph nachgeschickt, und der hat Alles gesehen, Alles, Vetterchen. Nein, daß ich das an ihr erleben muß! Und was sagen Sie denn dazu, Vetter? Sie sind ja auf einmal ganz still geworden?
Auf Vetter Isidor's Antlitz hatte während dessen ein merkwürdiger Mienenwechsel stattgefunden. Der Ausdruck der Entrüstung war erst in den des Staunens und Verblüfftseins, dann des Spottes, endlich der völligen Ruhe übergegangen.
In den Stadtpark geht sie? sagte er phlegmatisch langsam; nun, wenn es weiter nichts ist —!
Wenn es weiter nichts ist, Vetterchen? Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen!
Man kann ja nicht wissen, wen sie dort spricht, sagte er mit unverwüstlicher Ruhe; es kann ja ein ordentlicher Mensch sein.
Ja wohl, „ ordentlicher Mensch “! rief die Conrectorin in voller Empörung. Ich habe mich auch darnach erkundigt. Ein Wüstling soll es sein, ein frecher Mädchenjäger, ein Mensch voll Schulden und vom allerschlechtesten Ruf — aber so sind die Weiber — ja leider muß ich's selbst sagen — statt sich einen ehrbaren, discreten, soliden Anbeter zu wählen, werfen sie sich dem ersten, besten Abenteurer an den Hals, und ein Patron, der mit allen sieben Todsünden gezeichnet ist, der ist ihnen dann der interessanteste — das nennen sie dann romantisch und dämonisch, und Zucht und Ehre und Tugend zerstieben wie Spreu im Winde. — Ja wohl, das ist dann das hohe Lied von der Leidenschaft — na, ihr Großvater sollte nur eine Ahnung davon haben, und er jagte sie aus dem Hause, dazu kenne ich den Alten!
Damit dieses eben nicht geschieht, Frau Conrectorin, deßhalb bin ich hier, sagte der Vetter mit räthselhaft lakonischer Kürze und Bestimmtheit.
Sie, Vetterchen? rief die Conrectorin erstaunt. Ja, wissen Sie denn schon darum und lassen mich reden und reden? So kennen Sie wohl auch diesen verruchten Wicht ohne Ehre und Gewissen, — o ich könnte ihn vergiften, wenn ich ihn hier hätte — noch ein Täßchen Kaffee gefällig, Herr Vetter? warf sie mit geschwätziger Zunge ein, fuhr aber doch gleich wieder fort in ihrem Zorne: aber ich weiß schon, was ich thue; was meinen Sie, Vetterchen? die Polizei muß uns helfen, dies berüchtigte Subject unschädlich zu machen.
Nein, nein, Frau Conrectorin, lassen wir die Polizei lieber aus dem Spiel, sagte Vetter Isidor mit selbstgefälligem und verschmitztem Lächeln. Ich glaube, wir sind immer noch besser, als unser Ruf.
Vetterchen, wie meinen Sie das? fragte die Conrectorin fast erschrocken.
Nun, flüsterte der verschämte Idealist, indem er die Hand an seinen Munde führte, als handelte es sich um ein wichtiges Staatsgeheimniß: was sagten Sie dazu, Frau Conrectorin, wenn jenes berüchtigte Subject kein Anderer wäre — als ich selbst?
Frau Conrectorin betrachtete den Verwegenen einen Augenblick, dann brach sie in ein lautes, unaufhaltsames Lachen aus.
Sie, Vetterchen? Nein, das machen Sie mir nicht weiß — mir nicht, um die Welt nicht!
Vetter Isidor stand beleidigt auf.
Wenn Sie ausgelacht haben werden, Frau Conrectorin, bitte ich, es mir mitzutheilen. Ich werde dann in Erwägung ziehen, ob ich Ihnen noch mehr sagen darf, einstweilen Gott befohlen, ich werde im Garten promeniren — und damit wollte er zur Thüre hinaus.
Aber eilfertig folgte ihm die Conrectorin und hielt ihn am Zipfel seines Frackes fest.
Nein, nein, mein Schatz, hier geblieben, hier geblieben und gebeichtet! Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, so könnte ja Alles gut werden; denn Sie, Vetterchen, sind doch höchst ungefährlich!
Meinen Sie, Frau Conrectorin? sagte der Vetter mit entschieden verletztem Selbstbewußtsein. Nun, das käme denn doch immer noch sehr darauf an, meine hochverehrte Frau.
Frau Conrectorin war nahe daran, wieder in lautes Lachen herauszuplatzen, aber sie nahm sich zusammen.
Ja, ja, ja, ich will ja glauben, daß Sie ein wahrer Don Juan sein können, wenn Sie wollen, Vetterchen, aber nun erzählen Sie! — Damit setzte sie sich, strich ihre Schürze glatt und rückte ihre Hornbrille zurecht, als wenn sie dann deutlicher sehen könnte, was sie hörte.
Frau Conrectorin sind wohl sehr neugierig, sagte der Vetter mit neckendem Zögern.
Mein Gott, machen Sie sich nur nicht so kostbar, rief die Frau zwischen Lachen und Unwillen. Wenn Sie nicht beichten wollen, so behalten Sie lieber Alles für sich, ich bin gar nicht begierig darauf. Es wird auch was Rares sein, was Sie zu erzählen haben.
Seit wann kennen Sie denn die junge Frau? fragte sie dann mit verändertem Ton.
Seit einigen Wochen bereits, ja ich kann sagen, seit zwei Monaten schon genoß ich das unaussprechliche Glück, zuweilen mit diesem seltnen Wesen zu verkehren, ohne jedoch sie zu kennen, und deßhalb sahen Sie mich vor vierzehn Tagen so erstaunt, sie plötzlich hier zu sehen.
Damals kannten Sie sie schon — und spielten also den Duckmäuser? O Sie schlaues, heimtückisches, durchtriebenes Vetterchen!
Die Sache war so, fuhr Isidor fort. — Sie wissen, Frau Conrectorin, ich bin gewöhnt, jeden Nachmittag meinen Kaffee in Achatsried zu trinken und dann auch wohl ein Bad zu nehmen. Die Regelmäßigkeit geht mir über Alles, und deshalb bin ich auch Gottlob immer gesund geblieben und habe die Skropheln endlich aus dem Felde geschlagen — dieses Erbübel unsrer Familie. Doch wo blieb ich doch stehen? Ganz recht, in Achatsried — Sie kennen doch den lieblichen Ort, Frau Conrectorin? Man geht durch den Stadtpark über die Brücken, man sieht dort weit in das Thal hinaus, und flußabwärts in die unermeßliche Ebene. Das ist mein Lieblingsplätzchen, weil es allerlei Gedanken anregt. Man hört die Wasserfälle rauschen im Seitenthälchen, man übersieht die menschlichen Wohnungen und Vorstädte mit ihren Gärten und Wiesen. Man kommt in einen Zustand contemplativer Beschaulichkeit nach innen und außen, und wie Schiller so schön sagt — — —
Nur keine Citate, Vetterchen, und keine Beschreibungen. Sie wollten ja von Frau Julia erzählen —
Ich nähere mich schon diesem Gegenstand, Frau Conrectorin. Sie wissen also, der Weg nach Achatsried geht durch den Stadtpark. Man kommt dabei an einem lustigen Buchenwäldchen vorüber, dicht neben den alten Ulmen. — Schon einigemal im Frühling sah ich dort eine Dame auf einer Bank sitzen, oder vielmehr ich sah sie nicht, denn die Bank steht ziemlich versteckt, aber ein schöner Schwalbenschwanz, dem ich schon lange nachstellte, führte mich eigentlich auf die Spur, denn er flatterte vom breiten Wege in das Dickicht, und als ich ihm folgte, fand ich ihn sitzen auf den Schultern einer schönen, jungen Frau, die dort unbeweglich saß und in einem Buche las.
Ohne an etwas Arges zu denken, wollte ich meinen schönen Schwalbenschwanz, papilio machaon heißt er, Frau Conrectorin, ergreifen, als mir ein weißes Hündchen entgegenfuhr. Ich entschuldigte mich und setzte meinen Weg weiter fort. Einige Tage später sah ich abermals die schöne, junge Dame, aber auf einer anderen Bank. Ich muß es gestehen, daß mir dies höchst gleichgültig war, Sie kennen ja meine Ansichten über die modernen Frauen, aber nicht gleichgültig war mir der kleine, weiße Köter, der mir jedesmal kläffend entgegenfuhr — nun habe ich aber von Natur aus dieselbe Aversion gegen Hundegebell, wie der große Goethe — Sie wissen Frau Conrectorin, der Dichterfürst konnte drei Dinge nicht leiden — —
Bitte, keine Literaturgeschichte, Vetterchen, nur bei der Sache geblieben —
Gut also, um auf besagtes Hündchen zurückzukommen, so trug ich glücklicherweise ein Stückchen Zucker bei mir. Sie wissen, Frau Conrectorin, ich nehme niemals den ganzen Zucker, den man so verschwenderisch in den Kaffeehäusern vergeudet — denn der allzusüße Trank verursacht mir leicht Zahnweh — gut also, ich nahm das Stückchen Zucker und warf es dem kleinen, kläffenden Köter hin, der es begierig verschlang. Den zweiten Tag versuchte ich denselben Kunstgriff mit etwas Semmel, und ich kann sagen, mit nicht viel weniger Glück, o man muß nur die Eigenthümlichkeiten der Thiere studieren — ein jegliches Thier hat seine individuellen, man könnte sagen, persönlichen Qualitäten — —
Ich bitte Sie, Vetterchen, um des Himmels willen keine Naturgeschichte. Wie benahm sich denn Frau Julia dabei?
Darauf wollte ich eben kommen; sie rief jedesmal das Hündchen zurück und wollte es nicht leiden, daß es etwas aus fremder Hand annähme. Da mußte ich denn natürlicher Weise das Hündchen vertheidigen, und so kamen wir allmählich in das Gespräch — zuerst einige gleichgültige Worte, das nächstemal wurden es mehr —
Sie sind köstlich, Vetterchen, rief die Conrectorin; was gäbe ich darum, wenn ich Sie hätte sehen können in dieser romantischen Situation! Wovon haben Sie denn gesprochen? —
O von allerhand, von Hunden und Eichhörnchen, von Shakespeare und Linné und so weiter. Die Dame war unendlich gütig, aber sie schien auch unendlich traurig zu sein. Ein süßes, dunkles Geheimniß schien um ihre Gestalt zu schweben, und jedes Wiedersehen hatte einen unsagbaren magischen Reiz für mich. Sie war nicht täglich dort, nur zuweilen, und immer schien es ein holder Zufall zu sein, der uns wieder zusammenführte, denn fast niemals traf ich sie auf derselben Bank wieder. — Einmal wagte ich es, neben ihr Platz zu nehmen, da erhob sie sich sofort, ein andermal bat ich sie um die Gunst, meine Begleitung anzunehmen — da sagte sie mit entschiedenster Zurückweisung: Ich muß bitten, mein Herr, mich zu verlassen. O wenn Ihnen diese Begegnung unangenehm ist, mein Fräulein, sagte ich, so kostet es Ihnen nur ein Wort, mich nie wiederzusehen. Da sah sie mich mit einem Blicke an, Frau Conrectorin, mit einem Blicke, so wehmüthig und innig, so vertraut, leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder — o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. — O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden! —
Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt.
Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte — nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter —
Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist.
Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn noch immer Nichts? Sie sind nur ein harmloses Spielzeug für sie gewesen —
Nun, nun, Frau Conrectorin, es wird sich zeigen, ob man harmlos bleiben wird, es wird sich zeigen, wie lange man Widerstand leisten wird — o, meine verehrte Frau Conrectorin, man weiß immer noch seinen Mann bei den Frauen zu stellen —
Ja wohl, Sie sind unwiderstehlich, Sie sind höchst gefährlich, Vetter Isidörchen, lachte die Frau, ohne sich mehr Zwang anzuthun. Sagen Sie einmal, wie viel Abenteuer haben Sie wohl schon erlebt in Ihren schönen Zeiten?
Vetter Isidor schlug die wasserblauen Augen nieder und erröthete. Ich werde Niemand compromittiren, sagte er, sonst könnte ich wohl erzählen von einer Dame —
Der Sie einmal aus dem Wagen geholfen haben, und da sie den Tritt verfehlte, sprang sie und lag Ihnen plötzlich an der Brust; das ist bekannt, Vetterchen; weiter! —
Von einem Fräulein —
Das Ihnen einmal eine Brieftasche gestickt hat, weil Sie die Briefe ihres Verlobten heimlich besorgten — ist auch bekannt! —
Von einer Gräfin —
Der Sie ein verlorenes Taschentuch zurück brachten, und die Ihnen dafür eine Sonate von Beethoven vorspielte —
Dann von einem Mädchen vom Lande —
Ja wohl, das Sie beinahe geheirathet hätten, wenn sie nicht schon verlobt gewesen wäre, oder vielmehr, mit der Sie sich verlobt hätten, wenn Sie nicht einen dummen Zank angefangen hätten wegen Romeo und Julia — wissen Sie noch, Vetterchen? Sie sind doch eigentlich schon in der Jugend unter die Leute gegangen, die einen Zopf tragen, einen ellenlangen Zopf.
Spotten Sie nur, Frau Conrectorin, spotten Sie nur, sagte Isidor mit einem Seufzer. Sehen Sie, das war ewig mein Unglück mitten im Glück — mein tragischer Punkt. Immer stieß ich auf Andere, auf elende Schranken, auf unglückliche Barrieren, die der freien Entwicklung meines Genius entgegentraten! Der alte Neid der Götter gegen die allzu Glücklichen — —
Sie sind ein komischer Philosoph, Vetterchen, sagte die Frau Conrectorin, aber wie steht es denn diesmal? Ich dächte, Sie wären noch nicht zu Ende mit Ihrer neuesten romantischen Geschichte.
Doch, ich war zu Ende, in diesem Stadium zu Ende, Frau Conrectorin. Von dem Augenblick an, wo Frau Julia mich hier entdeckte und daraus schließen konnte, daß ich ihre Wohnung, ihren Namen, ihre Familie endlich ausfindig gemacht, ist sie niemals wieder im Stadtpark erschienen.
Aha, sie fürchtet den Verfolger, den Don Juan, sagte die Conrectorin lachend — nun, gehen Ihnen noch nicht die Augen auf, Vetter?
O, was wollen Sie, Frau Conrectorin, wie häßlich sind Ihre Deutungen, ich sage Ihnen, ich durchschaue dieses himmlische Geschöpf — sie will eben nicht, daß eine heilige, reine Neigung vor den Augen der Welt entweiht werde, sie will meine gütige Fee, mein Seraph, meine Isis sein im Schleier des Geheimnisses. Aus diesem Grunde allein bin ich auch vierzehn Tage ausgeblieben und nicht einmal zu Ihnen gekommen, Frau Conrectorin, um Frau Julien zu beweisen, daß ich sie nicht verfolge, daß es reiner Zufall war, der sie mich hier entdecken ließ.
Das muß man sagen, Sie sind ein discreter Mann, Vetterchen.
Auch ein vorsichtiger, Frau Conrectorin. Ich bin auch deßhalb weggeblieben, um mich selbst auf die Probe zu stellen, ob ich wirklich schon in Fesseln schmachtete — das Resultat war das günstigste: ich habe überwunden, ich bin in keinen Fesseln!
Und zur Belohnung dafür kommen Sie wieder, Vetterchen? Sie sind wirklich köstlich, aber auf diese Manier kommen Sie keinen Schritt weiter.
Das wird sich zeigen, Frau Conrectorin; ich bin nicht so prüde, mich selbst zu verleugnen. Alles, was ich Ihnen sage, habe ich ihr auch geschrieben —
Sie haben geschrieben, Unglücksmensch? — rief die Conrectorin wirklich erschrocken, — dann ist Alles aus!
Vetter Isidor lächelte mit voller Ueberlegenheit des Geistes und sagte:
Sie werden schon noch daran glauben lernen, Frau Conrectorin.
Was in aller Welt, Vetterchen?
Daß man nicht ohne Eindruck auf dieses himmlische Frauengemüth geblieben ist — Sie hat mir auch geantwortet.
Geantwortet! Vetter, entweder Sie sind nicht bei Sinnen, oder Frau Julia hat den Kopf verloren — übrigens, was liegt an einer Antwort? Sie wird Sie schon in Ihre Schranken zurückgewiesen haben —
Sie belieben sich seltsam auszudrücken, Frau Conrectorin. Der Brief ist so wie ich vermuthete und erwartete, hier lesen Sie selbst — und er zog ein zerknittertes Blättchen aus seinem dicken Notizbuch, das er aus der Brusttasche des Frackes nahm. Die Frau Conrectorin mußte wieder lachen, als sie sah, daß er dies Heiligthum „ auf dem Herzen “trug und sie las:
„ Verehrter Herr! Wiederholt muß ich Sie bitten, eine Unglückliche nicht zu verfolgen, die ihr letztes Asyl verlöre, wenn es jemals ihren Verwandten bekannt würde, daß sie so unvorsichtig gewesen, mit einem Fremden zusammenzutreffen. Sie haben sich zwar in den Schranken des Anstandes gehalten, und diese Zartheit hatte bereits mein Vertrauen gewonnen. Seit ich jedoch erfahren mußte, daß Sie mich bis in meine Wohnung verfolgen, seit ich vermuthen darf, daß Sie nun die traurige Lage, in der ich mich befinde, in ihrem ganzen Umfange kennen, muß ich darauf verzichten, Sie wieder - zusehen. Ich würde damit meinen guten Namen auf das Spiel setzen und mir unabsehbare Verlegenheiten bereiten. Ich weiß Niemand auf der Welt, der etwas zu meiner Rettung beitragen könnte, und gesetzt auch, Sie wären vielleicht der Einzige gewesen, der mein Befreier werden konnte, so hat Ihre Zudringlichkeit dieses Vertrauen im Keim zerstört. “
Gottlob! sagte die Conrectorin, nachdem sie den wunderlichen Brief gelesen, die arme Julia ist doch brav geblieben und weiß am Besten, was sie sich schuldig ist. Nun, was wollen Sie noch, Vetterchen? Die Sache ist aus.
Aus in jener Form, aber sie muß in einer neuen Form beginnen, und dazu müssen Sie mir rathen und helfen, Frau Conrectorin.
Ja, wie soll ich in aller Welt?
Mit Einem Wort, wertheste Freundin, Sie müssen gestatten, daß wir in diesem Gartenhause Zusammenkünfte haben dürfen, Sie kennen Frau Julien, und es wird sich sicherlich leicht machen lassen. Lesen Sie diesen merkwürdigen Brief noch einmal — fällt Ihnen nichts daran auf? — o ich sage Ihnen, Frau Conrectorin, wir kennen die Sprache der unterdrückten Leidenschaft, der verschleierten Glut, der reizendsten Schalkheit und der fieberhaften, sich vergebens verleugnenden Ungeduld; lesen Sie nur, lesen Sie; im Grunde wünscht Julia nichts Anderes, als ein baldiges Wiedersehen, eine schleunige Erlösung, o man muß nur die Lettern zu deuten verstehen! Was Talleyrand von der Sprache sagt, daß sie die Gedanken verberge, gilt in noch viel höherem Grade von der Schrift. Nun, was meinen Sie, Frau Conrectorin?
Sie sind ein Narr, Vetterchen, ein completer Narr! rief die Conrectorin in heller Entrüstung. In diesem Gartenhaus ein Rendezvous? Das fehlte noch!
Aber — warf der Idealist etwas eingeschüchtert ein — Sie haben doch damals ihre Liebe protegirt, wenn ich Ihrer Erzählung Glauben schenken darf!
Das war ganz etwas Anderes — das war ein solides Verhältniß, ein loyaler Brautstand vor der Hochzeit. Ja, wenn Sie im Stande wären, einen Entschluß zu fassen, Vetterchen — einen muthigen Entschluß — wenn Sie Frau Julien wirklich heirathen wollten, wozu dann die krummen Wege? — Gehen Sie einfach zu ihrem Großvater und halten Sie um ihre Hand an wie ein ehrlicher Mann, nachher können Sie Ihre Braut alle Tage bei mir sehen, Vetterchen. — Das wäre auch für mich der einzige Weg, beim General wieder in Gnaden zu kommen.
Vetter Isidor ging mit starken Schritten im Gartenhaus auf und ab; seine langen Arme fuhren wiederholt mit kühnem Schwunge empor, um die ausgespreizten Finger in den hobelspanblonden Locken wühlen zu lassen.
Sie sind grausam, Frau Conrectorin, Sie sind ohne Idealität, ohne Poesie — Sie haben kein Verständniß, kein Herz, kein sympathisches Gefühl für die erhabensten Regungen der Seele. — Sie suchen nach Ausflüchten und Vorwänden, um zu verbergen, daß in Ihrem Gemüth alle Altäre umgestürzt, jeder letzte Funke des heiligen Feuers längst erloschen ist!
Vetterchen, hören Sie endlich auf mit Ihren bombastischen Redensarten, oder Sie machen mich ernstlich böse, sagte die Frau, indem sie sich dicht vor ihn stellte. Ich denke, ich habe mich deutlich genug ausgesprochen. Wollen Sie Frau Julien heirathen — ja oder nein?
Heirathen — auf keinen Fall!
Die brave Frau Conrectorin stand starr. Ja, was wollen Sie denn, Vetterchen? wollte sie sagen, aber der Laut erstarb auf ihren offenen Lippen.
Sie wissen, fuhr der Vetter mit gesteigerter Emphase fort, wie ich in diesem Punkte denke — kommen Sie mir nicht mit Ihrer Philistermoral, mit dem Kochlöffel der Tugend und Sittlichkeit. Muß es denn gleich geheirathet sein, wenn die Seelen einig sind in heiliger Weihe? Würden Sie nicht selbst lachen und spotten, wenn Faust höflichst um Jungfer Gretchen angehalten hätte, würden Sie es nicht selbst verächtlich und gemein finden, wenn alle jene hohen, ewigen Gestalten einer Beatrice, Vittoria, Laura, Magdalena und so weiter glücklich unter die Haube gekommen wären, damit sie vor dem Richterstuhl der Kaffeeschwestern und Stadtfraubasen beständen — damit die Nachwelt den Trost hätte, daß nunmehr jedes Pensionsfräulein, jeder Backfisch ihre Ge - schichte lesen dürfe, ohne an ihrem ewigen Seelenheil Schaden zu leiden?
Ja, aber um des Himmels willen, was wollen Sie denn sonst, Vetter? Die Sache muß doch einen Zweck haben und ein Ziel!
Ziel und Zweck — die Sprache der nüchternen Utilitarier, der Nützlichkeitsmenschen, die keine blasse Ahnung haben, was es heißt, wenn eine heilige Leidenschaft, eine süße Neigung gleichgestimmte Seelen beflügelt und in göttlicher Vereinigung verschmilzt. Nein, Frau Conrectorin, Sie haben mich niemals verstanden, niemals verstehen können!
Gehen Sie mit Ihren hohlen Redensarten, Vetter. Sie haben sich närrisch gelesen und passen nur noch zum Don Quixote. Ich aber werde mich hüten, Ihre Dulcinea in die Falle zu locken, auch wenn Ihre Schwärmerei ganz unschädlich und bloß lächerlich wäre. Schade, daß Frau Julia nicht Ihren Sermon gehört hat, sie würde doch etwas zu lachen haben in ihrer traurigen Einsamkeit.
Frühes Lachen wird spätes Leid haben, sagte Vetter Isidor mit salomonischem Ton, — lachen Sie nur, lachen Sie nach Herzenslust, so viel und so lange Sie mögen. Ich aber werde Ihnen beweisen, daß ich Manns genug bin, dieses holde Wesen dennoch aus seinem Elend zu erlösen, und die Stunde wird kommen, Frau Conrectorin, wo wir über Sie lachen werden — die Stunde, in welcher sich unsere Seelen verschwistert und in ewiger Freundschaft vermählt haben werden!
Höre mir nur einer diesen alten, verliebten Schäfer, lachte die Frau Conrectorin. Vetter, Sie sind doch eigentlich ein recht unsittlicher Mensch geworden. Wer hätte das von Ihnen denken sollen! Wissen Sie denn auch — und dies muß ich Ihnen jetzt noch als Warnung mit auf den Weg geben — wissen Sie auch, daß, selbst wenn Sie ernstlich eine Heirath im Sinne hätten, dies seine bedeutenden Schwierigkeiten haben würde? Denn es stände dann noch eine Scheidung dazwischen oder wenigstens eine Nichtigkeitserklärung ihrer ersten Ehe. Das vorigemal erzählte ich Ihnen, daß Juliens Mann, Herr Aloys Heister, gestorben sei — inzwischen habe ich erfahren, daß er noch am Leben ist. Nun wissen Sie, an welchem Abgrund Sie stehen!
Vetter Isidor stand einen Augenblick wie verdutzt, dann rief er: Bah, was liegt an hundert solchen Männern? Gar nichts liegt an diesem Patron, gar nichts an diesem Caliban! Hat er diesen Engel in das Elend stürzen können, so verdient er auch keine Schonung. Ich bin zu jeder Schandthat fähig!
Ja, das glaub 'ich, rief die Conrectorin empört. Und nun kein Wort mehr, Sie ruchloser Mensch. Nein, nein, ich will nichts mehr hören, nichts in der Welt, nichts in der Welt! und indem sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt, lief die ehrliche Frau aus dem Gartenhäuschen in den Garten und von dort in das Wohnhaus.
Noch eine geraume Weile stand der „ ruchlose Mensch “in Gedanken und knüpfte dann vor dem kleinen Spiegel seine schwarze Cravatte von Neuem, die in der Hitze des Gefechts aufgegangen war. Auch ein kleiner Kamm durchfurchte seine blonden Locken, die auf dem Scheitel sichtlich dünn waren und an einzelnen Stellen in das Graue hinüberspielten. Dann zog er wieder sein unvermeidliches Opernglas aus der Tasche und recognoscirte das „ feindliche Terrain “, wie er es nannte. Mit der Alten ist nichts zu machen, ich muß auf eigene Faust handeln, sagte er und verließ voll unbestimmter, aber gleichwohl kühner Entwürfe das Gartenhaus.
Bereits war er bis zur Ausgangspforte gekommen, die über eine kleine Brücke auf die Landstraße führte, als er plötzlich seinen Namen hörte.
Er wandte sich und sah, wie die Frau Conrectorin ihm winkte, sie stand halb verdeckt von den mannshohen Himbeersträuchern.
Mühsam schlug sich der Vetter durch die grüne, duftende Pflanzenwildniß, und beide gingen dann den engen Kiesweg, bis sie zu dem kleinen Platz vor dem Hinterhause kamen, wo die Bienenstöcke standen.
Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichem, versöhnlichem Ton, ich will nicht, daß Sie in Unfrieden von mir gehen. Obwohl Sie alt genug sind, um verantwortlich für Ihre Handlungen zu sein, liegt mir doch daran, daß Sie unserem Namen und unserer Familie keine Unehre machen, und daß Sie — dabei stahl sich ein Seufzer über ihre Lippen — noch glücklich werden. Eigentlich dauern Sie mich, daß Sie in ihrem langen Leben immer so um das Glück herumgekommen sind.
Ich bitte die Einleitung abzukürzen, Frau Conrectorin, sagte der Vetter mit Ungeduld. Was haben Sie mir noch zu sagen?
Also hören Sie mich ruhig zu Ende. Lassen Sie vorerst jeden Gedanken an irgend eine Unbesonnenheit aus dem Spiel. Sie sollen Frau Julien sprechen —
Aha, Sie sind zur Vernunft gekommen, Frau Conrectorin.
Lassen Sie mich ruhig ausreden, Vetter. Bestimmt kann ich Ihnen jenes Versprechen noch nicht geben, ich muß erst Mittel und Wege ausfindig machen, und es wird seine großen Schwierigkeiten haben. Außerdem aber habe ich meine Bedingungen.
Lassen Sie hören, sagte der Vetter, und stützte sich rückwärts auf seinen Regenschirm.
Meine erste Bedingung ist, daß Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, die Sache gleich richtig zu machen. Ein bloßes Abenteuer oder ein unsittliches Verhältniß begünstige ich unter keiner Bedingung. — Mir liegt selbst daran, daß die arme Frau Julia eine neue Ehe schließt und in bessere Verhältnisse kommt. Die erste Civilheirath war ja eigentlich keine echte, und es wird ihr nur ein Segen sein, wenn sie sich auf immer von dem Schwindler und Windbeutel losmachen kann, dem sie ihre Jugend geopfert hat. Bitte, lassen Sie mich nur ausreden, Vetterchen, ich will's Ihnen jetzt sagen, daß es lange schon mein Lieblingsgedanke war, Sie könnten vielleicht der Rechte sein für die arme Frau, aber Ihnen darf man ja keinen Vorschlag machen, sonst denken Sie gleich, man wolle Sie verkuppeln. Nun ist der Zufall zu Hülfe gekommen, und Sie kannten das liebe Kind schon, ehe ich nur ein Wort davon gesprochen. Die ersten Schritte sind auch nicht unglücklich gewesen, denn als ordentliche Frau konnte die brave Julia nicht anders handeln, und sie hat sich ganz taktvoll aus der Affaire gezogen, aber nun heißt's hübsch im Geleis geblieben, sonst ziehe ich meine Hand zurück.
Und was belieben Sie das Geleis zu nennen, Frau Conrectorin?
Sie verstehen mich recht gut, Vetterchen; wenn Sie mir, wie gesagt, versprechen wollen, der jungen Frau einen bestimmten Antrag zu machen, so will ich Alles veranstalten, daß Sie sie hier sprechen können.
Vetter Isidor stand eine Weile in nachdenklicher Erwägung und bohrte mit seinem Regenschirm in einen Maulwurfshügel, als könne er seinen Entschluß da herausgraben. Es ist also doch richtig — dachte er — wie ich immer fürchtete, die Alte will mich verkuppeln. — Sie ist eben so, wie alle anderen. — Himmel und Hölle, aber wiedersehen muß ich den Engel, so oder so — ein bloßes Wort verbindet ja zu Nichts — warum soll ich der guten Frau nicht den Gefallen thun?
Wenn Sie es denn so wünschen, Frau Conrectorin, sagte er nach einer langen Pause, gut, so seien Sie unser Pater Lorenzo — dabei lächelte der blasse Idealist schalkhaft und schlug mit dem Regenschirm nach einer Hummel, die mit drohendem Summen seine Nase umschwärmte.
Gut, so gehen Sie jetzt, sagte die Frau; ich muß nun erst versuchen, mich mit Frau Julien in Verbindung zu setzen; wie ich das anstellen soll, weiß ich noch nicht, aber ich werde es Ihnen sagen lassen, Vetterchen, ob und wann Hoffnung vorhanden ist, daß Sie das liebe Kind hier sprechen können.
Aber kann denn das nicht gleich geschehen?
Nur nicht so ungeduldig, Bester! Jetzt gehen Sie dort hinaus zur Hinterthür, damit Sie nicht gesehen werden. Ich will sehen, was ich thun kann und wie sich die Sache arrangiren läßt. Morgen vielleicht bekommen Sie Nachricht durch den Milchmann — stolpern Sie nur nicht, sondern schauen Sie hübsch auf den Weg.
Vetter Isidor wandte sich noch einmal um und streckte ihr mit überschwänglicher Wärme seine Hand entgegen. Sie bleiben doch meine gute, alte Freundin!
Ja wohl, viel zu gut für Sie, Vetterchen, viel zu gut — aber was will man machen, wenn altes Holz einmal Feuer fängt, wie bei Ihnen, so schlägt die Flamme gleich zum Dach hinaus. — Gute Nacht, Vetterchen, gute Nacht; vor allen Dingen Geduld, Besonnenheit und — ehrliches Spiel, hören Sie, ehrliches Spiel!
Damit schob sie ihn zur Thür hinaus. Die hohen Himbeerbüsche nickten hinter ihm, und die Bienen summten. Die Rosen dufteten, und die Schwalben flogen niedriger in der Abendkühle um das schindelgedeckte Wohnhaus und die grüne, dichte Gartenwildniß am Wasser.
Die gute Frau Conrectorin hatte genau genommen mehr versprochen, als sie halten konnte, ja sie hatte im Grunde etwas zugesagt, was gefährlich für alle Theile war. Frau Julien selbst hatte sie seit Monaten nicht gesprochen, denn der alte Schnorrigl hatte ihr peremptorisch das Haus verboten, als sie nach den erwähnten Unglücksfällen einen Besuch machen wollte. Zwar fehlte es nicht an Gelegenheiten, Frau Julien indirect eine Botschaft zukommen zu lassen. Da war zuerst der lahme Milchmann, dann der rothe Hansjürge, der zuweilen Fische brachte, auch die Zeitungsfrau und der Postbote ließen sich gewinnen, aber die brave Frau Conrectorin wollte einmal keine krummen Wege gehen.
Außerdem aber war sie unzufrieden mit sich selbst, denn sie hatte sich gleichsam überrumpeln lassen und dem Vetter Dienste angeboten, die ihr Gewissen nicht gutheißen konnte.
Dann war noch ein sonderbarer Umstand dazugekommen, der ihre Unruhe nicht wenig vermehrte.
Als sie nämlich mit hereinsinkender Nacht das Gatterthor des Gartens abschloß, wie es ihre Gewohnheit war — es fiel dies eine Stunde später, nachdem Vetter Isidor Abschied genommen, — da geschah es, daß das Gatterthor hastig aufgerissen wurde und ein Mann ihr entgegenstürmte.
Erschrocken trat die Frau Conrectorin zurück.
Wer sind Sie? Wo wollen Sie hin? fragte sie. Es war schon ziemlich dunkel, und da sie ihre Hornbrille bereits abgelegt hatte, konnte sie nichts mehr deutlich unterscheiden.
Erschrecken Sie nur nicht, kam es mit athemloser Stimme zurück. Ich bin es ja, Frau Conrectorin.
Staunend erkannte sie — Vetter Isidor.
Ja, Vetter, um Alles in der Welt, was fällt Ihnen denn ein, was wollen Sie denn noch? — Die brave Frau hatte sich auf eine Gartenbank setzen müssen; es zitterten ihr die Kniee, so war ihr der Schrecken in die Glieder gefahren.
Das ist sehr einfach, liebe Frau Conrectorin, sagte der Vetter, und ich bin ein Pecus campi, daß es mir nicht gleich eingefallen ist. Ich will bei Ihnen wohnen, einige Tage, einige Wochen, jenachdem — —
Bei mir wohnen? — Der Conrectorin erstarb das Wort im Munde.
Und was wäre dabei? Sehen Sie, morgen gehen ohnehin unsere Sommervacanzen an, ich hatte das ganz vergessen. Anfangs hatte ich mir einen Ausflug in den Seewald vorgenommen, daran ist natürlich nun nicht mehr zu denken. Sie, Frau Conrectorin, haben Feuer in meine Seele geworfen — nun helfen Sie es auch löschen. Ich werde meine Sommervacanz bei Ihnen zubringen. Es könnte sich gar nicht günstiger treffen. Sie haben ein hübsches Fremdenstübchen, einen großen Garten, alte Bücher und frische Butter, gesunde Landluft und kuhwarme Milch, was will ich mehr? —
Vetter, ich durchschaue Sie, sagte die Conrectorin. Sie wollen noch ganz andere Dinge hier. Sie streuen mir keinen Sand in die Augen.
Nun ja, erwiderte der Vetter flüsternd, wozu ein Geheimniß daraus machen? Ich will die Entwickelung der Sache hier abwarten, vor allen Dingen Eine Luft mit ihr athmen, mit der Göttlichen, bis Sie Wort gehalten haben werden, Frau Conrectorin.
Vetterchen, thun Sie mir den einzigen Gefallen und fangen Sie nicht wieder von Neuem an zu schwärmen, ich bin wirklich zu müde dazu. Sie sind doch der curioseste Kauz von der Welt — hätten Sie mir heute Nachmittag den Vorschlag gemacht, ich würde Nein gesagt haben und hundertmal Nein — nun sind Sie einmal da und thun mir beinah leid, daß Sie den weiten Weg hin und zurück und wieder heraus dreimal gemacht haben.
Sie wollen mich also behalten, einzigste, goldenste Frau Conrectorin?
Unter einer Bedingung, Vetterchen: wenn Sie mir versprechen, keinerlei Scenen zu machen, keinerlei Wirrwarr anzurichten, sich immer still auf dem Fremdenstübchen zu halten und dort ruhig zu studiren, jetzt aber vor allen Dingen gleich zu Bett zu gehen —
Mit tausend Freuden — eingeschlagen, Frau Conrectorin! Und sofort war er der braven Frau in das kleine Fremdenstübchen gefolgt, das nach der Kirche zu über dem Kuhstall an der Westseite des Hauses lag.
Eine Stunde später schlief Isidor bereits den Schlaf des Gerechten, nachdem er zuvor noch eine Satte saure Milch, einige weiche Eier und ein umfangreiches Butterbrod verzehrt hatte. Vetter Isidor konnte trotz seiner leicht entzündlichen Seele jederzeit schlafen, wann er wollte, und er hatte sicher keine Ahnung davon, daß seine unvermuthete Zurückkunft und seine kühne Idee der guten Frau Conrectorin allen Schlaf genommen hatten. — Daß ein fremder Mann — wenngleich ein Verwandter — als ungebetener Gast im Hause sei, daß es gerade Vetter Isidor sein mußte, der dies bisher noch nie gewagt hatte, und endlich, daß sie bei seiner steten Gegenwart gleichsam nicht mehr Herrin ihrer Entschlüsse war, die jeden Augenblick von dem Phantasten gekreuzt werden konnten: das Alles ließ die brave Frau nicht zur Ruhe kommen, und sie trippelte noch in später Abendstunde rastlos durch das Haus und den Garten.
Die Nacht war inzwischen völlig hereingesunken. Schwarz standen die Wipfel der Obstbäume gegen das sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt — wie alle wirthschaftlichen Frauen.
Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte.
Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum.
Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim - mern zu bewegen; jetzt kamen die Stimmen in das nächstgelegene. Es war offenbar die Stimme des alten Generals selbst und seiner Enkelin Julia. Die Conrectorin war schon öfter unfreiwilliger Zeuge solcher Auftritte gewesen, aber so arg wie diesmal schien der Sturm noch niemals gewesen zu sein.
Sagen Sie, was Sie wollen, Herr General, — es war Juliens Stimme, die dies sagte — es muß endlich einmal klar zwischen uns werden. Sie haben unverantwortlich an mir gehandelt, und jetzt wollen Sie die unerträgliche Tyrannei auf die Spitze treiben.
Das ist immer die Art der Undankbaren, meine Liebe, kam es mit heiserem Tone zurück. Wenn man sich schuldig fühlt, so kommt man mit Vorwürfen zuvor. Es bleibt dabei, was ich dir gesagt habe, du wirst dich entschließen müssen zu heirathen. Herr von Senkenberg ist ein braver Mann, ein reicher, ein angesehener Mann und glücklicher Weise längst über alle Jugendthorheiten hinaus. Er wird sich morgen die Antwort auf seinen Antrag holen.
Der Herr wird sich diese Mühe sparen können. Sie wissen, Herr General, daß mein Mann noch lebt.
Der Mensch ist todt für uns alle — ich muß bitten, seiner nie mehr zu erwähnen, es wird kaum einer regelrechten Scheidung bedürfen, um sich von ihm loszumachen.
Das dürfte wohl noch auf mich ankommen, Herr General — Sie zwingen mich zu der Forderung, mich zu meinem Manne zu schicken!
Bah — was willst du dort, meine Liebe? Du würdest in dein Verderben gehen. Wovon will er dich ernähren? — Eines Packträgers Frau kann meine Enkelin nicht sein.
Und wenn es meine Pflicht ist, jedes Leid mit ihm zu tragen —
Pflichten — faule Fische, meine Liebe! Die Schande zu theilen ist Niemand verpflichtet. Ihm könnte es wohl passen, dich als Pfand bei sich zu haben zu neuen Erpressungen, das kennt man schon, das kennt man, mein Kind.
Bitte sehr, Herr General. Sie belieben seine Lage anders darzustellen, als sie wirklich ist. Ich wiederhole Ihnen, daß es Ihnen nicht mehr gelingt, mich zu täuschen. Ich weiß es bestimmt, daß er sich wieder aufgeschwungen hat. Ich will seinen Leichtsinn in früheren Jahren nicht entschuldigen. Ich war vielleicht selbst mit schuldig daran, daß ich nicht bei Zeiten seinen Verschwendungen Einhalt that. Sein Elend und mein Unglück — wir haben es Beide verdient, aber jedes Leid muß seine Grenzen haben. Mögen Sie es immerhin wissen, ich habe allerdings an seinem Charakter, an seiner Redlichkeit gezweifelt, seit jenem schrecklichen Morgen, aber er hat sich alle meine Achtung und Liebe wiedergewonnen, seit ich weiß, daß er ein anderer Mensch geworden, daß er sich wieder emporgerafft hat durch Fleiß und Arbeit und redliche Thätigkeit. — Sie haben kein Recht mehr, mich ihm vorzuenthalten, denn er ist fähig, eine Frau zu erhalten, und seine neue, achtungswerthe Stellung muß jeden Verdacht entkräftigen, als wäre es ihm um etwas Anderes zu thun, als seine Schuld wieder gut zu machen.
Phantasieen, meine Liebe, Phantasieen! Wenn es so wäre, wie du dir einbildest, warum hat er nichts mehr von sich hören lassen —?
Weil Sie seine Briefe zurückbehalten haben! rief die Stimme Juliens mit Heftigkeit. Sie sehen, ich weiß Alles und kenne Ihre sogenannten Maßregeln. Oder wollen Sie leugnen angesichts dieser Briefe? — Hier sind sie!
In dem Gespräche des Generals und seiner Enkelin trat eine minutenlange Pause ein. Dann erhob sich die heisere Stimme wieder mit drohendem Tone.
Die Frau Conrectorin verstand nur: Du erlaubst dir, ungerathenes Ding! — dann ging es in unverständliches Grollen und Poltern über.
Wagen Sie es nur, rief Juliens Stimme wieder, mir mit Mißhandlungen zu drohen, es wird wohl noch Gesetze und Behörden geben. Meine Art ist es nicht, heimlich Schränke zu öffnen. Sie haben heute Ihre Papiere vermuthlich offen liegen lassen, und der Wind wehte ein Blatt in den Garten, dort hab 'ich es gefunden, und aus diesem einen Briefe schließe ich auf die anderen. Können Sie noch leugnen? Lesen Sie, es ist Aloys' Hand — es sind die rührendsten Klagen, die bittersten Vorwürfe, die unbestreitbarsten Zeugnisse — und dies Alles haben Sie mir verheimlicht, — wie können Sie diese große Sünde verantworten?
Wieder vernahm die Frau Conrectorin ein dumpfes Poltern und Brummen, dann unterschied sie deutlicher die Worte:
Alles Lug und Trug und Schwindel. Ja, es ist wahr, ich habe jene Briefe zurückbehalten, weil sie reines Gift für dich waren, weil du die Welt nicht kennst, und weil ein Mensch niemals seinen Charakter ändern kann. Mich täuschen die schönen Worte dieses Patrons nicht. Er ist und bleibt, was er war — ein Lump in Folio!
Sie vergessen, daß es mein vor Gott angetrauter Mann ist.
Und du vergissest, daß wir diese Ehe niemals anerkannt haben. Wir waren von Anfang an dagegen, weil ich den Menschen durchschaute. Er hat sich wie ein Dieb in unsere Familie eingeschlichen, und wie ein Mörder ist er davongegangen zum großen Glück für uns alle!
Sie wissen wohl nicht, was Sie sagen, Herr General. Sagen Sie lieber, daß Sie ihn gehaßt haben und noch hassen, daß Sie ihn verfolgt haben vom ersten Tage an und eigentlich sein Unglück verschuldet haben, denn Sie konnten ihm helfen, wenn Sie wollten.
Hat auch seinen guten Grund gehabt; denn wir können dir leider mit Zahlen beweisen, wie viel wir selbst mitverloren haben. Du weißt doch, daß deine gute, selige Mutter sich selbst vollständig ruinirt hat, und daß du selbst, mein Kind — eben nur ein Asyl hier hast.
Meine gute, selige Mutter — ach, wenn sie noch lebte! — und lautes Schluchzen unterbrach die nächtliche Stille.
Aber die heisere Stimme fuhr fort:
Du weißt ferner, Julia, daß dieser Patron, der bis auf den letzten Faden fertig war, seine gewaffnete Hand gegen mich erhoben hat, und daß ich es nur der Fügung der Vorsehung zu danken habe, daß ich am Leben geblieben bin. Du weißt auch, daß er als Verbrecher hier verhaftet werden würde, wenn er sich jemals blicken ließe.
Ja wohl, das mag wahr sein. Ihr habt diese unglückliche Sache nicht umsonst an die große Glocke gehängt, sonst würde er mich längst geholt haben.
Wie es scheint, mein Kind, bist du noch immer so verblendet wie am ersten Tage, aber man wird Sorge tragen, meine Liebe, daß du keine neuen Streiche mehr machst.
Was wollen Sie damit sagen, Herr General?
Ho, die Spatzen auf den Bäumen zwitschern ja bereits davon, daß man in gewissen Waldpartieen abermals auf zärtliche Abenteuer ausgeht. Dabei finden sich denn immer hülfreiche Freundinnen, schlaue Kupplerinnen, wie die da drüben zum Beispiel —
Erschrocken trat die Frau Conrectorin zurück. Ja, ja, es ist wahr, der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand '.
Sie verlästern eine brave Frau, ebenso wie mich! rief Julia.
Nimm dich in Acht, meine Liebe. Leider ist's ebenso wahr, was das Sprichwort sagt: es ist leichter einen Sack voll kleiner brauner Husaren zu hüten, als ein leichtsinniges Frauenzimmer; aber nimm dich in Acht, diesmal wird man keine Gnade üben!
Wenn es Ihnen so schwer fällt, mich zu hüten, Herr General, so lassen Sie mich ziehen, stoßen Sie mich hinaus. Es wird mir immer noch eine Wohlthat sein.
Ja wohl, damit du Kapital machest aus dem Mitleid der Leute und sie gegen uns verhetzen kannst; was wolltest du sonst draußen ohne alle Mittel, ohne alle Kenntniß und Welterfahrung? — etwa dich durchbetteln bis zu jenem Halbgott, der Zettel herumträgt und vielleicht auch Laternen anzündet? Nein, mein Kind, diesmal werden wir anders verfahren. Die wohlthätige Strenge, mit welcher du bis jetzt bewacht wurdest, war noch nicht hinreichend. Wir werden sie verdoppeln und nöthigenfalls an ein Kloster denken.
Dazu wird doch wohl meine Einwilligung nothwendig sein.
So wenig, wie für ein Correctionshaus oder eine Irrenanstalt, meine Gute, wenn der ärztliche Nachweis geführt ist, daß man es mit einer Verlorenen zu thun hat, der mit einer Detention nur ein Dienst geschieht.
Die Frau Conrectorin hörte einen lauten Aufschrei, dann war Alles still — eine lange, lange Weile. Alsbald aber begann die heisere Stimme des Alten von Neuem auf die Gebeugte und Zerknickte hineinzureden und ihre Schwäche zu nützen, um sie nach seinem Willen zu beugen. Die Frau drüben konnte jedes einzelne Wort hören.
Nimm du Vernunft an, Frau Julia! Der Name jenes Patrons, der sich deinen Mann nannte, ist für immer gestrichen in unsrer Familie. Machst du den geringsten Versuch, dich mit ihm in Verbindung zu setzen, so weißt du, was deiner harrt. Sei klug. Du kannst deine Vergangenheit nur durch Ein Mittel vergessen machen; ich habe es dir schon angedeutet. Baron von Senkenberg fragt nach nichts, er nimmt deine Person und deine Vergangenheit in Pausch und Bogen — an seiner Seite kannst du wieder in die Gesellschaft treten, und ich werde dich wieder unsere liebe Enkelin nennen.
Die Schluchzende antwortete nichts.
Bis du nicht einen Entschluß fassest in unserem Sinne, fuhr die alte Stimme fort, ist dir jeder Ausgang untersagt.
Auch in die Kirche? — stöhnte die junge Frau.
Von der Kirche will ich dich nicht zurückhalten. Bete du immerhin, bete, damit der Himmel dein Herz erleuchte und deinen Hochmuth und Eigensinn in den Staub beuge. Ich werde Herrn Baron von Senkenberg bitten, noch einige Tage zu warten, dann entweder Kloster oder — Correctionshaus!
Haben Sie Gnade, General! — und der Conrectorin schien es, als ob die junge Frau sich zu den Füßen ihres Tyrannen geworfen hätte.
Nichts da, nichts da, nur keine Komödienscenen, meine Liebe! sagte der Alte. Du machst mir ja die ganze Nachbarschaft rebellisch. Ein Glück, daß die alte Eule da drüben schläft; aber sie könnte doch etwas hören —
Wieder trat die gute Frau erschrocken zurück, und im nächsten Momente wurde das offene Fenster im Hofgut zugeschlagen, daß die Scheiben klirrten. Sie hatte übrigens genug gehört, und ihr Entschluß war gefaßt.
Für den Vetter konnten die Aussichten nicht günstiger stehen, wie nämlich die Frau Conrectorin meinte.
— Er war offenbar mit Frau Julien im Stadtpark gesehen worden, man wollte sie zu einem neuen, verhaßten Bündniß zwingen, um sie los zu werden — warum nicht? — eine neue und bessere Heirath konnte sie allein retten, die Unglückliche — und hatte sie nicht selbst an den Vetter geschrieben mit ausdrücklichen Worten: „ Sie wären vielleicht der Einzige gewesen, der mein Befreier werden konnte “? — O, der Vetter hatte alle Ursache, zu hoffen, und sie selbst die schönste Aussicht, sich an dem alten Bären zu rächen, der sie eine Kupplerin — ja noch entsetzlicher — eine Eule genannt hatte.
Und wie es anzustellen sei, um zum gewünschten Ziele zu kommen, wußte sie nun auch und begab sich zufrieden zur Ruhe. Dieser ereignißvolle Tag hatte ganz nach Wunsch geendet, und die brave Frau entschlief mit so ruhigem Gewissen, als habe sie wunder was für ein treffliches Werk gethan.
Die Nacht, eine schöne, klare, sternhelle Sommernacht, war für die Insassen des Hofgutes ziemlich unruhig vergangen, desto sanfter schliefen die Bewohner des schindelgedeckten Landhauses der Conrectorin — namentlich war es Vetter Isidor, der einen Riesenschlaf that und nicht eher erwachte, als bis die rothe Morgensonne durch die kleinen, bleigefaßten Fenster auf seinen „ Gesichtserker “schien und ihn dadurch heftig zum Niesen brachte. Jäh erweckt durch diese unerwartete Eruption sah sich Vetter Isidor erschrocken um und entdeckte sich in einem gänzlich fremden Raume.
Ziemliche Zeit brauchte es, bis er seine Gedanken gesammelt und sich völlig wieder auf alle Vorgänge besonnen hatte. Dann dachte er über den tiefen Traum nach, aus dem er durch das Niesen erweckt worden war, und es war ihm höchst unlieb, daß er mit aller Anstrengung seiner nicht mehr habhaft werden konnte — unlieb aus dem Grunde, weil er ihn benies't hatte und nun sicher auf Erfüllung desselben zählen durfte. — Während er noch nachdachte, hörte er ein leises Pochen an der Thür.
Mit kräftigem Tone rief er Herein! aber die Frau Conrectorin steckte nur den Kopf durch die Thür und sagte:
Vetterchen, machen Sie, daß Sie aus den Federn kommen, ich gehe jetzt in die Kirche, bald bin ich wieder da. Lassen Sie sich finden unten im Gartenhäuschen, da kann etwas Großes geschehen; verstanden?
Mit diesen Worten war sie eilig davon.
Hm! — dachte Vetter Isidor, — diese bevorstehenden großen Ereignisse könnten wir also benies't haben.
Dann erhob er sich langsam und war mit einem entschlossenen Sprunge aus dem Bett. Zunächst wusch er sich und kämmte sich den Schlaf aus den Haaren, dann revidirte er das wohlassortirte Pfeifensystem des seligen Herrn Conrectors. Richtig fand er eine schöne Meerschaumpfeife, welche noch gestopft war. Diese setzte er in Brand, öffnete das Fenster und sah in die klare, sonnige Morgenlandschaft hinaus, zunächst auf den alten Gottesacker hin. Dort standen die eisernen und hölzernen Kreuze von der stillen, goldenen Morgensonne beschienen. Die Bienen summten um die Blumen, hoch im Aether schossen die Schwalben vorüber, und über dem Flußarm am Wald