PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz
Zweite Serie. Zweiter Band. (Der ganzen Reihe achter Band.)
[Erste Auflage]
München. Rudolph Oldenbourg. [1872]

Druck von R. Oldenbourg in München.

Inhalt.

Leopold Kompert wurde zu Münchengrätz in Böhmen am 15. Mai 1822 von jüdischen Eltern geboren, besuchte das Gymnasium zu Jungbunzlau und später, unter vielfachen Kämpfen und Entbehrungen, da der Wohlstand der Familie zurückgegangen war, die Universität Prag, wo er sich philosophischen Studien widmete. Nachdem er ein Jahr lang in Wien eine Hauslehrerstelle versehen, siedelte er nach Ungarn über, verdiente sich in Preßburg die literarischen Sporen als Mitarbeiter an der Pannonia , dem belletristischen Beiblatt der Preßburger Zeitung, und erregte durch seine Dichtungen die Aufmerksamkeit des Grafen Andrassy, der ihm als Erzieher seiner Kinder eine Stellung in seinem Hause gab. Im Jahre 1847 erwachte der Drang, die unterbrochenen Universitätsstudien fortzusetzen, so lebhaft in ihm, daß er den Plan faßte, in Wien Medicin zu studiren. Das Jahr 1848 vereitelte diesen Vorsatz, indem es Kompert wieder in die journalistische Thätigkeit zurückwarf. Bis 1852 widmete er seine Kraft dem Oesterreichischen Lloyd (später Constitutionelle österreichische Zeitung ) und legte dann die Redaction nieder, um wieder als Erzieher zu wirken. Nachdem er fünf Jahre im Hause des preußischen Consuls Goldschmidt gelebt hatte, heirathete er 1857 die Tochter des ehemaligen Vorstandes der Pesther israelitischen Gemeinde und lebt seitdem ausschließlich historischen und literarhistorischen Studien und seiner reichen dichterischen Production.

Kompert's Novellen bilden eine besondere Domäne auf dem gemeinsamen Boden der Culturnovelle, dem auch die Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen,*)Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865). die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß die äußeren Formen und Formeln der merkwürdigen Zustände, die er schildert, ihm nicht die Hauptsache, sondern nur die Bedingungen sind, unter denen er seine sittlichen und geistigen Probleme entwickelt. Die von uns ausgewählte Novelle, nur eine unter vielen musterhaften, wird dafür zeugen, daß der Verfasser, so sehr ihm das Wohl und die Zukunft seines Volkes am Herzen liegt, ein Vorwiegen tendenziöser oder moralisirender Zuthaten sorgfältig vermeidet und vor Allem danach strebt, Menschenschicksale uns menschlich nahe zu bringen.

1. Dorf-Sabbat.

Wir treten mitten in die Heiligkeit eines eben zur Neige gehenden Dorfsabbats ein. Aber vergebens wird das unkundige Ange dem Tag des Herrn, wie er sonst so auffallend sein königliches Gewand über die Blößen des Ghetto's wirft, auch hier begegnen wollen; er tritt uns nirgends entgegen, und umsonst streckt sich die Hand aus, auch nur den Saum seines Gewandes zu erhaschen. Straße auf, Straße ab, durch das ganze Dorf kann man gehen, ehe man inne wird, daß es auch hier stille Augen und selige Herzen giebt, um die der Sabbat die Zauberkreise seiner Gewalt gezogen hat.

Fast müssen wir die Wegweiser machen. Wir bleiben vor einem Hause stehen, das nur ungefähr zwanzig Schritte von der Pfarrei entfernt liegt. Es nimmt sich fast fremdartig neben den anderen Bauernhäusern aus, als gehörte es nicht ihrer Gemeinschaft an. Auf den ersten Anblick erkennt man, daß darin Leute wohnen müssen, die in ihrem Leben niemals einen mit Garben hochaufbelasteten Wagen durch das weit geöffnete Hofthor gelenkt haben die niedere Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten?

Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein -, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: Gemischte Waarenhandlung heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und schwänzelnde Schwalben kommen bisweilen herbei, streifen auch mit ihren Flügeln zuweilen an den Fenstern vorüber, aus denen Niemand herausschaut, aber sie verweilen nicht lange und ziehen zu der Pfarrei hin, wo sie Gesellschaft und Conversation finden. Hier aber ist Alles still und unthätig, keine Hand regt sich und kein Ohr lauscht, daß es vernehmen könnte, was die Vögel des Himmels von ihrem Dasein im Reiche der freien Lüfte erzählen.

Wunderbare Gegensätze! Morgen um dieselbe Stunde werden die schwarzen Läden jener verschlossenen Gewölbethür weit offen stehen, und das Aushängeschild wird wieder etwas zu bedeuten haben. Zu den hellen hohen Fenstern werden scharfe Augen hervorlugen, wer die Straße daherkömmt. Wenn dann die Bachstelzen und die Schwalben sehen werden, wie viel Menschen da aus - und eingehen, werden sie vielleicht auch nicht zögern, dem Zuge sich anschließen und gleichfalls kommen. Dann wird der zauberhafte Bann gelös't sein, der jetzt über diesem Hause liegt und wird über andere Häuser sich gelagert haben. Denn der Tag des Herrn kehrt nicht zu gleicher Zeit bei den Menschen ein. Wie sprechen sie doch Alle von Verständigung zwischen Völkern und Fürsten, von Harmonie der Geister und des Wissens! Aber haben sie es noch erreicht, daß, wenn zwei Hände, die das Gottesgebot der Unthätigkeit feiern wollen, schlaff herunter hängen, nicht tausend Andere den schweren Hammer auf den Amboß dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt?

Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? ...

Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu.

Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über dieselbe Bank vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die Blumen vor die Füße geschüttet?

Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle erscheint, zu dem sie sagen kann:

Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare Gulden unter meine Füße herlegen, und ich bin nicht im Stand, mich drum zu bucken.

Auch ohne die zehntausend Gulden hätte sich der Knabe um den Strauß gebückt; er legte ihn der alten Frau in den Schooß.

Sie betrachtete ihn mit stillem Entzücken und nickte mit seligem Lächeln auf die blauen Blumen herab. Nach einer Weile sagte sie fast grollend mit sich selber:

Geh! geh! man vergißt auf sich selber, wenn man alt wird und schwach. Hätt 'ich da nicht bald an den Blumen geschmeckt, und weiß doch ganz gut, daß des Bauers Sohn sie am heiligen Schabbes ausgerissen hat auf dem Feld? Werd' Einer nur alt und schwach! Mit offenen Augen und offenen Ohren begeht er Sünden auf Sünden, man weiß schier nicht, wie man dazu kommt. Gott aber, der Allmächtige da oben im siebenten Himmel, der hat alleweil sein groß Rechenbuch vor sich liegen und schreibt ein, und wenn Einen der Mallech hamowes (Todesengel) abholt, hat man eine Rechnung vor sich da, wie ein Trunkenbold, der nicht weiß, wie viel man ihm hat geliehen.

Während dieses in halb flüsterndem, halb grollendem Tone mit sich geführten Gespräches war ihr der Kranz wieder vom Schooß entglitten. Der Knabe hob ihn auf, aber, anstatt ihn zurückzustellen, führte er die schöne Gottesgabe an seine Nase und zog den frischen Feldduft der Blumen herzhaft ein.

Was stellst du an, Fischele? rief erschrocken die Großmutter, indem sie sich umsonst bemühte, sich vom Platz zu erheben und ihrem Enkel den Kranz zu entreißen.

Babe, was willst du denn? meinte er verwundert.

Nicht schmecken sollst du dazu, schrie sie mit einiger Anstrengung, am heiligen Schabbes hat sie des Bauers Sohn draußen abgebrochen auf dem Felde; welches Jüdenkind wird hingehen und wird dazu schmecken? Hast du vergessen, wer dein Vater, wer dein Dede (Großvater) ist gewesen? und erst dein Urdede, den du gar nicht hast gekannt?

Mit einer Art Grauen hatte sich der Knabe des schönen Kranzes entledigt, der das Unglück hatte, am heiligen Sabbat geflochten worden zu sein; weit weg hatte er ihn von sich geschleudert, als wäre ein giftiges Ungeziefer daraus hervorgeglitten, und der nächste Wagen, der des Weges daherkam, mußte mit seinen Rädern über die blauen Blüten hinweg! Gedemüthigt, mit brennenden Wangen, die an der kaum gekosteten Sünde ihre Glut entzündet hatten, stand der Enkel vor der alten Frau.

Sie aber richtete sich auf und rief ihn zu sich.

Mein lieb Kind Leben, sagte sie zu ihm und strich ihm mit der knochendürren Hand über das rothwangige Antlitz, mein lieb Kind Leben, der Mensch muß sich noch manches Andere gefallen lassen, als wegzuwerfen ein Blümele, zu dem er nicht darf schmecken. Was willst du haben, wenn's Gott nicht will? In der Gemera steht's, und was in der steht, das ist Wahrheit. Frag alle Rabbiner in der Welt, was werden sie dir für eine Antwort geben?

Ein eigenthümlicher Gedankengang schien jetzt den Kopf der alten Frau zu durchziehen. Als sie den Knaben so still und nachdenkend an ihrer Seite sitzen sah, zuckte aus ihren braunen, fast jung gebliebenen Augen ein Strahl, der aus einer anderen Welt zu stammen schien; auch überkam es den Knaben gar seltsam, als sie im Tone eines tiefen, nur zwei Menschenherzen angehörigen Geheimnisses zu sprechen begann:

Hast du dir das Bild von deinem Urdede, wie er drin über meinem Bette hängt, schon gut angesehen? Wie du ihn ansiehst, hat der schon in seinem dreißigsten Jahre über zehn Bücher gehabt geschrieben, Gott der Lebendige weiß, was da drin Alles ist gestanden. Ich seh 'ihn noch vor mir, wie wenn's heut wär; er war ein gewaltig großer Mann, und hat Tag und Nacht gelernt; getragen hat er ein dreieckig Hütel, und darunter sind die schwarzen Haar in Locken hervorgegangen, du kannst dir nicht denken, was das für ein Frommer und Gelehrter ist gewesen. Und doch, und doch

Der Knabe rückte näher, die Augen unverwandt auf die Großmutter gerichtet.

Soll ich dir sagen, was geschehen ist mit den zehn Büchern, die dein Urdede in seinem dreißigsten Lebensjahre hat geschrieben?

Das Kind fragte nicht, aber sein Schweigen und die geschlossenen Lippen verriethen mehr.

Meine Mutter, was seine Tochter war, hat mir's einmal erzählt. An einem Erew Jom Kippur*)Vorabend des Versöhnungstages. ist draußen vor der Schul 'ein großes Feuer angemacht worden, das Holz dazu hat man von den Leuten zusammengetragen, und dadrauf hat man die Bücher verbrannt.

Verbrannt? schrie der Knabe mit gellender Stimme.

Still, still, rief die alte Frau erschrocken, und sah sich Minuten lang um, du bist noch nicht fertig. Währenddem man hat die Bücher verbrannt, ist dein Urdede drin in der Schule auf der bloßen Erd gelegen, neben ihm ist der Schames (Schuldiener) gestanden und hat ihm mit einem ledernen Riemen vierzig Hieb 'auf den nackten Rücken geschlagen. Meine Mutter, die seine Tochter ist gewesen, hat mir noch weiter erzählt; wie Alles fertig war, haben ihm die Leut' ins Gesicht gespieen.

Gespieen, Babe? rief der Knabe mit Entrüstung, das thut man ja keinem Hund!

Daher weiß Gott der Lebendige, sagte die alte Frau, wie sie einen Menschen, der zehn Bücher hat geschrieben, haben anspeien können wie einen Hund; ich hab 'das meine Mutter, die seine Tochter ist gewesen, hundert Mal gefragt, meinst du, sie hat mir eine Antwort gegeben? Nämlich du mußt wissen, wie dein Urdede noch gelebt hat, hab' ich von dem Allem nichts gewußt; erst wie er schon lang gestorben war und ich schon eine große Mad war, zu der die jungen Leut sind auf die Beschau gekommen, erst da hat sie mir's erzählt. Erst da ist mir Manches eingefallen, was ich, wie ich noch ein Kind war, an meinem Dede nicht hab 'verstehen können. Soll ich dir etwas sagen: dein Urdede war gar nicht fromm.

Haben sie ihn denn nicht wie einen Hund angespieen? sagte Fischele zornig und gleichsam zur Entschuldigung des todten Urahnen.

Wie kommt das dazu? sprach die alte Frau kopfschüttelnd; meinst du denn, wenn ich sage: er ist nicht fromm gewesen, daß er vielleicht am Jom Kippur nicht hat gefastet, oder daß er bei den Christen hat gegessen, oder daß er ist nicht in Schul 'gegangen und hat sich sein Gespött gemacht aus Gott und aus den Menschen? Das glaub ja nicht; er war ein merkwürdig frommer Mensch, du hast ihm nicht können vorwerfen, was auf ein Quentchen gegangen wär', und was anbelangt das Jüdsein, hätt 'er's mit dem ersten Landrabbiner in der Welt aufnehmen können. Einmal, das weiß ich aber, wie wenn's heut' geschehen wär ', da hat mein klein Brüderl aus einem Topf, in dem man Fleisch gekocht hat, Milch getrunken. Da ist meine Mutter vor Schrecken fast umgefallen und hat geschrieen und gejammert. Dein Urdede aber, der dabei gestanden ist, hat gelacht und gesagt: Narrele, was schreist du da und jammerst? Ist dir ein Haus eingefallen? Nicht sollt'st du wissen, was man Alles thun darf ...

Das Antlitz der Großmutter hatte in diesem Augenblicke einen eigenthümlichen Ausdruck; man hätte es verklärt genannt, sie wollte weiter sprechen, doch die Stimme versagte. Auf den Knaben hatten die letzten Worte offenbar einen tiefen Eindruck gemacht, wiewohl ihm das rechte Verständniß abging. Die Großmutter hatte ihm nach Art alter Leute ein Geheimniß anvertraut, dessen innerster Kern und Wurzeln in ihren eigenen Kindertagen lagen. Warum sollte sie, die Hochergraute, Grabumfangene, es ihm nicht anvertrauen? Gab es oder giebt es eine Kluft zwischen dem hohen Alter und der blühenden Kindlichkeit? Sie beide reichen sich die Hand hinüber und fassen sich und schütten ihre Seelen in einander, daß sie zusammenklingen in einen Ton, in einen Glauben, in ein Märchen! Gebt im Hause Acht, wo alte Leute einhergehen! Das kleinste Kind weiß um ihre Heimlichkeiten und ihre Geheimnisse; Vater und Mutter müssen sich erst bei ihm erkundigen und errathen spät, was in der Seele des Kleinsten im Hause schon längst als trauliches Pfand verborgen liegt.

Darum auch fuhr die alte Frau so erschrocken zu - sammen, als sie im Augenblicke, wo sie ein siebenzigjähriges Geheimniß wie einen Blütenkern in die Seele ihres Enkels legte, daß er da aufschieße und vielleicht auch Früchte trage, als sie in diesem Augenblicke durch das Kommen ihres Sohnes, des Knaben Vater, gestört ward.

Es war ein stämmiger, hoher Mann, der langsam mit auf dem Rücken gekreuzten Händen des Weges daher kam. Er ward zuerst den Knaben ansichtig, der bei seinem Anblick ausrief: Guck, Babe, der Vater kommt! daß die alte Frau wie durch ein wunderbares Machtgebot sich erhob, um gleichfalls nach ihm zu sehen.

Um diesen Augenblick begann die Abendglocke zu läuten. Von der anderen Seite des Weges kamen Männer und Frauen des Dorfes, sie alle blieben bei den heiligen Klängen, die die stille Abendlust durchzitterten, eilig stehen und machten über sich das Zeichen des am Holze zu Tode geschlagenen Säemannes der Menschheit! Den Zug beschloß eine junge Bäuerin, die schwerer belastet schien, als die anderen Weiber. Sie trug eine Haue in der Hand, in der anderen einen vollen Sack; sie mußte beides von sich legen, ehe sie die Hände frei bekam; dann machte auch sie das Kreuz. Es war eine Gruppe stiller Beter, das Dorf in diesem Augenblicke eine große Kirche, der blaue Himmel als mächtige Kuppeldecke darüber gespannt.

Siehst du sie dort, Babe? flüsterte der Knabe fast unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies.

Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis 'nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen.

Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor.

Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter.

Jetzt hab 'ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut.

Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme.

Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen.

Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe gar nichts; seine Augen starrten magnetisch gebannt nach der Betergruppe hin, in der er nur Eine Person wahrnahm, und diese Eine schlug wieder das Gotteszeichen des Gekreuzigten über sich.

Einzeln kamen sie jetzt herbei. Hie und da erscholl ein Abendgruß herüber, aus den die Großmutter nur mit leisem Kopfnicken antwortete. Sprechen konnte sie nicht, und wenn Gott selbst in himmlischer Majestät vorübergewandelt. Zuletzt kam auch sie; Fischele stieß unwillkürlich mit dem Ellenbogen die Großmutter an, daß sie ausschaue.

Wer den geheimen Zug ergründen könnte, der vom Herzen zu den Augen ausstrebt, daß sie sich öffnen müssen und zusehen, wovor sie sich sonst auf ewig schließen wollten! Die Bäuerin, man sah es ihr an, wollte an der Großmutter und dem Knaben rasch vorüber; sie hastete ihre Schritte, indem sie sich so nahe als möglich an der anderen Häuserreihe hielt. Aber für dieses Beginnen schienen ihr die Kräfte zu mangeln. Fast im Angesichte der alten Frau mußte sie die Haue und den schweren Sack weglegen; sie versank fast unter der Last.

Die alte Frau fragte leise: Guckt sie herüber? Ich kann's nicht ausnehmen.

So kommt's mir vor, antwortete der Knabe, über dessen Antlitz ein Zug tiefen Mitleids ging.

Die Bäuerin stand noch immer da; sie fuhr sich zuweilen mit der Schürze über die schweißbedeckte Stirn, dann bückte sie sich wieder zu der Haue und dem schweren Sacke nieder, um sie aufzulesen und fortzueilen; es drängte sie mit Sturmgewalt aus der Nähe der vier Augen, die wie glühende Kohlen auf ihr brannten. War es allzu große Ermattung, war es eine andere Empfindung, so oft sie sich niederbeugte, um die schwere Last aufzuheben, so oft mußte sie davon abstehen, kaum daß sie die Haue ergreifen konnte.

Babe, sagte mit stockendem Athem der Knabe, sie kann ja gar nicht fort.

Seh 'ich's denn nicht? sagte diese mit wundersam bewegter Stimme.

Ich helf 'ihr, sagte Fischele rasch und stand auf.

Fischele! war der einzige Ausruf der alten Frau. Sie konnte es ihm nicht verbieten.

Während dem hatte die Bäuerin es aufs Neue versucht, die beiden am Boden liegenden Lasten zu sich aufzuheben; als sie die Absicht des Knaben bemerkte, der über den Weg daher gelaufen kam, verdoppelte sie ihre Anstrengung und spannte ihre Muskelkraft zu unmenschlicher Arbeit an. Umsonst, jede Kraft schien in ihr wie mit eisernen Banden gefesselt, und das gerade hier, gerade im Angesichte der alten Frau! Ein Bild fürchterlicher Verzweiflung stand sie da, rath - und thatlos!

Hinter der Kirche kam jetzt ein Mann hervor, er hatte dort während des ganzen Läutens verharrt. Der hastige Knabe rannte ihm in den Weg; es war Rebb Josseph, sein Vater.

Was willst du? wo laufst du hin? fragte er ihn streng.

Fischele erbleichte, zwei harte Augen ruhten furchtbar, sein Inneres durchforschend, auf ihm.

Meinst du, ich weiß nicht, was dir die Babe anbefohlen hat? rief er mit grausamem Hohne.

Der da, sagte er, indem er sich gegen die Bäuerin wandte und mit dem Finger sie bezeichnete, der da sollst du helfen? Ich brech 'dir aber ender den Hals und das Genick, wenn du nur einen Finger aufhebst. Fort, fort, wenn sie sich den Pack hat aufgelast', kann sie ihn auch schleppen.

Er riß den Knaben hastig weg und ging mit ihm auf das Haus zu.

Die Bäuerin mußte um diesen Augenblick die Gewalt einer Löwin empfangen haben, mit einem einzigen Rucke hatte sie die eiserne Haue und den schweren Sack vom Boden aufgehoben; rasch ging sie von dannen, die Last schien federleicht in ihren Händen geworden; hinter der Kirche entschwand sie den Blicken.

Zwei Thränen, die aus den Augen der alten Frau schwer und langsam fielen, folgten ihr nach. Wir werden diese Thränen zu deuten wissen!

2. Ein Kind ist aus dem Hause gegangen.

Die Nacht, die diesem Tage folgte, war eine der traurigsten, die je in dem einzigen Judenhause des Dorfes verlebt worden. Es war, als ginge ein in den Lüften klagendes Wimmern, ein unterdrückter, unausgesprochener Jammer auf stillen Socken durch alle Räume. Die Großmutter hatte sich früher, als sie sonst pflegte, zur Ruhe begeben; mitten in der Nacht wachte sie auf, und man hörte sie über unsägliches Wehe klagen. Auf die Frage ihres Sohnes: wo es ihr fehle, gab sie lange keine Antwort, bis sie auf sein inständiges Bitten und Drängen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. Das schnitt ihm durchs Herz, doch bewältigte er diese Regung und fast zornig fuhr er sie mit den harten Worten an:

Weinst du nicht ihr nach? Zehn Jahr sind vergangen, daß sie fort ist aus dem Haus, die Verschwarzte, und grad heute verstörst du mir und dir die Nacht?

Gerad heut, gerad heut, klagte die alte Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte, mir ist ja, als wär 'sie erst heut aus dem Hause gegangen. Hast du sie auch recht betrachtet, Josseph, wie schlecht sie aussieht? Gott, Lebendiger im Himmel! Sie hat ja mehr kein Fleisch auf sich, ein jung Weib, und ist noch keine dreißig Jahr alt! Das heißt sich abgeplagt und abgezehrt! und der schwere Sack mit Erdäpfeln dazu, mit dem sie nicht hat fort können! Wo soll ihr das auch herkommen? Ist sie denn das gewöhnt?

Gewöhnt soll's sie auch noch fein? entgegnete drauf Josseph mit einem bitteren Beigeschmack von Hohn. Hat sie's denn anders gewollt? Sie hat ja müssen eine Bäuerin werden! Hast du sie dazu gezwungen, daß sie aufs Feld hinaus muß, daß sie ganze Tage dort stehen und graben und ackern muß, wenn auch die Sonn 'vom Himmel herunter brennt, daß sie darüber könnt' vergehen? Ihr Mann, der Bauer, sitzt im Wirthshaus und spielt und trinkt, kann sie was Besseres thun, als Erdäpfel aus dem Feld graben, damit sie und ihre Kinder nicht verhungern? Sie hat ja den Kuchen nicht gewollt, den sie im Vaterhaus hätt 'haben können soll sie Erdäpfel essen. Dafür straft sie

Gott, willst du sagen, sprach die alte Frau kopfschüttelnd, misch da Gott nicht hinein; ich weiß nicht, was Gott dazu sagt, daß du als ihr Bruder so redst. Du bist ja doch ihr Bruder.

Eine bange Stille folgte diesem schmerzlichen Ausrufe, wie sie Ausbrüchen verhaltener Wuth voranzugehen pflegt.

Mamme, rief Josseph mit geballter Faust, wenn du nur das eine Wort nicht in den Mund nehmen möch'st, ihr Bruder! und sie meine Schwester! Wenn ich im Grab werde liegen und die Würmer werden an mir zehren, und Einer grabt mich auf und gemahnt mich, daß ich ihr Bruder bin, glaubst du nicht, daß ich meine Gebeine zusammenklaub 'und mich hinlege, wo mich keiner mehr finden kann? Drin im Gewölb hast du Vitriol stehen, man kann damit wegbrennen und wegätzen, Blutfleck' sogar, wenn Einer einen Andern hat todtgeschlagen; das will mir aber kein Mensch wegnehmen vom Herzen, was mich seit zehn Jahren brennt und plagt. Du bist ihr Bruder, sagst du, frag anders: War sie meine Schwester? Du hast also schon vergessen, wie ich mir hab 'die Krije*)Das Kleid zerrissen, aus Trauer um die Gestorbenen. schneiden müssen vor zehn Jahren, wie ich hab 'müssen Schiwe**)Sieben Tage trauern. sitzen, weil ich damals ihr Bruder war? Jetzt bin ich's nicht mehr. Der Narr, der ich wär '!

Es war ersichtlich an dem Schweigen der alten Frau, die die zornige Wucht dieser Worte wie ein schweres Gewitter über ihr Haupt hingehen ließ, daß sie der Rede Josseph's kein Gegengewicht entgegenzusetzen hatte. Sie hatte in ihr Wunden aufgerissen, die noch nicht ausgeblutet. Wie schweres Leid bei altgewordenen Menschen es zu thun pflegt, nickte sie beständig mit dem Kopfe, als gestehe sie die Wahrheiten ein, die in so furchtbarer Gestalt aus dem Munde ihres Sohnes kamen. Dennoch sprach sie, nachdem sie lange genug geschwiegen, mit einer gewissen Milde.

Dessentwegen hättest du dem Jüngel doch nicht wehren sollen, wie er ihr hat helfen wollen. Du hast ihn ja fortgejagt, und sie hat doch nicht fort können.

Mamme, sagte er darauf mit fürchterlicher Ruhe, mit der Hand, die ich da aufhebe, hätt 'ich ihm das Genick gebrochen, wenn ihm eingefallen wär', ihr nur ein leicht Federl von der Erd 'aufzuheben. Erlebt hätt' er's nicht.

Josseph, Josseph, schrie die alte Frau und sah ihm entsetzt in das wild aufgeregte Gesicht, versündig dich nicht an Gott.

Heißt das auch versündigen? gab er zur Antwort; wegen der werd 'ich mich versündigen?

Warst du denn blind und hast nicht gesehen, daß sie ein schwanger Weib ist? kreischte die Mutter auf.

Es muß in diesen Worten eine geheimnißvolle Gewalt liegen, daß sie den Zorn Josseph's fast augenblicklich bändigen konnten. Er war sichtbar erschrocken; eine Weile lang blickte er der alten Frau, beinahe zweifelhaft über das Geständniß, das den gesegneten Zustand seiner Schwester betraf, in das noch immer aufgeregte Antlitz. Dann wandte er sich von ihr ab; er löschte die Kerze aus, als hätte er damit das Wehe seiner Mutter, vielleicht auch sein eigenes auslöschen können. Zu Bett ging er nicht; er stellte sich zum Fenster hin und starrte in die Nacht hinaus.

Es war mit einem Male in der Stube still geworden, die alte Frau klagte nicht mehr und schien entschlummert. Hatte sie sich von ihrem Weh losgesprochen? War es ihr leichter geworden? Aber sie schlief nicht. Spät in der Nacht war's, als Josseph das Fenster verließ, aber nicht, um die Ruhe zu suchen. Die Mutter hörte ihn leise nach der Thür tappen und sie fast unhörbar öffnen. Sie konnte ihn nicht mehr fragen, wohin? und was er beginnen wolle. Das Morgengrauen blickte bereits in die Stube, als Josseph von seinem nächtlichen Gange zurückkehrte. Er warf sich ermüdet aufs Bett; die Großmutter schlief noch nicht.

Wir werden das geheimnißvolle Walten dieser noch unverständlichen Natur später zu enthüllen haben. Die schwache Feder ist keine Fackel, daß sie ein Wesen, wie es sich in Josseph darstellte, plötzlich in allen seinen Tiefen und Höhen aufhellen könnte.

Das kleinste Kind im Dorfe wußte es, daß die Bäuerin Madlena die Tochter der alten Jüdin und die Schwester des Juden sei; für uns ist es seit jenem nächtlichen Gespräch, das wir so eben zwischen Mutter und Sohn gehört haben, schon längst kein Geheimniß mehr.

Es ist schauerlich, eine Leiche zu berühren, wenn sie daliegt, die Schale eines Kernes, die geboren ward, um zerbrochen zu werden; wenn den eigenen lebendigen Leib der Schauer überfliegt, was er selbst sei, und wie er sich für etwas ausgebe, was er eigentlich doch nicht ist; wie er stolz ist auf das thierische Leben, das in seinen Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan, denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als Leichenhof dient.

Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden.

Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das Schmah Jisroel zu beten, werden jetzt freilich in einer anderen Sprache das Vater Unser oder den Engelsgruß zum Himmel richten! Blut wird nicht zu Wasser, sagt man sonst, aber das eigene Fleisch und Blut, nur weil die Seele, die ihm innewohnende, nicht dieselben Wege geht, wie die unsere, sich zu versauern und zu vergällen, die Faust gegen es zu ballen, es als Todten einzuscharren das war eine leichte Erfindung jener schwarzen Stunden, wie sie die Geschichte des Menschensclaventhums so oft überschlich.

Wir wissen aus dem Gespräche zwischen Mutter und Sohn, was ein solcher Todter für die Familie zu bedeuten hat, und doch waren die Ausbrüche bitterer Gereiztheit, wie wir sie so eben erlebt, nichts Seltenes in dem einzigen Judenhause des Dorfes. Diese Todte war seit zehn Jahren gestorben, aber noch streckten sich die Schatten des Zornes lang und breit über das Haus, und es bedurfte nur eines unbedeutenden Steinchens, das hinein geworfen ward in die sonst so stille Flut ihres Daseins, daß der zischende Gischt des Grolles hoch aufbraus'te!

Wer die Menschen kennt und ihre Eigenthümlichkeiten, besonders die der Juden, den wird es nicht in Verwunderung setzen, daß die Bewohner jenes Hauses, die wir unter so eigenthümlichen Umständen haben kennen gelernt, in der Bäuerin Madlena nicht so sehr die Katholikin und die vom Glauben ihrer Väter Abgefallene haßten; sie haßten sie, wie man einen Selbst - mörder haßt, der mit eigener Hand in die Lebensadern schneidet, um daran zu verbluten, der sich selbst den Stein umhängt, um in der Flut ein Leben zu begraben, das nicht ihm gehört, und auf das Andere fast noch mehr Anspruch hatten, als er selbst. Sie grollten ihr wie Einer, der man jahrelange Liebeswerke des Mitleids und der Gnade angethan, und die bei der nächsten Gelegenheit, wo man ihr begegnet, als Dank dafür eine häßliche Grimasse zurückschneidet.

Als die einzige Tochter des Hauses vor zehn Jahren einem jungen Bauer zu Liebe, dem sie anhing, ganz unversehens, fast in nächtlicher Stille aus der Familie entwich, als sie trotz aller Bitten sich nicht abhalten ließ, in der Kirche das Glaubensbekenntniß abzulegen, daß sie die Religion ihrer Väter wie ein böses Geschwür ansehe, dessen sie so eben durch das heilige Wasser der Taufe los und ledig geworden da gab es einen ungeheuren Schmerz in dem einzigen Judenhause des Dorfes. Der Vater war vor Gram gestorben, aber die Mutter setzte sich hin auf einen niederen Fußschemel und weinte sieben Tage und sieben Nächte. Josseph zerriß seine Kleider von oben nach unten und that wie seine Mutter. Aber er weinte nicht; er trug sich mit Rachegedanken in der giftgeschwellten Seele, er sah funkelnde Messer vor seinen Augen auf und nieder gehen, er sah geschliffene Aexte in seiner Hand und andere Mordwerkzeuge; er dachte wirklich an Mord. Wollte er sich, wollte er sie, deren Name nicht mehr genannt werden durfte, dem Tode weihen? Er sah es als etwas Gottgefälliges an, wenn die Erde, auf der ein so ungeheures Verbrechen begangen, durch ein anderes, nicht minder grauenhaftes gleichsam wieder geheiligt würde.

Erst spät, sehr spät, als Zeit, Gewohnheit und tägliche Gewerbsmühen wieder in ihre alten Rechte traten, hatte sich dieser blutige Hintergrund seiner Seele verflüchtigt, um einem Niedersatze versäuerten Grolles, der bei der geringsten Gelegenheit in giftigen Blasen aufstieg, Raum zu gönnen. Der große leidenschaftliche Haß hatte sich im Laufe der Jahre in tausend kleine Leben zerstückelt; aber jedes zuckte schmerzhaft auf, wenn es in die leiseste Berührung mit der Außenwelt gerieth.

Umstände der kleinsten Art wirkten dazu mit, daß die Wunden, die der Abfall des Mädchens dem Hause geschlagen hatte, nie verharrschen konnten. Es mag sonderbar dünken, wenn wir erzählen, wie die Nennung ihres Namens allein eine Reihe der schmerzlichsten Gefühle erwecken konnte. Sie hatte in der Taufe den Namen Madlena angenommen; im Hause war man an das heimliche Dinah gewöhnt. Den Leuten aus dem Dorfe konnte natürlich nicht das Zartgefühl zugetraut werden, daß sie mit den in der Taufe angenommenen Klängen des Namens sparsamer umgingen; im Gegentheil, sie nannten ihn bei jeder Gelegenheit, sie gebrauchten ihn, wie man glaubte, mit einer ge - wissen Schadenfreude. Er verirrte sich oft unwillkürlich auf Lippen, die ihn vielleicht freudig zurückgenommen hätten, wenn sie die Schmerzen ermessen konnten, die er verursachte.

Hätt'st du dein Leben gedacht, sagte einst die Mutter zu Josseph, daß sich ein jüdisch Kind so einen Namen kann beilegen? Ein Mensch soll Madlena heißen!

Willst du vielleicht, entgegnete er damals darauf, daß sie ihren ehrlichen jüdischen Namen hätt 'behalten sollen? Du weißt doch, wer Dinah war? Dinah war die Tochter Jaikew's und Lea's, und willst du, daß sie heißen soll, wie das Kind von Jaikew, unserem Vater? Wie kann sie denn noch einen jüdischen Namen haben?

Ich heiß 'ja aber doch selbst auf deutsch Maria, meinte die Mutter, wenn ich auch auf jüdisch Marjim heiß'. Weißt du denn nicht

Auch versteh 'ich's nicht, warum die Rabbonim den Namen nicht längst abgeschafft haben. Wenigstens heißt du noch Marjim; warum hat sich die Verschwarzte aber Madlena geheißen? Der Geistliche wird ihr gesagt haben, wie er das Wasser auf sie geschüttet: Heut hat die Heilige ihren Namenstag, und da ist aus dem jüdischen schönen Dinah zum Unterschied Madlena geworden.

Es dauerte lange, daß sich die Mutter diesem Troste Josseph's fügte, der dazu nicht aus seinem Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem Ganzen zusammen, und statt der katholischen Madlena blieb die jüdische Dinah immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie zu deutsch wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn keine Maria gewesen wäre!

Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub 'ich's erst recht, daß sie beim Gallech gewesen. Sie mußte es erleben, daß nebenan in der Kirche die Glocke geläutet ward, als man das Kind ihrer Tochter zur Taufe trug; sie sah das Tuch mit dem darauf gestickten Kreuz, das über dem Sprößling aus jüdischem Blut lag, und ihre Sinne vergingen dennoch nicht, als sie den Geistlichen aus der Kirche kommen sah, hinter ihm die Hebamme mit dem getauften Kind, über das nicht die Worte des altgeschichtlichen, schon von Abraham bekräftigten Bundesvertrags mit Gott, sondern die heilige Dreifaltigkeit ihre Schwingen gebreitet hatte

Es wird Viele sonderbar bedünken, wenn wir für die alte Marjim das Geständniß ablegen, daß sie keines von ihren Enkelkindern kannte; sie wußte wohl, wie groß der Familienstand ihrer Tochter sei, aber von Angesicht zu Angesicht hatte sie noch keines gesehen. Wenn sie durchs Dorf ging, getraute sie sich nicht, eines der ihr begegnenden Kinder um seinen Namen zu fragen, oder wem es angehöre. Wie oft kam sie an dem Hause der Bäuerin Madlena vorüber und sah dort spielende Kinder vor dem Thore und trippelte eiligst vorbei, ohne sich aufzuhalten. Wie oft kam sie entsetzt und erschöpft nach Hause, daß man sie fragen mußte: Mamme, ist dir was passirt, was ist dir über den Weg gekrochen? daß sie dann bitterlich weinend in die Worte ausbrach: Kann ich dafür, daß sie nicht hundert Meilen von hier wohnt? Wenn sie gestorben sein wird, werd 'ich Ruh' von ihr haben.

Es war leicht gesagt, aber schwer geändert, daß dieses traurige Verhältniß mit der Zeit ein ungerechtes geworden war, und daß die Getaufte unter der Last des Hasses, den ihr die Familie nachtrug, ihr schweres Unrecht beinahe gebüßt hatte. Solche einfache Naturen lassen sich nie beurtheilen nach dem, was sie thun sollen: wie man den Baum nicht fragen kann, warum er in dem einen Erdreich besser gedeiht, als in dem anderen.

In Josseph hatte sich mit der Zeit der Bruch fast unheilbar gestaltet, er haßte in der katholisch gewordenen Madlena auch die Bäuerin. Es ist dies traurig, aber wir müssen es gestehen. Durch die Taufe war ein furchtbarer Riß in der Familie entstanden, der sich mit den Jahren vielleicht geschlossen hätte; sie wäre dem Hause langsam abgestorben, und man hätte ihrer nur als einer Todten gedacht; sie aber war auch Bäuerin geworden und darum sein Stolz aufs Tiefste gedemüthigt. Wann hatte Jemand aus seiner Familie auf freiem Felde gearbeitet? wer war auf den Acker hinausgegangen, um Erdäpfel auszugraben? wessen Hände hatten je einen Spaten gefaßt? Er konnte es nicht begreifen, wie Madlena, ein bloßes Tuch um den Kopf herumgeschlagen, in bloßen Füßen, ausgesetzt dem Sonnenstiche, dem Sturme und Regen, Tage lang auf dem Felde bleiben konnte. Ihm, dem die Gaben der Erde nur aus zweiter Hand zukamen, ihm war es dunkel, wie man sich mit dem Schmutze der Erde beflecken konnte. Auf die Bauern angewiesen und auf den Erlös der Waaren, die er ihnen verkaufte, sah er sie tief unter seiner Würde. Madlena schien ihm in bäuerliche Rohheit versunken, erniedrigt, weit unter ihrem Stande. Er haßte in ihr die doppelt Gefallene; sie hatte nicht nur die Religion ihrer Väter verlassen, sondern auch ihre Sitten verläugnet; sie war ihm in jeder Hinsicht schlechter geworden.

Siehst du, siehst du sie, sagte er immer zu seiner Mutter, wenn er die Getaufte bei einem ihrer Tageswerke bemerkte, zu dem hat sie müssen das Wasser über sich schütten lassen? Ein Jüd hätt 'ihr's nicht gethan, wo sie hätt' können daheim sitzen in der Stub ', eine Bäuerin hat sie werden müssen, in den Stall muß sie gehen und die Küh' melken? Wo hat das ein rechtschaffen Kind aus unserer Familie erlebt?

Sah er sie vom Felde heimkehren, mit irgend einer schweren Last, etwa einem Bunde frischen Grases beschwert, so lachte er gewöhnlich bitter in sich.

Hat sie zu dem den Bauer sich genommen, sagte er dann, daß sie sich abmartern und das Fleisch abzehren muß, wenn er im Wirthshaus sitzt und sauft? Laßt das ein Jud zu? Er vergreift sich ender an sich selbst, als daß er sein Weib sich so plagen läßt. Wo soll aber dem Bauer das Mitleid herkommen mit dem Weib? Weinen habe ich sie schon gesehen bittere Thränen, wenn ihnen die Kuh im Stall oder der Ochs auf dem Feld ist umgefallen, das Weib aber ist ihnen nichts, die können sie sterben sehen, und es wird ihnen kein Aug 'davon naß.

Machte ihm die Mutter dann Einwürfe, daß Madlena sich nur in ihr Schicksal füge, wenn sie den Beruf einer Bäuerin vollständig ausfülle, daß sie eben darin einen Beweis ihrer guten Abstammung aufstelle, wenn sie sich des Hauswesens tüchtig annähme, so lautete die Gegenrede aus Josseph's Munde gewöhnlich:

Das hätt 'sie nicht werden müssen. Hätt' der Vater sie nicht beim Geborenwerden schon verflucht, wenn er gewußt hätt ', daß sein Kind einmal Mist auf den Wagen legen, die Küh' melken oder Erdäpfel aus dem Felde ausgraben wird? Red mir nichts von den Bauern, und was ist aus ihr, Gott sei's ewig geklagt, geworden, Gott hat uns und sie gestraft.

Wie wunderbar muß die Wandlung in dem durch zehn Jahre vergrollten Gemüthe Josseph's gewesen sein, als ihm die Mutter Meldung that von der Frucht, die ihre alten Augen unter dem Herzen Madlena's entdeckt hatten! Marjim hatte ihn nicht gefragt, wohin er in der Nacht gegangen war, warum er erst mit dem Morgengrauen wieder zurückgekommen.

Wir aber können jenen nächtlichen Gang verrathen.

Er war an zwei Stunden vor der Wohnung seiner Schwester gestanden.

3. Ein alter und ein neuer Mensch.

Als Josseph am frühen Morgen nach dieser denkwürdigen Nacht die den Sabbat über verschlossene gemischte Waarenhandlung wieder öffnete, fand er auf den äußeren Thüren des Gewölbes einige mit Kreide geschriebene Worte in böhmischer Sprache stehen, die zu deutsch lauteten: Ahasverus, du verfluchter Jude.

Der Sinn dieser nur von einer Bauernhand hingezeichneten Schriftzüge war für den Dorfjuden dunkel. Er lächelte darüber und wunderte sich, wie der Schreiber dieser Worte so einfältig sein konnte, den Ahasverus für einen verfluchten Juden anzusehen. Das weiß das kleinste jüdische Kind, murmelte er vor sich hin, daß Ahasverus ein König ist gewesen von hundertundzwanzig Provinzen, wie es in der Geschichte Esther's heißt. Die Königin Esther ist eine Jüdin gewesen, das ist wahr, aber Ahasverus? Der das geschrieben hat, muß in der Thora nicht gut beschlagen sein.

Gleichsam zur Strafe für die Unkenntniß des Schreibers ließ er diese Worte auf der Thür stehen und verlöschte sie nicht, wie er's sonst mit den vielen Kreuzen that, die ihm die Kinder des Dorfes zum Aerger hinzeichneten. Ohnehin las sie kein Mensch, weil die Thüren des Gewölbes den Tag über an die Wand angelehnt waren. Was versteckt war, darum kümmerte er sich nicht, aber bei guter Gelegenheit nahm er sich vor, den Schreiber jener Worte, für die er das ganze Dorf verantwortlich machte, über dessen Unkenntniß der heiligen Schrift aufzuklären.

Noch an demselben Tage sollte ihm selbst ein Aufschluß über seine eigene Unkenntniß werden.

Trotz des Sonntags, an dem die alte Marjim sich sonst auch im Gewölbe zu schaffen machte, weil es da viele Kunden zu bedienen gab, blieb sie heute länger im Bette und schien zu schlafen. Während dem schlich Fischele auf den Zehen in der Stube umher, um die Großmutter nicht zu stören. Plötzlich verrieth ein leises Husten, daß sie aufgewacht sein mußte. Fast unhörbar rief sie den Namen ihres Enkels, der zu ihrem Bette hinflog.

Hast du schon geort (gebetet), Fischele Leben? fragte sie flüsternd.

Ich hab 'nur noch das letzte Stückel zu sagen, sprach Fischele laut.

Um Gott's Willen, red nicht so hoch, rief die alte Marjim, indem sie ängstliche Blicke nach der Thür hinwarf, die in das Gewölbe führte.

Der Knabe sah erstaunt die Großmutter an; er begriff nicht, warum er eine so einfache Frage und die man fast täglich an ihn stellte, nicht laut beantworten sollte.

Sind Leut im Gewölb drin? fragte sie dann leise, es kommt mir vor, als wär 'kein Mensch drin.

Der Knabe mußte auf den Zehen leise zur Thür schleichen und das Vorhängl vor dem Guckfensterchen zurückziehen, durch das man in das Innere des Gewölbes blicken konnte.

Ich seh 'den Vater im Handel mit einem Bauern, der eine Lederhaut kaufen will, lautete die Antwort des spähenden Knaben.

So ist's gut, sagte Marjim und schien durch diese Nachricht von einer drückenden Sorge befreit, denn wenn man mit einem Bauern etwas zu thun hat, wird man mit ihm vor drei, vier Stunden nicht Handel Eins. Ender läßt sich der Bauer todtschlagen, als daß er den Juden einen Pehm an sich verdienen läßt. Der Bauer ist jetzt klüger als der Jüd selbst, er hat jetzt einen Kopf auf sich, wie von Eisen, und läßt sich nicht so leicht mehr aufsitzen. Ich sag's ja immer, es wird zuletzt noch dahin kommen, daß der Jüd wird müssen auf dem Feld ackern und säen, und daß der Bauer wird im Gewölb stehen und wird dem Jüden verkaufen. Leider Gottes! die Welt wird Tag für Tag schlechter ...

Plötzlich stockte der Redefluß dieser dem Knaben nur allzu bekannten Gedanken. Die Großmutter hob den Kopf auf, der sich in diesem Augenblicke so unfähig gezeigt hatte, gerade dasjenige zu tragen, was der Mund aussprechen sollte; sie sah aufs Neue mit ängstlicher Miene nach der Gewölbthür hin.

Guck noch einmal, sagte sie flüsternd, ob der Vater drin ist.

Fischele schlich wieder zum Vorhängel hin und schob es leise zurück. Marjim folgte dem Thun des Knaben zitternd vor innerer Aufregung.

Was siehst du? fragte sie mit fast stockendem Athem.

Ich seh ', daß der Vater noch nicht ist Handel Eins mit dem Bauer, lautete aufs Neue die Antwort des Knaben, der Vater hält noch immer die Lederhaut in der Hand.

Gott Lob und Dank, sagte die Großmutter mit freudigem Antlitze, und es trat eine lange Pause ein, während welcher der Knabe die räthselhafte alte Frau halb neugierig, halb mitleidig anstarrte.

Fischele Leben! rief sie aufs Neue.

Er stand hart an ihrem Bette. Da richtete sich die Alte auf und fuhr ihm mit der Hand über Stirne und Wangen. Eine wunderbare Röthe, fast anzusehen, wie die verschämte Züchtigkeit eines jungen Mädchens, lag auf dem Antlitze der alten Frau. Sie sprach:

Lang 'mir das hervor, was ich da liegen hab' unter meinem untersten Kopfkissen; ich kann nicht mehr recht dazu.

Fischele griff nach dem bezeichneten Orte, und ein ziemlich schweres Päckchen kam in seine Hand; die Großmutter nahm es ihm sogleich ab und bedeckte es, gleichsam um es vor sich selbst zu verbergen, mit beiden Händen.

Und auf dem bist du gelegen, Babe? fragte verwundert der Knabe, die ganze Nacht durch, und das hat dir nicht weh gethan?

Ich sag 'dir, Fischele Leben, nicht gespürt hab' ich's die ganze Nacht, antwortete Marjim, ich bin drauf gelegen, als hätt 'ich noch sechs Kissen unter dem Kopf gehabt.

Aber warum?

Wieder entstand eine lange Weile; die Großmutter hustete verlegen, dann blickte sie wieder ängstlich nach der Thürklinke, ob sich die nicht bewege, ob dort Niemand lausche.

Red 'nicht so hoch, mahnte sie und neigte sich zu seinem Ohr:

Weißt du, was da drin ist?

Ich weiß nicht.

Zucker und Kaffeh ist drin, aber ich muß das vor deinem Vater verstecken.

Zucker und Kaffeh?

Fischele blickte sie zweifelhaft an, als ob der Verstand der alten Frau irregegangen wäre.

Nicht sollte dein Vater wissen, sagte sie kopfnickend, wem ich das schicken will, es druckt mir ja genug das Herz ab, daß ich's ihm nicht sagen darf. Gescheidter, wie ich's gemacht, kann nicht einmal ein ausgelernter Dieb es anfangen, daß dein Vater davon hat nichts gesehen.

Vor Fischele dämmerte es wie ein fernes Licht; mit jener, Kindern, die lange mit alten Leuten umgehen, eigenthümlichen Intelligenz begriff er allmählich, welches Ziel die langen Vorbereitungen und Rüstungen der Großmutter verfolgten.

Babe, flüsterte er schüchtern, soll ich dir sagen, wem du den Zucker und Kaffeh schicken willst?

Marjim zitterte am ganzen Leibe, Schauer, wie die eines nahenden Gottesgerichtes, durchflogen sie; krampfhaft bebten die Hände der alten Frau auf dem kleinen Päckchen, das sie bedeckten.

Nu? sagte sie fast unhörbar.

Fischele zögerte mit der Antwort. Endlich brachte er mühsam hervor: Das willst du schicken der Muhm ' der Muhm' Dinah.

Hab 'ich's errathen? fragte er dann nach einer Weile, da die Großmutter, noch immer mit dem Kopf nickend, keine Antwort zu geben vermochte. Sie aber brach in ein so heftiges Schluchzen aus, daß es Josseph gewiß vernommen hätte, wenn er mit dem Bauer schon Handel Eins geworden wäre.

Als sie der Sprache wieder mächtig wurde, glich sie in der That einem siebenzig Jahre alt gewordenen Kinde, das eben so schnell seine Thränen zu trocknen, als sie zu weinen gelernt hat. Statt des Schmollens lag aber eine eigenthümliche Resignation auf ihrem Antlitze; die Last, die dieses Herz gedrückt hatte, mußte aber auch unaussprechlich gewesen sein. Sie selbst meinte:

Kann Einem, der einen Menschen todtgeschlagen hat, anders zu Muthe sein, wie mir ist? Ich hab 'gehört, so Einer, wenn er das ganze Jahr Alles geläugnet hat, was man ihm vorwirft, soll oft mitten in der Nacht um den Richter schicken, und da schüttet er sein Herz vor ihm aus und sagt ihm Alles, was ihm wie ein Centner drauf gelegen ist. Merkwürdig soll aber sein, wie so Einem dann zu Muth ist; es ist ihm, als hätt' er etwas sehr Gutes und Gottgefälliges gethan, und er weiß doch, daß er sich selber hat geschadet, denn jetzt werden die Büttel kommen, und der Galgen wartet auf ihn.

Babe, rief, erschreckt durch das grauenhafte Gleichniß, das er nur halb verstand, der Knabe, wer hat denn einen Menschen todtgeschlagen?

Wer redet von dem? entgegnete die alte Frau, fast selbst erschrocken. Fischele! einen Menschen todtschlagen, wo fällst du auf dem aus? Hab 'ich von dem gesprochen?

Instinctmäßig begriff der Knabe, um was es sich eigentlich hier handle; er that keine Einsprache mehr; er wußte aus langer Gewohnheit, daß man die Großmutter einen Umweg durch das Gedankengebiet müsse machen lassen, bis sie wieder dahin zurückkehre, woher sie ausgegangen.

Weiß ich denn nicht, Gott, Lebendiger im Himmel! begann sie wieder wehklagend, daß ich eine Sünde begeh ', und hab' ich denn die ganze Nacht ein Aug 'können zumachen, wie mir die Sünd' ist eingefallen? Was soll ich aber thun? Was soll ich anfangen? Hast du sie gestern gesehen, wie sie gekeucht hat unter dem schweren Sack, wie sie nicht hat aufstehen können? Ich bin ja doch die Mamm 'und sollt' kein Mitleid mit ihr haben?

Stillbewegt lauschte Fischele auf die eigenthümlich verworrene Rede der Großmutter, die vielleicht nur er verstand.

Mein alter Kopf soll das unterscheiden können, fuhr sie fort, ob ich da eine Sünde begeh 'oder nicht? Hab' ich Gemahra gelernt, daß ich das wissen soll? Nicht einmal fragen kann ich Einen, und dein eigener Vater, Fischele, möcht 'Feuer und Flamm' werden, könnt 'er nur das kleinste Wörtchen davon erfahren! Sag aber selbst, Fischele Leben, du bist ja auch ein Mensch, soll ich's thun oder soll ich's nicht thun?

Was denn? fragte erstaunt der Knabe.

Diese unschuldige Frage mußte der alten Frau ihr ganzes Bewußtsein zurückgegeben haben; sie mußte mit aller Klarheit, die der gereiften Seele eigen ist, ihre Lage überschauen, sich fühlen aufs Neue als die Großmutter des Kindes, das sie zu ihrem Rathgeber erwählt hatte! Ein namenloser Zug zuckte um ihre dünnen, blassen Lippen; aber mit großer Festigkeit im Tone, wie sie der Knabe aus ihrem Munde noch nie gehört, sprach sie nun:

Da, nimm den Zucker und Kaffeh und trag ihn zu ihr hin. Versteck 'ihn aber gut, daß dich der Vater nicht sieht, denn er möcht' gleich Alles errathen. Sag auch keinem Menschen davon und thu, wie ich dir heißen werde. Sag ihr: die Mamm 'schickt ihr das, und sie soll sich nicht so plagen und abzehren, und sie soll sich lieber schonen, damit ihr nichts Böses geschieht. Du kannst ihr auch sagen, sie soll sich damit etwas Gutes anthun, und wenn sie mehr braucht, will ich ihr wieder schicken. Und sag ihr noch, sie soll ja den schweren Sack nicht mehr auf sich packen; sie könnt' sich etwas zerreißen in ihrem Leib, daß sie auf einmal todt umfällt, wie man das schon oft hat gehört. Und vergiß nicht, daß du ihr sagst, wenn sie noch etwas auf ihre Mamme hält, so soll sie nie barfüßig auf dem Feld stehen, und soll nicht trinken, wenn sie erhitzt vom Feld heimkommt, und sie soll auf sich sehen, daß sie sich nicht verkühlt und, Gott behüt '! krank wird. Denken soll sie auf sich, sag ihr, und daß sie Kinder hat, und daß, wenn sie krank wird, Keiner da ist, der den Kindern auch nur einen Löffel Wasser reicht .... Und jetzt geh, Fischele Leben ....

Die Stimme versagte ihr; erschöpft sank ihr das Haupt auf den Polster zurück, nur die Augen hielt sie weit offen, aber sie glänzten von der leuchtenden Freudigkeit glorreich besiegten Mutterschmerzes. So lag sie eine lange Weile da, anscheinend in einer Art Verzückung, daß sie den Knaben nicht bemerkte, der, das Päckchen in der Hand, unschlüssig dastand und mit dem Fortgehen zögerte.

Babe, rief dieser leise.

Die alte Marjim fuhr auf:

Bist du noch da? fragte sie fast grämlich, ich hab 'gemeint, du bist schon über alle Berge.

Babe, wirst du nicht bös sein, begann Fischele kleinlaut ich fürcht 'mich.

Fürchten? gehst du denn mitten unter Räuber, entgegnete Marjim lächelnd, ich mein ', es wird dir Keiner was zu Leid thun.

Babe, begann wieder der Knabe, der kaum die Augen aufzuschlagen sich getraute, Babe, was mach 'ich aber, wenn sie das Kreuz über mich macht?

Diese Einwendung schien auf die alte Frau nicht die gehoffte Wirkung hervorzubringen; ein eigenthümliches Lächeln schwebte um die dünnen Lippen, als Glorie eines wahnbefreiten Gemüthes.

Narrele, sagte sie, weißt du, was dein Urdede immer gesagt hat, wenn mir meine Mutter etwas verwiesen hat, was nicht jüdisch war? Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf.

Wenn sie aber doch das Kreuz über mich macht? entgegnete der unüberzeugte Knabe.

Da will ich dir einen guten Rath geben, Fischele Leben, und der wird dich vor allem Bösen bewahren. Weißt du das erste Kapitel Thillim (Psalmen) auswendig, ich meine wenigstens, du hast's oft genug gelernt.

Babe, das kann ich

So sag's.

Fischele begann in hebräischer Sprache: Wohl dem, der nicht wandelt im Rath der Gottlosen, noch wandelt auf dem Weg der Sünder, noch sitzet da, wo die Spötter sitzen.

Die Großmutter nickte Beifall und weiter! erscholl es aus ihrem Munde.

Sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn, und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, geräth wohl.

Und was er macht, das geräth wohl, wiederholte Marjim, deren Augen im Wiederscheine jener heiligen, aus dem Munde des Knaben kommenden Worte fast überirdisch glänzten.

Aber so sind die Gottlosen nicht, erhub Fischele lauter seine Stimme, sondern wie Spreu, die der Wind verstreuet. Darum bleiben die Gottlosen nicht im Gericht, noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten

Weiter! befahl Marjim, der diese letzten Wone anscheinend sehr wehe thun mußten.

Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah!

Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach.

Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig.

Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter.

Ich geh 'schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus.

Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen.

So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe.

Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur Muhm 'Dinah begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück.

4. Ahasver.

Im Menschengewühle sind die Wandlungen eben so wunderbar, wie die draußen in der Natur, fast noch unerklärlicher, fast noch eigenthümlicher. Die Wissenschaft faltet es sich aus einander, warum auf heiteren Sonnenschein sich oft schwere Regenwolken wälzen, sie prophezeit die Störungen voraus, die im Laufe des Tages, des Monats und des Jahres eintreten müssen. Hat sie aber euch jemals die Stürme eines verstörten Gemüthes voraussagen können?

Ein sonderbares Gedankenleben wogte um diese Stunde durch Josseph's Seele. Es war schon eine geraume Zeit verstrichen, daß er das Geschäft mit dem Bauer abgethan, und nun ging er, da kein anderer Kunde eben kommen wollte, in dem engen Raume des Gewölbes auf und ab.

Es war nicht Ein Gedanke, der ihn da beschäftigte; wie losgelassene Bienen umschwärmten sie ihn zu Tausenden. Er fühlte, daß etwas an seinem Leben einen kranken Theil haben müsse, er sah es fast mit leiblichen Augen, wie irgend ein Ungemach, dessen Namen er nicht anzugeben wußte, ihm nachschlich wie ein düsteres Gespenst; es beunruhigte diese starke, hassende Natur etwas, das sie wie einen in Holz eingetriebenen Keil nicht auszustoßen vermochte.

Er mußte an den gestrigen Vorfall mit der Schwester denken und begriff es nun nicht, wie er sich zum Nachgeben habe verleiten lassen; er hatte die Regungen des Mitleides vergessen, die ihn selbst ergriffen hatten, als ihm die Mutter den gesegneten Zustand Madlena's berichtet, jene Regungen des Mitleides, die ihn in finsterer Nacht hinausgetrieben hatten, um an dem Fenster eines Hauses die Athemzüge einer Schwester zu belauschen.

Er fing an darüber nachzudenken, warum die Mutter selbst jetzt weicher und milder gegen die gefallene Tochter gestimmt sei; er war es sich dunkel bewußt, daß die Gewalt, die er so lange über das Gemüth der alten Frau ausgeübt hatte, von ihm gewichen sein mußte, oder hatte er sie nie besessen?

Etwas mußte vorgefallen sein, kam er endlich zum Schlusse, so von mir nichts dir nichts ist das der Mamme nicht angekommen. Das Ganze ist, die Mamme ist wie alle Weiber und hat mit ihr Mitleid gehabt, wie sie es mit Jeder hätte, die in der Hoffnung ist. Etwas Anderes ist's gar nicht gewesen. Und endlich, wenn das Kind, das sie jetzt unter dem Herzen trägt, wirklich wird geboren sein, was ist dann vorgefallen? Wird man sich in meinem Haus darüber freuen? Wird es einen jüdischen Namen bekommen? Wird die Mamme die Hand können legen auf den Kopf des Kindes, um es zu benschen? Hat denn der Gallech (Geistliche) nicht schon seinen Wedel bereit und das Wasser, und hätt 'ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm ', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen.

Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr!

Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast.

War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld daran trug, daß sie jetzt wimmernd und ächzend zu Hause lag, hatte er ihr nicht in demselben Augenblicke geflucht?

Es befiel diesen starken Menschen eine ungeheure Seelenangst, er hätte um Hülfe schreien mögen, um sich von ihr zu befreien. In der That wollte er anfangs um Fischele rufen; er fürchtete sich fast vor sich selbst. Weßwegen er den Knaben sehen wollte, das wußte er selbst nicht; aber eine gewaltige Sehnsucht nach dem Schauen eines Menschenantlitzes hatte ihn ergriffen.

In diesem Augenblicke war es sich Josseph bewußt worden, welches Unrecht er gestern an der Schwester begangen; er fühlte, wie es mit tausend spitzigen Stacheln in sein eigenes Fleisch gefahren war.

Seine Brust hob sich aber, wie befreit von einer schwarzen That, als er Madlena langsam, aber doch aufrechten Ganges eine Weile später auf die Kirche zukommen sah. Zum ersten Mal seit zehn Jahren, daß sie ihm nicht angethan mit den Schrecknissen der Gehennims erschien, daß er ohne Fluch und Zorn sie unter dem Geläute der schrecklichen Glocke in das Gotteshaus eintreten sah! Zum ersten Male seit einer so langen Zeit, daß ihn Madlena's Anblick mit einer Art Freude überkam!

Sie war also nicht krank! Sie hatte sich also nicht überhoben!

Müde von innerer Erschütterung mußte er sich auf eine Bank niederlassen.

Wer weiß, sprach es in ihm, ob sie gar so schlecht ist; man meint oft nur, man hat einen schlechten Menschen vor sich, und wenn man ihn in einer rechten Stunde antrifft, so sieht man erst, wie man sich betrogen hat. Und woher sollt 'denn das Schlechte ihr auch kommen? Hat sie keine jüdische Ader in sich? Hat ihr Vater nicht Reb Schmul geheißen? Ich möcht' nur das Eine gerne wissen, ob sie in den zehn Jahren, die sie fort ist aus dem Haus, einmal zu Gott gebetet hat. Ich kann mir das nicht denken; jüdisch kann sie und darf sie ja nicht beten, also muß sie's böhmisch thun. Gott, Lebendiger! und welcher Mensch könnt 'mir einreden, daß sie dort in der Kirche mit den Bauern und vor dem Johann von Nepomuk auf der Brücke, oder vor der heiligen Maria so mit ganzer Seele, mit Leib und Leben sich ausbeten kann und ihr beschwertes gedrückt' Herz ausschütten? Dinah, Rebb Schmul's Tochter! Wenn sie also nicht beten kann, wie sie will, was muß da herauskommen? Was wird aus einem blanken Stück Silber, was ich in der Erd 'vergrab'? Es kömmt der Rost darüber und verzehrt's fast. Und Madlena sollt 'den Rost nicht schon auf ihrer Seele haben? Der Wein wird dumpf, wenn man den Keller nicht lüftet, und das schönste Kleid zerfällt, wenn man's nicht anzieht und Madlena sollt' gut geblieben sein? Schlecht, grundschlecht und verfault wie ein wurmiger Apfel muß die sein, die zehn Jahre schon fort ist aus einem jüdischen Haus, und wie einen wurmigen Apfel muß man sie auch weit weg von sich schleudern. Eine Sünd 'lad ich mir auf den Kopf, wenn ich weiter an sie denk'; sie muß mir heraus da aus dem Herzen; ich seh ', es ist noch zu viel von ihr darin. Heraus muß sie, heraus!

Die letzten Gedanken hatten eine finstere Wandlung in seinem anfangs so mild gestimmten Herzen hervorgebracht; wieder lag es wie ein düsterer Wolkenflor über seiner Seele. Mit geballten Fäusten, die den inneren Sturm kundthaten, Schweiß auf der Stirne, unter der es heftig arbeitete, saß er da.

Ein Geräusch, das vor dem Gewölbe entstand, weckte ihn aus seinen nächtigen Gedanken auf. Er blickte auf und bemerkte zwei Knaben, die einen flüchtigen Blick in das Gewölbe warfen und dann eben so schnell über die Gasse liefen. Er hörte noch, wie sie die Worte riefen: Ahasverus, du verfluchter Jud. Dann waren sie entschwunden.

Waren das nicht die nämlichen Worte, die er heute früh mit Kreide auf der Gewölbthüre geschrieben gefunden hatte? Sie erschreckten ihn auf eine wunderbare Weise.

Welcher Zusammenhang bestand hier zwischen dem Gesprochenen und dem Geschriebenen?

Josseph wollte auf und den Knaben nach, als er sich zur Zeit erinnerte, daß er einer an und für sich lächerlichen Sache dadurch einen Anstrich von Bedeutsamkeit verleihen würde. Dennoch war er über den zweimal an einem Tage sich wiederholenden Vorfall sehr verlegen; er legte ihm eine Wechselwirkung unter, von der er nur nicht wußte, wo er ihre lenkenden Kräfte suchen sollte.

Kamen sie von Madlena?

Er hatte diesen Gedanken gleich erfaßt. Oder hatte sie ein Anderer aus dem Dorfe ersonnen, um ihm einen Schimpf anzuthun? Er lebte ja sonst mit den Leuten in Frieden und Einigkeit; er drückte Niemanden, und wenn auch keine Freunde, so glaubte er wenigstens keinen Feind im Dorfe zu besitzen. Je mehr er darüber nachdachte, desto unerklärlicher waren ihm jene von den Knaben zugerufenen Worte: er sah darin nicht mehr biblische Unkenntniß, er legte ihnen die verworrensten Erklärungen unter, die aber nicht im Entferntesten dazu paßten!

Zuletzt wunderte er sich über sich selbst, warum er die Sache nicht los werden konnte.

Als Josseph so in Gedanken über die eigenthümliche Lage dastand, in die ihn drei Worte gestürzt hatten, wurde er durch einen rauhen Morgengruß, der über die Gasse herüberschallte, aufgeweckt. Dieser Gruß lautete nicht wie der gewöhnliche aus dem Lande: Gebe Gott einen guten Morgen; was Josseph vernahm, waren die Worte: Gott gebe dir Freiheit und Ruhe von allen Teufeln.

An dieser sonderbaren Sprechweise erkannte Josseph eine Person aus dem Dorfe, die ihm in diesem Augen - blicke wie vom Himmel zugeschickt dünkte. Es war der Bauer Stepan Parzik aus dem Dorfe.

So sind die Menschen! In jedem andern Augenblicke hätte Josseph Anstand genommen, sich mit einem Bauer , der nicht im besten Rufe stand, so vor dem ganzen Dorfe herzustellen , jetzt überwog der Gedanke, bei ihm sich Rath erholen zu können, jedes Bedenken, er ging ihm sogar die Hälfte Weges entgegen und reichte ihm die Hand, die er sonst früher in einen stechenden Dornbusch lieber, als in die Rechte des Bauers Stepan Parzik gelegt hätte.

Parzik war im Dorfe als ein wilder, händelsüchtiger Mensch bekannt, wie wohl sich ihm eigentlich Böses nicht nachsagen ließ. Er war im Dorfe mehr gefürchtet als gehaßt, und eine dunkle Sage erzählte von dem beinahe sechzigjährigen Manne, er habe in seiner Jugend vierzehn Schulen studirt und hätte in dem bischöflichen Seminar in Königgrätz Geistlicher werden sollen. Wie es aber gekommen war, daß Parzik wieder Bauer geworden und in das weltliche Leben zurückgekehrt war, das wußte Niemand mit schlagenden Gründen anzugeben. Die ganze Erscheinung des vierschrötigen, breiten Mannes mit seinen weitspurigen Schritten, der rauhen Sprache, dem slavischen Typus in den stark heraustretenden Zügen seines Antlitzes erinnerte sehr wenig an den einstigen Beruf seiner Jugend; er war ganz böhmischer Bauer geworden, nur schien er eine gewisse Unabhängigkeit in geistlichen Sachen, als Erbtheil ehemaliger Studien, gerettet zu haben. Er lag Jahr aus Jahr ein mit dem Pfarrer im Streit; so oft der Zehent abzuliefern kam, konnte man gewiß sein, daß in des Bauern Hause der Geist des offenen Aufruhrs nur durch die Diener der Gewalt gebändigt werden konnte.

Im Dorfe kannte man diese wilde Natur nur unter dem Namen der Dechant ! man hatte ihm, der sich der geistlichen Gewalt gegenüber als gleichbedeutende, immer rege Macht betrug, mit richtigem Verständniß die Stola über den Bauernkittel geworfen.

Seit dem März des Jahres 1848 war dieser Bauer noch wilder, noch unbändiger geworden. Man fand eines Tages eine brennende Schwefellunte auf der Schwelle der Pfarrei, und kein Mensch im Dorfe zweifelte, daß sie von dem Dechant dorthin gelegt war.

Er war der Erste, der die Flinte ergriff und das Wild der Herrschaft in dem Walde niederschoß, der Erste nach jenen Tagen, der vor dem Oberamtmann mit bedecktem Haupte stehen blieb, der dem Geistlichen noch vor dem Robbotgesetz Zehent und Robbot verweigerte, der in einer Nacht die Sturmglocke läutete und die Bauern zusammenrief, um ihnen das Neueste vom Wiener Reichstage vorzulesen. Es war die Robbotfreiung, die in jener Nacht Hunderte von Menschenherzen wie mit Peitschenhieben aufjagte, daß sie auf - jauchzten und aufbrüllten, halb Fluch, halb Segen, Haß und Jubel, Gift und Freude vor sich ausgießend.

Man konnte nicht sagen, daß Stepan Parzik irgend einen Anhang im Dorfe hatte, er war eine jener Lebensgestalten, wie wir sie in der Gesellschaft allein und unbegriffen stehend finden, wie sie auch das Dorf erzeugt. Es war ihm Keiner wild und aufrührerisch genug, und darum zeigte er ihnen Verachtung, wo er nur konnte.

Zu dem Judenhause stand er in einem eigenthümlichen Verhältnisse; seine Tochter war nach dem Abfalle Madlena's als zehnjähriges Kind ins Haus gekommen und diente dort als Magd; sie war bei den Juden gleichsam erzogen worden. Mit zärtlicher Liebe hing das Mädchen an ihrem Dienstherrn, und war nie zu bewegen gewesen, in ihres Vaters Haus zurückzukehren. Seinerseits betrachtete Stepan dieses Mädchen als eine Abgefallene und nannte sie eine Jüdin ; aber er hatte sich mehr als einmal geäußert, es sei ihm im Grunde das gleichgültig, und wenn sie gleich als Jüdin geboren worden, so wäre ihm das noch lieber, denn die Juden hätten's gut, müßten an ihre Pfaffen keinen Zehent zahlen, brauchten nicht zur Beichte zu gehen und hätten das ganze Geld der Erde.

Wer eine Natur, wie die Josseph's, begreift, wird den Schluß leicht finden, warum ihm Stepan Parzik mit seiner Freigeisterei ein innerlicher Abscheu war, warum es ihn graute, wenn diese wilde, ungeschlachte Natur, dieser Rebell gegen Gott und Menschen , wie er ihn nannte, in seine Stube trat. Zwischen ihm und dem Bauer lag ein unergründlich tiefer See, der sie meilenweit aus einander hielt und jedes innigere Herannahen verhinderte.

Wir treffen diese beiden Männer heute unter ganz anderen Umständen. Josseph mußte sonst eine Art Grauen überwältigen, so oft sich ihm dieser wilde Bauer nahte, heute trat er ihm gleichsam furchtlos entgegen, als hätte er ein Mittel zur Hand, diese unbändige Natur zu zähmen. Auf den Gruß Stepan's: Gott gebe dir Freiheit und Ruhe vor allen Teufeln! rief er lächelnd über die Gasse hinüber: Stepan! ich weiß nichts von deinen Teufeln.

Josseph wußte es aus alter Erfahrung, daß der Bauer einem Eingehen in seine politischen Ansichten, wie er es nannte, nie aus dem Wege ging; sonst wäre dem Gruße Stepan's ein stilles Kopfnicken gefolgt, heute war es dem Juden darum zu thun, daß der Dechant Stand hielt.

Josseph täuschte sich nicht. Stepan kam langsam und weit ausschreitend auf das Gewölbe zu. Im Näherkommen konnte Josseph sich nicht enthalten, das merkwürdige Gesicht des Bauern zu bewundern; es lag ein trotzig starker Ernst darauf; zum ersten Male in seinem Leben wurde es ihm klar, daß auf dem Antlitze Stepan Parzik's ein Strahl höherer Intelligenz leuchtete, als sonst auf den Gesichtern der anderen Dorfbewohner zu sehen war.

Du weißt nicht, wer meine Teufel sind? begann der Dechant , der auf der Schwelle des Gewölbes stehen geblieben war. Lebst schon so lange im Dorfe und weißt nicht, wer meine Teufel sind?

Man vergißt viel auf der Welt, entgegnete Josseph mit schlauem Lächeln.

Die Geistlichen sind's, rief der Bauer mit so gewaltiger Stimme, daß Josseph meinte, der Pfarrer müßte diese Worte auf seiner Kanzel gehört haben; die Pfaffen sind von jeher die Teufel der Welt gewesen. Wie ich neunzehn Jahre alt war, hätt 'ich auch ein solcher, wie soll ich sagen? meinetwegen: Geistlicher werden sollen, aber ich hab' mir die Sache überlegt.

Hör an, Parzik, sagte Josseph, du meinst, du kannst mir ein Kalb für einen Ochsen verkaufen? Du wirst dir doch nicht einreden, daß du, wie Einer von deinen Heiligen, gerade aus, mit ausgespannten Flügeln in den Himmel hineinfliegen kannst? Das laß dir ja nicht einfallen.

Stepan schien diesen Witz mit Wohlgefallen aufzunehmen; er schmeichelte seiner Kraft und Selbstständigkeit.

Nein, Bruder, sagte er, ein Engel bin ich nicht, Flügel hab 'ich auch nicht, um damit in den Himmel zu fliegen, aber zwei Hände hab' ich, und mit diesen werde ich mich herumschlagen, so lang ich lebe. Könnte so eine Hand zwei von ihnen auf einen Schlag niederwerfen, ich möcht 'meine eigene Hand in der Kirche aufhängen und wie vor einem Heiligenbild davor knieen.

Geistliche muß es geben, entgegnete Josseph ernst, es kann sich nicht der Erste Beste auf die Kanzel hinaufstellen und den Leuten erklären, wie sie's machen sollen. Es kann auch nicht Jeder Lateinisch und Griechisch lernen, dazu müssen sich besondere Leut 'finden. Geht's bei uns anders zu? Auf zehntausend Menschen kommt oft Einer, der in unserer heiligen Schrift sich auskennt.

Red mir nichts von deiner heiligen Schrift, schrie Parzik zornig, ich meine sonst, du bist gar kein Jud, und bist bei unseren Pfaffen in die Beichte gegangen. So reden nämlich die Geistlichen immer, wenn sie beweisen wollen, daß das Volk dumm ist. Als wenn die heiligen Schriften da wären, damit die Geistlichen davon leben, das beste Bier trinken und alle Tage Hasenbraten auf dem Tisch haben. Unser Herr und Heiland sitzt etwa darum zur Rechten Gott Vaters und die heilige Taube schwebt über ihm, damit der Geistliche in Gold und Silber geht, daß seine Haushälterin wie eine Königin das Mark der Bauern in die Küche hinausträgt? Es braucht keine Pfaffen zu geben, und du möchtest ganz anders reden, wenn dir eure Teufel Ruh 'gelassen hätten.

Meine Teufel? Ich weiß von keinen Teufeln, sagte Josseph unruhig, denn das Gespräch mit dem wilden Bauer überkam ihn mit dem gewohnten Grauen.

Du weißt nicht, wer deine Teufel sind? rief Parzik mit lautem Gelächter.

Nein.

So will ich dir's sagen. Die Herren Rabbiner mit den langen Bärten, das sind deine Teufel, und von dem, was ich jetzt gesagt, zwacken mir zehntausend Pfaffen nicht einen Bissen ab.

Josseph versuchte zu diesen Worten zu lächeln. Wie jedem gläubigen Gemüthe war ihm wohl die Kraft nach innen, aber keine nach außen gegeben, um sich im Kampfe gegen Spott und Unglauben aufrecht zu erhalten.

Wie kommen unsere Rabbiner zu euren Geistlichen? fragte er und lächelte dabei, so siegesbewußt!

Alles Eins, Alles Eins! schrie der Bauer heftig. Wenn du mir einen Pfaffen zeigst in der ganzen Welt, du kannst auf und ab wandern, bis du einen finden wirst, wenn du mir einen Pfaffen zeigst, der nicht eben so gut Rabbiner bei den Juden sein könnte, so lass 'ich mich auch von der Brücke hinunterwerfen in die Moldau, und die Menschen machen mich vielleicht dann auch zum Heiligen. Jetzt halten sie mich ohnedies für einen Teufel. Wer weiß, wie man's anfangen muß, damit die Menschen einen nach dem Tode für einen Engel und Heiligen halten. Der dort auf der Brücke hat auch in einer Kutte gesteckt, und hat's auch verstanden!

Mit jedem Worte, das bleiern und schwer wie ein Knüttel aus dem Munde des Bauern drang, stieg Josseph's inneres Grauen vor ihm. Er stand hier einem Menschen gegenüber, den er in seinem eigenen Fleische wühlen sah, und er vermochte es doch nicht, ihm das scharfe Messer zu entreißen. Er sagte bloß: Wenn man gut und rechtschaffen ist, hat einen Gott im Himmel und die Menschen auf der Erde gern.

Parzik schlug ein lautes Gelächter auf.

Laß das gut sein, Bruder, sagte er vertraulich, und legte dabei die starke Hand auf die Schulter Josseph's, laß das gut sein, Bruder; wenn die Pfaffen nicht wollen, wird doch kein Mensch heilig gesprochen, und wenn er sich noch so gut mit Gott und seinen Engeln stellt. Sie leiden's nicht.

Als läge eine giftige Raupe auf ihm, schüttelte Josseph die Hand des Bauern von sich herunter und trat von ihm weg. Es sollte ein Raum zwischen ihm und dem Bauer sein, der, so klein und eng er war, in diesem Augenblicke mehr als eine Welt betrug.

Bist noch immer der Alte, meinte er, indem er Parzik ruhig ansah.

Und werd 'es auch bleiben bis an mein selig Ende, entgegnete der Bauer lachend, wenn überhaupt der Pfaff mir ein selig Ende gönnen wird. Will er einmal das Sterbeglöckchen nicht läuten lassen, so weiß ich, wie man's machen soll. Man fragt nicht lange, und macht sich auch ohne diese Dummheiten auf den langen Weg. Es ist doch so Alles Eins.

Josseph sprach kein Wort; es that ihm in innerster Seele weh, die gewaltsame Natur des Dechanten über seine Schwelle geladen zu haben; es war ihm in diesem Momente, als ginge der Hauch einer zerstörenden und zerfressenden Kraft an seinem Leben vorüber, als hörte er über und unter sich Messer schleifen, die die unsichtbarsten Punkte seines Daseins mit scharfer Schneide trafen. Innerlich fühlte er sich von einer großen Last befreit, als Parzik Anstalten zum Fortgehen machte.

Erst als der Bauer sich entfernt hatte und seine breitspurigen Schritte über die Schwelle hinausgetragen, fiel es Josseph ein, daß er über dem Gespräch mit ihm den eigentlichen Zweck, warum er den Dechant gerufen, ganz vergessen hatte.

Fast unbewußt, ob er dem Bauer wirklich nachgerufen habe, entrang sich ihm ein Laut, den die Angst und sein Seelenleiden erzeugt haben mochten. Als Parzik sich wieder umwandte und langsam auf das Haus zuging, war es Josseph, als müßte er vor Scham vergehen; er fühlte sich gedemüthigt, daß er bei einem Bauer sich Raths erholen mußte.

Mit einer hastigen Geberde riß er die angelehnte Gewölbthür auf und fragte bebend, als gälte es die Lösung eines Lebensräthsels: Lies das da und sag mir dann, wie ich's verstehen soll?

Parzik las, dann spie er giftig aus, pfiff gellend, daß es schauervoll durch Josseph's Seele drang.

Da hast du's, sagte er, da hast du's. Kein Kaiser kann schneller bedient werden, wie du, und bist doch ein Jude. Kaum hast du gefragt, und jetzt antwortet man dir schon.

Josseph sah ihn verblüfft an.

Parzik schien mit seinen Augen die Thür, darauf die verhängnißvollen Worte standen, gleichsam durchbohren zu wollen; ein unheimliches Feuer ergoß sich daraus über sein ganzes Wesen, und wie er so dastand neben dem zagenden, ungewissen Dorfjuden, kam er diesem größer, fast über sich selbst hinausgehoben vor.

Fangt ihr wieder an? redete der Bauer, der Minuten lang seine Blicke von den Schriftzügen nicht abwandte, als hätte er eine Figur aus Fleisch und Blut vor sich, gegen die er die Faust ballen konnte. Fangt ihr schon wieder an? Kein Wunder wär's; sie machen ihnen den guten Hafer so wohlfeil, daß die Pferde nicht mehr wissen, sollen sie sich an den Wagen spannen lassen oder ins freie Feld hinauslaufen? Aber wart 'nur, du übermüthiger Gaul! Kommt wieder einmal so ein Herr, wie der vor siebenzig Jahren, über dich, so sperrt er dich wieder in den Stall. Ich sag's ja immer, sie lassen den Hafer zu hoch wachsen und geben ihnen nicht Stroh genug zu essen.

Ich versteh 'nicht ein Wort von dem, was du da sprichst, sagte Josseph, den das unheimliche Treiben des Bauern immer mehr entsetzte.

Parzik erwachte aus seiner wilden Verzückung. Willst du wissen, Jude, sprach er ohne Bitterkeit, fast als ob die Richtigkeit seines Ausspruches über allem Zweifel erhaben stünde, willst du wissen, wer das auf die Gewölbthür hat schreiben lassen?

Josseph nickte ein ängstliches Ja.

Der da drüben, sagte der Bauer, indem er ruhig mit dem Zeigefinger auf die Pfarrei hinwies.

Der Pfarrer? lallte Josseph, zum Tod erblassend.

Parzik hatte sich nach diesem Ausschluß eiligst entfernt; noch lange nachher starrten die Augen Josseph's nach den Fenstern der Pfarrwohnung hin.

Also dort lebte der Feind?

5. Die Sendung.

Seltsame Erscheinung! Daß man sich vor dem Zorne der beleidigten Kirche mehr fürchtet, als vor dem drohend aufgehobenen Finger der Staatsgewalt! Ein dunkles Gefühl, dem Josseph nur keinen Ausdruck zu geben wußte, sagte ihm, daß der Rächer eines gekränkten Gottes unsichtbar, aber desto sicherer treffend das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen!

O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe!

Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung?

Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu stoßen: schwebt über diesen wilden Gewässern immer höher schwellender Fluten der Geist des Friedens und der Erlösung?

Aus Millionen wählt euch diesen einzigen Dorfjuden heraus und stellet ihn von Angesicht zu Angesicht dem ewigen Traume von Menschenverständigung gegenüber. Er hat ein schweres Unrecht an seinem eigenen Blute begangen welche finstere Mächte weben ihre geheimnißvollen Ringe um sein Haupt, daß er zum Erkennen seiner Schuld nicht gelangt?

Er fürchtet die beleidigte Kirche mehr, als die Thränen seiner Mutter, als den Zorn seines eigenen Gewissens. O unbegreifliches Walten der Menschennatur!

Josseph war der lebendigsten Ueberzeugung, kein Anderer als Madlena selbst könne ihn beim Pfarrer verklagt haben; wer könne und würde sich ihrer angenommen haben, als der Pfarrer selbst, der ihr seinen Schutz geben mußte!

Wie wenige Menschen hätten in einer ähnlichen Lage anders gedacht!

Es traf sich an diesem Tage gut, daß Josseph den Sterbetag seines Vaters mit Fasten beging, er brauchte darum keinem Menschen unter die Augen zu treten, am allerwenigsten seiner Mutter; er konnte so ungestört sich dem peinlichen Gedankenleben hingeben, das sich an diesem Tage über sein ganzes Leben wie ein dichter Nebel gelagert hatte.

Treten wir wieder zur Großmutter ein.

Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde.

Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte.

Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt.

Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht

Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor - gebracht hatte. Red hecher und thu mir nichts verschweigen. Meinst du denn, ich fürcht 'mich vor deinem Vater?

Fischele blickte die Großmutter verwundert an; wie war sie während einer Stunde so ganz anders worden! Was mußte in der Seele dieses alten Weibes vorgegangen sein, daß es jetzt kühn und herausfordernd sich einer Gefahr entgegenstellte, die es vor kurzer Zeit, wie ein Kind die strafenden Augen seines Lehrers, gefürchtet hatte?

Fischele besaß Verständniß genug, daß er trotz der veränderten Stimmung seiner Großmutter keinen Augenblick daran vergaß, daß der Vater nur durch eine dünne Wand von ihnen getrennt sei.

Er wiederholte darum eben so leise seine ersten Worte: Babe, sie hat's nicht über mich gemacht

Was hat sie nicht gemacht? fragte die alte Frau.

Weißt du denn nicht, daß ich mich hab 'gefürcht'? das was die Bauern machen, mein 'ich, wenn Abends die Glocke läutet, oder wenn sie an der Kirche vorübergehen?

Das Kreuz, willst du sagen.

Babe, rief der Knabe erschrocken.

Narrele, sagte diese lächelnd, wie ich klein war, wie du, da bin ich auch so erschrocken, wie du, und hab 'gezittert am ganzen Leib, wenn man das Wort hat vor mir ausgesprochen. Ich weiß noch jetzt nicht, ob ich recht handle, wenn ich's in meinen Mund thu' nehmen, aber ich ermahn 'mich immer, was mein Urdede gesagt hat, wenn so etwas ist vorgefallen: Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. Und mein Urdede war doch ein gewaltig großer und gelehrter Mann! Und willst du noch etwas wissen, Fischele Leben? Es ist mir schon manchmal eingefallen, daß es gar keine Sünd' sein muß, wenn man keinen Haß hat gegen das, was tausend Menschen vor unseren Augen thun. Ich hab 'mir schon oft gedacht: Millionen und Millionen von Menschen gehen, Gott weiß schon, wie viel Jahr auf der Welt herum, der Eine macht so, der Andere so, und meint, er hat's damit gut gemacht, und Gott sieht das Tausende und Tausende von Jahren schon zu und läßt alle die Menschen wachsen und gedeihen. Hab' ich's denn geschrieben und mit rothem Triefwachs versiegelt und einen Stempel darauf, daß ich Gott damit einen Gefallen mache, wenn ich mich jachte (ärgere) über das, was Millionen und Milliassen von Menschen eine Freud 'macht? Vielleicht hab' ich nicht Recht, und weil ich das nicht weiß, soll ich aus mir machen eine Maschin ', die man hinschiebt und herschiebt und in der keine Seele ist?

Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging.

Der ganzen Welt könnt 'ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker Stimme, vor wem sollt' sich denn Marjim auch fürchten? Meinst du, und wenn heut 'der Mallech Hamoves (Todesengel) kommt und sagt mir: Marjim, du mußt mit, es ist Zeit, meinst du, ich werd' nur mit den Augenwimpern zucken? Ich hab 'lang genug gelebt und ausgestanden hab' ich, daß Gott ein ganz Buch damit voll haben muß.

Durch die eigenthümlichen Reden der Großmutter, die er noch nie mit solcher Klarheit und Ordnung sich hatte ausdrücken hören, war Fischele ganz verwirrt worden; er war es früher gewohnt, den Gedankengang der alten Frau wie die Zeiger einer Uhr zu richten, jetzt war er selbst ein willenloses Werkzeug; das Kind fühlte es, wie eine höhere Intelligenz ihm hier gegenüberstand, und beugte sich schüchtern davor.

Aber, Babe, willst du denn nicht, daß ich thu 'erzählen, was ich ausgericht' hab '? wagte er endlich vorzubringen.

Schmah Jisroel, schrie Marjim auf und griff mit ihrer Hand nach der des Enkels und schaute ihm mit allen Anzeichen tiefster Seelenangst in das Antlitz, ist dir, Gott sei davor, nichts geschehen? Hat man den Hund nicht auf dich gehetzt? Hat er dich gebissen und wo? Und die Hack 'hat sie nicht aufgehoben gegen dich, und hat dich damit erschlagen wollen? Mein Kind, mein Kind Leben, wo hab' ich dich hingeschickt, und wie kommst du nur lebendig noch daheim?

Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing.

Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh 'lebendig vor dir da.

Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten.

Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter.

Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der Muhm 'Dinah gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm einfallen.

Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende.

Merkwürdig, sprach sie vor sich hin.

In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen, damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte, die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen.

Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum Schutze des Kindes zurückgelassen worden.

Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen, hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu beruhigen gewesen, vielleicht darum, meinte der Knabe, weil wer Fremder in der Stube sich befunden; denn er habe immer gehört, daß das die Kinder sehr gut wissen.

Ein Fremder! that Marjim einen Ausruf, aber so leise, daß der schmerzliche Ausdruck dem Knaben entging.

Zuletzt, berichtete er weiter, sei ihm das Weinen des Kindes schon zu schwer aufs Herz gefallen; das ältere Mädchen habe für sich schon keinen Rath gewußt und wollte schon in die Kirche laufen, um die Mutter zu rufen. Da sei er selbst zur Wiege gegangen und habe das Kind gewiegt, das allmählich stiller und stiller geworden sei. So seien sie Beide, er und das Mädchen, sich gegenüber gesessen und hätten das Kind gewiegt und gewiegt, aber auch nicht ein Brösele mit einander gesprochen.

Um das Kind nicht zu wecken? fragte die alte Frau.

Um das Kind nicht aufzuwecken! wiederholte schnell der Knabe, dessen Antlitz bei diesen Worten eine unerklärliche Röthe überflog.

Weiter! verlangte Marjim.

Weiteres wußte Fischele eigentlich nur stockend anzugeben. Sie hätten das Kind so fortgewiegt; da plötzlich, er wisse noch jetzt nicht, wie das gekommen, sei die Muhm 'vor ihm gestanden. Wie er da erschrocken sei! Er habe auf und davon wollen, habe durchbrechen wollen, wie durch ein Haus, das von allen Seiten bereits brennt, aber es sei ihm nicht gelungen. Den ersten Psalm habe er sagen wollen, aber auch nicht das kleinste Wörtchen sei ihm eingefallen. Gewesen sei es ihm in diesem Augenblicke, als hätte er in seinem Leben kein jüdisch Wort gelernt gehabt, als wisse er gar nicht, wo Gott wohnt! Ob das vom Schrecken herrühre, oder was es sonst gewesen wäre? Merkwürdig sei ihm bei dem Allen die Aehnlichkeit aufgefallen, die die Muhm' mit seinem Vater habe; wer sie nur ein Mal angesehen, der könne gar nicht zweifeln, daß sie seine Schwester sei!

Und gesagt was hat sie? Das möcht 'ich wissen! rief die alte Frau fast heftig.

Sie habe ihn bei der Hand gefaßt und fest gehalten. Mit Augen habe sie ihn angesehen, die voller Thränen standen. Fischele, hätte sie zu ihm auf Böhmisch gesagt, warum willst du schon fort?

Auf Böhmisch! nicht auf Jüdisch? schaltete die Großmutter ein. Gewiß wegen der Kinder! setzte sie sogleich hinzu. Zum ersten Male in seinem Leben, fuhr der Knabe fort, ohne die Einwendung der alten Marjim zu beachten, habe er die Stimme seiner Muhme gehört, habe er mit ihr gesprochen; er wisse zwar nicht mehr, was sie alles gesagt, aber es sei ihm vorgekommen, als ob er schon öfters mit ihr sich unterhalten, es sei ihm Alles so bekannt und gar nicht fremd gewesen. Hundert Jahre, wenn sie schon im Hause gewesen, wären ihm nicht so vergangen, als dieser einzige Augenblick, wo er mit ihr zum ersten Male in seinem ganzen Leben gesprochen.

Und?

Was?

Hast du ihr's gegeben?

Er habe darauf ganz vergessen gehabt, so viel hätte ihn die Muhm 'Dinah ausgefragt: was die Babe mache? ob sie ihre gute Abwartung habe? ob sie in der Nacht gut schlafe und nicht vom Husten geplagt werde? ob er, Fischele nämlich, ihr in Allem folge, kein Leidwesen ihr anthue, sie nicht jachte (ärgere)? Alle diese Fragen hätte er ihr umständlich beantworten müssen, ein Wort hätte das andere gegeben, und ehe eine Viertelstunde vergangen, wären sie so bekannt mit einander gewesen, als hätten sie ihr Lebtag es nicht anders gekonnt; alle Furcht wäre von ihm gewichen, und jetzt hätte er, selbst wenn der erste Psalm ihm wieder eingefallen, ihn nicht mehr gesprochen, selbst nicht vor dem hölzernen, rauchangeschwärzten Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube hinge, und vor dem er sich anfangs so gefürchtet habe

Alles erzählst du, unterbrach ihn hier die Großmutter, nur nicht

Was er ihr weiter erzählen solle? entgegnete hierauf Fischele mit einem Anfluge von Aergerlichkeit, ob die Babe nicht genug habe an dem bereits Berichteten? ob er ihr erzählen solle, wie die Muhm 'Dinah ge - gangen und gestanden sei? was sie für ein Kleid angehabt?

Unverständiger Knabe! Du hattest das Unglück gehabt, deine Mutter in den ersten Tagen deiner Kindheit zu verlieren; du kanntest sie nicht, sonst hättest du nicht so harte Reden gebraucht!

Thränen drängten sich zu den Augen der alten Frau hervor, sie fielen wie zischende Tropfen auf das sonst fühlende Herz des Knaben. Er ahnte fast, welch schweres Unrecht er begangen.

Babe, rief er flehend, ich hab 'dir ja Alles erzählen wollen.

Weiter! gebot sie mit plötzlich ruhigem Tone.

Er habe sich also besonnen, daß er das Geschenk der Großmutter an die Muhm 'Dinah abzugeben habe. Schüchtern habe er es aus der Tasche gezogen und ihr überreicht, und dabei gesagt: das schicke ihr ihre Mutter. Meine Mutter, habe sie ausgerufen, meine Mutter schickt mir das? Foppst du mich nicht, Fischele? Er habe bei seinem Leben geschworen, daß dem so sei, und daß ihm die Babe wirklich diesen Auftrag gegeben. Da habe sie aufgeschrieen aus der Tiefe ihrer Seele, daß es ihm durch Mark und Bein gedrungen; drei Worte hätte sie ausgerufen aber er wage sie nicht zu wiederholen.

Narrele, lächelte die Großmutter, was kann sie gesagt haben?

Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst

Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten.

Und?

Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe?

Nun?

Und hat zu ihm gebetet.

Gebetet! murmelte Marjim nach.

Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt 'ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört.

Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern.

Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer, in finstere Gedanken vertieft, der nicht ahnte, daß nach zehn Jahren langen Entbehrens Mutter und Tochter sich wiedererkannt hatten.

6. Der Sturm ist ausgesaet.

Der Abend dieses merkwürdigen Tages war gekommen; drei Sterne blitzten am tiefblauen Grunde des Himmels auf, aber sie waren für Josseph nur die gesetzlichen Zeichen, daß sein Fasten zu Ende, daß er den Leib mit Speise und Trank wieder laben dürfe nicht freundliche Tröster in der Noth, nicht goldene Augen, die ihm weit und tief in die Seele schauten!

Auf Josseph's Stimmung war der Fasttag gerade von entgegengesetzter Wirkung gewesen; er machte ihn sonst milde und weich, ein Berg war überstiegen, und der Mensch freuet sich immer des gelungenen Werkes, das mit Entbehrung verbunden war! Diesmal war er bitter, fast gereizt worden; er hatte um seinen Vater gefastet, der vier Wochen nach Madlena's Abfall vor lauter Gram in die Grube gefahren war, und diese Erinnerung, gesellt zu dem Erlebnisse des Tages, trieb allen Haß und Groll wie glimmende Funken, in die der Wind bläs't, auf einen finstern Winkel seiner Seele zusammen, in dem es nun schrecklich brannte.

Er hatte diesen Vater nie geliebt, in Streit und Hader mit ihm gelebt, so lange sie mit einander auf Erden verkehrten; dennoch hielt Josseph den Todestag seines Vaters hoch und heilig, fast wie den Jom Kippur; er beging ihn mit Fasten und Kasteien und hatte ihn nie versäumt. Um Madlena's willen war er ja gestorben.

Welches Herzeleid, und sei es noch so innig und brennend, sitzt tief genug, daß es den Einflüssen leiblichen Begehrens auf die Länge sich entziehen könnte? Als die drei gesetzlichen Sterne am Himmel erschienen, war Josseph hungriger als je und begehrte zu essen.

Wir haben bereits erzählt, daß die Tochter des Bauern Stepan Parzik im Hause als Magd diente. Das Mädchen war in seinem zehnten Jahre zu der Judenfamilie gekommen und konnte fast als ein Glied des Hauses betrachtet werden. Sie hatte Fischele auf den Armen getragen, ihn fast erzogen, da seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war, und mit rührender Zärtlichkeit hing die Bauernmagd an Allem, was zu Josseph's Hause gehörte. Im Laufe der Jahre, als sie mit den Sitten und Gewohnheiten der Familie ganz vertraut worden, hatte sich das dienende Verhältniß der Tochter des Dechanten zu einem wahrhaft beneidenswerthen gestaltet. Es ist dies das Eigenthümliche in solchen Häusern, daß man den Dienstleuten, die ein Kind des Hauses haben zur Welt kommen gesehen, gleichsam aus Dankbarkeit eine bevor - zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen. Parzik's Tochter waltete auch in diesem Hause, als wäre sie daraus hervorgegangen. Man vertraute ihrer Einsicht und Anstelligkeit Alles, was sich nur immer anvertrauen ließ, denn man war fest überzeugt, daß Anezka, so hieß die Tochter Stepan's, nur unbewußt, aber nie mit bösem Willen ihrem Dienstherrn eine Kränkung verursachen würde.

Die alte Marjim, wenn man ihr Vorwürfe machte, daß sie einer Christin so unbedingt das ganze Haus überantwortet hatte, schüttelte stets den Kopf und meinte: bei der hat sich Gott vergriffen, er hat wollen aus ihr eine Jüdin machen, und nur zufällig ist sie als Parzik's Tochter zur Welt gekommen. Die hat ein Herz und einen Kopf, sie könnt 'des Nikolsburger Landrabbiners Tochter sein. Auf mein' Anezka lass 'ich nichts kommen.

Seit einiger Zeit jedoch, es war nicht lange her, etwa seitdem der neue Pfarrer ins Dorf gekommen, schien mit der Bauernmagd eine gewaltige Veränderung vorgegangen zu sein. Sie verrichtete ihre Hausgeschäfte in einer Art träumerischer Zerstreutheit; sie pflegte die Großmutter nicht mehr so aufmerksam; oft fand man sie mit verweinten Augen. Fragte man sie, woran es ihr gebreche, so gab sie gewöhnlich störrische Antworten, die mehr verletzten als aufklärten. Im Hause hatte man die Wandlung, die im Leben der Magd vorgegangen, bald herausgefühlt, denn die Familie ist ein lebendiger Organismus, der jede Störung in seinem gewohnten Dasein mit tausend zuckenden Nerven empfindet. Josseph war der Meinung, sie müsse einen Liebhaber haben, denn sie sei bereits in die Jahre gekommen; die alte Marjim aber protestirte gegen diese Ansicht, was sie nur konnte. Wenn man einen Liebhaber hat, lautete einer ihrer Beweisgründe, so sehe man ganz anders aus. Weinen thue man sehr oft, aber lachen noch viel öfter; man sei eben ein ganz anderer Mensch in jener Zeit. Auch wüßte sie keinen Bauernjungen im ganzen Dorfe, mit dem Anezka sich in eine Liebschaft einlassen könnte. Geld habe sie so keines, und bloß, damit sie Einen habe, der sie Sonntags in das Wirthshaus führe, dazu habe sie einen zu jüdischen Kopf. Nichts desto weniger blieb Josseph der einmal vorgefaßten Meinung getreu, daß mit Anezka etwas vorgegangen sein müsse, denn sie sei wie ausgewechselt .

Diese Auswechselung äußerte sich vorzüglich darin, daß die Magd seit einiger Zeit öfter aus dem Hause blieb, um dann gewöhnlich störrisch, unlustig zurückzukehren. Fast kam kein fröhliches Lied mehr aus ihrem Munde, statt des:

Hora, hora, vysoka sji
Ma panenko, vzdalena syi

sang sie jetzt düstere katholische Lieder, wie sie die Wallfahrer auf den Processionen zu singen pflegen, und erregte dadurch Josseph's argwöhnischer Seele manches Aergerniß. Die alte Marjim machte zu diesem Umstande die richtige Bemerkung, daß sie erst jetzt überzeugt sei, wie Anezka gar keinen Liebhaber sich könne angeschafft haben. Möcht 'sie denn, sagte sie, so traurige Lieder singen, wenn sie herzfreud wär'? Ich lass 'mir ender mein klein Fingerl wegschneiden, ehe ich das thu' glauben. Es muß etwas Anderes mit ihr vorgegangen sein.

An diesem Tage war Anezka unwirscher als sonst früher. Sie war am Nachmittage fortgegangen, um, wie sie zu Fischele sagte, doch auch einmal zu wissen, wie es bei anderen Leuten, als bei den Juden, aussehe. Das hatte sie zu dem Knaben zwar mit lachendem Munde gesagt, nichts desto weniger schnitt ihm eine solche Rede tief durchs Herz. Die Großmutter meinte, die Magd habe vor ihrem Weggehen das Essen für den heute fastenden Josseph vorbereitet; als aber der Abend kam und Josseph nach seinem Mittagmahle begehrte, da fand sich, daß die Magd für gar nichts vorgesorgt hatte. Der Feuerherd stand unberührt und Anezka vielleicht im Wirthshaus!

Das brachte in Josseph einen gewaltigen Zorn hervor; Fischele mußte das ganze Dorf durchstreichen, ins Wirthshaus unter die Tanzenden sich mischen und der Magd den gemessenen Befehl, augenblicklich nach Hause zu kommen, bringen. Zu seiner Mutter aber sagte er mit aller Bitterkeit eines versauerten Gemüths:

Da siehst du, was man davon hat, wenn man sein Herz an sie wegschenkt. Ender soll man sich's herausreißen und in tausend Stück 'zerschneiden. Wo ist denn jetzt dein jüdischer Kopf, deine Anezka? Die weiß vielleicht nicht, daß ich heute gefastet habe, daß ich hungrig bin? Aber wo sie dem Juden nur ein Herzeleid anthun können, da bleiben sie stehen. Trau' du Einem von ihnen, mich wirst du in meinem ganzen Leben nicht dazu bringen.

Die milde, fromme Marjim konnte trotz dieser Rede nicht überzeugt werden, daß man ihrer Anezka nicht trauen dürfe.

Sie ist noch jung, sagte sie, und auf dem Tanzplatz vergißt man sich bald.

Ein Wolf, hab 'ich in meiner Kindheit gehört, ist auch einmal jung gewesen, sagte Josseph drauf mit höhnischem Lachen, und hat doch die Kinder gefressen.

Endlich kam die Magd in Begleitung Fischele's. Er hatte sie im ganzen Dorfe vergeblich gesucht; im Wirthshaus war sie gar nicht gewesen. Endlich, als er auf dem Rückwege an der Pfarrwohnung vorüber kam, fand er sie im Vorhause in tiefem Gespräche mit der Haushälterin des Pfarrers, und dort rief er ihr die Meldung, die sie nach Hause verlangte, zu. Fischele hatte mit feinen Ohren gehört, wie des Pfarrers Haushälterin zu Anezka sagte: Du wirst dir doch nicht von so einem Juden befehlen lassen? Gerade möcht 'ich's nicht thun. Aber auch das hatte der Knabe gehört und gesehen, wie die Magd darauf antwortete: Es ist heute das letzte Mal, daß ich's thue.

Die Großmutter schüttelte zu diesem Berichte den Kopf; in Josseph loderte aber der Zorn gewaltig auf. Er rief nun die Magd, die indessen heimgekehrt war; sie erschien aber nicht und blieb draußen in der Küche, wo sie sich allerhand zu schaffen machte.

Um Gott's willen, bat ihn die alte Marjim, er möchte sich doch nicht so heruntersetzen, daß er selbst in die Küche hinaus ginge, um mit der Magd zu schmälen. Fischele mußte hinaus gehen, um sie noch einmal zu rufen.

Nach einer Weile kam der Knabe und sagte, Anezka sitze draußen auf der Schwelle und hätte laut aufgelacht, wie er sie zum zweiten Male gerufen.

Was sagst du nun zu deiner Anezka? sprach Josseph mit vor innerer Bewegung zitternden Lippen. Er wollte ruhig erscheinen, aber Zorn, Entbehrung und das Seelenleiden des erlebten Tages ließen einen furchtbaren Ausbruch erwarten.

Weiß ich, was ihr geschehen ist? klagte die alte Frau; sie ist ja gar nicht zu erkennen. Aber im Bösen wirst du mit ihr nichts herausbringen. Laß mich mit ihr reden.

Möcht 'sie sich das unterstehen, sagte Josseph ingrimmig, wenn sie nicht beim Juden wär'? Der schlechteste Bauer hätte sie halb todt geschlagen; ich aber, ich muß mir das von einer Bauernmagd gefallen lassen, die ich zehn Jahr 'im Hause hab'! Sind sie nicht stark und gewaltig?

In diese nur mühsam dem aufschreienden Zorne fern gehaltenen Worte klang mit einem Male ein lustiges Lied, das Anezka draußen, wie zur Antwort, mit lauter Stimme vor sich hinsang.

Grimmig ballte Josseph die Faust; er war kreidebleich geworden.

Die hat Einer angestiftet, und ich weiß, wer, sagte er mit fürchterlicher Kälte, sie soll mir aber nicht lebendig aus der Hand.

Mit einer hastigen Bewegung wollte er zur Thür hin, aber Marjim kam ihm zuvor, indem sie sich mit gewaltsamer Mühe im Bette aufraffte und den Namen der Magd so laut rief, daß Josseph selbst vor der ungeahnten Kraft, die in diesem Ausschrei lag, zurückbebte und still stand.

Gleich darauf erschien Anezka in der Stube.

Welch eine wunderbare Machtvollkommenheit muß in dem bloßen Erscheinen eines bekannten Menschen - antlitzes liegen! Wir haben gegen einen Abwesenden uns erzürnt, wir haben Fäuste gegen ihn geballt und ein traumhaftes Ausleuchten seiner Züge, ein flüchtiges Erfassen seiner Erscheinung hat schon das Gute, daß wir milder werden und der Strom des Zornes seinen ersten und sichern Damm findet.

Bei Anezka's Eintritt rief die alte Marjim in einem Tone, der wie ein liebevoller Vorwurf klang:

Anezka Leben, was ist denn mit dir geschehen? Du bist ja heut so verändert, daß ich dich gar nicht wieder erkenn '? Warst ja sonst so gut und treu und bist mit einem Male so ganz anders geworden? Hast du ein beschwertes Herz, drückt dir etwas deine Seele ab, warum sagst du mir's nicht, warum läßt du es an mir aus?

Der zitternde Klang dieser Stimme schien auf die Magd erschütternd zu wirken; ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers verrieth die innere Bewegung, die sie nur mühsam beherrschen konnte. Sie that niedergeschlagenen Blickes einen Schritt vorwärts gegen das Bett der Großmutter, fast, als wollte sie reuig um Verzeihung bitten. Dann sagte sie leise, doch daß sie es alle in der Stube vernahmen:

Ich bin nicht länger eure Magd ... und morgen früh werde ich aus dem Hause gehen.

Anezka, rief Marjim erschrocken, die zitternde Hand gegen die Magd ausstreckend, du willst nicht länger bei uns dienen? Findest du auf der ganzen Welt einen bessern Dienst, wie bei uns? Das eigene Kind im Haus ', kann es besser behandelt werden, wie du?

Das weiß ich Alles, Großmutter, sagte die Magd, noch immer mit am Boden wurzelnden Blicken stockend, das weiß ich Alles und werde es auch immer wissen ... aber ich darf nicht länger bei euch dienen, nicht eine Stunde länger.

Bei diesen Worten fuhr es dem bis dahin mit seinem Zorne kämpfenden Josseph siedendheiß durch alle Glieder. Mit einem hastigen Satze war er zur Magd hingesprungen.

Du darfst nicht länger bei uns dienen? rief er; der Schaum stand ihm vor dem Mund, und er packte die Magd bei der Schulter, du darfst nicht länger unsere Magd sein? Jetzt sagst du's schnell, wer dich dazu angestiftet hat, denn der Gedanke ist nicht in deinem Kopfe gewachsen.

Anezka riß sich mit einem fürchterlichen Schrei von ihm weg. Mit drohenden Blicken, die wie glühende Kohlen glänzten, stand sie ihm dann gegenüber und maß ihn vom Scheitel bis zum Fuße.

Mit Euch, Herr Josseph, sagte sie, habe ich gar nichts zu schaffen.

Josseph's Grimm schoß wie eine jähe Lohe wieder auf.

Wirst du's sagen, rief er, ob man dich angestiftet hat?

Er wollte aufs Neue an Anezka, um sie zu ergreifen.

Laßt mich, schrie diese, ich bin ja nicht Eure Schwester!

Wie vernichtet ließ Josseph den aufgehobenen Arm sinken und taumelte zurück. Es durchrieselte ihn eiskalt; die eigene Magd, die Dienerin seines Hauses hatte den Muth, mit der Anklage seines Lebens vor ihn hinzutreten. Blitzschnell erkannte er, wie hier Ursache und Wechselwirkung sich gegenseitig gefolgt waren. Er vermochte nicht den Blick der Magd zu ertragen.

Die alte Marjim erhob ihre jammernde Stimme:

Das ist nicht recht von dir, Anezka, sagte sie stockend, daß du mit deinem Herrn so sprichst. So sag mir's wenigstens, warum du aus dem Hause gehen willst? Hab 'ich dir etwas Böses gethan? So sag's nur, mich wirst du nicht aufbringen.

Der Magd quollen bei diesen weichen Worten die heißen Thränen aus den Augen; das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, sagte sie schluchzend:

Großmutter, es giebt keinen Menschen auf der weiten Welt, den ich lieber hätte als Euch ... aber ich kann's Euch nicht sagen.

Du kannst nicht, Anezka Leben, rief Marjim mit wunderbar bewegter Stimme, sag lieber, du willst nicht. Anezka, fuhr sie mit steigender Bewegung fort, mußt du vielleicht fort? Kannst du vielleicht nicht länger im Dorfe bleiben, wo die Kinder auf der Gasse mit Fingern auf dich weisen möchten? Anezka, meine Anezka, hast du etwas angestellt, daß du dich vor deinem Vater fürchtest? Gott behüt 'dich, wenn du etwas gemacht hast, daß sich dein alter Vater darüber könnt' die Haare ausreißen.

Großmutter, rief die Magd und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung gerade auf; mit stolzen Augen blickte sie um sich. Großmutter, Ihr meint doch nicht, daß ich ... als Amme werde in die Stadt gehen müssen?

Eine starke Röthe, die trotz des Abenddunkels und der düstern Beleuchtung der Stube sichtbar ward, lag nach diesen Worten auf dem schönen Antlitze der Magd.

Marjim hatte mit weiblichem Zartsinn augenblicklich begriffen, daß sie dem jungfräulichen Gefühle Anezka's mit ihrer Frage weh gethan; sie begriff es auch sogleich, wie ungerecht ihr Verdacht die Magd getroffen. Besänftigend sagte sie:

Du mußt das nicht so nehmen, ich hab 'das anders gemeint, und wenn man ein altes Weib ist, kommen einem ganz andere Sachen unter. Ich hab' dich auch darum gefragt, weil ich nicht möcht ', daß meine Anezka Schande erlebt. Das vergiß also und red mir nicht davon. Wie kommt's aber doch, daß du fortgehen willst? Warum sagst du mir's nicht?

Großmutter, ich kann's nicht, sagte die Magd, in Thränen ausbrechend.

Marjim schüttelte schmerzlich den Kopf; sie vermochte nicht mehr weiter zu dringen.

Sag lieber, sie darf nicht, sprach Josseph, der dem bisherigen Vorgange mit einer Art dumpfer Fassung angewohnt hatte, sag lieber, sie darf nicht, frag sie lieber, wer sie hat angestiftet. Oder frag sie lieber nicht, denn ich weiß, wer sie hat angestiftet.

Die Großmutter erhob noch einmal ihre Stimme:

Anezka, fragte sie erschöpft, hat dir Jemand angerathen, daß du aus unserem Hause gehen sollst? Hat dich Einer angestiftet? Der hat dir wirklich keinen guten Rath gegeben.

Mir hat Keiner einen Rath gegeben, sagte die Magd stockend, Keiner; was ich thue, das muß ich thun.

Du kannst's also nicht sagen?

Nein, Großmutter.

Eine minutenlange schwüle Stille war diesem Auftritte gefolgt. Anezka stand, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, weggewandt von der Großmutter, die jeden lichten Punkt in diesem Vorgange verloren zu haben schien. Plötzlich richtete sie sich auf und befahl mit einer merkwürdigen Entschlossenheit in Stimme und Geberde, daß Fischele um den Bauer Stepan Parzik gehen sollte.

Dein Vater, sagte sie zu Anezka, hat dich mir gegeben, wie du erst zehn Jahre alt warst, dein Vater muß auch drum wissen, wenn du aus unserem Hause gehst.

Weiter wurde kein Wort gesprochen. Marjim war müde auf den Kissen zurückgesunken, während Anezka still vor sich hinweinend in der Mitte der Stube stand. Mit stummer Leidenschaft schritt Josseph auf und nieder, aber seine Gedanken waren nicht alle in der Stube.

Es währte nicht lange, so erschollen draußen in der Nacht die schweren Tritte des Bauern Stepan Parzik. Ohne seinen gewöhnlichen Gruß von der Freiheit und ihren Teufeln trat er in die Stube, und ohne auf die Tochter einen Blick zu werfen, ging er gerade auf das Bett der Großmutter zu.

Was wollt Ihr, Jüdin? fragte er ohne Umschweif.

In kurzen, nur mühsam aus keuchender Brust hervorgebrachten Worten berichtete ihm die alte Marjim, was sich so eben zugetragen. Sie habe es für ihre Schuldigkeit gehalten, ihn rufen zu lassen, damit er als Vater doch auch wisse, was seine Tochter zu beginnen sich vorgenommen habe. Zwingen wollte sie Anezka nicht zum Bleiben, denn wenn einer nicht Lust mehr habe, auf einem Orte zu bleiben, so könnten zehntausend Pferde ihn nicht halten; aber der Vater müsse doch auch wissen, was mit der Tochter vorgehe; und daß man sie nicht bei Nacht und Nebel aus dem Dienste gejagt habe, das wolle sie ihm insbesondere sagen.

Mit Kopfschütteln hatte der Bauer diese Rede der Großmutter vernommen; als sie geendet, wandte er sich zu seiner Tochter um. Sie weinte noch immer, es schien aber ihre Lage keinen Eindruck auf den harten Mann zu machen.

Finstern Blickes fragte er sie:

Ist's wahr, daß du aus dem Dienste gehen willst?

Die Magd ließ ihre Hände sinken und sagte vernehmbar: Es ist wahr.

Und warum willst du gehen? Wissen muß ich doch, wer meiner Tochter diesen guten Rath gegeben hat. Red, oder ich vergreif 'mich noch an dir, sagte Stepan mit kalter Strenge, die jedoch ahnen ließ, daß seine Drohung kein leeres Spiel war.

Väterchen, schrie Anezka mit überquellendem Gefühl und stürzte zu dem Bauer hin, dessen Hand sie erfaßte, Väterchen, schlagt mich nur gleich lieber todt, es ist mir dann besser, aber sagen kann ich's Euch nicht.

Du kannst nicht, du Verfluchte, rief er wild und stieß sie mit einem Stoße vor die Brust weit weg von sich, daß sie zurücktaumelte; hast du vielleicht geschworen? Wirst du reden?

Anezka hielt sich mit beiden Händen die geschlagene Brust fest, als ob sie das Herz, das darunter schlug, vor dem Zerspringen wahren wollte.

Schluchzend, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen, sagte sie: Schlagt mich nur todt, Väterchen; ich sag's aber doch nicht.

Damit der da drüben, rief der Bauer mit wildem Grimme, damit der Pfaff sich freuen kann, wenn man den Stepan Parzik in gottverfluchter Erde vor der Kirchhofsmauer begräbt? Sag nur, daß du ihm's geschworen hast; er hat dir die Hostie gegeben, und du hast darauf schwören müssen, du wirst ihn nicht verrathen. Versprochen hat er dir vielleicht, daß er dich als Magd ins Haus nehmen will, dir schöne Kleider und Geld geben wird; und die Leute im Dorfe werden sich dann freuen können, wenn der eigene Vater vor der gebenedeieten Haushälterin des Pfarrers den Hut abziehen muß! Hast du geschworen?

Dem harten Manne versagte zuletzt die Stimme; er brachte nur gebrochen heulende Laute hervor.

Zum Pfarrer werde ich nicht gehen, sagte Anezka; laßt mich nur fort, ich will schon gehen, so weit mich meine Füße tragen.

So geh in die Hölle, rief Parzik mit neu ausbrechender Wuth, indem er mit geballter Faust zu einem Schlage ausholte, dem Anezka sich nur durch ein schnelles Ausweichen entzog. Was die Pfaffen verdorben haben, das ist in Grund und Boden hinein verdorben, und dem hilft nicht einmal der Teufel mehr auf.

Anezka war zur Stube hinaus gewankt. Parzik wollte ihr nach, nur mit Mühe wurde der Wüthende von Josseph und dem Geschrei der alten Frau zurückgehalten, die nicht anders meinte, als der Bauer wolle sich an seiner Tochter vergreifen. Mit aufgehobenen Händen bat sie um Stille und Begütigung, und daß man einem so jungen Kopfe, wie Anezka sei, nicht Alles so wild und ungeschlacht anrechnen könne. Sie werde einen bessern Dienst und bei besseren Leuten gefunden haben, als sie seien, aber sie sei nur etwas starrsinnig, und wenn man gut mit ihr gesprochen, hätte man vielleicht Alles aus ihr herausbringen können. Aber so seien alle Männer, auch ihr Josseph sei so, die müßten Alles verderben, was sie angriffen, und man habe an ihnen zu tragen, so lange man lebe.

Ja, ja, höhnte der Bauer mit verbissener Wuth, das weiß ich besser, als Ihr, alte Jüdin. Der drüben hat sie auf ihr ganzes Lebenlang verdorben, ich geb 'keinen Schuß Pulver für meine Tochter. Was soll man aber thun? Ihn todtschlagen oder sie? Besser wär's, ich könnte Beide aus der Welt schaffen.

Ohne Gruß, dumpf und düster schritt der Bauer zur Stube hinaus.

Und Madlena? tönte es in Josseph's Innern und ließ ihm selbst den Bissen Brot, den er an diesem Abend in Ermangelung jeder andern Speise verzehrte, wie Gift munden, und Madlena? War die Magd von ihr angestiftet?

Ein Kind im Mutterleibe hätte ja daran nicht gezweifelt!

7. Hindurch.

Eine neue Magd war ins Haus gekommen sie war nicht Anezka. Die alte Marjim hatte es gleich am andern Tag nach dem räthselhaften Weggehen Anezka's gesagt, so eine wäre nicht zum zweiten Male auf der Welt zu finden, die hätte einen Kopf gehabt und ein Geschick, sie müsse das stets wiederholen, als wär 'sie des ersten Landrabbiners Tochter gewesen. Man habe mit ihr alle Weisheit der Erde können ausreden, und namentlich, was das Hauswesen betrifft, das habe sie geleitet nicht anders wie ein geboren Judenkind. Die neue Magd war auch gleich mit einem unrechten Fuße in das Haus getreten; trotzdem sie bereits im benachbarten Ghetto eine Zeitlang gedient hatte, kam sie der Großmutter viel zu unwissend und einfältig vor; sie verdarb viele Küchengefäße, die sie wirr durch einander brauchte, ohne zu bedenken, daß der Fleischtopf nicht auch zur Aufnahme der Milch dienen könne. Auch fragte sie in religiösen Dingen zu viel, worüber sich die alte Frau, die das seit langen Jahren nicht gewöhnt war, nicht wenig aufhielt. Hatte Anezka je gefragt?

Dem Anscheine nach war es im Hause jetzt ganz ruhig. Es vergingen oft Tage, wo Mutter und Sohn kein vertrauliches Wort mit einander sprachen. Die alte Marjim konnte sich in das räthselhafte Weggehen der Magd noch immer nicht zurechtfinden; in ihrem alten Kopfe jagten sich die wunderlichsten Vorstellungen auf und ab und gönnten ihm keine Ruhe. So wachte sie in der Nacht eines der darauf folgenden Tage plötzlich auf und weckte Josseph mit der Frage, ob er nicht meine, daß Anezka deßhalb weggegangen sei, weil man ihr beim verflossenen Weihnachtsabend vielleicht weniger Zwetschgen und Nüsse gegeben habe, als im früheren Jahre? Auch auf Josseph hatte das unter so eigenthümlichen Umständen erfolgte Austreten der Magd aus einem zehnjährigen Verhältnisse einen fast erschütternden Eindruck hervorgebracht. Er ahnte es mehr, als daß es sich ihm mit aller Klarheit aufdrängte, daß Anezka's schleunige Dienstkündigung mit irgend einem Punkte seines Lebens in Berührung stand. War sie von Madlena wirklich dazu angestiftet worden? Hatte sie vom Pfarrer den Befehl erhalten? Welche Feinde lauerten noch in der Nähe und warfen aus ihren glühenden Augen spitzige Messer in sein ruheloses Gehirn? Warum kamen sie nicht? Warum ließen sie auf sich warten und marterten ihn durch den sengenden Athem der Ungewißheit, die wie ein heißer Wind vor dem Gewitter Staub aufwirbelte, während die Blitze erst am äußersten Rande des Horizontes zuckten?

Der Sabbath war wieder gekommen; wie immer war Josseph auch diesmal in die Synagoge des benachbarten Ghetto gegangen. Beim Vorlesen des Wochen - abschnittes aus der Bibel fielen ihm einige Stellen wie brennende Tropfen geschmolzenen Eisens auf die Seele. Er erschrak fast, daß seine ganze Lage, sein Leben von einer ganzen Woche her darin mit den wahrhaftigsten Ausdrücken verzeichnet stand. Wörtlich hieß es in der Bibel, wo Moses, dem Tode nahe, noch einmal all seinen Segen über die Gläubigen seines Gesetzes ausbreitet und in eine Schale auch den Fluch gegen die Verächter desselben schüttet wörtlich hieß es in dem heiligen Buch:

Dazu wirst du unter denselben Völkern kein bleibendes Wesen haben, und deine Fußsohlen werden keine Ruhe haben. Denn der Herr wird dir daselbst ein bebendes Herz geben und verschmachtete Augen und eine verdorrte Seele, daß dein Leben wird vor dir schweben. Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Des Morgens wirst du sagen: Ach, daß ich den Abend erleben möchte! Des Abends wirst du sagen: Ach, daß ich den Morgen erleben möchte! Vor Furcht deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, das du mit deinen Augen sehen wirst. (5. B. M. C. 28, 65. 66. 67.)

Waren diese heiligen Worte nicht buchstäblich eingetroffen? Jeder Buchstabe darin war eine Minute seines Lebens. Hörte er nicht den biblischen Fluch auf allen Schritten und Tritten ihm nachschleichen wie einen Dieb, der das Geheimste ausforscht, um es dann in unbewachter Stunde sich anzueignen? Gab es ein schrecklicheres Leben als das seine?

Aber nicht immer hatte dieser finstere Geist der Unruhe Gewalt über ihn. Es gab Stunden, wo er, wenn der biblische Fluch sich ihm mit aller Schwere aufbürdete, plötzlich mit aller Entschiedenheit einer glaubensstarken Seele sich selber fragte: und paßt denn das Alles auch ganz so, wie es da geschrieben steht, auf dich? In der Thora ist die Red 'nur von denen, die der Stimme des Herrn, ihres Gottes, nicht gehorchen, die nicht halten und befolgen alle seine Gebote und Rechte; über die kommen alle die Flüche. Wer aber kann von mir sagen: Josseph, du bist ein schlechter Jud, du fahrst und reitst am Schabbes; du legst keine Tephilim an, du fastest nicht am Jom Kippur, du betrügst Wittwen und Waisen? Kann ein Mensch gegen dich aufstehen und dir das ins Gesicht sagen, und der Donner schlägt ihn nicht gleich in die Erd'? Ein Kind meiner Mutter ist von uns abgefallen, ist hingegangen und hat sich leider Gottes vergessen, sich und uns und ihre Väter im Grab; ich aber bin geblieben bei meiner Mutter und bei meinem Gott. Wo steckt da die Sünde?

Für Fragen solcher Art giebt es keine Antwort; eine unruhige Seele giebt keinen festen Standpunkt, und der Wiederhall solcher Gedanken ist ein täuschendes Echo: es ruft uns gerade entgegengesetzte Laute und Antworten zurück, die wir nicht gefordert haben.

Josseph erfuhr es bald, daß ihm um die Seele nicht leichter ward. Dennoch wich nicht die Furcht seines Herzens, die Furcht, die ihn aufschreckte bei Tag und Nacht vor dem, was er mit seinen Augen sah.

Diese eigenthümliche Natur ging auf sonderbaren Wegen; je mehr die Worte der heiligen Schrift, bald als Segen, bald als vernichtender Mehlthau auf sie niedersanken, desto mehr glaubte sie darin zu finden. In ihnen schien ihr die Lösung zu liegen.

Hat denn der Jude etwas Anderes, als die beschriebenen Blätter der Thora? Ist sie nicht sein lebendiger Quell, der Baum seines Daseins?

Zu Fischele kam aus dem Ghetto ein Lehrer heraus, der den Knaben im Deutschen sowohl, als im Jüdischen unterrichten sollte. Sonst wenig beachtet im Hause, ging Julius Arnsteiner, so nannte sich der Lehrer, seit Jahren dort aus und ein, ohne eine merkliche Spur seiner häufigen Anwesenheit zurückzulassen. Bei der Großmutter war er in nicht hoher Gunst; es wird Vielen eigenthümlich dünken, wenn wir als die Ursache dieser Abneigung die hochdeutsche Sprache des Lehrers bezeichnen. Sie konnte sich mit ihm nicht ausreden , und dann kränkte es sie jedesmal, wenn der Lehrer jedes jüdisch Wort, das dem Knaben während des Unterrichts zuweilen entfuhr, mit unnachsichtlicher Strenge zur Rede stellte. Das Kind, klagte sie öfters, werde sie ja bald gar nicht verstehen. Bei Josseph lag ein gewisses Fernhalten von dem Ghetto - lehrer viel tiefer; er war ihm zu aufgeklärt , ihm schien es, als ob Julius Arnsteiner es mit Gott zu leicht nehme; in gewissen Dingen erschien er ihm geradezu als ein Narr. Arnsteiner sprach immer in hochdeutschem Dialekte von den Reformen, die im Judenthume eingeführt werden müßten, spottete über die Orthodoxen, und lange bevor, ehe die Stürme der vergangenen Tage eine neue Ordnung der Dinge begründeten, hörte Josseph aus dem Munde des Lehrers die Worte Emancipation und Glaubensfreiheit zwei Worte, die Josseph nur dunkel begriff. Namentlich war es das letztere, was er trotz Arnsteiner's hochdeutschen Erklärungen nicht durchdringen konnte.

Haben wir Jüden denn nicht einen freien Glauben, sagte er einmal zu dem Lehrer aus dem Ghetto, wer hält mich ab, ein Jüd zu sein? Steht Einer mit geladenem Gewehr vor meiner Thür und will mich todtschießen, wenn ich Tephilim anleg 'oder wenn ich oren (beten) will, oder wenn ich drei Mal im Tag in Schul' will gehen?

Der Staat, der Staat! hatte damals Julius Arnsteiner mit kläglichem Gesichte geantwortet. Können Sie nur das mindeste Schreiberl beim Amte werden? Können Sie Professor werden? Wohin hätte ich es schon gebracht, wenn mir nicht der Jude im Wege stünde!

Der sogenannte gemeine Mann sieht nur selten den Kniff ein, den der Flachgebildete ihm gegenüber gewöhnlich anwendet. Dieser Kniff besteht darin, daß man ihm seine Sache als von der des Gebildeten himmelweit unterschieden darstellt. Die Wenigsten haben eine klare Ahnung davon, daß sie, die einzeln, versprengt, auf dem Schlachtfelde nach Errungenschaften des Sieges forschen, tausend Andere dem Feinde bloßstellen, der die Abwesenheit ihrer Häupter wohl kennt.

Trotz dieser geistigen Verschiedenheit sah man Josseph seit jenem denkwürdigen Sabbatabende, wo er Madlena vor seinem Hause begegnet war, sich viel inniger und vertraulicher dem Lehrer aus dem Ghetto anschließen; er ließ sich mit ihm öfter, als früher, in religiöse Gespräche ein und fand an dessen Aufklärung nicht mehr so viel auszusetzen, als in früheren Tagen. Dieser Seele schien es ein Bedürfniß geworden, auf die Gedanken einer andern zu horchen; auszuspähen, ob nicht ein entfallenes Wort, eine lose hingeworfene Bemerkung seinem Leiden zu Hülfe kämen, ob nicht eine Perle zu Boden fiele, die er dann aufheben und triumphirend als Schmuck seiner guten Sache verwenden könnte.

Josseph war jedes Mal zugegen, wenn Julius Arnsteiner seinem Kinde Unterricht aus der Thora ertheilte. Es waren dies seine freudigsten, aber auch zugleich seine schrecklichsten Stunden. Fluch und Segen, Verwirrung und Aufklärung, Trost und Angst strömten ihm gleichmäßig aus den Lebenswellen des heiligen Buches zu. Wie auch anders!

In dieser Woche war der Lehrer an den Schluß des 5. B. M. gekommen. Schon in der Synagoge hatte Josseph diesen letzten Wochenabschnitt, der groß und gewaltig wie ein stolzer Siegesgesang tönt, gehört; mit geheimnißvoller Gewalt drängte es ihn heran, ihn noch einmal zu vernehmen; alle Schauer des gottgegebenen Wortes noch einmal über sein Haupt hinrauschen zu lassen.

Der Knabe lernte die Stelle:

Daß nicht vielleicht ein Mann oder ein Weib, oder ein Gesinde oder ein Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem Herrn, unserem Gotte, gewandt hat, daß es hingehe und diene den Göttern dieser Völker, und werde vielleicht eine Wurzel unter euch, die da Galle und Wermuth trage.

Vielleicht? murmelte Josseph drin in seinem Gewölbe, durch dessen offene Thür er den ganzen Unterricht belauschen konnte.

Was ist das für eine Wurzel, Herr Lehrer? fragte Fischele, nachdem er den hebräischen Urtext in hochdeutsche Worte gebracht hatte. Was ist das für eine Wurzel, die Galle und Wermuth trägt, und wie ist das zu verstehen?

Josseph horchte auf; alle seine Sinne waren auf der Lauer.

Das ist nur sinnbildlich gemeint, erklärte der Lehrer; derjenige, hat Moses geglaubt, der abfällt vom Judenthume und zu den Heiden übergeht denn wie du weißt, hat es damals mit Ausnahme der Juden lauter Götzenanbeter gegeben derjenige also oder diejenige, die vom Judenthume abfallen, sind wie eine bittere und gallige Wurzel mitten unter süßen Früchten. Hast du das verstanden?

Doch? rief es drin in Josseph's Seele, so wenig ihn eigentlich die flache Verständigung des Lehrers befriedigte. Doch? und seine Brust hob sich.

Weiter! befahl der Lehrer.

Der Knabe las:

Und ob er schon höre die Worte dieses Fluchs, dennoch sich segne in seinem Herzen und spreche: es geht mir wohl, wie es mein Herz dünket, auf daß die Trunkene mit der Durstigen dahinfahre.

Die Trunkene mit der Durstigen? fragte sich Josseph selbst, und er begann wieder unruhiger zu werden. Geht es ihr denn so wohl?

Was hätte er darum gegeben, wenn das Kind eingestanden hätte, daß es den Sinn dieser Worte nicht begriff, den er selbst nicht zu fassen wußte! Der Lehrer hatte keine Antwort zu ertheilen; die Blätter der Bibel rauschten fort, Satz kam auf Satz, Fluch auf Segen, nur bei gewissen dunkeln Stellen wurde stille gehalten und Auskunft gegeben, ohne daß die Aufklärungen Julius Arnsteiner's den drin im Gewölbe Sitzenden über Dinge aufhellten die über sein Leben entschieden.

Lehrer und Knabe waren endlich in rascher Auf - einanderfolge dem wunderbaren Schlußgesange Moses 'zugeeilt.

Die verkehrte und böse Art fällt von ihm ab; sie sind Schandflecken und nicht seine Kinder; lautete der fünfte Vers.

Da steht's! jauchzte drin im Gewölbe Josseph, da steht's, und jetzt geh 'einer hin und sage: es steht nicht in der Thora; Schandflecken sind sie und nicht seine Kinder.

In der Stube war nach diesem Satze eine minutenlange Stille eingetreten. Josseph horchte wieder auf. Wollte der Knabe fragen?

Fischele sprach: Zu wem spricht er denn eigentlich? Man hört ja keinen Namen?

Zu den Heiden und zu denen, die es werden wollen, lautete die Antwort.

Nur zu den Heiden? fragte sich drin die Gewölbstimme. Josseph begann an der Unfehlbarkeit des Lehrers zu zweifeln, und gewaltig ärgerte es ihn, daß sich Julius Arnsteiner mit der Erklärung dieses Satzes, über den sich so Vieles sagen ließ, nicht mehr Mühe nahm. Nach der Stunde gedachte er den Lehrer darüber zur Rede zu stellen, denn wofür zahlte man ihm ein so großes Stück Geld , als daß er den Knaben aufhellte, und nicht, daß er ihn in der Finsterniß ließ?

Der Lehrer wollte an diesem Tage an das Ende des fünften Buches kommen; er beeilte sich und gab sich nicht viel mit dem Antwortertheilen ab; zudem wiederholte er nur mit dem Knaben und hatte ihn bereits in früheren Stunden über Alles aufgeklärt, was nur irgend einen dunklen Sinn hatte!

Ein Satz war es wieder, der Josseph's Aufmerksamkeit in hohem Grade weckte und alle seine Sinne wie mit brennenden Nesseln aufjagte. In seinen Abschiedsworten an die Stämme Israels sagt Moses zu Lewi:

Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe dich nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nichts von ihm; die halten deine Rede und bewahren deinen Bund.

Josseph mußte sich mit beiden Händen an der Wand stützen, so bewältigend wirkten diese Worte auf ihn. Konnte man ihm deutlicher Recht geben, als es hier Gott und in dessen Namen sein Prophet selbst that?

In der Stube war wieder eine bedeutsame Stille eingetreten.

In Josseph's Herzen hätte man den auf und nieder steigenden Strom der Blutwellen vernehmen und den Schlag des fiebernden Pulses erlauschen können. Ihm schien die ganze Natur mit Allem, was darin leibt und lebt, auf eine Antwort, auf eine Lösung aus dem Munde des Lehrers zu harren.

Lehrer, begann der Knabe, das versteh 'ich nicht. Welches Kind wird denn zu seinem Vater oder zu seiner Mutter oder zu seiner Schwester sagen: ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir; geh fort. Und doch soll ein solcher Mensch fromm sein und Gott soll dem sich wohlgewogen erweisen?

Während dieser Frage war Josseph still in die Stube getreten und hatte sich hinter den Stuhl, auf dem der Knabe saß, gestellt. Sein Auge hielt er wie ein Richter, der in dem Antlitze des Verurtheilten späht, fest auf die Lippen des Lehrers geheftet.

Das ist auch nicht so zu verstehen, begann der Lehrer, und wenn ich dir's auch erkläre, so bekommst du doch nicht den rechten Sinn heraus. Wart ', bis du älter bist.

Warten? entgegnete lachend der Knabe.

Macht es ihm wenigstens mit Hilfe des Verstandes begreiflich, Herr Lehrer, sagte Josseph anscheinend ruhig, Fischele ist schon gescheidt genug und Kopf hat er auch genug.

Julius Arnsteiner begriff es ohne Mühe, daß hier dem Vater die Aufklärung der dunklen Bibelstelle eben so noth that, als dem Sohne.

Weißt du, was ein Geistlicher ist? fragte er.

Wie soll ich das nicht wissen? Der Pfarrer.

Gut! Hat der Pfarrer Weib und Kind?

Er darf ja nicht.

Willst du wissen, warum? Wenn der Pfarrer Weib und Kind hätte, meinen die Leute, könnte er kein guter Geistlicher sein.

Wie so?

Die Leute meinen, der Geistliche sei Gottes Stellvertreter auf Erden; dem Geistlichen ist nämlich die Macht gegeben, einen Menschen von der Sünde freizusprechen, und sie ist dann wie weggewischt von ihm. Derjenige also, dem eine so große Gewalt ist übertragen worden, der, wie die Christen sagen, binden und lösen kann, muß, weil er gleichsam für Gott auf der Erde arbeitet, auch mehr als ein Mensch sein.

Mehr als ein Mensch? fragte Fischele verwundert.

Das heißt, er darf nicht die gewöhnlichen Wege gehen, die Andere gehen. Gott muß ihm mehr sein, als alles Andere auf Erden, er soll sein Herz nicht an das hängen, was Andere erfreut; er muß gleichsam herausragen wie ein Wegweiser auf der Heerstraße, damit ihn die Anderen sehen können.

Der Lehrer wurde hier von einem zornigen Rufe Josseph's unterbrochen.

Verzeiht mir, Herr Lehrer, sagte dieser mit heftiger Geberde, man kann, Gott sei davor, wahnsinnig werden, wenn man Euren Reden da länger zuhört. Wie kommt da Eines zum Andern? Ihr macht's wie die Schalksnarren, die Eines aufs Andere reimen, wenn's auch nicht geht. Wie kommt denn der Geistliche da auf einmal zum Chumesch (Bibel)? Lernt Ihr meinem Kinde, daß es ein Geistlicher wird und weiß, was die Geistlichen thun?

Mit jenem überlegenen Lächeln, das Menschen so eigen ist, die es fast unter ihrer Würde halten, die Irrthümer ihres ungebildeten Bruders zu widerlegen, sagte der Lehrer, ohne im Geringsten durch die auffallende Bemerkung Josseph's verletzt zu scheinen:

Guter Rebb Josseph, warum lassen Sie mich nicht ausreden? Ich habe Ihrem Sohne auseinandersetzen wollen, daß die katholischen Priester sich auf diesen Satz in der Bibel berufen, wenn sie beweisen wollen, daß sie gleichsam außer allem staatlichen Verbande, außer allen Pflichten und Verbindlichkeiten stehen. Dieser Satz, habe ich erklären wollen, ist gleichsam der Schlußstein in dem Gewölbe der katholischen Kirche, denn er ist das Priesterthum selbst; und so lange dieses den Satz mit Consequenz behauptet

Laßt mich in Ruh, schrie Josseph wieder zornig und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Laßt mich in Ruh mit Euren Geistlichen, mit Eurem Schlußstein und Gewölb. Wenn ich ein Gewölb machen will, so schick 'ich um den Maurer und nicht um Euch.

Guter Rebb Josseph, unterbrach der Lehrer beschwichtigend den Zornigen, es ist mir ja gar nicht eingefallen

Tausenderlei ist Euch eingefallen, sagte mit immer höher schwellendem Grimme Josseph, nur das Rechte ist Euch ausgeblieben. Mein Kind ist ein Jüdenkind, und sein Vater ist auch eines Jüden Kind, Ihr müßt also mit ihm teutsch sprechen. Wenn das Kind fragt: wie kann Gott verlangen, daß man zu seinem Vater oder zu seiner Mutter oder zu seiner Schwester sagt: ich kenn 'dich nicht, ich weiß nichts von dir, so müßt Ihr darauf antworten: ja, ja, das kann Gott verlangen; sagen müßt Ihr ihm: wenn dein Vater oder deine Mutter oder deine Schwester Gott nicht mehr kennen wollen, wenn Eines hingeht und sich und Gott und die ganze Welt verräth, das ist die böse Art, von der geschrieben steht, daß sie von Gott abgefallen ist, das sind die Schandflecken, und zu einem solchen Vater oder Bruder oder Schwester muß man sagen: ich kenn' dich nicht, ich weiß nichts von dir; aber mit Euren Flausen müßt Ihr einem jüdischen Kind nicht kommen. So hab 'ich mir den Satz erklärt, und da beißt Ihr mir mit Euren Geistlichen und mit Eurer Philosophie nicht ein Brösele herunter.

Erinnerte sich der Lehrer erst jetzt der Geschichte dieses Hauses, die durch Josseph's Rede eine so eigenthümliche Färbung erhielt? Oder fühlte er sich verletzt durch die harten Worte des gemeinen Mannes, dem zu entgegnen seine Bildung nicht gestattete? Er schwieg und nach einer Weile sagte er zu dem Knaben:

Weiter.

Fischele las:

Herr, segne sein Vermögen und laß dir gefallen die Werke seiner Hände; zerschlage die Rücken derer, die sich wider ihn auflehnen, und derer, die ihn hassen, daß sie nicht auskommen.

Da habt Ihr's, da könnt Ihr's sehen, ob das auf Eure Geistlichen paßt. Da ist nur von Jüden die Red ', von keinem Priester und von keinem Kirchengewölb. Ja, gebenscht ist der, der seinen Vater und seine Mutter und seine Schwester nicht kennt, gebenscht bis ins hundertste Glied, und der Herr zerschlägt den Rücken derer, die sich wider ihn auflehnen, und derer, die ihn hassen, daß sie nicht aufkommen.

Der Lehrer schlug nach diesen Worten Josseph's die Bibel zu und endigte den Unterricht. Gab es da eine Verständigung? Wer von den Beiden war da im Recht?

8. Auf freiem Felde.

So hatte denn Josseph wieder eine Art Ruhe für sich gewonnen, jenes Gefühl stolzer Siegestrunkenheit, wie es Naturen seines Schlages erringen müssen, um überhaupt zu bestehen. Mehr als sonst war er jetzt zur Thätigkeit aufgelegt; sein Haß hatte nun sein geschriebenes Zeugniß, und der das Siegel darauf gedrückt hatte, war Gott selbst!

Mit Blut und Leben hätte er nun sein Recht zum Hasse aller Welt bewiesen; er hatte die geistige Gewähr dafür gefunden, die leibliche wollte er selbst zur Schau tragen, wo und wann ihm die Gelegenheit sich bot. Naturen solcher Richtung, eben so stark im Hassen wie im Lieben, begnügen sich nicht lange mit dem Verharren bloßer Gedankenthätigkeit; sie möchten eingreifen und thatsächlich darthun, was sie bewegt, was sie von sich zu werfen wünschen; entweder die geballte Faust oder das offene Herz; ein Anderes, Vermittelndes kennen sie nicht.

Von einem Vogel erzählt den Kindern die Sage, daß er die hungerigen Jungen mit seinem eigenen Blute letzt. Das ist der Siegesmuth solchen Kampfes, wie ihn Josseph mit sich, mit seiner Schwester und der ganzen Welt rang. Das Gleichniß bedarf nicht erst erklärt zu werden.

Wen wird es wundern, wenn diese Seele noch Wandlungen durchzukämpfen hat, die sie jetzt in ihrem eigenen Blute erstickt glaubt?

Schritt auf Schritt müssen wir nun diese seltsame Natur begleiten, keinen Augenblick sie außer Acht lassen. Könnten wir die Athemzüge seines Schlafes belauschen, die Tropfen perlenden Schweißes zählen, die unruhige Träume auf seiner Stirne hervorrufen, wir könnten dann voraussagen, ob Lösung oder völliger Bruch in naher Aussicht sind. Wir aber vermögen nur zu beobachten, wo Josseph ringend mit wirklichen Verhältnissen zusammentrifft; ein anderer Einblick ist uns nicht gegönnt.

Wir treffen ihn eines Tages auf der Wandelung nach einem entfernten Dorfe begriffen, wohin er bestellt war, um dort Wolle und Ochsenhäute bei einigen Bauer in Empfang zu nehmen. Auf der Straße gesellte sich zu ihm ein alter Bauer, der denselben Weg nach dem Dorfe ging, woher er gebürtig war. Im Gespräche mit dem Bauer erfuhr Josseph, daß auch bei ihm eine Partie Wolle zu erhandeln sei, und es währte nicht lange, so war das Geschäft in Richtigkeit gebracht. Josseph sollte nur kommen, wann und wie er wolle, die Waare liege alle Zeit bereit, im Dorfe möge er nur nach Waczlaw Smetana fragen, jedes Kind im Dorfe werde ihm sagen können, wo Waczlaw Smetana wohne.

Der seid Ihr? fragte Josseph und sah fast erschrocken zu dem Bauer auf.

Aber dieser Ausruf mußte beleidigend, irgend wie verletzend geklungen haben, den der Bauer fixirte ihn scharf und sagte dann übellaunig:

Warum? Ist das vielleicht der Name eines Spitzbuben? Eines, der vom Galgen heruntergefallen ist?

Wie könnt Ihr nur so reden? betheuerte Josseph, ich fragte nur, weil mir Euer Name so bekannt schien.

Wie so?

Ich kenne Einen in unserem Dorfe, der so heißt, sagte Josseph kleinlaut.

Da kennt ihr meinen Sohn Pawel Smetana. Ihr meint doch den, der die Tochter der Jüdin geheirathet hat?

Erst nach einer langen Weile brachte Josseph ein Mühsames Ja hervor; er war bleich bis zum Tode geworden; kaum daß die fast unvernehmliche Antwort über die zusammengekniffenen Lippen hinaus wollte.

Welch ein Zufall! War es nicht der Schwiegervater Madlena's, mit dem er da ging? Im ersten Augenblicke der Ueberraschung wollte Josseph unter irgend einem Vorwande weit weg von dem alten Bauer gehen, dennoch führte er dieses Vorhaben nicht aus; es war ihm, als ob er bleiben müßte, als hinge das Geschick eines Menschendaseins davon ab.

Nun schritt er neben dem alten Bauer her, der noch Mancherlei von sich und seinem Sohne sprach, ohne daß Josseph sonderlich darauf zu achten schien. Mit einem Male blieb der Bauer auf der Straße stehen, so daß auch der vorwärts eilende Josseph anhalten mußte.

Die beiden Männer standen sich eine geraume Weile sprachlos gegenüber.

Seht Ihr mir's an, begann der alte Bauer, der die Gesichtszüge Josseph's in diesem Augenblick scharf wie eine Beute im Wald aufs Korn nahm, seht Ihr mir's an, daß ich einen Sohn im Dorfe wohnen habe, was nur ein paar Stunden von mir liegt, und und daß ich diesen Sohn in zehn Jahren nicht aufgesucht habe? Ein schlechter Vater, werdet Ihr sagen, nicht wahr? Ich seh's Euch schon an, das wollt Ihr auch sagen.

Das kann ich ja nicht sagen, antwortete Josseph beklommen, bevor ich nicht weiß, warum Ihr das gethan habt.

Mein Sohn hat sich die Tochter der Jüdin zum Weib genommen, sagte der Bauer kurz, als hätte er mit diesen wenigen Worten die Geschichte von zehn Jahren zeichnen wollen!

Wieder gingen die Männer eine Weile stillschweigend ihren Weg weiter.

Und Ihr habt das für eine Schande angesehen? fragte Josseph mit zitternden Lippen und seltsam bewegtem Herzen.

Euch kann ich's sagen, meinte der Bauer, wenn Ihr auch Einer von dem Volke meiner Tochter seid. Ja, ich habe mich geschämt und hab 'meinen Pawel todtschlagen wollen. Wenn er mir das Haus über dem Kopf angezündet hätte, mich fortgetrieben aus Haus und Hof, und ich mich hätte stellen müssen an die offene Straße hin, damit mir die Leute etwas in den Hut werfen, das Alles hätt' mich nicht so fuchswild gemacht. Aber der Junge hat mir damals gesagt, wenn ich nicht wollte, daß er sich zwei schwere Steine um den Hals binde und sich in die Iser werfe, da, wo sie am tiefsten ist, da solle ich nur Nein sagen. Den einzigen Sohn hab 'ich doch nicht verlieren wollen, und so ist gekommen, was gekommen ist.

Wie nachtwandelnd ging Josseph neben dem alten Bauer einher; plötzlich, nachdem dieser geendigt, fuhr er fort:

Zehn Jahre, sagt Ihr, Herr Smetana, habt Ihr Euren Sohn nicht gesehen?

So lange, als der Sohn mit der Tochter der Jüdin verheirathet ist. Gekommen ist er öfters, besonders in der ersten Zeit, hat geweint und ist auf die Kniee gefallen vor mir, aber er hat mehr als einen Stoß vor die Brust von mir bekommen, dann bin ich ihm immer aus dem Weg gegangen; ich habe ihn nicht wollen sehen. Geflucht hab 'ich wie ein Räuber, den man zum Galgen führt, wenn die Leute mir ein Wort von meinem Pawel erzählt haben.

Und wie ist es doch gekommen? fragte Josseph, den eine unbezwingliche Neigung drängte, Alles zu erfahren. Er unterbrach sich selbst, als hätte er bereits zu viel gefragt.

Hört an, wie das geschehen ist, entgegnete der Bauer. Ich bin schon ein alter Mann, die Vögel auf dem Dache wissen das schon längst, und der Cantor in unserem Dorfe, der freut sich schon auf den Tag, wenn sie den todten Waczlaw Smetana bei seinem Weib einscharren werden. Die wartet schon zwanzig lange Jahre auf mich. Dazu hab 'ich einen schweren Husten, und wenn der kommt, so mein' ich immer, die Stimme meiner Alten zu hören, warum ich sie denn so lange warten lasse. Darauf könnt Ihr sicher rechnen, was ich Euch da jetzt sage: noch in diesem Jahre wird der Cantor die Glocke zu läuten haben, und die Musikanten werden ihr Trinkgeld bekommen. Der Waczlaw Smetana ist ein altes Haus, an dem nichts mehr zusammenhält, als die vier Wände, inwendig sieht's aber aus, als hätten sie Alles ausgepfändet; es liegt nichts mehr auf dem alten Flecke, Alles ist umgekehrt und durch einander; der Doctor kann das nicht mehr zusammenhalten.

Mit jenem Gefühle, das uns fast immer antreibt, solchen Todesgedanken tröstend entgegenzutreten, wenn wir auch von ihrer Berechtigung überzeugt sind, versuchte es auch jetzt Josseph, dem alten Bauer zuzusprechen, daß er gar zu trübe von der Zukunft denke; doch der sagte mit einem unheimlichen Todeslächeln auf den Lippen:

Ich hab 'einen alten Birnbaum vor meinem Fenster stehen, der ist schon älter, als die ältesten Leute im Dorfe. Der hat heuer zum ersten Male nicht ausgeschlagen; ich weiß schon, was das zu bedeuten hat.

Daß der Baum zum Umhauen reif ist, rief Josseph unbedacht.

Also da sagt Ihr's ja selbst, sprach der alte Bauer, für den die Todesgewißheit allen Schreck verloren zu haben schien. Nun, von dem will ich Euch nicht weiter erzählen. Hört, wie es mir in vergangener Woche ergangen ist. Da wache ich auf einmal in finsterer Nacht, von meinem Husten geweckt, auf; ich habe geglaubt, der Krampf läßt mich keine Viertelstunde mehr am Leben; aber es muß noch etwas in meinem Leibe sein, was noch nicht ganz zerbrochen und zerstückelt ist, und da ist auch der Krampf vorübergegangen. Wie ich mich wieder als Lebendigen gesehen habe, es hat mich selbst gewundert, da ist mir, ich weiß nicht wie, der Birnbaum draußen vor dem Fenster eingefallen, daß der heuer nicht blühen will. Was meint Ihr, was mir in jener Nacht für ein Gedanke auf und zugegangen ist? Der Baum will nicht blühen, weil er gut weiß, daß Waczlaw Smetana noch heuer in die Grube fahren wird, und dann ist kein Mensch da, außer Einem, und der wird sich freuen, daß ich gestorben bin. Da hab 'ich mir vorgenommen: wie der Morgen kommt, da machst du dich auf den Weg und gehst zu deinem Sohn! So schlecht wird er nicht sein, daß er den alten Vater nicht ins Haus lassen wird, weil der ihn zehn Jahre nicht in sein Haus gelassen hat. Und endlich ist mir noch eingefallen, wie mein Pawel so gar schlecht nicht leben kann, wenn er mit der Judentochter schon zehn Jahre beisammen ist, und man hört nichts Besonderes von ihr. Es hat noch kein Mensch sagen können, was denn eigentlich mit meiner Schwiegertochter ist, nichts im Guten und nichts im Bösen.

Sie ist ja doch getauft, unterbrach ihn Josseph, forschend den Bauer anblickend.

Was hat mich denn vom ersten Augenblick an so aufgebracht, daß man Waczlaw Smetana auf zehn Meilen in der Runde es hat angesehen, daß sein Sohn eine Jüdin zum Weibe hat? Müssen denn die Leute mit Fingern auf einen zeigen? Wahr ist, meine Schwiegertochter ist keine Jüdin mehr, aber die Leute sagen doch immer: die Jüdin! Und sie geht doch seit zehn Jahren schon in die Kirche, hat die heilige Taufe erhalten und ist das Weib meines Sohnes.

Eine starke Röthe war es die des Zornes oder der Scham? ward in diesem Augenblick auf Josseph's Antlitz sichtbar. Er sprach kein Wort.

Am andern Tage da hab 'ich mir den Birnbaum erst recht angesehen, fuhr der Bauer fort, und da hab' ich gefunden, dem könnt 'nur ein Wunder Gottes helfen, daß er wieder Blüten ausschlägt. Denn Ihr müßt wissen, das kann zuweilen auch geschehen. Bäume stehen da Jahre lang wie stumm, und man hebt schon die Axt gegen sie auf, um sie bis auf die Wurzel niederzuhauen. Da fällt es so einem Baum wieder ein; früh kommt Ihr in den Garten, da ist er Euch ganz mit weißen und rothen Blüten bedeckt. Ich hab' mir also meinen Birnbaum angesehen, der ist Euch ausgehöhlt von oben bis unten, zwei Männer könnten darin Platz haben, und vom Saft, da weiß der Baum gar nichts mehr zu erzählen. Drauf geh 'ich in meine Stube zurück, nehme meinen Stecken und mach' mich auf den Weg.

Zu wem? fragte Josseph zerstreut.

Zu meinem Sohn Pawel! Zu wem denn anders? entgegnete drauf Waczlaw etwas gereizt. Hab 'ich denn mit einem Andern etwas auf der Welt ab - zumachen, bevor sie mich begraben? Schuldig bin ich nichts, mir sind Andere auch nichts schuldig, aber zwischen mir und meinem Sohn Pawel da hat es noch eine Rechnung gegeben, und die habe ich zahlen wollen, ehe es zu spät war. Früh Morgens bin ich weggegangen, und am Abend bin ich erst ins Dorf gekommen. Der alte Birnbaum hat keine Kräfte mehr. Ich komme in das Haus meines Pawel's, da ist der nicht zu Haus, nur Weib und Kinder treffe ich da, und die kennen mich nicht. Ich hab' auch nicht gleich gesagt, daß ich der Großvater bin, und spreche zu meiner Schwiegertochter: ich möchte auf ihren Mann warten, bis der käme, ich hätte mit ihm zu sprechen. Meines Pawel's Weib sagt drauf, da könnte sie nichts einwenden dagegen, ich sollte mich indessen setzen, damit das Kleinste in der Wiege bei Nacht schlafen könne, und schickt ihr ältestes Kind weg, damit es Bier und Brot und Butter holt. Da setzt sie sich nun zu mir hin und stellt sich vor mich, daß ich ihr ganzes Wesen hab 'ansehen können. Von Minute zu Minute ist sie mir lieber geworden; denn das hab' ich gleich bemerken können, wie sie eine gar gute Mutter sein muß die Kinder waren so sauber und wohl erzogen, wie ich das seit Langem nicht gesehen, und wenn eines nicht folgte, da hat sie es nicht geschlagen oder hat, wie es die Mütter gewöhnlich thun, gesagt: Wart 'nur, bis der Vater heim kömmt, sondern das Kind hat gleich gefolgt, und mir hat das außerordentlich gefallen. Das zweite Mädchen, die haben sie taufen lassen, wie meine Alte geheißen hat, nämlich Marianka

Marianka? rief Josseph verwundert.

Marianka, ein gar prächtiges Kind, das läuft Euch zwischen meine Füße und hält sich da fest und schaut 'mich an, als wär' ich ihr seit ihrer Geburt bekannt. Stellt Euch vor, wie ich erschrecke, als das Kind mit Gewalt auf meinen Arm hinauf will, und sagt: Großvater, Großvater! Meines Pawel's Weib lacht drob und meint zu dem Kinde: das ist ja nicht dein Großvater, du Närrchen, aber aussehen mag er schon wie dieser da, und will das Kind mir wegnehmen; das aber hält fest an mir und schreit: ich bleibe bei meinem Großvater. Just läutet die Glocke in diesem Augenblicke den Abendsegen, da seh 'ich, was ich nicht erwartet habe. Meines Pawel's Weib kniet nieder vor dem Heiland, die anderen Kinder, das älteste Mädchen und der jüngere Knabe, knieen zu ihr hin, und mit lauter Stimme sagt sie ihnen das Vaterunser vor, und die Kinder beten es ihr nach. Ich hab' ihr zugehört, wie wenn ich, der ich siebenzig und etliche Jahre alt geworden bin, das zum ersten Male in meinem Leben gehört hätte. Ist das eine Jüdin gewesen? hab 'ich mir gedacht, die hat ja schon am ersten Tage, wie sie geboren wurde, das heilige Wasser der Taufe erhalten.

Namenlose Qualen im Herzen bergend, vermochte Josseph dieser Erzählung, die alle seine Lebensgeister wie mit Nesseln aufpeitschte, nur ein stummes Kopfnicken entgegen zu setzen.

Ich halt 'das Kind noch auf dem Arme, und Madlena, meine Schwiegertochter, die kniet noch mit den anderen Kindern auf dem Boden und beten, da geht die Thür auf, und mein Sohn Pawel tritt herein. Das Weitere brauch' ich Euch nicht zu erzählen; ich hab 'die Rechnung mit ihm abgemacht, er bleibt mein Sohn Pawel und ich bleibe sein Vater Waczlaw Smetana. Jetzt sind wir wieder die besten Freunde. Wenn ihm nur Gott seine Madlena lange erhält! Das ist ein Weib, gar nicht wie die anderen, da läßt sich gar nicht sagen, was die für Eine ist. Mein Sohn ist durch sie ein anderer Mensch geworden, das hab' ich an tausend Sachen gleich erkannt. Ich hab 'meinem Pawel, wie er gegen meinen Willen sich die Tochter der Jüdin genommen hat, gar nichts mitgegeben, als sein Muttertheil, und habe doch selbst über achtzig Strich Feld; da hat er aber durch Sparsamkeit, und weil sein Weib dazu gesehen hat, sich in den zehn Jahren doch durchgeholfen; keinen Groschen hat er von mir gebraucht, und wie mir Madlena selbst gesagt hat, sind sie nicht schuldig, in was man einen Löffel Salz schüttet. Jetzt geh' ich nach Haus; länger als vier Wochen wird's nicht dauern, da schick 'ich um meine Kinder und geb' ihnen Alles, was ich hab '. Unser Herrgott wird mir's verzeihen, wenn ich zehn Jahre so schlecht mit meinen Kindern umgegangen bin und vielleicht wird die Hölle doch nicht so brennen, wenn ich weiß, daß eine Madlena für mich auf Erden betet

Unerkannt trennte sich Josseph, als sie das Dorf erreicht hatten, von dem Schwiegervater seiner Schwester. Auf dessen Anfrage, ob er kommen werde, sich die Wolle anschauen, antwortete Josseph zerstreut. Es war ein verlorener Tag; er that die Geschäfte ab, als ob er noch ein Junge wäre, den man zum ersten Male ins Dorf schickt. Zu Waczlaw Smetana ging er nicht.

Er fürchtete sich vor dem alten Bauer!

9. Auch eine Abrechnung.

Sabbat war wieder gekommen, der Tag des Herrn. Diesmal ging Josseph nicht in die benachbarte Gemeinde zur Synagoge, wie er sonst pflegte; den weißen Talis um den Leib geworfen, das Gebetbuch vor sich, verrichtete er seine häusliche Andacht. Seine Mutter fragte ihn zwar, warum er diesmal den Schulgang unterlasse, aber er gab nur nichtige Ausflüchte. Drauf ward sie besorgt und meinte tiefbekümmert: man glaubte stets, selbst sei man krank, wie es kein Mensch mehr auf Erden ist, immer finde man aber Einen, der noch kränker wäre. Sie fürchte sehr, daß es ihm wo fehle: schlecht genug sehe er ohnehin aus.

Soll ich etwa aussehen, wie das Leben, wenn man mir mein Leben verbittert? mußte Josseph sich im Beten unterbrechen.

Gott, Lebendiger! rief die alte Frau bekümmert, wer verbittert dir's? Leb 'ich dir vielleicht zu lang?

Und auf das soll ich dir eine Antwort geben? sagte Josseph ruhig und fuhr eifrig in seinem Gebete fort.

Nach dem Gebete mußte Fischele die Bibel herbeiholen und mit dem Vater zusammen den Wochenabschnitt der Thora, den er schon dieser Tage mit dem Lehrer vorausgelernt hatte, noch einmal mit dem Tropp*)Der Gesang, mit dem das Vorlesen der Bibel begleitet wird. durchsingen. Das dauerte wohl an die zwei Stunden, während welcher Josseph, der nur zuweilen einen Fehler des Knaben verbesserte, aus einer andern Bibel las, die er vor sich aufgeschlagen hatte. Wunderbar! es war derselbe Wochenabschnitt, aus dem er bei dem neulichen Unterrichte des Lehrers so viel Muth und Erhebung geholt, derselbe Brunnen, der seinem Hasse so viel Recht und Nahrung zugetragen hatte, und doch machten dieselben Sätze heute weniger Eindruck auf ihn, kaum daß sie ihn zu einem minutenlangen Nachdenken aufforderten. Das, was da in der Bibel stand, hatte Moses vor tausend und tausend Jahren zu einem Volke gesprochen, auf dessen Zustand jedes Wort, jeder Fluch und Segen wie eine Handhabe an ein Gefäß paßte; was gingen sie ihn an?

Nach dem Bibellesen sagte Josseph zu seiner Mutter, fast, als ob heute noch kein schneidender Vorwurf zwischen Beiden gefallen wäre:

Mamme, was meinst du, mit wem ich diese Woche, wie ich aufs Dorf bin gegangen, auf offener Straße bin zusammen gegangen?

Vielleicht gar mit ihr? fragte die alte Marjim mit freudigem Ausdrucke.

Josseph's Stirne verfinsterte sich wieder.

Mit der, sagte er finster, mit der nicht! Aber mit ihrem Schwär (Schwiegervater) bin ich zusammengetroffen.

Nu? forschte die Mutter, indem sie ihrem Sohn lauschend ins Gesicht sah.

Wollte er der alten Mutter keine freudige Stunde gönnen, daß sie aufjauchze aus tiefstem Herzen, daß der Trost mit seinem lindernden Athem um diese Seele fächle, die seit zehn Jahren so viel gerungen und gelitten hatte, daß kein Lichtstrahl auf ein in zehnjähriges Dunkel gehülltes Wehe falle, wenn er ihr die Erzählung von seinem Zusammentreffen mit dem Bauer Waczlaw Smetana vorenthielt? Woher sonst der scharfe, zugespitzte Ton, mit dem er, nachdem die Mutter auf eine Antwort so forschend gelauscht, zu ihr sagte:

Gegangen sind wir wohl selband, haben auch Mancherlei zusammen gesprochen, der Bauer hat mir sogar ein Geschäft angetragen, aber ich bin ihm nicht nachgegangen. Ich will von Keinem wissen, der nur an ihr anrührt. Ich hab 'ihn auch stehen lassen.

Arme Marjim! Sie hatte so viel erwartet.

Sabbatnacht, wenn die Hawdala oder die sinnbildliche Scheidung der Woche von dem Ruhetag des Herrn durch Anzünden und Verlöschen der geweihten Kerze vorüber war, begab sich Josseph gewöhnlich ans Rechnungsgeschäft der Woche; er schrieb und zählte da eingenommenes und wegzugebendes Geld, zeichnete sich die Bauern auf, die in dieser Woche gemahnt werden mußten, wie überhaupt Alles, was das Geschäft anging. Fischele hatte dabei die Verrichtung, daß er die Geldrollen nach ihren verschiedenen Klassen aufstapelte, so daß der Tisch bei solchen Gelegenheiten fast zu klein ward für den Leuchter, der seine Flammen dazu herlieh. Der Knabe sollte, wie dies Josseph fast allwöchentlich wiederholte, lernen, was Geld sei, und damit er nie in die Lage komme, wenn er einen Gulden zum Wechseln auf fünf Groschen erhielte, nicht zu wissen, wie viel er heraus zu geben habe. Diesmal verbat er sich jedoch die Dienste Fischele's. Er befahl ihm, sich heut Abend nicht zu muxen, denn er habe da eine Rechnung zu machen und Zinsen von Zinsen eines Capitals auszudenken, daß ihm der Kopf groß wie ein Haus würde. Aus dem letzten Fache eines Schreibtisches holte er dann alte und vergilbte Papiere hervor, die er, um sie genauer zu lesen, mit der Brille durchforschte. Er rechnete und rechnete, schien sich oft zu irren, löschte dann die Ziffern, die er mit Kreide aus den Tisch hingezeichnet hatte, wieder aus, um von Neuem zu beginnen. Perlender Schweiß kam auf seiner Stirne hervor, die unter der angestrengtesten Kopfarbeit wohl heftig hämmerte. Mutter und Sohn sahen diesem Gebahren mit einigem Staunen zu. Fischele muxte sich wirklich nicht, und in der Stube webte eine Stille, daß man nur das schrille Pfeifen der Kreide auf dem Holze vernahm.

Endlich schien er fertig. Mit einem gewaltsam sich hervordrängenden Seufzer schob er dann die vergilbten Papiere zur Seite, besah sich noch einmal die lange Zifferreihe auf dem Tische, die er jetzt für richtig befunden haben mußte. Wieder ging er zu dem alten Schreibtisch, aus dessen verschwiegenster Lade er Geld herbeitrug, das theils in Silber, theils in Papier bestand. Das Zählen dieser Summe nahm wieder eine geraume Zeit in Anspruch. Mit großen Ziffern zeichnete er endlich an den Rand des Tisches, gleichsam das Endresultat des ganzen Abends, eine Summe auf; Fischele las sie über den Tisch hinüber und fand, daß sie gerade 578 fl. 35 kr. betrug.

Josseph starrte, die Hände straff an den Rand des Tisches gestemmt, erst das aufgestapelte Geld, dann die geschriebene Summe an.

Fertig mit ihr, murmelte er, doch so vernehmbar, daß es Marjim und Fischele verstehen konnten.

Die gesprochenen Laute schienen den Beiden ein Zeichen zu sein, daß sie aus der während dieses Abends so strenge befohlenen Unbeweglichkeit sich wieder hervorwagen dürften.

Merkwürdig, sagte Fischele, erst war der ganze Tisch mit Kreide bedeckt, jetzt stehen fünf Ziffern darauf.

Und wirst du jetzt nicht dein Nachtessen wollen? Kopf zerbrochen hast du dir genug, meinte die alte Marjim.

Josseph starrte noch immer das Geld an.

Das sind da gerade fünfhundert und achtundsiebenzig Gulden und fünfunddreißig Kreuzer, sprach er nun laut zur Großmutter hin, ohne jedoch die Augen vom Tische zu wenden. Es fehlt kein Groschen daran, die nimmst du und schickst ihr's durch die Dienstmagd hin, die soll aber ja nicht ender fortgehen, bis sie nicht eine Quittung in der Hand hat, daß das Geld richtig ist übergeben worden.

Wie soll ich das verstehen? fragte mit gerechtem Erstaunen Marjim. Wem soll ich das Geld schicken?

Ihr.

Dinah vielleicht?

Ich hab 'nachgerechnet, sagte Josseph, ohne noch immer den Blick von den auf dem Tische aufgestapelten Geldsummen wegzuwenden, ich hab' nachgerechnet, es kommen ihr noch 578 fl. 35 kr., wenn ich Zinsen von Zinsen des Capitals dazuschlage. Für die zehn Jahre, wo das Geld bei mir gestanden ist, kommen gerade 578 fl. 35 kr. ; da darf kein Pehm daran fehlen.

Der alte Kopf der Großmutter begann von dieser Mittheilung, die ihr so unerwartet kam, zu schwindeln.

Schmah Jisroel! rief sie, für was bist du ihr's denn schuldig? Das ist ja ein gewaltig groß Stück Geld.

Das ist das Geld, was ihr von Vaterswegen kommt, sagte Josseph mit eisiger Kälte. Zehn Jahre ist's bei mir gestanden, ich halt 'mir keinen Pehm davon, Zinsen von Zinsen des Capitals zahl' ich ihr auch zurück, mit fünf Procent berechnet. Ehrlicher kann doch kein Bruder gegen seine Schwester handeln.

Hast du ihr denn damals das Geld nicht ausgezahlt? fragte Marjim nach einer minutenlangen Pause, während welcher sich alle Lebenskräfte ihres Verstandes auf einen Punkt hindrängten, um nur diesmal nicht zu unterliegen.

Weißt du denn das nicht? entgegnete Josseph mit merkwürdiger Unbefangenheit. Ich hätt 'ihr etwa noch aus des Vaters Erbschaft ihr Theil abgeben sollen? Wie wäre sie dazu gekommen? Erst hat sie ihn in die Grub' gebracht, und hernach will sie noch ihr Theil? Ich hätt 'keinen Kreuzer herausgelassen, und wenn sie vor meiner Thür umgefallen wär'!

Josseph, Josseph! rief die alte Marjim vorwurfsvoll.

Milder sagte er dann:

Sie hat ja damals zu mir geschickt und hat ihr Erbtheil heraus wollen. Was hab 'ich ihr aber sagen lassen? Sie soll mich verklagen beim Amt und beim Kreisamt und beim Gubernium, sie könnt' selbst zum Kaiser auf Wien gehen, hab 'ich ihr sagen lassen, und sich den besten Advocaten auf der Welt nehmen. Sie sollt' schon sehen, wie ich noch einen bessern Kopf auf mir hab ', als der beste Advocat auf der Welt.

Und hat sie dich denn verklagt? meinte fast absichtslos die Mutter.

Diese einfache Frage schien einen wunderbaren Eindruck auf Josseph zu machen. Er starrte die Mutter eine lange Weile, fast verblüfft, fast geblendet von den wenigen Worten an, die so gewichtigen Inhalts waren.

Verklagt ob sie mich hat? stammelte er mehr, als er sprach. Nein, das hat sie nicht gethan.

Und warum erst jetzt? Wie ist dir das eingefallen?

Bedachte Josseph nicht, daß in diesem Augenblicke eine Lebensfrage von seinen Lippen beantwortet werden sollte?

Mit einem verdrießlichen Achselzucken sagte er:

Ich will mit ihr einmal fertig werden. Von Rechtswegen kommt ihr das Geld doch, und wenn sie mich hätt 'verklagen wollen, hätt' ich nur zu sagen gebraucht: ich hab's nicht, und hätt das aus den Büchern bewiesen. Fertig werden will ich; dann seh 'ich, sie bekommt wieder ein Kind um's andere ins Haus, da hab' ich mir gedacht, sie wird das Geld nöthig haben, kann ein Stück Feld dafür kaufen und ein Kind drauf einschreiben lassen.

Welche ungewohnte Sprache tönte heute zum ersten Mal nach zehn Jahren an die Ohren der alten Frau! Hörte sie Himmelsharmonieen, Chöre engelhafter Stimmen, die ihr auf Schwingen des Gesanges die Kunde zutrugen, welche Veränderung mit ihrem Sohne vorgegangen?

Josseph, Josseph, rief sie schluchzend, Gott soll dir's zahlen!

Sage nur der Dienstmagd scharf ein, sprach er auf diesen Ausbruch mütterlicher Zärtlichkeit mit überlegter Kälte, sag ihr's nur scharf ein, sie darf nicht weggehen, bis sie nicht die Quittung in der Hand hat.

Josseph, Josseph! weinte die alte Frau.

Er stand vom Tische auf, schob das Geld auf einen Haufen und trat dann zum Fenster; leise pfeifend blickte er eine lange Weile in die finstere Nacht hinaus. Dachte er an etwas, was wir nicht errathen können? Vom Fenster ging er dann wieder zum Tische und ließ noch einmal den Blick auf den geschriebenen 578 fl. 35 kr. haften. Mit einem heftigen Rucke der Hand löschte er sie dann aus.

So, sagte er halblaut für sich, das Beste ist, ich bin mit ihr fertig geworden.

Die alte Marjim war eine feinfühlende Natur. Ihr war das Fertigwerden Josseph's, daß wiederholt aus seinem Munde gekommen, nicht nach dem Sinn. Zehn Jahre lang, dachte sie, läßt er das Geld bei sich liegen, läßt Zinsen auf Zinsen anwachsen, und da meint er nun, er ist fertig geworden mit ihr? Dennoch dankte und lobte sie Gott aus tiefster Seele, denn, war sie der Hoffnung, Josseph hat doch wenigstens einen Anfang gemacht.

Wie schlecht kannte diese Mutter denjenigen, den sie unter ihrem Herzen getragen und mit ihrem eigenen Blute genährt hatte, wenn sie an diesen Anfang glaubte.

Josseph's Haß gegen die Schwester war jetzt gefährlicher als je; er hatte ihm selbst die Spitze abgebrochen, indem er ein altes Unrecht wieder gut zu machen suchte. Dafür war dieser Haß breit und stämmig geworden, wie ein abgehauener Baum im Walde.

Das grüne Laubwerk fehlt, aber der verstümmelte Stamm steht fast drohend da, daß man ihn seines Schmuckes zu berauben gewagt hat.

10. Swate Fán.

So wohl sich übrigens Josseph fühlen mochte, daß er nun mit Madlena fertig geworden, er schaute doch am andern Tage mit einer Empfindung von Bangigkeit dem Kommen der Magd entgegen, die er mit den 578 fl. 35 kr. zu ihr geschickt hatte. Die Magd kam endlich und brachte die in bester Ordnung ausgestellte und vom Schulmeister auf einem Stempelbogen geschriebene Quittung über den richtigen Empfang des Geldes; unterzeichnet stand mit großen leserlichen Buchstaben: Madlena Parzik, Ehefrau des Pawel Parzik. Auf die Frage der Großmutter, ob das so plötzlich ins Haus gekommene Geld dort nicht großes Aufsehen und Ueberraschung verursacht habe, wußte die Magd nur wenig zu berichten. Sie habe Pawel und Madlena noch daheim getroffen, denen habe sie ihren Auftrag mitgetheilt, worauf Pawel sogleich um den Schulmeister geschickt hätte. Madlena habe aber heftig geweint und gesagt: das hätte sie gewiß niemand Anderem zu verdanken, als ihrer Mutter; in einer Woche wäre das zum zweiten Male, daß sie ihr Wohlthaten erzeige; erst habe sie ihr Zucker und Kaffee geschickt und jetzt verhelfe sie ihr sogar zu ihrem väterliche Erbtheil.

Umsonst war das Nicken und Winken der alten Frau, daß die Magd in ihrem Geständnisse einhalten solle. Josseph hatte Alles gehört; mit dem Scharfblicke eines Falken übersah er sogleich den ganzen Verrath, der an ihm begangen.

Weiber, Weiber! knirschte er zwischen den Zähnen, und ein gewaltiger Ausbruch des Zornes stand bevor.

Die kluge Marjim aber kam ihm zuvor, daß sie die Magd fragte, ob Madlena sich auch bedankt habe, und ob sie besonders des Herrn nicht gedacht habe (sie meinte Josseph), der das Geld doch eigentlich geschickt habe.

Darauf könne sie sich nicht mehr erinnern, sagte die Magd, den Namen des Herrn hätte sie nicht gehört, es sei immer die Rede von der Babe gewesen.

Nu, Mamme, meinte Josseph mit fürchterlichem Hohn, willst du der noch Zucker und Kaffee schicken?

Die kluge Marjim wandte in diesem Augenblicke die seine Kriegslist an, daß sie gleichsam in die gerechten Vorwürfe Josseph's einzustimmen schien.

Das sei nicht schön, sagte sie, daß Madlena sich nicht ordentlich habe bedanken lassen, denn es sei doch nur Josseph's gütigem Willen beizumessen, wenn er ihr das väterliche Erbtheil mit Zinsen von Zinsen des Capitals ausgefolgt hätte. Namentlich das Letztere, nämlich die Zinsen auszuzahlen, sei er gar nicht verpflichtet gewesen, genug hätte er gethan, wenn er's nur beim Capital gelassen hätte und nun ließe sie sich nicht einmal bedanken!

In ihrem Herzen nahm sie aber entschieden Partei für die Tochter gegen den Sohn. Wofür sich Madlena etwa noch hätte bedanken sollen, sprach es in ihr, ob vielleicht dafür, daß man ihr das, was ihr von Rechtswegen komme, endlich nach zehn Jahren geschickt habe?

Das Eine hatte aber die alte Frau durch ihre feine Kriegslist erreicht, daß Josseph's Zorn sich nicht mehr wie wildes Bergwasser verheerend und vernichtend Bahn brechen konnte: einen Theil seines Grimmes hatten andere Schultern auf sich geladen, und bedürfen derartige Naturen etwas Anderes, als zu wissen, daß sie mit ihrem Hassen und Lieben nicht allein dastehen in der Welt?

Am wenigsten kannte Josseph selbst seine eigene Lage, wenn er das Facit seiner Rechnung mit Madlena zum Schlusse gediehen glaubte. Zwar fühlte er einige Erleichterung, wenn er dachte, daß ihn nichts mehr band, nicht einmal ein zu sühnendes Unrecht mehr: denn er hatte ja Alles gethan, um den Begriffen gewöhnlicher Rechtlichkeit Genüge zu leisten. Er glaubte fertig geworden zu sein, und der Gedanke überkam ihn zuweilen mit aller Freudigkeit, wie sie nun ihn so gar nichts mehr angehe und wie er sie jetzt abgeschüttelt habe, wie ein Ungeziefer, das einem vom Baum auf den Rock gefallen . Aber die bösen Stunden sollten dennoch nicht ausbleiben, und wen wird es wundern, daß sie wieder zurückkehrten?

Sie kamen noch in dieser Woche.

Der 16. Mai war gekommen das Fest des heiligen Johann von Nepomuk. Gleichzeitig mit dem achttägigen Bittgange zu dem böhmischen Landespatron war auch das holde Fest Sebuoth, die jüdischen Pfingsten, in das einzige Judenhaus des Dorfes eingekehrt. Während Fischele zur Ehre der zehn Gebote, was nur immer in der Stube stichhältig war, mit grünem Laubwerk und Blumen bekränzte, damit die Babe, meinte er, doch auch wisse, wie es an diesem Tage in der Synagoge aussehe, waren draußen auf der Brücke andere Hände geschäftig, den Heiligen zu schmücken, der alle Flüsse und Bäche dem Volke geheiligt hat, seitdem sie von der Prager Brücke in die stillen nächtlichen Fluten der Moldau jenen schweigsamen Priester geworfen haben.

Unter allen Heiligen der katholischen Kirche ist St. Johann von Nepomuk's Glorienschein der am weitesten hin leuchtende; aus den stillen Fluten der Moldau hat sich vor Jahrhunderten ein Lichtschimmer ergossen, der noch jetzt von den fünf Sternen, mit denen das Volk den Kopf des Heiligen umgiebt, in tausend Seelen sich ergießt. Der Strahlenglanz, der von feinem Haupte ausgeht, legte sich einst nicht prächtiger um die Krippe des bethlehemitischen Kindes das Volk selbst hat ihn zu seinem Heiligen gemacht. Die Menschennatur hat hier im dunkeln Drange den rechten Weg gefunden. Jener bleiche Priester, der selbst um den Preis eines grauenhaften Todes die anvertrauten Geheimnisse einer Menschenseele nicht entheiligen wollte, hat dem Volke das Schweigen vergöttlicht. Unter zehn leidenden Herzen giebt es nur eines, das geneigt ist, seinen Jammer laut und vor aller Welt auszusprechen, die anderen suchen sich auszuschweigen , oder der heilige Priester mit dem Sternenkranze um das Haupt tröstet sie.

Tausend Hände sind jederzeit geschäftig, den Heiligen zu schmücken, ihm Blumensträuße darzubringen, farbige Lämpchen anzuzünden, grünes Laubwerk in verschlungenen Zierathen um seine Bildsäule zu schlingen; denn tausend Herzen bewegt es in trauriger Ahnung, daß sie im Laufe des Jahres leidens - und schmerzvoll vor dem bleichen Priester schlagen werden, und die Lieder, die sie ihm am Jahrestage seiner Heiligwerdung singen, die Blumen, mit denen sie ihn bekränzen, halb hat sie die Ehrfurcht, halb die Bestechung dargebracht.

Das Fest des heiligen Johann von Nepomuk kam als eine böse Stunde für Josseph.

Die Procession, die aus der Kirche nach der Brücke zu sich bewegte, ging an seinen Fenstern vorüber. Schallende und weithin läutende Glocken, flatternde Kirchenfahnen, brausende Gesänge, die über Wiese und Feld hinüber tönten und die Lerche herausforderten aus dem Blau des Himmels, wo sie verborgen ihr schmetterndes Lied sang! Und in der langen Reihe der frommen Schaar, die lobpreisend und singend zu dem Heiligen auf der Brücke zog, auch Madlena!

Fertig glaubte er geworden zu sein mit ihr, und nun brachte jedes höher sich schwingende Weihrauchwölkchen, das aus den Rauchfässern der Knaben aufwirbelte, jeder verirrte Laut, jedes Flattern der in den Lüften wallenden Kirchenfahnen Sturm in sein Blut, machte seine Faust sich ballen und sein Auge funkeln!

Der Heilige, dem all diese Feier galt, all diese Ehre entgegenging, St. Johann von Nepomuk vergällte ihm nicht die Stunde, aber was wollte Madlena dabei? dachte er bei sich. War St. Johann von Nepomuk für sie von der Prager Brücke in die Moldau geworfen worden? Gehörte sie zu ihm? Und mußte sie gerade mit der Procession an seinem Fenster vorübergehen? Gab es keine andere Art, als Getaufte zu erscheinen, als Mutter und Bruder offen vor aller Welt Hohn zu sprechen?

Darum war das heurige Johannifest einer der trübsten Tage seines Lebens. Nichts geschah im Hause recht, Alles strebte ihm entgegen, um ihm sein Dasein zu verkümmern. Die forschenden Augen der alten Mutter lagen oft minutenlang auf ihm, mit tausend Ohren vernahm er die unausgesprochene Frage: was ihm denn wieder fehle, ob er denn noch nicht fertig geworden? Manches harte Wort ließ er gegen die treue siebenzigjährige Frau fallen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß ihn ihre Augen zu fragen schienen. Um Allem zu entgehen, schützte er am Nach - mittage einen Gang ins nächste Dorf vor; in der That aber wollte er sich selbst entrinnen.

Es trieb ihn ruhelos über Feld und Wiese, und wenn er einem Menschenantlitze nicht zu begegnen brauchte, wich er ihm lieber aus. In sinkender Nacht kehrte er wieder heim. Als er an sein Haus kam, erwartete ihn dort eine hohe, finstere Gestalt, in der Josseph trotz der 'Finsterniß den Bauer Stepan Parzik erkannte. Seit dem räthselhaften Verschwinden Anezka's war der Dechant nicht gesehen worden. Josseph erschrak, als er sich wieder diesem wilden Bauer gegenüber sah.

Parzik, rief er, was willst du hier?

Ich habe mit Euch noch etwas zu sprechen, Herr Josseph, sagte dieser dumpf, aber hier bei Euch kann's nicht sein.

Und das muß jetzt sein? fragte Josseph erstaunt; ist morgen nicht auch ein Tag?

Es muß noch heute sein, entgegnete der Bauer, dessen Stimme ein ungewöhnliches Zittern nicht verbergen konnte.

Es muß das etwas ganz Merkwürdiges sein, sprach Josseph halblaut vor sich; zu Parzik aber sagte er: Kommt also in die Stube herein und bringt da vor, was Ihr habt.

Das geht nicht, Herr Josseph, entgegnete kopfschüttelnd der Bauer, nicht hier und nicht in der Stube kann ich mit Euch sprechen, Ihr müßt heute um elf Uhr auf die Brücke kommen, nur da kann ich's Euch vertrauen, anderswo nicht, wollt Ihr kommen?

Josseph sann eine lange Weile, es schien ihm fast nicht räthlich, mit dem wilden Parzik in so später Stunde auf einem und demselben Fleck Erde zu athmen, dann fragte er rasch:

Muß ich dabei sein?

Lieber wär's mir, sagte der Bauer; ich muß Euch etwas von meiner Tochter erzählen.

Wißt Ihr denn noch nicht, wo Anezka hingekommen?

Gott weiß es, sagte Parzik mit bebender Stimme, und der da drüben.

Er zeigte mit der Hand nach den hell erleuchteten Fenstern der Pfarrei.

Ein seltsamer Gedanke fuhr durch Josseph's Gehirn.

Ich komme, sprach er, heute um elf Uhr.

Sicher? fragte Parzik düster.

So wahr ich lebe.

Gebt mir Eure Hand drauf.

Josseph schlug in die dargereichte Rechte Parzik's ein. Ohne ein Wort weiter an ihn zu richten, verlor sich der Bauer in der Nacht des Dorfes.

Als Josseph um elf Uhr Nachts den Weg nach der Brücke einschlug, wo ihn Parzik erwartete, mußte er an Madlena's Wohnung vorüber gehen. Er sah noch Licht darin brennen, und wie damals, als er nach der Kunde der Mutter von dem gesegneten Zustand seiner Schwester in tiefer Nacht an ihren Fenstern gehorcht hatte, trieb es ihn auch jetzt, dort zu lauschen ... zu erfahren, warum in später Stunde noch Licht bei ihr brenne. Ein einziger Blick zeigte ihm ein ganzes, rührend schönes Bild. Madlena saß an der Wiege ihres Kindes mit nickendem, schläfrigem Kopfe, die eine Hand an das Spinnrad gedrückt, dessen Rad nicht ging, die andere unbewußt die Wiege schaukelnd. Das Licht auf dem Tische ließ das Alles sehr deutlich erkennen.

Ist das Kind krank? überkam es ihn mit wunderbarer Gewalt des empfangenen Eindruckes.

Dann schlich er leise fort, fast fürchtend, als ob ein schwerer Tritt Madlena aufwecken könnte.

Als er zum Dorfe hinaus kam, fiel ihm erst das nächtliche Stelldichein mit Parzik ein, so mächtig war der vorhergehende Moment für diese so stürmisch bewegte Seele gewesen. Mit dem Bauer fiel ihm auch sogleich die angebliche Ursache dieser Besprechung ein. Anezka sollte der Gegenstand sein, die unter so eigenthümlichen, mehr als rätselhaften Umständen verschwundene Magd.

Ob sie von Madlena doch ist angestiftet worden? fragte er sich jetzt, und ob Parzik etwas davon weiß?

Mit Herzklopfen eilte Josseph nach der Brücke, kein Augenblick schien ihm zu verlieren.

Als er die Brücke betrat, kam ihm Stepan Parzik, gleichsam erst geboren aus der rings lagernden Nacht, plötzlich entgegen. Ein Grauen überkam ihn.

Herr Josseph? fragte leise der Bauer.

Ich bin's, Parzik. Was wollt Ihr? fragte Josseph zagend.

Kommt.

Parzik ging voraus, nur zögernd folgte Josseph. Sie schritten noch über die ganze Länge der Brücke, unter der das Wasser lautlos, fast absichtlich schweigsam dahin strömte. Mond, Sterne und Wellen hatten sich das Wort gegeben, im Einverständnisse zu schweigen.

Aus dem Dunkel der Nacht leuchtete die weiße Kapelle des heiligen Johann von Nepomuk hervor; ein einfaches Lämpchen in einer farbigen Papierlaterne brannte vor dem bleichen Priester aus Holz, der mit Blumenkränzen, Bändern und Laubwerk so verdeckt war, daß nur das matt beleuchtete todesselige Antlitz dazwischen hervorblickte.

Hier blieb Parzik stehen. Minutenlang standen die beiden Männer sich sprachlos gegenüber. Endlich begann der Bauer:

Da steht ein Christ und ein Jud vor dem heiligen Johann von Nepomuk, und Keiner von Beiden zieht den Hut vor ihm ab. Woher kommt das?

Ich versteh 'Euch nicht, Parzik, sagte Josseph beklommen.

Das versteht ein jedes Kind, entgegnete der Bauer rauh auflachend: der Christ will von dem heiligen Geistlichen da nichts wissen und der Jud weiß ohnehin nichts von ihm. So ist's, Herr Josseph.

Dem graute vor dieser wilden Stimmung des Bauers, die er aus dem täglichen Umgange mit ihm nur zu sehr fürchtete.

Bin ich deßwegen hergekommen? sagte er und wandte sich zum Fortgehen.

So wartet doch nur, Herr Josseph, rief Parzik und erfaßte den Vorwärtsschreitenden an der Hand.

Was wollt Ihr, Parzik? sagte nun Josseph ernst, einen Spaß treiben lasse ich mit mir nicht.

Hört mich an, Herr Josseph, sprach der Bauer und ließ dessen Hand los, Ihr wißt, mir liegt viel gegen die Pfaffen auf dem Herzen; wenn der Herrgott selbst herunterkommt, ich sag 'ihm das frei ins Gesicht.

Und was geht mich das an? fragte Josseph ruhig.

Euch geht's schon an, sagte Parzik, sehr stark geht Euch das an. Der Pfaff im Dorf hat's gemacht, daß meine Anezka aus deinem Hause fortgegangen, der Pfaff ist Schuld daran, daß Anezka verschwunden ist, kein Mensch weiß, wohin. Aber gebt Acht, nach einigen Wochen, vielleicht erst nach einigen Monaten, da kommt sie wieder, und da wird, der dort in der Pfarrei sitzt, sie zu seiner Wirthschafterin machen, zu seiner Wirthschafterin! Und Stepan Parzik soll der Vater von des Pfarrers Wirthschafterin sein.

Die Stimme des Bauers klang fast wie unterdrücktes Schluchzen, sie berührte Josseph's Seele gewaltig; er konnte sich einen Stepan Parzik nicht weinend vorstellen.

Und wenn's nicht wahr wäre? meinte er mit tröstend weichem Laute, wenn Anezka doch wieder käme?

Der da steigt eher aus der Kapelle heraus, meinte der Bauer mit seinem früheren rauhen Lachen, als daß die zurückkommt. Die ist in Grund und Boden hinein verdorben: es scheert sich keine Katz 'mehr um sie.

Josseph entgegnete nichts.

Aber der im Dorfe, fuhr Parzik zähneknirschend fort, soll ja nicht meinen, ich kann ihm nicht seinen Wolfszahn herausreißen. Ich hab 'einen Hund, den hetz' ich auf ihn, und der muß ihm ins Bein beißen, daß er für immer krumm und lahm geht.

Trotz des Dunkels der Nacht konnte Josseph den leuchtenden Blitz sehen, der aus des Bauers Augen herausbrach.

Kommt, Parzik, sagte er mitleidig, Ihr seid heute zu wild, ich selbst will mir Mühe geben, daß Euch Eure Tochter wieder zurückkommt.

Was wißt Ihr davon, schrie der Bauer wüthend, wenn's Zeit ist oder nicht? Heute ist's Zeit, gerade heute, ich bin dazu aufgelegt, nicht zehntausend Pferde könnten mich mehr von diesem Flecke da wegbringen.

Was willst du denn eigentlich anfangen? fragte Josseph mehr erstaunt als neugierig.

Parzik trat der Kapelle näher. Er zeigte mit dem Finger nach dem bleichen, nur matt beleuchteten Antlitz des böhmischen Märtyrers. Er wollte sprechen, aber ein gewaltiger Krampf schien ihm die Kehle zusammenzuschnüren. Nur mühsam entrang sich ihm ein Laut.

Sieh, sagte er mit gedämpftem Tone, den sie da mit Blumen und Laub und Bändern geschmückt haben, das ist auch Einer von denen gewesen, den die Pfaffen dem Volke beschert haben. Es ist aber kein wahres Wort daran, daß sie ihn einmal von der Brücke in die Moldau geworfen haben. Das haben die Pfaffen selbst erfunden, und Einer hat's nachgeschrieben, und Millionen Menschen haben ihnen das geglaubt.

Ein Heiliger! rief Josseph entsetzt, wie sprecht Ihr doch, Parzik?

Was Heiliger! schrie der Bauer; es giebt keine Heiligen. Meinst du, wenn sie ihn auch wirklich in die Moldau geworfen haben, so sind dann die fünf Sterne um seinen Kopf erschienen? Du Narr, du abergläubischer Narr! Oder man hat die Zunge gefunden, und es ist Blut herausgeflossen? Du abermals Narr und Abergläubischer! Das Alles haben die Pfaffen erfunden, und das Volk hat's ihnen geglaubt. Die Pfaffen haben Einen gebraucht, daß sie dem Volke einreden könnten: ihr müßt eure Sündenschuld Tag für Tag im Beichtstuhl abthun, sonst könnt 'ihr nicht selig werden, und da haben sie nun, um zu zeigen, wie treu der Geistliche die Beichte behält, den heiligen Johann von Nepomuk erfunden. Aber es ist kein wahres Wort daran.

Fluch 'nicht, sagte Josseph ernst, du weißt das nicht besser, als dein Vater, dein Großvater und dein Urgroßvater, und die haben auch an ihn geglaubt, haben ihn auch für einen Heiligen gehalten.

Die waren auch von den Pfaffen verdorben, rief Parzik grimmig. Könnten die nur die Erde abschütteln, die auf ihnen liegt, du möchtest erfahren, ob der ihnen auch ein Heiliger ist.

So red doch nicht so, meinte Josseph ärgerlich.

Was soll ich aber thun, wenn's so ist? Ich will dir auch gleich den Beweis geben, daß der da kein Heiliger ist.

Was willst du thun, fragte Josseph schaudernd.

Dem da, sagte Parzik rauh lachend, haben sie zu viel Blumen und Laub und Bänder angethan, es ist das Alles zu viel für einen Heiligen, und der braucht das nicht. Ich weiß, der Pfaff wird sich ärgern, wenn er morgen da herauskommt und findet, daß man seinem Heiligen die Kleider ausgezogen hat.

Das willst du thun? schrie Josseph.

Parzik faßte bereits mit einer Hand nach einer mit Laub umwundenen Säule. Josseph fiel ihm in den Arm.

Das wirst du nicht thun, sagte er ernst.

Warum nicht? entgegnete fast ruhig der wilde Bauer.

Weil man's nicht thun darf, sagte Josseph mit Festigkeit in Stimme und Geberde.

Das sagst du? rief Parzik rauh lachend.

Weil man sich an dem Heiligen nicht vergreifen darf, weil das Sünde ist.

Er ist aber kein Heiliger.

Hör mich an, Parzik, sagte Josseph, den die ganze Gewalt seiner tiefen religiösen Ueberzeugung überkommen hatte, hör mich an. Wenn tausend und zehntausend und Millionen Menschen an etwas Heiliges glauben, sich vor ihm bücken und beugen, ihm Blumenkränze und grünes Laubwerk darbringen, um es zu ehren, und Einer glaubt nicht daran, meinst du, der Eine darf aufstehen und sagen: ich glaub 'nicht daran, schafft mir das Heilige aus den Augen, denn es ärgert mich? Meinst du, der hat das Recht dazu? Tausend und zehntausend und Millionen Menschen müssen aufstehen und kommen, müssen sagen: wir haben uns geirrt, wir haben etwas für heilig gehalten, was nicht heilig ist. Gott sei davor, wenn das aber nur ein Einziger thun will; ich sag' dir, Parzik, es giebt gar keine größere Sünde!

Du bist auch einer von den Pfaffenfreunden, sprach der Bauer dumpf, ohne die Hand von der umlaubten Säule abzulassen, an dir ist Einer verloren gegangen, der möcht 'den einzigen Löffel im Hause verkaufen, um ihn dem Geistlichen zu geben.

Sag, was du willst, erwiderte Josseph fest, ich leid's nicht, daß du an den Heiligen da nur mit einem Finger anrührst.

Du? lachte der Bauer.

Ich, sagte Josseph und stellte sich drohend dem Gottesschänder entgegen.

Parzik hatte die Hand von der Kapellensäule fahren lassen, die Männer maßen sich mit stummen Blicken.

Ich will doch sehen, wer mir das wehren kann, sagte Parzik mit grauenhafter Ruhe. Ein Lichtstrahl aus der farbigen Papierlaterne, die vor dem Heiligen brannte, fiel auf Josseph's Antlitz, auf dem der Muth einer höheren Sache lag; seine Wimper zuckte nicht.

Eben so kalt, aber mit mehr Festigkeit in der Stimme, als der wildbewegte Bauer, entgegnete Josseph:

Untersteh dich.

Statt aller Antwort packte Parzik die Laubsäule mit der starken Faust, daß sie unter dieser schweren Wucht in sich zusammenwankte. Aber schon lag auch der Arm Josseph's auf seinem Nacken, und der Bauer stürzte zu Boden; es dröhnte fast, als sei ein mächtiger Baum im Walde vom Sturm niedergerissen worden.

Parzik suchte sich loszumachen und schlug mit der freien Hand auf Josseph los, der hielt ihn aber wie mit Eisenbanden fest. Kein Wort, als die unterdrückten Laute der beiden Ringer, tönte durch die stille Nacht. Dieser stumme Kampf hatte etwas Grauenhaftes, wie es die Sprache nicht auszudrücken vermag. Zwei starke Männer, jeder bedacht, das Uebergewicht zu erlangen, keiner eigentlich den Andern hassend und doch bemüht, ihm selbst ans Leben zu gehen, wie es die Noth erforderte! Dem Bauer war es fast gelungen, sich von seinem Gegner loszuringen; er biß Josseph in den rechten Fuß, daß dieser vor Schmerz laut aufschrie und wegtaumelte.

Du Pfaffenfreund! ... du Pfaff, schrie Parzik, und raffte sich auf, wart ', dir will ich auch zeigen ... du Pfaff!

Es geht ums Leben, Parzik! rief bebend vor Kampf und Erschöpfung Josseph. Einer geht nicht lebendig fort von hier.

Parzik wollte mit dem Blicke eines Habichts, der seine Beute in nächster Nähe bemerkt, auf Josseph mit einem Sprunge losfahren, als hinter der Kapelle ein furchtbarer Schrei ertönte, der den beiden Ringern das Blut im Leibe gefrieren machte. Gleich darauf stürzte eine Gestalt hervor, die an Josseph zusammengeknickt darniedersank. Es war ein Weib.

Schlagt ihn nicht todt, bat sie mit hochaufgehobenen Händen, schlagt ihn nicht todt, es ist ja mein Vater!

Aus der Laterne vor dem blumenbekränzten Heiligen fiel ein dürftiger Strahl auf die knieende Gestalt. Die Männer erkannten sie.

Es war Anezka.

11. Ein Blütenkelch geht auf.

Als der Bauer seine Tochter erkannt hatte, war sein gewaltiges Wesen tief erschüttert worden. Beide Hände vor das Gesicht gestemmt, sah er fast aus, als schäme er sich, der wilde Stepan Parzik, vor seiner Tochter! Ohne mehr zu fragen, wie Anezka so urplötzlich herkomme, was sie hergebracht, ging er fort. Er schlug den Weg nach dem Dorfe ein; auf der Brücke schallten noch seine Schritte eine Weile fort, bis Alles, was an das Dasein des Bauern gemahnte, in der Stille der Nacht verschwand.

Zu Josseph's Füßen weinte noch immer die hingesunkene Anezka.

Was um ihn her vorgegangen war, dünkte ihn selbst so wunderbar, daß er nicht zu Worte kommen konnte. Jetzt erst, nachdem Parzik den Schauplatz dieses Ereignisses verlassen, sanken ihm die bis dahin so gewaltig aufgeregten Kräfte seines Körpers, die Hände waren ihm schlaff geworden, es war ihm fast, als seien sie ihm vom Rumpf abgehauen. Dunkel schwamm es vor seinen Augen.

Um nicht vor Ermattung umzusinken, mußte er sich an eine der Säulen lehnen, die die Kapelle des heiligen Johann von Nepomuk trugen. Er fühlte sich zum Sterben matt.

So erbarmenswerth die Lage des Mädchens war, das wimmernd vor ihm im Staube lag, er konnte ihr nicht helfen, denn ihn selbst hätte in diesem Augenblick ein Kind umwerfen können, so vernichtet war sein eigenes Wesen. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn allmählich; er fühlte, wie das Blut immer wärmer wurde in ihm; wie die Lebenskräfte zurückkehrten.

Anezka, rief er leise, so erzähl doch, wie bist jetzt auf einmal hergekommen?

Die Magd richtete sich auf den Knieen vom Boden auf. Josseph erschrak über den furchtbaren Anblick, der sich ihm in dem mattbeleuchteten Antlitz des Mädchens darbot. Es war das einer Todten, die vor dem letzten Athemzug noch irgend ein schweres Leid durchgekämpft hat. Das Kopftuch war zurückgefallen, die schwarzen Haare lagen über der bleichen hohen Stirne.

Anezka, sagte der tieferschütterte Mann, was machst du? Wie kommst du her? Bist du krank gewesen?

Keine Antwort.

Noch einmal mußte Josseph mit den lindesten Tönen einer erbarmungsvollen Seele seine Fragen an die Unglückliche richten, bis sie endlich aus ihrem Schmerz zu einem verständigen Worte sich ermannen konnte.

Redet nur nicht mit mir, rief sie schluchzend, ich bin nicht werth, daß Ihr mich anspeit, redet nicht mit mir!

Red, Anezka, sagte Josseph sanft, was ist dir? Ich hab 'jetzt Alles vergessen, was du uns angethan hast. Die Babe besonders, die kann dich nicht aus dem Sinn bringen, und es vergeht fast kein Tag, wo sie nicht deiner gedenkt.

Die Babe, die gute Babe! rief Anezka und rang verzweiflungsvoll die Hände. Schlagt mich nur gleich todt, Herr Josseph, es geht so nichts Gutes an mir verloren.

Närrisches Kind, sagte Josseph theilnehmend, du weißt vielleicht gar nicht, was du gethan hast. Warst ja immer ein so gutes Mädchen, und in unserer Familie bist du ja wie das Kind im Hause gehalten worden.

Josseph ahnte nicht, daß gerade diese linden, sanften Worte wie Gifttropfen in die Seele dieses armen Geschöpfes fielen.

Schweigt, schweigt, rief sie, sonst thu 'ich mir vor Euren Augen ein Leides an. Ich bin's ja nicht werth, daß ein Mensch zu mir sagt: pack dich, du Schelmin. Wenn nur Einer käme und schlüg' mir die Hacke vor den Kopf, daß ich nicht mehr zu leben brauchte!

Unwillkürlich mußte Josseph an die Wirthschafterin des Pfarrers denken, die Stepan Parzik zu dem verruchten Entschlusse, das Heiligenbild zu verschänden, getrieben hatte. Die Frage stand schon auf seinen Lippen, als Anezka schluchzend wieder begann:

Es wäre schon Alles beim Alten geblieben, und ich hätt 'meine gute Babe nimmer und nimmer ver - lassen, bis an ihren Tod, und selbst da hätt' ich mir die Augen ausgeweint, wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß. So aber ist Einer dazwischen gekommen, und jetzt ist Alles aus.

Was weißt du jetzt? fragte Josseph.

Daß Ihr kein Feind unserer Religion seid

Das bin ich auch nicht, sagte Josseph mit dem vollen Bewußtsein einer glaubensstarken Seele, das bin ich auch wirklich nicht, setzte er wie bekräftigend hinzu.

Wer weiß das besser als ich, entgegnete die Magd mit wunderbar feierlichem Ton, wer weiß das besser als ich? War ich nicht dabei, als Ihr den Vater von der Hölle gerettet habt? Der Vater hat seine Hand ausgestreckt gegen den Heiligen, und da habt Ihr sie zurückgehalten, und er hat's nicht ausführen können. Der Pfarrer hat immer gesagt: der Vater kommt in die Hölle, weil er an den Heiland und die Heiligen nicht glaubt, aber er wird doch nicht dahin kommen, denn er hat den Heiligen nicht berührt, und die Flammen werden ihn nicht verzehren.

Aufmerksam hatte Josseph diesen leidenschaftlichen Ausbruch einer ihm fast fremden Seele vernommen. In leisen Umrissen dämmerte das Bewußtsein seiner vollbrachten That vor ihm auf, und fast glaubte er in diesem Augenblicke, er habe das wirklich gethan, was Anezka mit so feuriger Zunge als sein Werk ausgab.

Anezka, sagte er nach einer Weile, wer hat dir denn gesagt, daß ich ein Feind von eurer Religion bin?

Der neue Pfarrer, versetzte die Magd ohne Zögern.

Der? Wie kann der das wissen? Er hat mit mir noch keine zehn Worte gesprochen.

Er hat's doch immer gesagt, entgegnete die Magd, die ruhiger geworden war. Gesagt hat er's, und ich hab's ihm endlich geglaubt.

Wie hat der Pfarrer nur das wissen können? sprach Josseph wie träumerisch vor sich hin. Unbegreiflich schien es ihm und schwer erfaßbar, daß man sein persönliches Verhältniß zu Madlena für Religionshaß ansehen konnte. Die Magd hatte die leise vor sich hingesprochenen Worte Josseph's vernommen; sie sagte:

Er hat Alles gewußt, wie wenn er in unserem Hause aus - und eingegangen wär '. Er hat dort Jemand gehabt, der hat ihm Alles ausspionirt und es ihm wieder erzählt. So hat er's leicht wieder wissen können.

Und das warst du? fragte Josseph sanft.

Schluchzend rief Anezka:

Seht Ihr, daß ich nicht werth bin, daß Ihr nur ein Wort mit mir sprecht? Ihr habt mich mit zehn Jahren in Euer Haus genommen, meine Mutter war todt, und ich ein Waisenkind. Die gute Babe hat mich aufgezogen wie ein eigenes Kind, aber ich bin eine Schelmin geworden, nicht werth, daß sie der Boden trägt. Ich hab 'euch alle verkauft und verschimpft und verrathen. Das kann mir Gott nicht mehr verzeihen.

Laß gut sein, Anezka, sagte Josseph mild, der Mensch weiß nicht immer, was er thut. Es ist auch Alles schon vergessen, und wenn du heute wieder zur Babe kommst, so schickt sie die Andere wieder fort. Alle Tage meint sie, es fehlt ihr die rechte Hand. Sag nur das Eine, wer hat dich denn angestift't, daß du so auf einmal, so ohne alle Vorbereitung aus unserem Hause gegangen bist? Das hat uns viel Kummer und Herzweh gemacht. Sag's aber ohne Falsch und lüg nicht.

Der Pfarrer hat mir's befohlen, sagte die Magd stockend.

Wieder der? schrie Josseph zornig. Warum? Und befohlen gar?

Wegen Eurer Schwester

Was geht die ihn an?

Er hat mir's doch befohlen, erzählte die Magd mit jenem Tone trockenen Schmerzes, der im unumwundenen Geständniß seine Linderung sucht. Am Sonntag vor drei Wochen, da hat er mich durch seine Wirthschafterin zu sich rufen lassen; ich hätte mein ewiges Seelenheil verwirkt, so hat der Pfarrer gesprochen, und müßte lebendig zur Hölle fahren mit all meinen Sünden, wenn ich nur eine Minute länger in dem Judenhause bleiben werde. Schon, daß ich bei Juden in Dienst bin, schon das sei eine große Sünde, besonders aber bei so einem, wie Ihr, Herr Josseph. Es wäre nicht erhört, wie Ihr Eure Schwester behandelt, bloß weil sie eine Katholikin geworden ist, und wenn ich nicht wollt ', daß sich meine Mutter im Grabe umkehrt, so sollt' ich machen, daß ich fortkomme. Allerwärts sei es besser, und selbst wenn ich Hunger leide, als bei so Einem, der seine eigne Schwester, die niederfällt vor seinem Hause und fast umkommt unter der Last, im Staub liegen läßt und ihr nicht aufhilft und das Kind fortjagt, welches ihr helfen will. Der Pfarrer hat gesagt: das hätt 'nur der Ahasverus gethan, als sie den Herrn und Heiland zum Kreuz geschleppt haben, der hätt' aber auch seine Strafe bekommen.

Schmah Jisroel, murmelte Josseph vor sich, das ist's also! Und auch das, was auf der Gewölbthür geschrieben stand, fragte er tonlos, ist das auch vom Pfarrer gekommen?

Das hab 'ich in der Nacht schreiben müssen, wie Alles geschlafen hat.

Du? rief Josseph überrascht. Und der Pfarrer hat dir's befohlen?

Er hat zu mir gesagt, das Haus des Juden muß bezeichnet werden als die Wohnung eines Menschen, der nicht besser gethan hat, als Ahasverus gegen unseren Herrn und Heiland.

Selbst daß die Magd sich beim Aussprechen des Gottesnamens bekreuzte, übersah Josseph in diesem Augenblicke; seine Augen brannten noch immer auf der vor ihm im Dunkel der Nacht knieenden Gestalt; seine Lebensgeister standen alle auf der Lauer.

Anezka, sagte er leise, fast mit Scham, ich habe das Geschriebene damals nicht verstanden.

Ich auch nicht. Mir hat's erst der Pfarrer erklären müssen, versetzte die Magd, dann hab 'ich's auch geschrieben.

Sag mir's! rief Josseph bebend.

Nur die Nacht konnte so dichte Schleier um ein Menschenantlitz weben, daß nicht sichtbar ward, wie es vor innerer Aufregung zuckte, und dann wieder so stumpf wurde, als wäre es von Starrkrampf befallen.

Wie sie den Herrn und Heiland, hat mir der Pfarrer gesagt, zum Sterben hinausgeführt haben, da hat er sein eigenes schweres Kreuz mit sich selbst auf dem Rücken schleppen müssen. Da könnt 'Ihr Euch leicht denken, was das für eine Last haben muß, wenn darauf ein Mensch hat zu Tode gekreuzigt werden sollen! Er aber war schwach, denn sie hatten ihn so gepeinigt, daß ihm keine Kraft mehr geblieben war. Jeden Augenblick ist er auf dem langen Weg zusammengesunken, und das Blut ist mit dem Schweiß über seine Stirne geflossen, denn auch eine Dornenkrone hat er angehabt. Am Hause eines Schusters, da hat der Herr und Heiland nicht einen Schritt mehr weiter machen können; er ist umgesunken wie Einer, der vor Müdigkeit die Seele aufgiebt. Der Schuster ist draußen gestanden, und wie der Herr und Heiland so im Staube liegt und zu vergehen meint, bittet er den Schuster, er möchte ihm doch helfen oder doch Wasser ihm reichen. Der aber, was meint Ihr? Der hat den Herrn und Heiland mit dem Fuße von sich gestoßen, den armen, todtmüden Herrn und Heiland! Mit einem Blicke, der ist dem Schuster bis in die innerste Seele gedrungen, hat ihn der Sohn Gottes angesehen und gesagt: Ahasverus, so hat der Schuster geheißen, du sollst nicht leben und nicht sterben können, und wirst herumwandern auf der Erde bis an das letzte Ende aller Tage. Und wie der Herr und Heiland gesagt hat, so ist's auch geschehen. Der Schuster hat seitdem keine Ruh' gehabt.

Schwer ließen sich die Worte zusammenfinden, um die Seelenlage eines Mannes zu schildern, über den die einfache Erzählung der Magd wie ein Feuerregen sich ergoß. Die Haare standen ihm zu Berge, es durchrieselte ihn etwas, wie der Schauer eines kommenden Gerichtes. Minutenlang stand oft der Schlag seines Herzens stille, dann mußte er es wieder mit den Händen halten, daß es die Hülle nicht zersprenge. So hätte er sich jene verhängnißvollen Worte, die vor drei Wochen auf der Gewölbthür geschrieben standen, nicht gedeutet! Und er ließ sie noch dort und wusch sie nicht sieben Mal hinter einander ab mit scharfer Lauge! Unendliche Seelenangst hatte ihn befallen.

Gott, großer Gott, wo hast du mich hingebracht! sprach er leise vor sich hin. Und ich hab 'doch geglaubt, ich thu' recht, und daß ich eine Sünde begeh ', ist mir ja nicht eingefallen. Anezka, sagte er laut, hat dir der Pfarrer weiter nichts gesagt?

Er hat noch gesagt: Viele giebt es auf der Welt, und die wissen nicht, daß sie selbst der Ahasverus sind. Sie lassen Menschen umkommen an ihrer Seite, wenn sie nur den Finger auszustrecken brauchten. Das sind besonders die Juden, wenn Einer von ihnen aus ihrer Mitte geht und sich als Christen bekennt! Möchten sie dem nicht gerne die Augen aushacken, ihn tausend Mal ans Kreuz schlagen, seine Glieder in siedendes Blei werfen und die Asche ins Meer streuen, daß keine Spur davon bleibt? Aber von ihnen gilt, was der Herr und Heiland gesagt hat: was ihr Einem von den Meinigen gethan habt, das habt ihr mir gethan, und darum werden die Juden noch lange keine Ruhe haben.

Anezka, rief Josseph mit flammenden Wangen und mit geballter Faust, denn die letzten Worte der Magd hatten wieder alle seine Lebensgeister zum Aufruhr gebracht; Anezka, wie hat dich der Pfarrer gefoppt, was hat er dir da nicht eingeredet, und du hast ihm geglaubt, als ob's ein Heiliger oder Gott selbst dir gesagt hätte! Tret 'Einer auf und beweise mir das, ich könnt' meiner Schwester nur einen Finger anrühren, oder ich könnt 'zusehen, wie man sich an ihr vergreift! Lügen hat er dir eingeredet, dein Pfarrer, daß sie nicht größer sein könnten. Der Jud ist gar nicht so, mir kannst du es so gut glauben, als deinem Geistlichen, so nicht. Meinst du denn wirklich, ich könnt' das meiner Schwester thun? Nicht ein Haar auf ihrem Kopfe könnt 'ich ja anrühren!

Die letzten Worte sprach er mit jenem stockenden Tone, der die innere Selbstanklage schwer übertäubte; er stammelte sie fast; indem er sie sprach, schrillte eine andere Stimme in ihm, die ganz anders lautete. Aber konnte er denn anders sprechen?

Wie wunderbar mußte es diesen Mann überkommen haben, daß er vor seiner eigenen Magd, die ihm gedient, und der er ein Herr gewesen, sein innerstes Leben so darthat, daß er sich demüthigte vor ihr, und es für nöthig hielt, Entschuldigungsgründe vor ihr zu stammeln! Ja, wunderbar muß es ihn überkommen haben, und der Geist dieser Stunde muß ein gewaltiger gewesen sein, daß er sich erheben konnte aus dem Staube, in den ihn eine einfache Erzählung der Magd geworfen hatte, sich aufrichten aus dem Drangsal, das mit feuriger Zunge zu ihm redete, und dennoch sagen: das ist nicht wahr, es ist eine ungeheure Lüge.

Als die Magd nach dieser Erklärung stumm und verwirrt zu ihm aufblickte, fühlte er erst und wußte es, was er zu ihr gesprochen.

Glaub's ja nicht, Anezka, rief er noch einmal, glaub's ja nicht, der Pfarrer hat dir nicht das Rechte verkündet. So ist der Jud nicht, so wirklich nicht, mir mußt du glauben .... So ist es nicht.

Schluchzend, aus tiefinnerstem Herzen weinend, sprach die Magd:

Ich hab's ja doch gesehen, Herr Josseph, wie Ihr meinen Vater zurückgehalten habt. Zur Hölle wär 'er gefahren, wenn Ihr nicht dabei gewesen. Es ist jetzt Alles wie herausgewaschen aus mir, ich könnt' mich eher umbringen lassen, als Euch jetzt ein böses Wort nachsagen. Der Pfarrer hat gelogen, und wer ihm nicht hätt 'glauben sollen, das war ich. Jetzt glaub' ich Euch mehr als ihm.

Und doch, und doch!

Josseph wollte noch sprechen; er wußte, daß er die Magd mit einer zweiten Lüge belastet habe, die nicht leichter wog, als die andere. Warum sprach er nicht, warum hielt er das Wort zurück? Fiel es ihm so schwer, sich noch einmal zu demüthigen, der Magd noch einmal zu sagen: Sieh, so ganz unwahr hat der Pfarrer doch nicht gesprochen? Vieles ist unwahr und trifft mich nicht, aber der Kern seiner Rede breitet sich in meiner Seele wie ein Giftbaum aus und droht sie mit seinen stämmigen Wurzeln zu zersprengen. Warum sprach er nicht?

Anezka hatte sich aufgerichtet und wandte sich zum Fortgehen.

Wohin gehst du jetzt, Anezka? rief er leise.

Ich geh 'in die Stadt, sagte sie, und da will ich die ganze Nacht durchgehen, dort will ich mich in Dienst verdingen. Es ist doch Alles, Alles aus, und wenn man einen Menschen verrathen hat, da ist kein Baum so klein, an den man sich nicht hängen soll.

Willst du denn die Babe nicht mehr sehen?

Tiefathmend sagte die Magd nach einer Weile: Nein, ich komm 'nicht eher, als bis zu ihrem Begräbnisse, da will ich aber kommen.

So geh!

Als Josseph von seinem nächtlichen Gange wieder an Madlena's Haus vorüberkam, brannte noch immer das Licht darin. Sie schlief also noch nicht? Mußte sie noch immer an der Wiege ihres Kindes wachen?

12. In der elften Stunde.

Die alte Marjim ahnte nichts von den Erlebnissen dieser furchtbaren Nacht; seit langen Jahren war sie nicht in einem so tiefen Schlafe gelegen, als gerade diesmal. Als sie spät am Morgen die Augen aufschlug, sah sie Josseph in dem Winkel der Stube, der gegen Sonnenaufgang liegt, im andächtigen Gebete stehen. Er war gerade bei jener Stelle in den achtzehn Segnungen, deren eine Gott, den König der Welt, lobpreis't, daß er die Sünden vergiebt. Mit kräftiger Faust schlug dabei Josseph an seine Brust, daß es in der Stube wiederhallte und die Großmutter nur durch den Umstand, daß ihr Sohn nicht antworten durfte, von der Frage zurückgehalten wurde, ob denn heute Jom Kippur wäre? Ueberhaupt wollte es sie bedünken, habe Josseph noch nie so lange geort, wie gerade heute; selbst nachdem er schon die Gebetriemen vom Kopfe und dem linken Arme herabgenommen, holte er erst die Psalmen herbei. Ein tiefer, aus innerster Brust heraufsteigender Seufzer beschloß die lange Reihe der königlichen Klagegesänge, die für diesen Tag bestimmt waren. Wohl niemals hatten sie ein verwandteres Menschenherz berührt, und der heiße Schmerz, der in ihnen seine abgehärmten Wangen dem Himmel zeigt, war er nicht auch Josseph's?

Kaum hatte Josseph das Psalmenbüchlein auf den bestaubten Kleiderkasten gelegt, wo es seinen gewöhnlichen Ort hatte, so brach die alte Frau, gleichsam als wenn sie es vorbereitet hätte, in ein kicherndes Gelächter aus, daß Josseph sich verwundert umsah, im ersten Augenblicke wähnend, die Mutter müsse nicht recht sinnedig sein.

Guckst mich an? sagte sie noch immer kichernd, als ob die alte Marjim auf einmal wär 'von ihren Sinnen kommen? Soll ich dir aber etwas Schönes verzählen, und wer heut' Nacht zu mir ist gekommen?

Fast erschrocken sah nun Josseph nach der Mutter hin, doch sie sagte:

Heut 'Nacht ist dein Urdede, wie er leibt und lebt, zu mir gekommen und hat zu mir gesprochen. Er ist dir da an meinem Bett gestanden, als wenn ich ihn noch jetzt sehen möcht'. Marjim, hat er zu mir gesagt, dein Mann läßt dich grüßen, auf Schabbes wird er von Prag zurückkommen, da läßt er dich bitten, du sollst dort beim guten Ort auf ihn warten. Gut, hab 'ich gesagt, Dede Leben, ich werd' warten auf ihn, und ich lass 'ihn wieder grüßen. Der Urdede hat ganz so ausgesehen, wie ich ihn noch gekannt hab' als Kind, er hat sein dreieckig Hütel aufgehabt, und in der Hand hat er seinen Stecken mit dem großen silbernen Knopf gehalten. Ich sag 'dir, Josseph, daß mein Urdede sich die Mühe genommen hat und ist zu mir gekommen, das will etwas zu bedeuten haben, was, weißt du vielleicht selbst nicht.

Was ist da Merkwürdigs dran? meinte drauf mit ärgerlichem Achselzucken Josseph, willst du dir das vielleicht nicht in den Kopf setzen?

Das sag ja nicht, versetzte die alte Frau drauf ernst, daß das nichts zu bedeuten hat. Meine Mutter und mein Mann sind zu mir oft in der Nacht gekommen, und ich bin doch, Gott sei gelobt und gedankt, gesunderheit auf meinen Füßen, wenn die auch nicht recht mehr fort wollen. Aber daß der Urdede ist zu mir gekommen, red du, was du willst, meinet - wegen, ich bin nicht mehr sinnedig, daß der zu mir ist gekommen, das heißt so viel als: Marjim, laß dir dein Wanderbüchel geben, die Herberg ist aufgemacht; Zehrgeld hast du genug in der Tasche.

Narrethei, nichts als Narrethei, fuhr Josseph auf, wegen einem leeren Traum machst du dir den Kopf voll.

Heißt das ein Gelärm machen, versetzte Marjim eifrig, wenn so ein alt 'Weib, wie ich eins bin, von der Welt soll! Ich bin vielleicht ein jung Madel, und die Jungen kommen zu mir noch auf die Beschau? Siebenzig Jahr, so steht's im Siderl, währt unser Leben, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig. Meinst du denn, der Mallech Hamowes (Todesengel) führt nicht sein gut Rechenbüchel?

Babe, wie alt bist du denn schon? fragte Fischele.

Mein Kind Leben, sagte sie schalkhaft, so auf einmal sagen kann ich's dir nicht. Aber darauf kannst du dich verlassen, wie mein klein Fingerl.

Ohne sich dann an die Vorwürfe Josseph's zu kehren, der grollend über die Narrethei der Mutter in der Stube auf und ab schritt, sagte sie zu ihrem Enkel:

Nach dem Anbeißen*)Frühstück. wirst du so gut sein und wirst mir das kleine Büchel mit dem ledernen Rücken vom Kasten herunterlangen. Es muß schon viel Staub darauf liegen, denn wie sie meinen guten Mann haben fortgetragen, war es das letzte Mal, daß ich drin hab 'gesagt. Aber seitdem der Urdede ist gekommen, ist Zeit, daß ich wieder drauf denk! Was haben wir heute für einen Tag?

Heut 'ist Mittwoch, Babe, antwortete schnell der Knabe.

Schon Mittwoch? fragte Marjim fast verwundert. Grade drei Tage früher ist er zu mir gekommen, ganz wie es sich schickt. Mittwoch ist eins, Donnerstag zwei, Freitag drei, und auf Schabbes, hat der Urdede gesagt, wird mein Mann von Prag zurückkommen. Also kann's nur zwischen Freitag und Schabbes sein.

Diese Worte hatte sie als ein Alleingespräch mit sich selbst gehalten. Laut rief sie dann: Fischele, lang 'mir nur mein Wanderbüchel her.

Was für ein Büchel, Babe?

Mein Wanderbüchel, mein Wanderbüchel! schrie sie fast. Bist ein Jüdenkind, und weißt nicht einmal, was ein Meiwer Jabok*)Zu deutsch: der Führer ins Jenseits, eine Sammlung von beim Sterben und nach dem Tode üblichen Gebeten. ist?

Zornig ging Josseph zur Stube hinaus; er konnte die Reden der Mutter nicht anhören, die ihm lauter Narrethei waren, die nichts aus und nichts eintragen, und die im Grunde des Herzens ihm doch so unendlich wehe thaten. Heftig schlug er die Thür hinter sich zu.

Die Großmutter schüttelte bedenklich den Kopf; ihren Blick unverwandt an der Thür hastend, durch die Josseph so zornig gegangen, sprach sie zu ihrem Enkel:

Was ist dein Vater doch für ein Narr! Macht er da nicht ein Gelärm, als ob ich ein fünfmonatlich Wickelkind wäre? Und wenn die Welt um ein alt Weib weniger wird? Mein Mann hat schon lang genug auf mich gewart't

Laut weinend stürzte der Knabe an das Bett seiner Großmutter. Narrele, sagte sie unter wunderbarer Rührung, meinst du denn, der Mensch ist auf der Welt da, damit er sich alle Woch 'einen guten Schabbes macht? Gott der Allmächtige im siebenten Himmel droben, der weiß nur zu gut, wenn der Uhr, die in uns steckt, ein Rädel ausgebrochen ist. Was thäten denn so viele Menschen auf der Welt? Daß man noch mehr Leid und Kummer vor sich sieht? Ich sag' dir, Fischele Leben, die zwei Augen, die sich einmal zugemacht haben, die machen sich nicht wieder auf, und wenn du eine ganze Kiste mit Gold und Perlen vor sie hinstellst. Daher lang 'du mir nur mein Wanderbüchel her, ich hab' noch drei Tag 'vor mir, die möcht' ich gern für den großen Weg mich gehörig vorbereiten und zurichten, denn man weiß nicht, zu welchem großen Herrn man jetzt kommt.

Der Jäger im stillen Walde hat es schon oft erfahren, wie das Wild, dem er nachgesetzt, mit der Todeswunde in sich noch Tage lang umherirrte, wie es dann plötzlich unvorgesehen zu seinen Füßen zusammenstürzte, die thränenden Augen zu ihm aufrichtete und dann still dalag. So trug auch Josseph das Erlebniß dieser Nacht wie eine große Todeswunde in sich, die er sorgsam aller Welt verhüllen wollte, damit diese nicht gewahr werde, daß auch über ihn die Gewalt einer lange verschobenen Stunde gekommen war. Die sichere Ueberzeugung, daß der Traum seiner Mutter etwas zu bedeuten habe, daß ihr Ende wenigstens nahe bevorstehe, kam wie ein Sturm in diese heimlich unterdrückten Flammen und fachte sie zu einer Lohe auf, die in manchen Augenblicken über seiner Seele zusammenschlug.

Was sollte er auch thun? Und daß etwas gethan werden mußte, hörte Josseph in allen Pulsen seines Körpers hämmern. War es die Lösung seines Seelenzustandes, der einem Ende entgegenschlug? Waren es versöhnliche Stimmen, die sich nicht mehr beschwichtigen lassen wollten? Diese starke Natur stand rath - und thatlos da und mußte sich im Laufe des Tages die Selbstanklage mehr als einmal vorsprechen lassen: Und du hast gemeint, du bist fertig mit ihr geworden? Das Rechte ist erst jetzt gekommen, jetzt wird die Mamme sterben, und Madlena wird nicht dabei sein.

Trug er, trug sie die Schuld davon? mußte er sich schon fragen.

Seltsam, namentlich dieser letzte Gedanke war es, der ihn an diesem Tage nicht mehr verließ. Wohin er immer blickte, folgten ihm die todgebrochenen Augen seiner Mutter nach; stets sah er sich an ihrem Sterbebette allein, Madlena stand nicht neben ihm! Plötzlich, fürchtete er, werde die Mutter verlöschen, sie werde vielleicht nicht einmal so viel Zeit haben, um seinen Namen zu rufen und Madlena wird nicht dabei sein!

Nur zuweilen überschlichen ihn die Geister der alten Stunden. Ob denn Madlena auch das Recht habe, am Sterbebette ihrer Mutter zu erscheinen? Ob es nicht eine Sünde wäre, sie in diesem Falle zu rufen?

Ein heftigeres Husten der Mutter, das aus der Stube zu ihm drang, ein lauter gesprochenes Wort aus dem Sterbebuche, in welchem die alte Marjim fast den ganzen Tag sagte , verscheuchten dann diese nagenden Geister, nur um ihn andern zu überliefern, denen er eben so wenig Antwort stehen konnte.

Es wird vielleicht Manchen sonderbar bedünken, daß sich in die wildstürmenden Gedanken Josseph's im Laufe des Tages der Ahasverus so selten mengte. Aber von einer Natur, die einer gewaltsamen Lösung entgegengeht und die Krankheitsstoffe überwältigen soll, deren innerste Wohnung das geheimnißvolle Reich des Gemüthes ist, kann man nicht fordern, daß sie ein Gedanke ausschließend allein beherrsche; nach hundert Ausgangsthoren drängen sich die gelösten und sich lösenden Geister, und wehe der Seele, die es nicht vermag, das letzte Wort zu behaupten!

So war der Abend gekommen, so die Nacht, vor der er sich heute unerklärlich fürchtete. Was hatte er den ganzen Tag gelitten, und welches Ergebniß brachte ihm die Nacht? Lag ein bestimmter Gedanke vor ihm, an den er sich anklammern konnte?

Die alte Marjim hatte an diesem Tage unausgesetzt in dem Wegweiser des Jenseits gesagt und fast kein anderes Wort, weder mit Josseph noch mit Fischele, gesprochen. Als Josseph spät am Abend, nachdem er das Gewölbe geschlossen, in die Stube trat, lag die Großmutter in einem leichten Schlummer, das Sterbebüchlein neben sich auf dem Bette. Sie mußte vor Müdigkeit entschlummert sein. Josseph trat zu ihr hin und betrachtete sie lange und anhaltend. Im fahlen Glanze des Kerzenlichtes, der auf ihr Antlitz fiel, kam es ihm beinahe vor, als sähe er eine Todte vor sich: schon leuchtete darauf jener unendliche, in Gott ruhende Friede, mit dem dieses Leben einmal schließen mußte. Und in zwei Tagen schon? Wie kurz, wie unhörbar ging bereits der Athem, wie dünn und durchsichtig war schon das Gesicht!

Josseph schlich dann leise herbei und nahm das Sterbebüchlein hinweg, in der frommen Absicht, daß sich die Mutter mit dem Lesen dieser so aufregenden Gebete nicht noch mehr abmatte. In demselben Augenblicke aber wachte Marjim schon auf und langte mit fieberhafter Eile nach der Stelle, wo das Sterbebüchlein gelegen hatte.

Wo ist's, wo ist der Meiver Jabok, schrie sie angstvoll, wer hat das angestellt und hat mir's genommen?

Aber Mamme, sagte Josseph, laß dir das doch aus dem Kopf bringen, du redest dir da eine Narrethei ein und du wirst doch noch über hundert Jahre leben.

Gieb mir nur mein Wanderbüchel, sprach sie mit so fester und reiner Stimme, wie sie Josseph nur in seinen Kindertagen gehört hatte, mein Vater und König hat seinen Boten zu mir geschickt, und das ist mein Urdede gewesen. Jetzt kannst du thun, was du willst; du kannst mir am Freitag um die frommen Weiber*)Frauen, die sich um den Sterbenden befinden und die letzten Gebete verrichten. Sie besorgen auch die Waschung, das Anziehen der Todten u. s. w. Bei den Männern besorgt diese milde Angelegenheit die Gesellschaft der Todtengräber (Kabronim). schicken, du kannst es auch unterlassen; aber einen großen Gefallen möchtest du doch deiner alten Mamme thun, wenn du gleich morgen einen Boten auf Bunzlau schickst.

Sie wurde nicht eher ruhig, bis Josseph mit blutendem Herzen das Versprechen geleistet hatte, gleich am frühen Morgen einige fromme Weiber in Bunzlau zu benachrichtigen.

Und jetzt, Fischele Leben, sprach sie zu ihrem Enkel, thu Krischme leinen (den Abendsegen beten) und geh in dein Kämmerl und leg dich schlafen. Morgen früh ist Donnerstag und übermorgen ist Freitag.

Sie konnte nicht weiter sprechen, laut weinend küßte ihr der Knabe die blasse abgemagerte Hand. Die ahnungsvolle Seele des Kindes ging diesmal mit Todesschauern an das Nachtgebet und in den Schlaf.

Als der Knabe sich entfernt hatte, entstand eine lange ungestörte Pause zwischen Mutter und Sohn.

Josseph saß am Tische und starrte düster in das Kerzenlicht, allen Qualen des Augenblickes hingegeben. Alles, was seine Mutter ihm war, wie er sie so oft hart behandelt, gar nicht wie ein Sohn seine Mutter, ging jetzt an seinem Geiste vorüber. Was hatte er ihr für all ihr Lieben, Dulden und Bekümmern geboten?

Josseph, rief Marjim plötzlich, komm 'doch einmal her zu mir.

Er folgte diesem Rufe und stellte sich schweigend an ihr Bett.

Weißt du, Josseph, begann sie, ich kenn 'dich seit einiger Zeit gar nicht mehr. Du gehst im Haus herum nicht anders, als hättest du einen Menschen draußen auf der Heerstraße erschlagen! Weißt du, daß mir das mein Herz stark beschwert macht? Ich mein' doch, in deinem Geschäft ist, Gott behüt ', nichts vorgefallen, oder ist dir wirklich etwas schief gegangen, und du verschweigst mir's?

Das Geschäft geht gut, antwortete er leise, da kann ich dir drauf schwören, möcht 'alles Andere so gut gehen!

Und das trägst du in dir und verzehrst dich daran? sagte sie im Tone eines milden Vorwurfs, du bist ja seit einiger Zeit, als ob dir deine Mamme nicht erst in drei Tagen wird sterben, als ob sie schon seit zwanzig Jahren gestorben wär '? Meinst du, das ist nicht auch eine Sünde, wenn man an seiner Mamme vorbeigeht, als ob sie gar nicht da wär' in der Welt? Versündige dich nicht, Josseph, es giebt nur Eine Mutter, und wenn die fort ist, kannst du lange suchen, bis du eine findest.

Das weiß ich, Mamme, sagte Josseph stockend, aber was mir fehlt, das kann ich dir doch nicht sagen.

Er kann nicht, er kann nicht! rief die alte Frau mit einem Anfluge von Groll. Da seh 'mir Einer den Menschen an, der zu seiner Mutter sagt: ich kann nicht. Und meinst du denn, deine Mamme, wenn sie auch alt und schwach ist, hat keine Augen im Kopf gehabt und hat nicht gesehen bis auf den Grund von deiner Seele? Lern du nur nicht einer Mutter ihr Kind ausforschen: die ist von Gott und für Gott eingesetzt. Gott hat sich gedacht: ich, kann nicht überall sein, und da hat er dem Menschen eine Mutter gegeben.

Josseph vermochte vor tiefer Bewegung nicht zu sprechen, er starrte nur die alte Frau an, die heute so eigentlich verständig sich geberdete.

Du schweigst noch immer? sagte sie nach einer Weile. Muß ich dich aufschließen, wie man eine versperrte Thür aufschließt? Dir geht im Kopf Madlena Dinah, will ich sagen, herum, die läßt dir keine Ruh ', du hast Unrecht an ihr gethan, und jetzt weißt du nicht, wie du mit ihr fertig werden sollst. Und fertig möchtest du mit ihr gerne werden, du weißt nur nicht, wie du's anfangen sollst. Hab' ich's errathen?

Das ist's auch, Mamme, entgegnete er hoch aufathmend; zehn Centner schwer wenn man auf mich legen möcht ', die könnten mich nicht so drücken.

Nu, siehst du, daß deine alte Mutter auch Augen im Kopf hat? sagte Marjim.

Eine verschlossene Quelle schien plötzlich des Steines, der kalt und finster auf ihr gelegen, entledigt zu sein, als Josseph nun zu reden begann. Rasch schloß sich jetzt Wort an Wort; mit kurzen Worten schilderte er der Mutter seine Qualen; wie er sich berechtigt halte zu seinem Hasse gegen Madlena. Sie habe den Vater in die Erde gebracht, und wenn die Mutter, was Gott behüte, weil es doch sein müsse, aus dem Hause werde getragen werden, sei nur ein Sohn und keine Tochter da, der um sie sieben Tage Trauer sitzen würde. Daran sei Madlena allein schuld, er trage diesen Kummer schon zehn Jahre mit sich herum. Er könne der Mutter nicht sagen, was er Alles gelitten, es ginge nicht auf zehn Bücher zu schreiben. Gestorben wenn sie wäre, nämlich Madlena, er hätte vielleicht geweint um sie, so lebte sie aber und sei ihm zur täglichen Qual. Er habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht Sünde wäre, so an seiner eigenen Schwester zu handeln, aber Gott selbst, der da spricht: Wer zu seinem Bruder und zu seiner Schwester sagt, ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir, habe ihm Recht gegeben. Was der Mensch thun solle, wo Gott selbst so deutlich spreche? Noch vor drei Wochen sei dieser Haß gegen Madlena in ein großes Unrecht, das er wohl fühle, ausgebrochen, aber er sei einem dunkeln Drange gefolgt, der ihn nicht habe anders handeln lassen. Und doch, so gut er wisse, wie er das vollste Recht habe gegen Madlena, so und nicht anders zu thun, sei er mit ihr doch nicht fertig, immer mahne ihn etwas an sie, er werde nicht eher Ruhe vor ihr haben, bis nicht entweder sie oder er gestorben wäre und in der Erde liege.

So hatte Josseph gesprochen und in einer Viertelstunde all die Säure des Lebens von sich abgeworfen, die zehn lange Jahre in ihm aufgehäuft. Als er geendigt, sah er seiner Mutter forschend, fast ängstlich auf die Lippen, welche Gegenrede sie ihm bringen würden. Die alte Marjim lag aber regungslos da; nicht das leiseste Zucken eines Gesichtsmuskels ward offenbar; der ganze Redestrom schien ungehört an ihrem Ohr vorübergerauscht zu sein. Es schnitt dies Josseph bitter durchs Herz.

Weißt du, Josseph, fuhr sie plötzlich wie aus einem Traume auf, was dein Urdede, von dem meine Mutter die Tochter ist gewesen, immer gesagt hat: nicht sollt ihr wissen, was man Alles thun darf.

Entsetzt sah Josseph seine Mutter an. War der Augenblick bereits gekommen, wo der Geist, nicht mächtig mehr, den zerfallenden Leib zu beherrschen, verrätherisch ihn verläßt und aus seinen Bahnen tritt? Noch mehr erstarrte er, als die alte Frau fortfuhr:

Weil ich gerad von meinem Urdede höre, da ist mir eingefallen, daß ich noch etwas von ihm hab ', was schon vielleicht über hundert Jahre muß alt sein. Du mußt nämlich wissen, und als Kind hab' ich dir's verzählt: dein Urdede ist ein gewaltig frommer und großer Mann gewesen, sie haben ihm aber alle zehn Bücher, die er hat geschrieben, am Erew Jom Kipur draußen vor der Schul 'verbrannt. Es ist nicht ein Blatt zurückgeblieben, haben die Leut' gemeint, aber meine Mamme, die war ein gescheidt Weib, hat auf ihrem Sterbebette mir's doch verrathen, ich hab's nur Keinem sagen dürfen, daß noch etwas da ist von dem guten, frommen Urdede. Dort im Kasten, in der untersten Schublade, gerade dort, wo meine Tachrichim (Sterbekleider) liegen, da wirst du's finden; es sind nur so ein paar beschriebene Blätter. Wenn ich jetzt zu meinem Urdede werd 'kommen, und er mich fragt: Marjim, was hast du denn von mir aufbewahrt gehabt? Da muß ich doch wissen, was ich ihm für eine Antwort soll geben.

Josseph schloß den Kasten auf; er that es mit jener stillen Ergebenheit in den Willen einer Sterbenden, für die man einen Stern vom Himmel herunterreißen würde. Er war überzeugt, daß er nichts finden würde. Die Sterbekleider fand er wohl am bezeichneten Orte, auch konnte er mit einer gewissen freudigen Traurigkeit bemerken, wie sie in schöner Ordnung aufgeschichtet in der Schublade lagen, aber von dem Nachlasse des Urdede fand er keine Spur.

Ich seh 'nichts, Mamme, sagte er endlich nach langem Suchen.

Es muß auf dem untersten Grund liegen, rief Marjim mit großer Bestimmtheit, gerade unter den Tachrichim.

Josseph erschrak fast, als er auf der angegebenen Stelle wirklich ein kleines Bündelchen beschriebener Papiere fand. Er trat damit zum Lichte; der Moderduft der Verwitterung wehte ihn daraus an. Nur mit äußerster Vorsicht konnte er die fast schon ganz zerfallenen Blätter von einander lösen; die wenigen, die sich unversehrt erhalten hatten, waren mit jüdischer Kleinschrift bedeckt, wie man sich deren im gewöhnlichen Leben bedient, aber selbst aus diesen waren viele Stellen ganz unleserlich und die Tinte ganz verblaßt worden.

Ist die Schrift wirklich von unserem Urdede? fragte er.

Wenn ich dir sag ', daß mir's die Mamme auf ihrem Sterbebette übergeben hat, entgegnete Marjim fast verletzt durch diesen Zweifel an der Aechtheit ihres Manuscriptes.

Merkwürdig, sagte Josseph, was der Urdede für eine eiserne Schrift gehabt hat.

War er denn nicht ein großer und merkwürdiger Mann? rief Marjim mit großem Stolze. Jetzt red aber nicht lange und lies vor, was da drin geschrieben steht, ich muß doch wissen, um antworten zu können.

Es war spät in der Nacht, als Josseph zu lesen begann. Er nahm die noch leserlichen unversehrten Blätter; die Schrift war deutlich und wie gedruckt und ließ sich ohne Anstrengung durchfliegen.

Josseph las:

So hat gesprochen Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, als er das Volk sah, und ist auf einen Berg gegangen und hat seinen Mund aufgethan, auf daß er es lehre.

Gesegnet sind diejenigen, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.

Gesegnet sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Gesegnet sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.

Gesegnet sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.

Gesegnet sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Gesegnet sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl gehen, und ihr werdet belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen.

Josseph hielt inne. Die eigenthümliche Redeweise und die sonderbaren Segnungen, die er noch in keinem Gebetbuche gefunden, verwirrten ihn; er hatte von dem Manuscripte ganz Anderes erwartet. Der erste Eindruck dieser herrlichen Sätze war bei ihm Ueberraschung.

Der Urdede soll das wirklich geschrieben haben? fragte er.

Du hörst ja, wie er schreibt, daß sie ihn verfolgt haben gleich wie die Propheten, die vor ihm gewesen sind, erklärte Marjim, es ist gar von keinem Andern die Red 'als von ihm.

Josseph las weiter; wieder mußte er einige verwitterte Blätter zur Seite legen.

Denn ich sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

Wieder unterbrach sich Josseph und begann ungläubig zu werden.

Wen meint denn der Urdede damit? fragte er, die Stirne in Falten legend.

Daß du das nicht verstehst! rief die alte Marjim mit klarer Stimme, da red't er wieder von sich selbst, er hat viel von den Rabbonim ausgestanden, denn die haben ihm seine zehn Bücher verbrannt. Das meint er unter den Schriftgelehrten.

War Josseph durch diese sinnreiche Erklärung der Mutter beruhigt? Er las weiter:

Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichtes schuldig, wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist des Gehennims schuldig.

Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altare opferst und wirst allda eingedenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe;

so laß allda vor dem Altare deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe.

Sei willfährig deinem Widersacher bald, dieweil du bei ihm noch auf dem Wege bist, auf daß dich dein Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter und der Richter überantworte dich dem Knecht und werdest in den Kerker geworfen.

Ich sage dir: wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, du habest denn deinen letzten Heller bezahlt.

Josseph konnte nicht weiter lesen. Entsetzt, mit rollenden Augen sprang er vom Tische auf, schob die Blätter weit weg von sich, als ob ihr bloßes Dasein allein ihn mit Schauer überfiele.

Sprachlos, überwältigt von der geheimnißvoll wirkenden Kraft der gelesenen Sätze, schritt er in der Stube auf und nieder.

Mamme, rief er endlich, da lass 'ich mich ender umbringen, als daß ich glaube, der Urdede hat das geschrieben.

Im wunderbaren Glanze leuchtete das Antlitz der alten Frau. Sie hatte Himmelsmusik gehört, war im herrlichen Gan Eden gewesen, während um Josseph's Ohren die Trümmer zusammenstürzender Welten krachten, Donner rollten und schwere Sturmwinde über die Erde braus'ten, als wollten sie eine alte Schöpfung aus ihren Angeln heben und Raum schaffen für eine neue, noch nie dagewesene!

War er denn nicht auch ein merkwürdiger, ein großer Mann, du Narr, wiederholte sie lächelnd, ohne im Entferntesten die Lage ihres Sohnes zu ahnen, und wer denn sollte das geschrieben haben? Hätten sie ihm denn seine zehn Bücher verbrannt, wenn er so was nicht hätt 'geschrieben? Gott der Lebendige weiß, was Alles in diesen Büchern muß sein gestanden, denken kann ich mir's aber leicht, und daß es muß schön gewesen sein, das hast du jetzt erlebt.

Schön! rief Josseph wild, da läßt sich gar kein Wort dafür finden, es reißt mir das Herz heraus.

Kann da dein Urdede dafür, du närrischer Mensch? entgegnete die alte Frau mit einem Tone, der fast strenge klang. Sie hatte sich im Bette aufgerichtet; eine innen wirkende Kraft schien sie zu beleben.

Da, stell dich her zu mir, und sag, wenn du ein Lügner sein willst, ob nur ein Wort in dem, was der Urdede geschrieben hat, nicht wahr ist? Gold und Perlen ist Alles, was er sagt; jetzt weiß ich erst, was der Urdede für ein Frommer ist gewesen. Verbrannt haben sie ihm seine Bücher, weil er ihnen die Wahrheit gesagt hat; die können die Leut 'nicht hören, und daß er immer gesagt hat: nicht wissen sollt's ihr, was man Alles thun darf! Die Leut' wollen auch nicht wissen, was man Alles thun darf.

Mamme, rief Josseph mit gefalteten Händen, hör auf, himmelhoch bitt 'ich drum, der Urdede thut mir schon genug wehe.

Mein lieb Kind Leben, sagte Marjim mit plötzlich verändertem Tone, milde und einschmeichelnd, weh thun hab 'ich dir nicht wollen, ich bin ja doch deine Mutter und heiß' Marjim. Ich will nur, daß du weißt, was dein Urdede für ein Mann ist gewesen. Sagt er denn gar nichts mehr? Fertig mußt du mit dem Geschriebenen doch noch nicht sein.

Fast willenlos setzte sich Josseph wieder zum Tische und nahm die vergilbten Blätter wieder zur Hand. Er las:

Darum, wer diese meine Rede hört und thut sie, den vergleich 'ich einem klugen Manne, der sein Haus aus einen Felsen gebaut hat.

Da nun ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam und wehten die Winde und stießen an das Haus, fiel es doch nicht, denn es war auf einen Felsen gegründet.

Und wer diese meine Rede hört und thut sie nicht, der ist einem thörichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand gebaut hat.

Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und that einen großen Fall.

Und es begab sich, da Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, diese Rede vollendet hatte, fürchtete sich das Volk über seine Lehre.

Denn er predigte gewaltig und nicht wie die Rabbonim.

Nicht der leiseste Athemzug ging nach diesen Worten durch die enge Stube; nach einer Weile sagte die alte Frau, die still vor sich hinweinte:

Siehst du, sie hat auch Marjim geheißen, wie ich, und hat auch einen Sohn gehabt, und das war kein Anderer, als mein Urdede. Ich heiß 'ja dessentwegen auch nach seiner Mutter.

Was Josseph in diesem Augenblicke dachte, war ein wirres Durcheinanderjagen sich widersprechender Empfindungen. Er fühlte sich mehr körperlich als geistig abgespannt, seine Augen schmerzten ihn, sein Herz pochte gegen die Brustwand. Er war wie einer, der sich unter der Hand eines Gewaltigen fühlt, unfähig, seinen Blick zu ihm aufzurichten.

Genug, genug, Mamme, rief er mit gepreßter Stimme, ich mein 'schier, daß ich sterben muß, wenn du noch ein Wort sprichst.

Du Narr, sagte sie lächelnd, ich werd 'sterben und du wirst leben und wirst denken all die Tag' deines Lebens an den Urdede und die alte Mamme, wenn schon lang nichts mehr da ist von ihr. Sei du kein Narr, und leg dich lieber schlafen. Ich werd 'ja morgen noch nicht sterben.

Und so schnellem Wechsel ist das Menschengemüth unterordnet, daß Josseph keine halbe Stunde darauf im tiefsten Schlafe lag. Marjim aber wälzte sich schlummerlos in ihrem Bette; sie mußte ja daran denken, was sie ihrem Urdede am Freitage, wenn sie zu ihm kommen werde, für eine Antwort geben solle!

13. Kapitel 5. 6. 7.

Früh Morgens am andern Tag, der ein Donnerstag war, erwachte die alte Marjim so frisch und wohlauf, als ob sich ihre trübe Voraussage für jetzt nicht bewahrheiten sollte. Sie verlangte mit heller Stimme, daß man ihr das Anbeißen bringe und hernach ihr Wanderbuch . Fast schöpfte Josseph wieder frischen Muth, als er die Mutter so heiter und lebenskräftig aus ihrer Todesschwäche sich erheben sah; er sagte es ihr auch, daß sie gewiß noch hundert Jahre alt werden müsse; mit keiner Andern als mit ihr wolle er auf Fischele's Hochzeit einmal den Vortanz eröffnen. So suchte er sich selbst im Glauben und Trost aufrecht zu erhalten.

Sie aber sagte lächelnd:

Laß du den Apfel fallen, wenn er nicht mehr auf dem Baum bleiben will; es hilft zu nichts, wenn man sich unter den Baum stellt und zu dem Apfel sagt: du Aepfele, untersteh dich nicht, schon herunter zu fallen! Es bleibt doch nicht oben, wenn's Gott einmal so bestimmt hat. Darum, wenn du mir einen Gefallen thun willst, so mach dich selbst auf und geh auf Bunzlau, mir die frommen Weiber zu bestellen. Sehr lange dauert's so nicht, und ob sie um ein paar Stunden früher mit mir sagen , das wird Gott mir nicht übel nehmen.

Josseph trug aber Bedenken, die alte Frau, der die Todesgedanken nicht aus dem Sinne wollten, zu verlassen. Er gab deßwegen allerlei Ausflüchte vor; wenn man sterben solle, habe es immer Zeit, und die Mutter werde sehen, daß die frommen Weiber sich jachten würden, daß man sie gerade auf den Freitag, wo sie am meisten zu thun hätten, herausbestelle; denn sie würde es schon erleben, wie Recht er habe.

Ich weiß schon, du willst nicht gehen, weil du meinst, es könnt 'mir während dem etwas zustoßen, sagte die alte Frau mit einer merkwürdigen Bestimmtheit. Recht könntest du schon haben, und ich möcht' dich auch nicht fortlassen, wenn ich's von meinem Urdede nicht ganz sicher, wie geschrieben und gesiegelt, hätte, daß es erst zwischen morgen und übermorgen sein wird. Da sei ganz ruhig und geh nur. Ich geb 'dir mein Wort drauf, du wirst mich noch antreffen, wenn du daheim kommst.

Wirklich beruhigte ihn diese Zusage. Er versprach der Mutter, sich sogleich auf den Weg zu machen, aber nicht dessentwegen, meinte er, denn er sei überzeugt, sie werde die frommen Weiber noch lange nicht zu sehen brauchen, sondern der Schrift wegen, die vom Urdede noch da sei. Er trage ein heftiges Verlangen darnach, zu wissen, was damit eigentlich sei; er werde deßwegen gerade zum Lehrer gehen, der sich auf so was verstehen müsse, dem werde er die Schrift vorlegen.

Geh nur, geh nur, sagte kopfschüttelnd die alte Frau, ich weiß gar nicht, was du da erfragen willst? Vom Urdede ist die Schrift, auf das kannst du dich verlassen, was du aber weiter willst, das seh 'ich nicht ein.

Trotz dieser Abmahnung, die aus dem gerechten Stolze der Großmutter auf den Urdede entsprang, nahm Josseph die vergilbte Nachlassenschaft mit und machte sich auf den Weg nach Bunzlau.

Nachdem er dort die traurige Bestellung bei den frommen Weibern verrichtet hatte, die ihm mit ihrem Handschlag versprachen, sich morgen in aller Frühe im Dorfe einzufinden, suchte er den Lehrer Julius Arnsteiner auf.

Julius Arnsteiner ließ sich bei dem Eintritte Josseph's nicht den Witz entgehen, ob er die Ofenkachel einschlagen solle, weil ein so frommer Mensch, wie Rebb Josseph einer sei, es für werth gehalten habe, zu einem solchen Posche Jisroel*)Abtrünniger von Israel. zu kommen. In kurzen, gedrängten Worten trug Josseph dem Lehrer sein Anliegen vor, und wie ihm außerordentlich viel daran gelegen sei, zu wissen, was denn eigentlich an der Schrift sei. Die sei ganz merkwürdig, gar nicht wie andere Sachen, und man könne daraus viel lernen. Auf welche Art und unter welchen Umständen sie in seine Hände gelangt war, davon hütete er sich, ein Wort zu verrathen.

Was wird es sein? sagte der Lehrer achselzuckend, indem er die vergilbten Papiere vor sich ausbreitete, eine Katz hat an einem Fleischtopf genascht und gleich darauf Milch getrunken, und da hat Euer Urdede ein ganzes Buch darüber geschrieben, was denn mit der Katze eigentlich anzufangen ist. Das wird's sein.

Leset nur, Herr Lehrer, meinte Josseph nachdrücklich, Ihr werdet sehen, es ist etwas ganz Anderes.

Julius Arnsteiner antwortete mit einem verächtlichen Achselzucken. Hierauf durchblätterte der Lehrer das Manuscript, während dem er jenen singenden Ton, den man während des Lernens der Gemarah anstimmt, vor sich hinsummte.

Josseph starrte ihn mit unverwandten Blicken an; er sah, wie sich die Aufmerksamkeit des Lehrers, je weiter er in der Schrift kam, steigerte; das verächtliche Achselzucken hatte aufgehört, der singende Ton auch; man sah es Julius Arnsteiner an, daß ihn das Gelesene in hohem Grade fesselte.

Mit einem Male sprang er auf, schlug sich an die Stirn und rief:

Gott, Gott, mir ist das so bekannt, ich muß es irgendwo schon gelesen haben.

Sinnend stand er dann eine Weile da; dann riß er einen seiner Bücherkasten auf, aus dessen hinterstem Schranke, versteckt unter anderen, er ein bedeutend dickes Buch hervorholte. Mit zitternder Hast schlug er Blatt für Blatt zurück, las auch oft mit schnell überfliegenden Blicken ganze Seiten, bis er plötzlich, fast athemlos, rief:

Hab 'ich's doch gewußt, daß ich das irgendwo muß gelesen haben. Da steht's, da steht's! und Wort für Wort.

Erstaunt fragte Josseph, was er denn eigentlich gefunden habe.

Ihr Urdede, sagte der Lehrer mit strahlendem Anblick, muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein. Ich begreife erst jetzt, woher die Spinoza's und Uriel Acosta's gekommen sind. Wollen Sie wissen, was die Schrift eigentlich ist?

Um dessentwillen bin ich ja zu Ihnen gekommen, entgegnete ruhig Josseph.

Sie werden aber erschrecken, sagte Arnsteiner zögernd.

Erschrecken kann ich nicht mehr, versetzte Josseph, weil ich sie schon gelesen hab '. Sie hat mir genug mein Herz herausgerissen.

Hat sie das? meinte der Lehrer mit einem sonderbaren Lächeln. Es kann auch nicht anders sein. Jahrhunderte lang quält sich die Menschheit damit; Ströme Blutes sind vergossen worden, Kriege hat man geführt, dreißig und mehr Jahre lang, und warum? Weil man um den rechten Sinn dieser Schrift herumstritt; und da sollte ein einzelner Mann sich nicht getroffen fühlen? Soll ich es Ihnen also wirklich sagen, Rebb Josseph?

Bin ich denn ein Kind? sagte dieser.

So hören Sie, rief Arnsteiner, Josseph scharf fixirend, die Schrift Ihres Urdede ist eine Uebersetzung des Evangeliums Matthäi, wie es geht und steht.

Wer ist das? fragte Josseph ruhig.

Das wissen Sie nicht? rief der Lehrer, in lautes Gelächter ausbrechend. Da, lesen Sie in dem Buche, was steht da, worauf ich mit dem Finger hindeute?

Josseph las: Das fünfte Kapitel. Christi Bergpredigt, von der Christen Seligkeit und Verständniß des Gesetzes. Evangelium am Tage aller Heiligen.

Das geht sie an, meinte er, zu dem Lehrer aufblickend; er hatte Madlena's Kirchengenossen im Sinne.

Julius Arnsteiner lachte wieder hell auf.

Warum lesen Sie nicht weiter, Rebb Josseph? rief er.

Fast um dem Lehrer einen deutlichen Beweis zu geben, daß er sich vor dem Berühren der verbotenen Bücher nicht scheue, las Josseph weiter:

Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich und seine Jünger traten zu ihm hin. Und er that seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr; selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden

Nu, Rebb Josseph, wissen Sie schon, wie es mit Ihrem Urdede ist? rief Julius Arnsteiner mit überflüssigem Hohn, und wer bei ihm Jischai, der Sohn des Josseph's und der Marjim ist?

Josseph zitterte unter der unbarmherzigen Last dieser Frage. Sein erdfahles Antlitz zum Lehrer emporhebend, sagte er tonlos:

Das ist eine Strafe Gottes, Herr Lehrer! Mein Herz hat sich überhoben, hat gepocht, weil ich im Chumesch habe Sätze gefunden und mich hab 'auf diese hin berufen. Da muß nun etwas Anderes kommen, was vielleicht auch wahr ist. Gott hat mir seit einiger Zeit Mancherlei zugeschickt, ich muß auch das dazulegen. Und zuletzt, ob's der oder mein Urdede geschrieben hat, es fragt sich nur, ob er nicht Recht hat.

Julius Arnsteiner traute seinen Ohren kaum, als er diese milde Fassung in Wort und Geberde Josseph's gewahr wurde. Es war ihm unbegreiflich, wie einer, der seinen Commentar zu der Bibel so übel aufgenommen hatte, so ruhig, so fast ohne alle Ueberraschung die für jeden Andern so schreckliche Kunde hören konnte: daß, was er für das Werk seines Großvaters gehalten, aus dem Herzen des blonden Rabbi von Nazareth gekommen war! Er kannte die Geschichte dieser Seele nicht, wir wollen ihm diese Unkenntniß verzeihen.

Fast um sein Unrecht gut zu machen, sagte er tröstend:

Freilich haben Sie Recht, Rebb Josseph, wenn Sie meinen, daß es gleichgültig ist, wer das geschrieben hat, Ihr Urdede oder Christus oder der Evangelist Mathias. Ich frage Sie nur: wer war Ihr Urdede? ein Jude; wer war Jesus oder, wie Ihr Urgroßvater geschrieben hat, Jischai, der Sohn des Josseph und der Marjim? ein Jude; wer war der Evangelist Mathias? auch einer

Mit dem kommen Sie mir nicht, Herr Lehrer, entgegnete Josseph mit verfinstertem Antlitz, mit dem nicht. Mit Ihrer Philosophie ist bei mir nichts auszurichten, ich weiß jetzt selbst, was zu thun ist.

Damit empfahl er sich dem Lehrer und ging.

Julius Arnsteiner hatte nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Ghetto umherzulaufen und mit lachendem Munde den Leuten zu erzählen, wie der Landjüd etwas für das Werk seines Urdede gehalten, was eigentlich das Evangelium Matthäi gewesen sei.

Josseph schritt indeß rasch auf das Dorf zu; er schaute niemals zurück; sein früher erdfahles Gesicht war mit hoher Röthe bedeckt. War seine Brust frei? Fühlte er, daß die alte Kraft wieder gewonnen war? Er gedachte noch heute mit Madlena zu sprechen.

14. Madlena.

Wie einen aus siegreichem Kampfe Hervorgegangenen im Augenblicke, wo ihm unser Dankeswort entgegenschallt, der Gedanke fast zu Boden drückt, wie viele Leichen in die kühle Erde sich legen mußten, damit er hoch aufgerichtet und herrlich geschmückt unter den Lebenden einherschreite, fast übermüthig mit dem Leben prunkend, das er Anderen genommen, so war's unserem Josseph, als er mit dem reinen Entschlusse, heute wirklich fertig zu werden, den Weg zur Heimath ging.

Wenn die Mutter indeß gestorben? Wer hatte dann ihren letzten Athem belauscht, die Hand auf ihr stummes Herz gelegt, ob es noch schlage? Er nicht, aber auch sie nicht. Wie er nur so lange zögern könne, fiel ihm ein, warum er nicht wie ein Vogel fliege, ihr die Kunde zu bringen, daß sie hintreten dürfe an das Bett der Mutter, sich ausweinen dürfe über dem stille stehenden Herzen derjenigen, der sie seit zehn Jahren so nahe und doch so ferne gestanden.

Fast athemlos kam er an den ersten Feldern seines Dorfes an. Es war heißer Mittag, und die Sonne brannte lothrecht vom Himmel herab. Auf den Aeckern stand die Natur still, kein Lufthauch bewegte das goldene Saatenmeer, kein Bauer ward auf dem weiten Umkreise sichtbar, so weit auch das Auge reichte. Er schritt immer rascher vorwärts; ein anderer Umkreis öffnete sich seinem Blicke, auf einem Felde, abwärts von der Straße, sah er ein weibliches Wesen emsig arbeiten. Sie war ihm mit dem Rücken zugewandt, aber er kannte das Feld ...

All sein Blut drängte sich gegen den Kopf. Sollte es Madlena sein?

Er bog querfeldein von der Straße. Auf dem weichen, grasbewachsenen Raine, auf dem er zu dem Acker gelangen konnte, wurden seine Schritte nicht gehört, aber je näher er kam, desto mehr schwankten seine Füße; es war ihm, als drehten sich die Felder im Kreise rings um ihn. Er stand schon hinter Madlena, als diese, die den Nahenden nicht gehört hatte, noch immer in ihrer Arbeit fortfuhr. Die Haue, womit sie die Erdäpfelstauden aus der lockern Erde hervorholte, senkte sich, fuhr wieder auf. Madlena ahnte nicht, wer hinter ihr stand.

Nur einige Schritte von ihr stand Josseph, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und schaute sprachlos dem Thun Madlena's zu. Plötzlich ließ Madlena die Haue fallen; sie richtete sich auf und sah um sich ....

Ein gellender Schrei, der Josseph's innerstes Leben traf, und eine Bewegung, als wenn sie fliehen wollte, war das Einzige, was dieser erste Augenblick ihr entlockte. Dann bedeckte sie mit beiden Händen das todtbleich gewordene Antlitz.

Dinah! sagte Josseph in den weichsten Klängen seiner Stimme und streckte seine Arme gegen sie aus.

Als Madlena sich bei ihrem eigentlichen Namen angerufen hörte, ließ sie die Hände von ihrem Angesichte sinken; sie wankte einige Schritte vorwärts gegen ihn, fast ohnmächtig, leblos beinahe; er fing sie in seinen Armen auf ....

Eine lange Weile weinte sich Josseph an ihrem Halse aus. Madlena war keines Wortes mächtig. Als sie Josseph wieder aus der Umarmung ließ, stand sie ihm mit gefalteten Händen wie bittend gegenüber, noch immer vor Schrecken bleich ihn sprachlos anstarrend.

Kein Wort des Verständnisses ward zwischen Beiden in diesen ersten Augenblicken gewechselt. Josseph hatte ihr nichts zu sagen, er schaute die Wiedergewonnene mit leuchtenden Augen an; sein ganzes Wesen zitterte vor tiefster Erregtheit.

Wie wenig bedarf's doch, um einen jahrelang behaupteten Groll, um eine verjährte Säure des Gemüthes von sich abzuwerfen; wie rasch sagt es sich hier ein Blick dem andern, was man Alles vergessen kann und in den Strom der Vergangenheit geworfen hat!

Josseph geleitete Madlena zu dem Raine, auf den sie sich ermüdet, wie sie war, niederlassen mußte; er setzte sich neben sie. Erst jetzt kam es zwischen den Geschwistern zu einem Gespräche.

Frag mich nicht, sagte er, wie ich so auf einmal meinen Sinn gegen dich geändert habe, ich könnte dir's doch nicht sagen, wie das gekommen ist. Du weißt, ich hab 'gegen dich viel auf dem Herzen gehabt; und nicht wie ein Bruder gegen seine Schwester handeln soll, hab' ich gehandelt. Das wird mir auf der Seele immer liegen wie eine Centnerlast; das kann kein Jom Kippur, kein Fasten und keine Reue mir herunterbringen. Aber auf den Händen könnt 'ich dich jetzt tragen durch die ganze Welt, und möcht' mich nicht schämen. Ich hab 'dir so viel abzubitten, daß mir's nur Gott verzeihen kann.

Madlena sagte: Denk nicht dran, Josseph, dir diese Stund 'zu verbittern. Mir ist's ja, als wenn ich nicht auf der Erden wäre.

Dann fuhr er mit der flachen Hand ihr über das Gesicht.

Sag mir nur, Dinah Leben, bemerkte er besorgt, wie kannst du dir's nur einfallen lassen in der Hitze da, auf dem Felde zu arbeiten? Nimmst du kein Bedacht auf dich, so denk doch an deine Kinder. Kein Bauer arbeitet jetzt, sie liegen alle irgendwo im Schatten und ruhen sich aus. Nur du allein mußt eine Ausnahme machen? Hast denn du's so nöthig?

Das will ich dir sagen, entgegnete sie erröthend, es ist noch gar nicht lange, daß mein Mann zu dem Seinigen gekommen ist. Sein Vater hat mit ihm geschmollt und hat ihn enterben wollen, weil er mich zu seinem Weib genommen hat. Jetzt ist er wieder gut mit ihm, aber während dem haben wir zu unserem Hauswesen sehen müssen, wie es eben gegangen ist. Wo wären wir hingekommen, wenn wir hätten unsere Hände sinken lassen? Kinder hat man auch, und wenn man nicht will, daß die einmal fremder Leute Kost essen sollen, muß man zu sich sehen und darf sich nicht auf Andere verlassen. Gott Lob und Dank! Wir haben's aber jetzt doch so weit gebracht, wir könnten auch ohne den Vater bestehen.

Josseph hörte nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder die Schwester sprechen, es kam ihm vor, als hätte sich die Stimme gar nicht verändert; nur klang ihm die ganze Redeweise etwas fremdartig; Madlena sprach das Jüdische wie eine Christin, die im Hause eines Juden lange geweilt und die Sprache sich zu eigen gemacht hat.

Und dein Mann hilft dir nicht? fragte er.

Der, gab Madlena zur Antwort, arbeitet noch mehr, als ich, der kümmert sich ganz gewaltig ums Haus, der trinkt nicht, der spielt nicht, wie die Andern, und bringt jeden Kreuzer zurück, den er verdient. Da wär 'ich aber ein schlecht Weib, wenn ich dem nicht helfen wollte. Der Mann ist doch immer eigentlich derjenige, welcher das Haus erhält; das Weib vermag nur wenig auszurichten, wenn der Mann nicht will. Aber helfen muß sie ihm doch, wo sie kann, und das thu' ich auch redlich, und es schad't mir, Gott sei Lob und Dank, gar nichts.

Das ist halt die jüdische Ader, die in dir steckt, bemerkte Josseph eifrig, die läßt dir nicht Ruh 'und nicht Rast; denn der Jüd muß sich immer plagen, wo Andere sich einen guten Tag machen. Hat er keine Plag', so muß er auf eine sinnen; sich eine Freud 'gönnen, ins Wirthshaus gehen und sich da belustigen, das ist er nicht im Stand. Wissen möcht' ich, wo das herkommt, und ob das einmal anders werden wird? Ich sag 'dir aber, in dir steckt noch die jüdische Ader.

Madlena schaute lächelnd zu dem eifrig sprechenden Bruder auf.

Da hast du Recht, sagte sie dann mit gesenkten Augen; das Schlechteste wär 'das eben nicht an mir.

Bist du auch ganz glücklich? fragte er sie nach einer Weile; ich meine, so ganz zufrieden? setzte er stockend hinzu.

Mein Mann, gab Madlena ohne Zögern die Antwort, hat mich gern und ich ihn auch.

Und behandelt er dich gut?

Ich sag 'dir ja, er ist nicht wie Andere, der ist gerade so, als wenn er von euch herstammte.

Verzeih, verzeih, rief er schmerzlich lebhaft, und ergriff ihre Hand, ich hab 'ihn immer für Einen gehalten, der nicht besser ist, als die Andern, und darum hab' ich dich gehaßt und veracht't.

Fangst du schon wieder an? sagte sie, ihn ernst ansehend.

Ganz glücklich bist du also? wiederholte er noch einmal.

Wie's nur Eine sein kann, entgegnete sie ruhig. Mein Mann und meine Kinder sind mein Alles auf der Welt.

Josseph fuhr seufzend mit der Hand über die Stirne.

Das hab 'ich nicht gewußt, sagte er stockend.

Ganz am Anfang, erzählte Madlena, wie ich zu meinem Manne gekommen bin, da ist das freilich ganz anders gewesen. Es hat mir das Herz geblutet und geweint, daß ich euch habe so viel Leid anthun müssen; ich habe nicht glücklich sein können. Aber auf das kannst du dich verlassen, Josseph: wie du hast kommen müssen zu mir und dich aussöhnen mit mir und kannst nicht weiter böse sein auf mich, so habe ich zu meinem Manne gehen müssen; es war das meine Bestimmung, und ich hab's nicht anders machen können.

Josseph blickte nach diesen Worten verwundert die Schwester an. Sie fuhr fort:

Das sag 'ich dir nur, weil du nicht meinen sollst, ich wäre aus Leichtsinn oder weil ich euch habe kränken wollen, aus dem Hause gegangen. Tausendmal hab' ich mich gefragt: mußt du Pawel's Weib werden? und tausendmal hab 'ich zu mir selbst gesagt: du stirbst ja, Dinah, wenn du sein Weib nicht wirst. Alles Andere ist mir, wie das einmal in mir sich festgesetzt hat, als Nichts vorgekommen; kein Mensch auf der Welt, kein Kaiser und König hätten mich davon abbringen können. Es war mir Alles gleichgültig, das sag' ich dir jetzt, denn wo ich gegangen und gestanden bin, da hat es mir nachgeklungen und nachgeschrieen: Pawel muß dein Mann werden.

Josseph hörte mit sprachlosem Staunen die Geständnisse der Schwester an. Madlena fuhr nach einer Weile fort:

Erst wie mich der Pfarrer getauft gehabt, da ist mir schwer auf die Brust gefallen, was ich euch gethan, daß jetzt Alles wie mit einer Scheere zwischen mir und euch abgeschnitten und zerrissen war. Keine Mutter, keinen Bruder mehr! Sie kennen mich nicht, sie wollen nichts wissen von dir! Wenn mich mein Mann getröstet hat, so war mir gut, aber es hat Stunden gegeben, wie mir sie Gott nicht weiter zuschicken soll. Aber Gott muß mit mir es gut gemeint haben er hat mir meine Kinder gegeben.

Hätten es nicht jüdische sein können? unterbrach sie Josseph, indem er sein Auge fast vorwurfsvoll auf Madlena richtete.

Trösten wir uns, es war die Neige der Bitterkeit, die zum letzten Male zur Oberfläche eines noch nicht beruhigten Gemüthes als Schaum emporstieg.

Madlena sah lächelnd zu ihrem Bruder auf.

Da sieht man, sagte sie, was ihr Männer seid. Wenn ihr die Kinder möchtet gebären, ihr müßtet da anders reden. Da denkst du nicht daran, was du gewesen bist; du willst nur, die Kinder sollen gut und rechtschaffen werden, ob als Christen oder als Juden, das ist dann gleichgültig. Eine Mutter sieht nur immer auf den Vater von ihren Kindern. Wie der ist, so werden auch die Kinder. Ist der Vater ein schlechter Jud oder Christ, so werden's die Kinder auch. Darauf kannst du dich verlassen.

Bist du vielleicht darum eine so gute Christin geworden? fragte Josseph etwas spitzig.

Ich bin, was mein Mann ist, entgegnete sie rasch; das Weib soll auch gar keine andere Religion haben als der Vater. Es kommen nur Streitigkeiten zwischen Beiden heraus, das nicht gut ist, und was soll erst mit den Kindern geschehen? Nimm an, Josseph, ich hätt 'meinen Pawel genommen und wär' eine Jüdin geblieben. Meinst du, es hätt 'ihn nicht geschmerzt, wenn ich seine Kinder auf jüdische Art, wie ich's im Haus bei euch hab' gesehen und gelernt, aufgezogen hätt '? Mein Mann ist gewohnt, von seiner Kindheit auf an die Mutter Gottes zu denken, sie anzurufen in allen Nöthen; meinst du, ich hätt' den Kindern sagen sollen: stoßt euch nicht daran, wenn der Vater den Namen der heiligen Mutter Gottes ausspricht; er kann ja nichts dafür, daß er als Christ ist geboren worden? Oder wenn ihr eure Feiertage habt, meinst du, ich sollt 'da zu meinen Kindern sagen: heute darf man nicht arbeiten, darf man nicht aufs Feld hinausgehen, kein Holz hacken? Schön würden mich die Kinder ansehen; ihr Vater arbeitet ja doch, geht aufs Feld hinaus und hackt Holz, und hat doch keinen Feiertag!

An das hab 'ich nicht gedacht, sagte Josseph zögernd.

Du möchtst schon darauf denken, wärst du ein Weib wie ich. Ich hab 'gehört, es soll Länder geben, wo Christen und Juden sich nehmen dürfen, und braucht keines von beiden seine Religion zu wechseln. Schön ist das, das muß man schon sagen, wenn weder der Mann noch das Weib den Ihrigen das Herzeleid anzuthun und sie zu kränken braucht. Denn traurig ist die Sache doch immer, wenn man, um einen Mann oder ein Weib zu bekommen, seine Religion vertauschen muß! Aber ich kann mir vorstellen, wie die Beiden das anfangen; ich höre, sie machen vor ihrer Verheirathung einen Contract, und da steht drin: wenn das Kind ein Knabe ist, so wird's ein Christ, wie der Vater, ist's aber ein Mädchen, so bleibt's bei der Religion der Mutter. Oder auch umgekehrt, wie sich das gerade trifft. Was möcht' man denn vor der Hochzeit nicht Alles ausstellen und unterschreiben? Glaub mir aber: wenn die Zwei sich genommen haben, da wird die Sache ganz anders, und erst, wenn ihnen Gott Kinder giebt! Den Vater schmerzt's doch, daß nicht alle seine Kinder von seinem Glauben sind, und er wird einige darunter immer lieber haben, als die anderen, ohne es zu wissen. Meinst du, daß eine Mutter dem zusehen kann? Es sind ja doch alle ihre Kinder, und sie hat sie doch alle geboren, gesäugt und aufgezogen. Eine Mutter soll neun Monate mit ihrem Kinde schwanger gehen und mit Schrecken auf die Geburt warten, weil sie nicht weiß, ob denn der Vater nicht sagen wird: schon wieder so eines, was ich nicht nach meinem Glauben aufziehen darf? Neun Monate soll also die Mutter nicht wissen, ob der Vater dem Kind ein Vater sein wird? Wie kann so eine Mutter das nur aushalten und stirbt nicht vor Angst und Sorge? Ich wär 'schon hundert Mal gestorben.

Josseph starrte der Schwester in das hochgeröthete Gesicht; es lag ein wundersames Licht innerster Begeisterung darauf.

Und dann, fuhr sie fort, es ist auch nicht gut, wenn die Kinder wissen, daß zwischen Vater und Mutter nicht Alles gleich ist. Sie richten sich darnach, und der Streit geht im Hause gar nicht aus. Man macht sich und Andere dadurch unglücklich, die Mutter nimmt für dieses, der Vater für jenes Kind Partei, auf die Letzt wird einem das Leben sauer, und man bereut's, daß man sich genommen hat. Josseph! Mann und Weib werfen sich's dann vor und schlagen mit bitteren Worten um sich, wie mit spitzigen Messern, daß sie sich einmal genommen haben! Gott behüt 'das Weib und den Mann vor so einem Leben! Besser wär's, sie werfen sich Beide in einen Teich, da, wo er am tiefsten ist.

Tief erschüttert bedeckte Josseph mit der Hand sein Antlitz.

Und ich hab 'dich vor meiner Thür niederfallen lassen und hab' meinem Kind verboten, dir zu helfen! rief er mit gebrochener Stimme.

Josseph! sagte Madlena vorwurfsvoll.

Also deinem Mann zu Liebe hast du Alles gethan? fragte er ruhiger nach einer Weile.

Wie hätt 'ich anders können? sagte sie. Jüdisch hab' ich meine Kinder doch nicht aufziehen können, und eine Religion haben sie doch haben müssen! Eine Mutter muß ihren Kindern immer mit dem Beispiel vorangehen, vom Vater sehen sie das weniger. Hätt 'ich mir also mein Gespött aus Gott gemacht, was hätten dann die Kinder gethan? Meine Kinder sind die frömmsten im Dorfe, und wenn der Pfarrer in der Schul' ausfragt, so weiß mein ältester Knabe den Katechismus am besten. Ich halt 'ihn dazu auch an.

Beide schwiegen dann eine geraume Zeit, endlich ergriff Josseph Madlena's Hand und sagte:

Ich versteh 'dich jetzt ganz; ich hab' nicht wissen können, was du Alles weißt; ich gesteh 'dir ein, ich hab' groß Unrecht gehabt, und wenn du mir nicht verzeihen willst, Gott kann's nicht.

Madlena saß still da, sie wagte durch kein Wort ihre innere Bewegung zu verrathen, aber die schweren Thränen, die über ihr Angesicht schlichen, sagten mehr alles Andere.

Plötzlich stand Josseph straff auf. Er dachte an die Mutter, die auf seine Rückkehr harrte. Seltsamer Weise war ihrer zwischen den Geschwistern mit keinem Worte noch erwähnt worden, als ob Aufklärung nur zwischen Beiden nöthig gewesen wäre.

Dinah, rief er, du mußt gleich mit mir zur Mamme, sie wart't schon lange auf dich. Nicht wahr, die ist nicht so gegen dich gewesen, wie ich?

Ach, meine Mutter, meine gute Mutter! schrie Madlena mit der tiefsten Inbrunst eines kindlichen Herzens.

Willst du gleich mit?

Fragst du noch?

Die Mamme wird vor Freuden fast sterben, meinte Josseph gedrückt, wenn sie dich sieht. Sie red't sich ohnedies ein, sie wird den morgigen Tag nicht überleben.

Ist sie krank? Und das sagst mir erst jetzt! schrie Madlena voll Seelenangst.

Krank ist sie nicht, sagte Josseph düster, aber sie red't sich ein, sie wird zwischen morgen und übermorgen sterben. Sie hat einen Traum gehabt, und seitdem läßt sie sich ihren Tod nicht ausreden. Ich fürcht 'aber, sie wird Recht haben.

Um Gott's Willen, rief Madlena, laß uns da nicht länger stehen. Die Mutter liegt im Sterben, und ihre Kinder sind nicht bei ihr!

Rasch ergriff sie die Haue und stand auf.

Auf dem Wege sprachen die Beiden kein Wort. Madlena war immer um einige Schritte vorwärts. Je näher sie dem Dorfe zukamen, desto leuchtender wurde das Gesicht Josseph's, während sich auf Madlena's tiefe Bekümmerniß ausprägte. Sie hatte in diesem Augenblicke eine Mutter zu verlieren, er hatte eine Schwester wiedergewonnen.

Als die Beiden mit einander durch das Dorf gingen, sah ihnen manches Auge verwundert nach. Viele schüttelten den Kopf.

Beim Hause angelangt, bat Josseph die Schwester, eine kleine Weile zu gedulden, damit die Mutter durch ihre plötzliche Erscheinung nicht in jähen Schrecken versetzt werde. Nur mit Mühe konnte Josseph sie zu diesem kurzen Aufenthalt vermögen.

Bei seinem Eintreten in die Stube rief Josseph:

Mamme, du wirst staunen, wen ich dir hab 'mitgebracht!

Weiß ich's denn nicht? fragte die alte Marjim mit heller Stimme. Dinah hast du mir mitgebracht!

Madlena hatte draußen im Vorhause ihren Namen gehört. Sie riß die Thür auf, und Mutter und Tochter hatten sich wieder gefunden.

15. Ueber einem Grab.

Zwischen den beiden Frauen bedurfte es keiner Verständigung, kaum daß mit einem Worte der letzten Jahre Erwähnung geschah.

Dafür mußte Madlena all ihre Kinder herbeiholen lassen, sogar den Säugling in der Wiege, um sie den Augen der Großmutter vorzuführen, die mit unendlicher Seligkeit auf ihnen ruhten. Von dem ältesten Mädchen Madlena's sagte sie, sie habe viele Aehnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter, der Knabe dagegen hatte ganz die Augen und den Mund vom Großvater, und daß der Säugling einmal ganz Fischele sein werde, da könne nur ein Blinder daran zweifeln. Sonderbar, nach ihrem Schwiegersohn Pawel erkundigte sie sich nicht, so oft auch Madlena mit Absicht seiner erwähnte. Ging er die Großmutter nichts an, oder genügte es ihr, daß sie die Tochter wieder hatte?

Als die Nacht herankam, wurden die Kinder Madlena's nach Hause geführt; sie selbst blieb; auch wäre sie von dem Bette ihrer sterbenden Mutter nicht zu entfernen gewesen. Marjim verrieth übrigens durch kein irgendwie auffallendes Symptom, daß die letzte Stunde ihr so nahe sei. Sie war aller ihrer Sinne mächtig, in überirdischer Aufregung leuchtete ihr Verstand, und mehr als einmal trafen aus Madlena's und Josseph's Augen sich verständigende Blicke über die merkwürdigen Aeußerungen, die fast wie Prophezeiungen aus dem Munde der alten Frau hervorkamen.

Die ganze Nacht saßen die Drei in traulichen Gesprächen beisammen, und nie gingen die Engel des innersten Verständnisses mit leuchtenderen, schöneren Fittigen durch die engen Räume einer Menschenwohnung, als in dieser Nacht durch die stille Stube des einzigen Judenhauses im Dorfe.

Kein Auge schloß sich in dieser heiligen Nacht.

Erst gegen Morgen wurde Marjim auffallend schwächer; ihre Augen verloren allen Glanz, auch stockte sie schon im Sprechen. Ein leises Frösteln durchzitterte ihren ganzen Körper; man mußte sie mit zweifachen Decken wärmen, dennoch schauerte sie vor tiefinnerster Todeskälte.

Gegen acht Uhr Morgens kamen die frommen Weiber aus Bunzlau; die Eine von ihnen, eine stämmige große Gestalt, bekannt unter dem Namen Fradel die Seelenchapperin , die sich aus langer Uebung auf den Tod verstand, sagte sogleich, als sie der alten Frau ansichtig wurde, leise zu Josseph: Sie hält's noch bis gegen Abend aus.

Trotzdem diese Worte für jedes andere Ohr fast unvernehmbar gesprochen wurden, hatte sie die alte Marjim doch gehört. Mit fast verdrießlichem Tone rief sie von ihrem Lager: Da braucht man eben kein Prophet zu sein, um das zu wissen. Mein Urdede hat mir's ja gesagt.

Im Hause wurde nur leise geflüstert, seit man gewiß war, daß eine Sterbende darin lag. Die frommen Weiber setzten sich nun an das Bett der Großmutter und begannen ihr die Todesgebete vorzusagen; sie selbst war bereits zu schwach, um das Wanderbüchel zu halten. Im namenlosen Schmerz stand Madlena zu ihrem Haupte, und ihre Thränen floßen unaufhaltsam. Josseph selbst vermochte es nicht, in der Stube zu verbleiben.

Gegen Mittag sprach Marjim den Wunsch aus, man möge sie jetzt allein lassen, da sie Schlaf in ihren Augen verspüre. Nur Madlena mußte zurückbleiben und sich ans Bett setzen. In ihrem Anschauen waren der alten Frau die Augen zugefallen; sie schlief.

Madlena weinte bald still vor sich hin, bald überkam es sie ganz schauerlich, daß die Mutter noch nicht ihren Pawel zu sehen begehrt habe. Sie hätte aufschreien und die Schlafende aufrütteln mögen. Oft dünkte es sie, jetzt müsse sie einen Schrei ausgestoßen haben, daß das Haus davon erzitterte, und war dann erschrocken, wenn sie auf die Mutter hinsah und bemerkte, daß sie noch immer ruhig schlummere. Wenn sie jetzt stürbe? dachte sie sich. Nimmermehr konnte sie sich dann vorstellen, daß die Mutter sich vollständig mit ihr ausgesöhnt, wenn sie nicht auch ihren Pawel zu sich gerufen hätte.

Es war Abend geworden und die Sonne hatte sich von dem Hause entfernt, in dem eine Sterbende lag, die ihres Strahlenlebens nicht mehr bedurfte. Da erwachte die alte Frau, fast um denselben Augenblick, als das letzte Gold der scheidenden Himmelsflamme über die Fenster glitt.

Ihr erstes Wort, das sie an Madlena richtete, war:

Laß mir jetzt deine Kinder und deinen Pawel kommen, der ist doch auch mein Schwiegersohn, und ich möcht 'den auch sehen, lang dauert's ohnehin nicht mehr.

Madlena schrie laut auf und fiel, die niederhängende Hand Marjim's stürmisch küssend, am Bette nieder. Sie verstand dieses letzte Liebeswerk der Mutter, das in Erfüllung ging, noch ehe sie es ausgesprochen!

Die Kinder kamen, auch Pawel. Als dieser mit einiger Befangenheit an das Bett der Sterbenden trat, sah ihn Marjim einige Augenblicke scharf an, als wollte sie in das Innerste seiner Seele einen prüfenden Blick werfen, dann sagte sie mit heller Stimme:

Du scheinst mir ein guter Mensch zu sein, Pawel, aber was für ein Weib hast du auch bekommen!

Josseph mußte dann herantreten.

Wir zwei, sagte sie zu ihm mit leuchtenden Blicken, wir zwei kennen uns, ich hab 'dir nichts weiter zu sagen.

Sie fragte ihn dann, ob er nichts dagegen habe, wenn sie Madlena's Kinder früher benschen würde, als sein Fischele; denn jene bekämen doch jetzt nur zum ersten und letzten Male ihren Segen; auch würde es dem Kinde von keinem Schaden sein.

Als Josseph, der die Mutter gar wohl verstand, bejahend nickte, ließ sie die Kinder näher herankommen und legte auf jedes Haupt ihre zitternde Hand, leise Worte vor sich hinmurmelnd. Madlena reichte ihr auch ihren Säugling hin; auch auf dessen Haupt sprach die alte Frau ihren Segen. Dann richtete sie sich im Bette auf, und indem sie über Madlena's ganzes Wesen einen vielsagenden Blick warf, sagte sie mit lauter Stimme: Das Kind, das noch nicht geboren ist, wird von Gott und von den Menschen gern gesehen sein; denn das Kind hat dich mir zurückgebracht, meine Dinah, und du mußt noch viel Freud 'von ihm erleben. Ich bensch' auch das ungeborene Kind.

Als Fischele an die Reihe kam, brach Marjim in ein krampfhaftes Weinen auf. Sie umfaßte den Kopf des Knaben mit beiden Händen und konnte lange nicht von ihm lassen. Dann küßte sie ihn und sprach: Von dir geh 'ich sehr ungerne fort, für dich hätt' ich noch gerne hundert Jahre gelebt; du bist der Bote zu meiner Tochter gewesen auf dir muß Gottes Segen liegen.

Sie hatte hieraus noch die Kraft, zu Josseph zu sagen: Jetzt zünd die Schabbeslamp 'an, ich möcht' sie noch einmal brennen sehen, in einer Stund 'ist der Schabbes da.

Mit leuchtenden Blicken sah sie dann in die heiteren Flammen, die von den ölgetränkten Dochten der siebenzinkigen Lampe ausgingen. Sie hatte sie so lange selbst entzündet, und nun mußte ein Anderer sie in seine Hut nehmen. Von Minute zu Minute wurden jetzt ihre Lebensgeister schwächer; die scheidende Seele hatte bereits ihre Fittige zum Fluge ausgespannt.

Fradel, das fromme Weib, rief jetzt: Es dauert keine Sekund 'mehr; und mit lauter Stimme begann sie den letzten Spruch für Sterbende:

Höre, Israel, der Gott, dein Gott ist ein einziger Gott, was sie und die zwei anderen Weiber drei Mal wiederholten. Die Lippen der alten Marjim bewegten sich leise dazu; sie schlug noch einmal die Augen auf, um sie für immer zu schließen.

Während Madlena sich verzweiflungsvoll über die Leiche warf, betete Pawel mit seinen Kindern ein dreimaliges Vater unser. Fischele und Josseph standen in stummem Schmerz daneben.

Eine Viertelstunde hierauf läutete das Sterbeglöcklein für die gestorbene Jüdin. Der Pfarrer, der ihren Tod vernommen, hatte es so angeordnet. Die hat's so verdient, sagte er, daß man ihr eine Ehre anthut!

Am Begräbnißtage der alten Marjim, die man nach dem stillen Bunzlauer Friedhof an der Prager Straße trug, erscholl in aller Frühe vor dem Leichen - hause ein so heftiges Wehklagen und Weinen, daß Josseph bestürzt auf die Gasse hinausging. Da stand Anezka, die Magd, das Gesicht von Thränen übergossen, und darauf die Spuren eines so namenlosen Schmerzes, daß Josseph selbst tiefes Mitleiden mit ihr fühlte. Schluchzend fragte sie ihn, ob es ihr erlaubt sei, noch einmal ihre gute, treue Babe zu sehen. Josseph ließ sie in die Stube eintreten; dort lag die Leiche der guten alten Marjim, in weiße Leintücher gehüllt, am Boden. Vorsichtig, als ob sie fürchtete, die Todte aus ihrem ewigen Schlafe zu wecken, kniete Anezka nieder, zog leise das Tuch von dem Antlitze der Todten hinweg und sah sie dann lange unverwandt an. Mit derselben Vorsicht ließ sie das Tuch wieder fallen und schlich dann leise zur Thüre hinaus.

Man hat sie in dem Dorfe seit diesem Augenblicke nicht gesehen.

Als der Leichenwagen durch das Dorf fuhr, stand an seinem Hause der Bauer Stepan Parzik. Er schlug andächtig das Kreuz und blickte dann der dahinziehenden Todten lange nach. Der Dechant war seit einer Woche fast ein Greis an gebrochener Kraft und weißen Haaren geworden.

Es drängt Alles dem Ende zu.

Josseph hat die gemischte Waarenhandlung aufgegeben und ist Bauer geworden. Es bedarf keines weitsehenden Verstandes, um zu begreifen, was ihn zu diesem Entschlusse bewogen hat. Seine Aecker liegen hart an den Aeckern seiner Schwester. Er wird heuer zum ersten Male die goldene Frucht vom eigenen Felde heimführen.

Sein ganzes Leben ist nun ein einiges. Zwischen ihm und Madlena waltet das tiefste Verständniß. Wenn der Herbst kommt, wird er draußen im Felde sein und Samenkörner in die frische, aufgedüngte Erde streuen. In das Korn wird ein frisches Leben dringen, Regen und Thau werden darauf fallen und es befeuchten mit zarten Lippen; es wird aufsprießen und Gottes Windhauch wird als Segen durch die goldenen Saaten wehen.

Auch andere Saaten, die noch unter der Schneedecke liegen, werden aufgehen!

About this transcription

TextEine Verlorene
Author Leopold Kompert
Extent217 images; 44872 tokens; 7279 types; 278855 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-15T13:25:39Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-15T13:25:39Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Eine Verlorene. Band 8. Leopold Kompert. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 95-309.

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