Druck von R. Oldenbourg in München.
Leopold Kompert wurde zu Münchengrätz in Böhmen am 15. Mai 1822 von jüdischen Eltern geboren, besuchte das Gymnasium zu Jungbunzlau und später, unter vielfachen Kämpfen und Entbehrungen, da der Wohlstand der Familie zurückgegangen war, die Universität Prag, wo er sich philosophischen Studien widmete. Nachdem er ein Jahr lang in Wien eine Hauslehrerstelle versehen, siedelte er nach Ungarn über, verdiente sich in Preßburg die literarischen Sporen als Mitarbeiter an der „ Pannonia “, dem belletristischen Beiblatt der Preßburger Zeitung, und erregte durch seine Dichtungen die Aufmerksamkeit des Grafen Andrassy, der ihm als Erzieher seiner Kinder eine Stellung in seinem Hause gab. Im Jahre 1847 erwachte der Drang, die unterbrochenen Universitätsstudien fortzusetzen, so lebhaft in ihm, daß er den Plan faßte, in Wien Medicin zu studiren. Das Jahr 1848 vereitelte diesen Vorsatz, indem es Kompert wieder in die journalistische Thätigkeit zurückwarf. Bis 1852 widmete er seine Kraft dem „ Oesterreichischen Lloyd “(später „ Constitutionelle österreichische Zeitung “) und legte dann die Redaction nieder, um wieder als Erzieher zu wirken. Nachdem er fünf Jahre im Hause des preußischen Consuls Goldschmidt gelebt hatte, heirathete er 1857 die Tochter des ehemaligen Vorstandes der Pesther israelitischen Gemeinde und lebt seitdem ausschließlich historischen und literarhistorischen Studien und seiner reichen dichterischen Production.
Kompert's Novellen bilden eine besondere Domäne auf dem gemeinsamen Boden der Culturnovelle, dem auch die Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen,*)Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865). die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß die äußeren Formen und Formeln der merkwürdigen Zustände, die er schildert, ihm nicht die Hauptsache, sondern nur die Bedingungen sind, unter denen er seine sittlichen und geistigen Probleme entwickelt. Die von uns ausgewählte Novelle, nur eine unter vielen musterhaften, wird dafür zeugen, daß der Verfasser, so sehr ihm das Wohl und die Zukunft seines Volkes am Herzen liegt, ein Vorwiegen tendenziöser oder moralisirender Zuthaten sorgfältig vermeidet und vor Allem danach strebt, Menschenschicksale uns menschlich nahe zu bringen.
Wir treten mitten in die Heiligkeit eines eben zur Neige gehenden Dorfsabbats ein. Aber vergebens wird das unkundige Ange dem Tag des Herrn, wie er sonst so auffallend sein königliches Gewand über die Blößen des Ghetto's wirft, auch hier begegnen wollen; er tritt uns nirgends entgegen, und umsonst streckt sich die Hand aus, auch nur den Saum seines Gewandes zu erhaschen. Straße auf, Straße ab, durch das ganze Dorf kann man gehen, ehe man inne wird, daß es auch hier stille Augen und selige Herzen giebt, um die der Sabbat die Zauberkreise seiner Gewalt gezogen hat.
Fast müssen wir die Wegweiser machen. Wir bleiben vor einem Hause stehen, das nur ungefähr zwanzig Schritte von der Pfarrei entfernt liegt. Es nimmt sich fast fremdartig neben den anderen Bauernhäusern aus, als gehörte es nicht ihrer Gemeinschaft an. Auf den ersten Anblick erkennt man, daß darin Leute wohnen müssen, die in ihrem Leben niemals einen mit Garben hochaufbelasteten Wagen durch das weit geöffnete Hofthor gelenkt haben — die niedere Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten?
Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein -, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: „ Gemischte Waarenhandlung “heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und schwänzelnde Schwalben kommen bisweilen herbei, streifen auch mit ihren Flügeln zuweilen an den Fenstern vorüber, aus denen Niemand herausschaut, aber sie verweilen nicht lange und ziehen zu der Pfarrei hin, wo sie Gesellschaft und Conversation finden. Hier aber ist Alles still und unthätig, keine Hand regt sich und kein Ohr lauscht, daß es vernehmen könnte, was die Vögel des Himmels von ihrem Dasein im Reiche der freien Lüfte erzählen.
Wunderbare Gegensätze! Morgen um dieselbe Stunde werden die schwarzen Läden jener verschlossenen Gewölbethür weit offen stehen, und das Aushängeschild wird wieder etwas zu bedeuten haben. Zu den hellen hohen Fenstern werden scharfe Augen hervorlugen, wer die Straße daherkömmt. Wenn dann die Bachstelzen und die Schwalben sehen werden, wie viel Menschen da aus - und eingehen, werden sie vielleicht auch nicht zögern, dem Zuge sich anschließen und gleichfalls kommen. Dann wird der zauberhafte Bann gelös't sein, der jetzt über diesem Hause liegt — und wird über andere Häuser sich gelagert haben. Denn der Tag des Herrn kehrt nicht zu gleicher Zeit bei den Menschen ein. Wie sprechen sie doch Alle von Verständigung zwischen Völkern und Fürsten, von Harmonie der Geister und des Wissens! Aber haben sie es noch erreicht, daß, wenn zwei Hände, die das Gottesgebot der Unthätigkeit feiern wollen, schlaff herunter hängen, nicht tausend Andere den schweren Hammer auf den Amboß dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt?
Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? ...
Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu.
Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über dieselbe Bank vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die Blumen vor die Füße geschüttet?
Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle erscheint, zu dem sie sagen kann:
Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare Gulden unter meine Füße herlegen, und ich bin nicht im Stand, mich drum zu bucken.
Auch ohne die zehntausend Gulden hätte sich der Knabe um den Strauß gebückt; er legte ihn der alten Frau in den Schooß.
Sie betrachtete ihn mit stillem Entzücken und nickte mit seligem Lächeln auf die blauen Blumen herab. Nach einer Weile sagte sie fast grollend mit sich selber:
Geh! geh! man vergißt auf sich selber, wenn man alt wird und schwach. Hätt 'ich da nicht bald an den Blumen geschmeckt, und weiß doch ganz gut, daß des Bauers Sohn sie am heiligen Schabbes ausgerissen hat auf dem Feld? Werd' Einer nur alt und schwach! Mit offenen Augen und offenen Ohren begeht er Sünden auf Sünden, man weiß schier nicht, wie man dazu kommt. Gott aber, der Allmächtige da oben im siebenten Himmel, der hat alleweil sein groß Rechenbuch vor sich liegen und schreibt ein, und wenn Einen der Mallech hamowes (Todesengel) abholt, hat man eine Rechnung vor sich da, wie ein Trunkenbold, der nicht weiß, wie viel man ihm hat geliehen.
Während dieses in halb flüsterndem, halb grollendem Tone mit sich geführten Gespräches war ihr der Kranz wieder vom Schooß entglitten. Der Knabe hob ihn auf, aber, anstatt ihn zurückzustellen, führte er die schöne Gottesgabe an seine Nase und zog den frischen Feldduft der Blumen herzhaft ein.
Was stellst du an, Fischele? rief erschrocken die Großmutter, indem sie sich umsonst bemühte, sich vom Platz zu erheben und ihrem Enkel den Kranz zu entreißen.
Babe, was willst du denn? meinte er verwundert.
Nicht schmecken sollst du dazu, schrie sie mit einiger Anstrengung, am heiligen Schabbes hat sie des Bauers Sohn draußen abgebrochen auf dem Felde; welches Jüdenkind wird hingehen und wird dazu schmecken? Hast du vergessen, wer dein Vater, wer dein Dede (Großvater) ist gewesen? und erst dein Urdede, den du gar nicht hast gekannt?
Mit einer Art Grauen hatte sich der Knabe des schönen Kranzes entledigt, der das Unglück hatte, am heiligen Sabbat geflochten worden zu sein; weit weg hatte er ihn von sich geschleudert, als wäre ein giftiges Ungeziefer daraus hervorgeglitten, und der nächste Wagen, der des Weges daherkam, mußte mit seinen Rädern über die blauen Blüten hinweg! Gedemüthigt, mit brennenden Wangen, die an der kaum gekosteten Sünde ihre Glut entzündet hatten, stand der Enkel vor der alten Frau.
Sie aber richtete sich auf und rief ihn zu sich.
Mein lieb Kind Leben, sagte sie zu ihm und strich ihm mit der knochendürren Hand über das rothwangige Antlitz, mein lieb Kind Leben, der Mensch muß sich noch manches Andere gefallen lassen, als wegzuwerfen ein Blümele, zu dem er nicht darf schmecken. Was willst du haben, wenn's Gott nicht will? In der Gemera steht's, und was in der steht, das ist Wahrheit. Frag alle Rabbiner in der Welt, was werden sie dir für eine Antwort geben?
Ein eigenthümlicher Gedankengang schien jetzt den Kopf der alten Frau zu durchziehen. Als sie den Knaben so still und nachdenkend an ihrer Seite sitzen sah, zuckte aus ihren braunen, fast jung gebliebenen Augen ein Strahl, der aus einer anderen Welt zu stammen schien; auch überkam es den Knaben gar seltsam, als sie im Tone eines tiefen, nur zwei Menschenherzen angehörigen Geheimnisses zu sprechen begann:
Hast du dir das Bild von deinem Urdede, wie er drin über meinem Bette hängt, schon gut angesehen? Wie du ihn ansiehst, hat der schon in seinem dreißigsten Jahre über zehn Bücher gehabt geschrieben, Gott der Lebendige weiß, was da drin Alles ist gestanden. Ich seh 'ihn noch vor mir, wie wenn's heut wär; er war ein gewaltig großer Mann, und hat Tag und Nacht gelernt; getragen hat er ein dreieckig Hütel, und darunter sind die schwarzen Haar in Locken hervorgegangen, du kannst dir nicht denken, was das für ein Frommer und Gelehrter ist gewesen. Und doch, und doch —
Der Knabe rückte näher, die Augen unverwandt auf die Großmutter gerichtet.
Soll ich dir sagen, was geschehen ist mit den zehn Büchern, die dein Urdede in seinem dreißigsten Lebensjahre hat geschrieben?
Das Kind fragte nicht, aber sein Schweigen und die geschlossenen Lippen verriethen mehr.
Meine Mutter, was seine Tochter war, hat mir's einmal erzählt. An einem Erew Jom Kippur*)Vorabend des Versöhnungstages. ist draußen vor der Schul 'ein großes Feuer angemacht worden, das Holz dazu hat man von den Leuten zusammengetragen, und dadrauf hat man die Bücher verbrannt.
Verbrannt? schrie der Knabe mit gellender Stimme.
Still, still, rief die alte Frau erschrocken, und sah sich Minuten lang um, du bist noch nicht fertig. Währenddem man hat die Bücher verbrannt, ist dein Urdede drin in der Schule auf der bloßen Erd gelegen, neben ihm ist der Schames (Schuldiener) gestanden und hat ihm mit einem ledernen Riemen vierzig Hieb 'auf den nackten Rücken geschlagen. Meine Mutter, die seine Tochter ist gewesen, hat mir noch weiter erzählt; wie Alles fertig war, haben ihm die Leut' ins Gesicht gespieen.
Gespieen, Babe? rief der Knabe mit Entrüstung, das thut man ja keinem Hund!
Daher weiß Gott der Lebendige, sagte die alte Frau, wie sie einen Menschen, der zehn Bücher hat geschrieben, haben anspeien können wie einen Hund; ich hab 'das meine Mutter, die seine Tochter ist gewesen, hundert Mal gefragt, meinst du, sie hat mir eine Antwort gegeben? Nämlich du mußt wissen, wie dein Urdede noch gelebt hat, hab' ich von dem Allem nichts gewußt; erst wie er schon lang gestorben war und ich schon eine große „ Mad “war, zu der die jungen Leut sind auf die Beschau gekommen, erst da hat sie mir's erzählt. Erst da ist mir Manches eingefallen, was ich, wie ich noch ein Kind war, an meinem Dede nicht hab 'verstehen können. Soll ich dir etwas sagen: dein Urdede war gar nicht fromm.
Haben sie ihn denn nicht wie einen Hund angespieen? sagte Fischele zornig und gleichsam zur Entschuldigung des todten Urahnen.
Wie kommt das dazu? sprach die alte Frau kopfschüttelnd; meinst du denn, wenn ich sage: er ist nicht fromm gewesen, daß er vielleicht am Jom Kippur nicht hat gefastet, oder daß er bei den Christen hat gegessen, oder daß er ist nicht in Schul 'gegangen und hat sich sein Gespött gemacht aus Gott und aus den Menschen? Das glaub ja nicht; er war ein merkwürdig frommer Mensch, du hast ihm nicht können vorwerfen, was auf ein Quentchen gegangen wär', und was anbelangt das Jüdsein, hätt 'er's mit dem ersten Landrabbiner in der Welt aufnehmen können. Einmal, das weiß ich aber, wie wenn's heut' geschehen wär ', da hat mein klein Brüderl aus einem Topf, in dem man Fleisch gekocht hat, Milch getrunken. Da ist meine Mutter vor Schrecken fast umgefallen und hat geschrieen und gejammert. Dein Urdede aber, der dabei gestanden ist, hat gelacht und gesagt: Narrele, was schreist du da und jammerst? Ist dir ein Haus eingefallen? Nicht sollt'st du wissen, was man Alles thun darf ...
Das Antlitz der Großmutter hatte in diesem Augenblicke einen eigenthümlichen Ausdruck; man hätte es verklärt genannt, sie wollte weiter sprechen, doch die Stimme versagte. Auf den Knaben hatten die letzten Worte offenbar einen tiefen Eindruck gemacht, wiewohl ihm das rechte Verständniß abging. Die Großmutter hatte ihm nach Art alter Leute ein Geheimniß anvertraut, dessen innerster Kern und Wurzeln in ihren eigenen Kindertagen lagen. Warum sollte sie, die Hochergraute, Grabumfangene, es ihm nicht anvertrauen? Gab es oder giebt es eine Kluft zwischen dem hohen Alter und der blühenden Kindlichkeit? Sie beide reichen sich die Hand hinüber und fassen sich und schütten ihre Seelen in einander, daß sie zusammenklingen in einen Ton, in einen Glauben, in ein Märchen! Gebt im Hause Acht, wo alte Leute einhergehen! Das kleinste Kind weiß um ihre Heimlichkeiten und ihre Geheimnisse; Vater und Mutter müssen sich erst bei ihm erkundigen und errathen spät, was in der Seele des Kleinsten im Hause schon längst als trauliches Pfand verborgen liegt.
Darum auch fuhr die alte Frau so erschrocken zu - sammen, als sie im Augenblicke, wo sie ein siebenzigjähriges Geheimniß wie einen Blütenkern in die Seele ihres Enkels legte, daß er da aufschieße und vielleicht auch Früchte trage, als sie in diesem Augenblicke durch das Kommen ihres Sohnes, des Knaben Vater, gestört ward.
Es war ein stämmiger, hoher Mann, der langsam mit auf dem Rücken gekreuzten Händen des Weges daher kam. Er ward zuerst den Knaben ansichtig, der bei seinem Anblick ausrief: Guck, Babe, der Vater kommt! daß die alte Frau wie durch ein wunderbares Machtgebot sich erhob, um gleichfalls nach ihm zu sehen.
Um diesen Augenblick begann die Abendglocke zu läuten. Von der anderen Seite des Weges kamen Männer und Frauen des Dorfes, sie alle blieben bei den heiligen Klängen, die die stille Abendlust durchzitterten, eilig stehen und machten über sich das Zeichen des am Holze zu Tode geschlagenen Säemannes der Menschheit! Den Zug beschloß eine junge Bäuerin, die schwerer belastet schien, als die anderen Weiber. Sie trug eine Haue in der Hand, in der anderen einen vollen Sack; sie mußte beides von sich legen, ehe sie die Hände frei bekam; dann machte auch sie das Kreuz. Es war eine Gruppe stiller Beter, das Dorf in diesem Augenblicke eine große Kirche, der blaue Himmel als mächtige Kuppeldecke darüber gespannt.
Siehst du sie dort, Babe? flüsterte der Knabe fast unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies.
Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis 'nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen.
Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor.
Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter.
Jetzt hab 'ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut.
Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme.
Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen.
Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe gar nichts; seine Augen starrten magnetisch gebannt nach der Betergruppe hin, in der er nur Eine Person wahrnahm, und diese Eine schlug wieder das Gotteszeichen des Gekreuzigten über sich.
Einzeln kamen sie jetzt herbei. Hie und da erscholl ein Abendgruß herüber, aus den die Großmutter nur mit leisem Kopfnicken antwortete. Sprechen konnte sie nicht, und wenn Gott selbst in himmlischer Majestät vorübergewandelt. Zuletzt kam auch sie; Fischele stieß unwillkürlich mit dem Ellenbogen die Großmutter an, daß sie ausschaue.
Wer den geheimen Zug ergründen könnte, der vom Herzen zu den Augen ausstrebt, daß sie sich öffnen müssen und zusehen, wovor sie sich sonst auf ewig schließen wollten! — Die Bäuerin, man sah es ihr an, wollte an der Großmutter und dem Knaben rasch vorüber; sie hastete ihre Schritte, indem sie sich so nahe als möglich an der anderen Häuserreihe hielt. Aber für dieses Beginnen schienen ihr die Kräfte zu mangeln. Fast im Angesichte der alten Frau mußte sie die Haue und den schweren Sack weglegen; sie versank fast unter der Last.
Die alte Frau fragte leise: Guckt sie herüber? Ich kann's nicht ausnehmen.
So kommt's mir vor, antwortete der Knabe, über dessen Antlitz ein Zug tiefen Mitleids ging.
Die Bäuerin stand noch immer da; sie fuhr sich zuweilen mit der Schürze über die schweißbedeckte Stirn, dann bückte sie sich wieder zu der Haue und dem schweren Sacke nieder, um sie aufzulesen und fortzueilen; es drängte sie mit Sturmgewalt aus der Nähe der vier Augen, die wie glühende Kohlen auf ihr brannten. War es allzu große Ermattung, war es eine andere Empfindung, so oft sie sich niederbeugte, um die schwere Last aufzuheben, so oft mußte sie davon abstehen, kaum daß sie die Haue ergreifen konnte.
Babe, sagte mit stockendem Athem der Knabe, sie kann ja gar nicht fort.
Seh 'ich's denn nicht? sagte diese mit wundersam bewegter Stimme.
Ich helf 'ihr, sagte Fischele rasch und stand auf.
Fischele! war der einzige Ausruf der alten Frau. Sie konnte es ihm nicht verbieten.
Während dem hatte die Bäuerin es aufs Neue versucht, die beiden am Boden liegenden Lasten zu sich aufzuheben; als sie die Absicht des Knaben bemerkte, der über den Weg daher gelaufen kam, verdoppelte sie ihre Anstrengung und spannte ihre Muskelkraft zu unmenschlicher Arbeit an. Umsonst, jede Kraft schien in ihr wie mit eisernen Banden gefesselt, und das gerade hier, gerade im Angesichte der alten Frau! Ein Bild fürchterlicher Verzweiflung stand sie da, rath - und thatlos!
Hinter der Kirche kam jetzt ein Mann hervor, er hatte dort während des ganzen Läutens verharrt. Der hastige Knabe rannte ihm in den Weg; es war Rebb Josseph, sein Vater.
Was willst du? wo laufst du hin? fragte er ihn streng.
Fischele erbleichte, zwei harte Augen ruhten furchtbar, sein Inneres durchforschend, auf ihm.
Meinst du, ich weiß nicht, was dir die Babe anbefohlen hat? rief er mit grausamem Hohne.
Der da, sagte er, indem er sich gegen die Bäuerin wandte und mit dem Finger sie bezeichnete, der da sollst du helfen? Ich brech 'dir aber ender den Hals und das Genick, wenn du nur einen Finger aufhebst. — Fort, fort, wenn sie sich den Pack hat aufgelast', kann sie ihn auch schleppen.
Er riß den Knaben hastig weg und ging mit ihm auf das Haus zu.
Die Bäuerin mußte um diesen Augenblick die Gewalt einer Löwin empfangen haben, mit einem einzigen Rucke hatte sie die eiserne Haue und den schweren Sack vom Boden aufgehoben; rasch ging sie von dannen, die Last schien federleicht in ihren Händen geworden; hinter der Kirche entschwand sie den Blicken. — —
Zwei Thränen, die aus den Augen der alten Frau schwer und langsam fielen, folgten ihr nach. Wir werden diese Thränen zu deuten wissen! —
Die Nacht, die diesem Tage folgte, war eine der traurigsten, die je in dem einzigen Judenhause des Dorfes verlebt worden. Es war, als ginge ein in den Lüften klagendes Wimmern, ein unterdrückter, unausgesprochener Jammer auf stillen Socken durch alle Räume. Die Großmutter hatte sich früher, als sie sonst pflegte, zur Ruhe begeben; mitten in der Nacht wachte sie auf, und man hörte sie über unsägliches Wehe klagen. Auf die Frage ihres Sohnes: wo es ihr fehle, gab sie lange keine Antwort, bis sie auf sein inständiges Bitten und Drängen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. Das schnitt ihm durchs Herz, doch bewältigte er diese Regung und fast zornig fuhr er sie mit den harten Worten an:
Weinst du nicht ihr nach? Zehn Jahr sind vergangen, daß sie fort ist aus dem Haus, die Verschwarzte, und grad heute verstörst du mir und dir die Nacht?
Gerad heut, gerad heut, klagte die alte Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte, mir ist ja, als wär 'sie erst heut aus dem Hause gegangen. Hast du sie auch recht betrachtet, Josseph, wie schlecht sie aussieht? Gott, Lebendiger im Himmel! Sie hat ja mehr kein Fleisch auf sich, ein jung Weib, und ist noch keine dreißig Jahr alt! Das heißt sich abgeplagt und abgezehrt! und der schwere Sack mit Erdäpfeln dazu, mit dem sie nicht hat fort können! Wo soll ihr das auch herkommen? Ist sie denn das gewöhnt?
Gewöhnt soll's sie auch noch fein? entgegnete drauf Josseph mit einem bitteren Beigeschmack von Hohn. Hat sie's denn anders gewollt? Sie hat ja müssen eine Bäuerin werden! Hast du sie dazu gezwungen, daß sie aufs Feld hinaus muß, daß sie ganze Tage dort stehen und graben und ackern muß, wenn auch die Sonn 'vom Himmel herunter brennt, daß sie darüber könnt' vergehen? Ihr Mann, der Bauer, sitzt im Wirthshaus und spielt und trinkt, kann sie was Besseres thun, als Erdäpfel aus dem Feld graben, damit sie und ihre Kinder nicht verhungern? Sie hat ja den Kuchen nicht gewollt, den sie im Vaterhaus hätt 'haben können — soll sie Erdäpfel essen. — Dafür straft sie — —
Gott, willst du sagen, sprach die alte Frau kopfschüttelnd, misch da Gott nicht hinein; ich weiß nicht, was Gott dazu sagt, daß du als ihr Bruder so redst. Du bist ja doch ihr Bruder.
Eine bange Stille folgte diesem schmerzlichen Ausrufe, wie sie Ausbrüchen verhaltener Wuth voranzugehen pflegt.
Mamme, rief Josseph mit geballter Faust, wenn du nur das eine Wort nicht in den Mund nehmen möch'st, ihr Bruder! und sie meine Schwester! Wenn ich im Grab werde liegen und die Würmer werden an mir zehren, und Einer grabt mich auf und gemahnt mich, daß ich ihr Bruder bin, glaubst du nicht, daß ich meine Gebeine zusammenklaub 'und mich hinlege, wo mich keiner mehr finden kann? Drin im Gewölb hast du Vitriol stehen, man kann damit wegbrennen und wegätzen, Blutfleck' sogar, wenn Einer einen Andern hat todtgeschlagen; das will mir aber kein Mensch wegnehmen vom Herzen, was mich seit zehn Jahren brennt und plagt. Du bist ihr Bruder, sagst du, frag anders: War sie meine Schwester? Du hast also schon vergessen, wie ich mir hab 'die Krije*)Das Kleid zerrissen, aus Trauer um die Gestorbenen. schneiden müssen vor zehn Jahren, wie ich hab 'müssen Schiwe**)Sieben Tage trauern. sitzen, weil ich damals ihr Bruder war? Jetzt bin ich's nicht mehr. Der Narr, der ich wär '!
Es war ersichtlich an dem Schweigen der alten Frau, die die zornige Wucht dieser Worte wie ein schweres Gewitter über ihr Haupt hingehen ließ, daß sie der Rede Josseph's kein Gegengewicht entgegenzusetzen hatte. Sie hatte in ihr Wunden aufgerissen, die noch nicht ausgeblutet. Wie schweres Leid bei altgewordenen Menschen es zu thun pflegt, nickte sie beständig mit dem Kopfe, als gestehe sie die Wahrheiten ein, die in so furchtbarer Gestalt aus dem Munde ihres Sohnes kamen. Dennoch sprach sie, nachdem sie lange genug geschwiegen, mit einer gewissen Milde.
Dessentwegen hättest du dem Jüngel doch nicht wehren sollen, wie er ihr hat helfen wollen. Du hast ihn ja fortgejagt, und sie hat doch nicht fort können.
Mamme, sagte er darauf mit fürchterlicher Ruhe, mit der Hand, die ich da aufhebe, hätt 'ich ihm das Genick gebrochen, wenn ihm eingefallen wär', ihr nur ein leicht Federl von der Erd 'aufzuheben. Erlebt hätt' er's nicht.
Josseph, Josseph, schrie die alte Frau und sah ihm entsetzt in das wild aufgeregte Gesicht, versündig dich nicht an Gott.
Heißt das auch versündigen? gab er zur Antwort; wegen der werd 'ich mich versündigen?
Warst du denn blind und hast nicht gesehen, daß sie ein schwanger Weib ist? kreischte die Mutter auf.
Es muß in diesen Worten eine geheimnißvolle Gewalt liegen, daß sie den Zorn Josseph's fast augenblicklich bändigen konnten. Er war sichtbar erschrocken; eine Weile lang blickte er der alten Frau, beinahe zweifelhaft über das Geständniß, das den gesegneten Zustand seiner Schwester betraf, in das noch immer aufgeregte Antlitz. Dann wandte er sich von ihr ab; er löschte die Kerze aus, als hätte er damit das Wehe seiner Mutter, vielleicht auch sein eigenes auslöschen können. Zu Bett ging er nicht; er stellte sich zum Fenster hin und starrte in die Nacht hinaus.
Es war mit einem Male in der Stube still geworden, die alte Frau klagte nicht mehr und schien entschlummert. Hatte sie sich von ihrem Weh losgesprochen? War es ihr leichter geworden? Aber sie schlief nicht. Spät in der Nacht war's, als Josseph das Fenster verließ, aber nicht, um die Ruhe zu suchen. Die Mutter hörte ihn leise nach der Thür tappen und sie fast unhörbar öffnen. Sie konnte ihn nicht mehr fragen, wohin? und was er beginnen wolle. Das Morgengrauen blickte bereits in die Stube, als Josseph von seinem nächtlichen Gange zurückkehrte. Er warf sich ermüdet aufs Bett; die Großmutter schlief noch nicht.
Wir werden das geheimnißvolle Walten dieser noch unverständlichen Natur später zu enthüllen haben. Die schwache Feder ist keine Fackel, daß sie ein Wesen, wie es sich in Josseph darstellte, plötzlich in allen seinen Tiefen und Höhen aufhellen könnte.
Das kleinste Kind im Dorfe wußte es, daß die Bäuerin Madlena die Tochter der „ alten Jüdin “und die Schwester des „ Juden “sei; für uns ist es seit jenem nächtlichen Gespräch, das wir so eben zwischen Mutter und Sohn gehört haben, schon längst kein Geheimniß mehr. —
Es ist schauerlich, eine Leiche zu berühren, wenn sie daliegt, die Schale eines Kernes, die geboren ward, um zerbrochen zu werden; wenn den eigenen lebendigen Leib der Schauer überfliegt, was er selbst sei, und wie er sich für etwas ausgebe, was er eigentlich doch nicht ist; wie er stolz ist auf das thierische Leben, das in seinen Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan, denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als Leichenhof dient.
Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden.
Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das „ Schmah Jisroel “zu beten, werden jetzt freilich in einer anderen Sprache das „ Vater Unser “oder den „ Engelsgruß “zum Himmel richten! Blut wird nicht zu Wasser, sagt man sonst, aber das eigene Fleisch und Blut, nur weil die Seele, die ihm innewohnende, nicht dieselben Wege geht, wie die unsere, sich zu versauern und zu vergällen, die Faust gegen es zu ballen, es als Todten einzuscharren — das war eine leichte Erfindung jener schwarzen Stunden, wie sie die Geschichte des Menschensclaventhums so oft überschlich. — —
Wir wissen aus dem Gespräche zwischen Mutter und Sohn, was ein solcher Todter für die Familie zu bedeuten hat, und doch waren die Ausbrüche bitterer Gereiztheit, wie wir sie so eben erlebt, nichts Seltenes in dem einzigen Judenhause des Dorfes. Diese „ Todte “war seit zehn Jahren gestorben, aber noch streckten sich die Schatten des Zornes lang und breit über das Haus, und es bedurfte nur eines unbedeutenden Steinchens, das hinein geworfen ward in die sonst so stille Flut ihres Daseins, daß der zischende Gischt des Grolles hoch aufbraus'te!
Wer die Menschen kennt und ihre Eigenthümlichkeiten, besonders die der Juden, den wird es nicht in Verwunderung setzen, daß die Bewohner jenes Hauses, die wir unter so eigenthümlichen Umständen haben kennen gelernt, in der Bäuerin Madlena nicht so sehr die Katholikin und die vom Glauben ihrer Väter Abgefallene haßten; sie haßten sie, wie man einen Selbst - mörder haßt, der mit eigener Hand in die Lebensadern schneidet, um daran zu verbluten, der sich selbst den Stein umhängt, um in der Flut ein Leben zu begraben, das nicht ihm gehört, und auf das Andere fast noch mehr Anspruch hatten, als er selbst. Sie grollten ihr wie Einer, der man jahrelange Liebeswerke des Mitleids und der Gnade angethan, und die bei der nächsten Gelegenheit, wo man ihr begegnet, als Dank dafür eine häßliche Grimasse zurückschneidet.
Als die einzige Tochter des Hauses vor zehn Jahren einem jungen Bauer zu Liebe, dem sie anhing, ganz unversehens, fast in nächtlicher Stille aus der Familie entwich, als sie trotz aller Bitten sich nicht abhalten ließ, in der Kirche das Glaubensbekenntniß abzulegen, daß sie die Religion ihrer Väter wie ein böses Geschwür ansehe, dessen sie so eben durch das heilige Wasser der Taufe los und ledig geworden — da gab es einen ungeheuren Schmerz in dem einzigen Judenhause des Dorfes. Der Vater war vor Gram gestorben, aber die Mutter setzte sich hin auf einen niederen Fußschemel und weinte sieben Tage und sieben Nächte. Josseph zerriß seine Kleider von oben nach unten und that wie seine Mutter. Aber er weinte nicht; er trug sich mit Rachegedanken in der giftgeschwellten Seele, er sah funkelnde Messer vor seinen Augen auf und nieder gehen, er sah geschliffene Aexte in seiner Hand und andere Mordwerkzeuge; er dachte wirklich an Mord. Wollte er sich, wollte er sie, deren Name nicht mehr genannt werden durfte, dem Tode weihen? Er sah es als etwas Gottgefälliges an, wenn die Erde, auf der ein so ungeheures Verbrechen begangen, durch ein anderes, nicht minder grauenhaftes gleichsam wieder geheiligt würde.
Erst spät, sehr spät, als Zeit, Gewohnheit und tägliche Gewerbsmühen wieder in ihre alten Rechte traten, hatte sich dieser blutige Hintergrund seiner Seele verflüchtigt, um einem Niedersatze versäuerten Grolles, der bei der geringsten Gelegenheit in giftigen Blasen aufstieg, Raum zu gönnen. — Der große leidenschaftliche Haß hatte sich im Laufe der Jahre in tausend kleine Leben zerstückelt; aber jedes zuckte schmerzhaft auf, wenn es in die leiseste Berührung mit der Außenwelt gerieth.
Umstände der kleinsten Art wirkten dazu mit, daß die Wunden, die der Abfall des Mädchens dem Hause geschlagen hatte, nie verharrschen konnten. Es mag sonderbar dünken, wenn wir erzählen, wie die Nennung ihres Namens allein eine Reihe der schmerzlichsten Gefühle erwecken konnte. Sie hatte in der Taufe den Namen Madlena angenommen; im Hause war man an das heimliche „ Dinah “gewöhnt. Den Leuten aus dem Dorfe konnte natürlich nicht das Zartgefühl zugetraut werden, daß sie mit den in der Taufe angenommenen Klängen des Namens sparsamer umgingen; im Gegentheil, sie nannten ihn bei jeder Gelegenheit, sie gebrauchten ihn, wie man glaubte, mit einer ge - wissen Schadenfreude. Er verirrte sich oft unwillkürlich auf Lippen, die ihn vielleicht freudig zurückgenommen hätten, wenn sie die Schmerzen ermessen konnten, die er verursachte.
Hätt'st du dein Leben gedacht, sagte einst die Mutter zu Josseph, daß sich ein jüdisch Kind so einen Namen kann beilegen? Ein Mensch soll Madlena heißen!
Willst du vielleicht, entgegnete er damals darauf, daß sie ihren ehrlichen jüdischen Namen hätt 'behalten sollen? Du weißt doch, wer Dinah war? Dinah war die Tochter Jaikew's und Lea's, und willst du, daß sie heißen soll, wie das Kind von Jaikew, unserem Vater? Wie kann sie denn noch einen jüdischen Namen haben?
Ich heiß 'ja aber doch selbst auf deutsch Maria, meinte die Mutter, wenn ich auch auf jüdisch Marjim heiß'. Weißt du denn nicht — — —
Auch versteh 'ich's nicht, warum die Rabbonim den Namen nicht längst abgeschafft haben. Wenigstens heißt du noch Marjim; warum hat sich die Verschwarzte aber Madlena geheißen? Der Geistliche wird ihr gesagt haben, wie er das Wasser auf sie geschüttet: Heut hat die Heilige ihren Namenstag, und da ist aus dem jüdischen schönen Dinah zum Unterschied Madlena geworden.
Es dauerte lange, daß sich die Mutter diesem Troste Josseph's fügte, der dazu nicht aus seinem Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem Ganzen zusammen, und statt der katholischen „ Madlena “blieb die jüdische „ Dinah “immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie „ zu deutsch “wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn keine Maria gewesen wäre! —
Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter — Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub 'ich's erst recht, daß sie beim Gallech gewesen. Sie mußte es erleben, daß nebenan in der Kirche die Glocke geläutet ward, als man das Kind ihrer Tochter zur Taufe trug; sie sah das Tuch mit dem darauf gestickten Kreuz, das über dem Sprößling aus jüdischem Blut lag, und ihre Sinne vergingen dennoch nicht, als sie den Geistlichen aus der Kirche kommen sah, hinter ihm die Hebamme mit dem getauften Kind, über das nicht die Worte des altgeschichtlichen, schon von Abraham bekräftigten Bundesvertrags mit Gott, sondern die heilige Dreifaltigkeit ihre Schwingen gebreitet hatte
Es wird Viele sonderbar bedünken, wenn wir für die alte Marjim das Geständniß ablegen, daß sie keines von ihren Enkelkindern kannte; sie wußte wohl, wie groß der „ Familienstand “ihrer Tochter sei, aber von Angesicht zu Angesicht hatte sie noch keines gesehen. Wenn sie durchs Dorf ging, getraute sie sich nicht, eines der ihr begegnenden Kinder um seinen Namen zu fragen, oder wem es angehöre. Wie oft kam sie an dem Hause der Bäuerin Madlena vorüber und sah dort spielende Kinder vor dem Thore — und trippelte eiligst vorbei, ohne sich aufzuhalten. Wie oft kam sie entsetzt und erschöpft nach Hause, daß man sie fragen mußte: Mamme, ist dir was passirt, was ist dir über den Weg gekrochen? daß sie dann bitterlich weinend in die Worte ausbrach: Kann ich dafür, daß sie nicht hundert Meilen von hier wohnt? Wenn sie gestorben sein wird, werd 'ich Ruh' von ihr haben. —
Es war leicht gesagt, aber schwer geändert, daß dieses traurige Verhältniß mit der Zeit ein ungerechtes geworden war, und daß die Getaufte unter der Last des Hasses, den ihr die Familie nachtrug, ihr schweres Unrecht beinahe gebüßt hatte. Solche einfache Naturen lassen sich nie beurtheilen nach dem, was sie thun sollen: wie man den Baum nicht fragen kann, warum er in dem einen Erdreich besser gedeiht, als in dem anderen.
In Josseph hatte sich mit der Zeit der Bruch fast unheilbar gestaltet, er haßte in der katholisch gewordenen Madlena auch — die Bäuerin. Es ist dies traurig, aber wir müssen es gestehen. Durch die Taufe war ein furchtbarer Riß in der Familie entstanden, der sich mit den Jahren vielleicht geschlossen hätte; sie wäre dem Hause langsam abgestorben, und man hätte ihrer nur als einer Todten gedacht; sie aber war auch Bäuerin geworden und darum sein Stolz aufs Tiefste gedemüthigt. Wann hatte Jemand aus seiner Familie auf freiem Felde gearbeitet? wer war auf den Acker hinausgegangen, um Erdäpfel auszugraben? wessen Hände hatten je einen Spaten gefaßt? Er konnte es nicht begreifen, wie Madlena, ein bloßes Tuch um den Kopf herumgeschlagen, in bloßen Füßen, ausgesetzt dem Sonnenstiche, dem Sturme und Regen, Tage lang auf dem Felde bleiben konnte. Ihm, dem die Gaben der Erde nur aus zweiter Hand zukamen, ihm war es dunkel, wie man sich mit dem Schmutze der Erde beflecken konnte. Auf die Bauern angewiesen und auf den Erlös der Waaren, die er ihnen verkaufte, sah er sie tief unter seiner Würde. Madlena schien ihm in bäuerliche Rohheit versunken, erniedrigt, weit unter ihrem Stande. Er haßte in ihr die doppelt Gefallene; sie hatte nicht nur die Religion ihrer Väter verlassen, sondern auch ihre Sitten verläugnet; sie war ihm in jeder Hinsicht schlechter geworden.
Siehst du, siehst du sie, sagte er immer zu seiner Mutter, wenn er die Getaufte bei einem ihrer Tageswerke bemerkte, zu dem hat sie müssen das Wasser über sich schütten lassen? Ein Jüd hätt 'ihr's nicht gethan, wo sie hätt' können daheim sitzen in der Stub ', eine Bäuerin hat sie werden müssen, in den Stall muß sie gehen und die Küh' melken? Wo hat das ein rechtschaffen Kind aus unserer Familie erlebt?
Sah er sie vom Felde heimkehren, mit irgend einer schweren Last, etwa einem Bunde frischen Grases beschwert, so lachte er gewöhnlich bitter in sich.
Hat sie zu dem den Bauer sich genommen, sagte er dann, daß sie sich abmartern und das Fleisch abzehren muß, wenn er im Wirthshaus sitzt und sauft? Laßt das ein Jud zu? Er vergreift sich ender an sich selbst, als daß er sein Weib sich so plagen läßt. Wo soll aber dem Bauer das Mitleid herkommen mit dem Weib? Weinen habe ich sie schon gesehen bittere Thränen, wenn ihnen die Kuh im Stall oder der Ochs auf dem Feld ist umgefallen, das Weib aber ist ihnen nichts, die können sie sterben sehen, und es wird ihnen kein Aug 'davon naß.
Machte ihm die Mutter dann Einwürfe, daß Madlena sich nur in ihr Schicksal füge, wenn sie den Beruf einer Bäuerin vollständig ausfülle, daß sie eben darin einen Beweis ihrer guten Abstammung aufstelle, wenn sie sich des Hauswesens tüchtig annähme, so lautete die Gegenrede aus Josseph's Munde gewöhnlich:
Das hätt 'sie nicht werden müssen. Hätt' der Vater sie nicht beim Geborenwerden schon verflucht, wenn er gewußt hätt ', daß sein Kind einmal Mist auf den Wagen legen, die Küh' melken oder Erdäpfel aus dem Felde ausgraben wird? Red mir nichts von den Bauern, und was ist aus ihr, Gott sei's ewig geklagt, geworden, Gott hat uns und sie gestraft.
Wie wunderbar muß die Wandlung in dem durch zehn Jahre vergrollten Gemüthe Josseph's gewesen sein, als ihm die Mutter Meldung that von der Frucht, die ihre alten Augen unter dem Herzen Madlena's entdeckt hatten! Marjim hatte ihn nicht gefragt, wohin er in der Nacht gegangen war, warum er erst mit dem Morgengrauen wieder zurückgekommen.
Wir aber können jenen nächtlichen Gang verrathen.
Er war an zwei Stunden vor der Wohnung seiner Schwester gestanden.
Als Josseph am frühen Morgen nach dieser denkwürdigen Nacht die den Sabbat über verschlossene „ gemischte Waarenhandlung “wieder öffnete, fand er auf den äußeren Thüren des Gewölbes einige mit Kreide geschriebene Worte in böhmischer Sprache stehen, die zu deutsch lauteten: „ Ahasverus, du verfluchter Jude. “
Der Sinn dieser nur von einer Bauernhand hingezeichneten Schriftzüge war für den Dorfjuden dunkel. Er lächelte darüber und wunderte sich, wie der Schreiber dieser Worte so einfältig sein konnte, den Ahasverus für einen verfluchten Juden anzusehen. Das weiß das kleinste jüdische Kind, murmelte er vor sich hin, daß Ahasverus ein König ist gewesen von hundertundzwanzig Provinzen, wie es in der Geschichte Esther's heißt. Die Königin Esther ist eine Jüdin gewesen, das ist wahr, aber Ahasverus? Der das geschrieben hat, muß in der Thora nicht gut beschlagen sein.
Gleichsam zur Strafe für die Unkenntniß des Schreibers ließ er diese Worte auf der Thür stehen und verlöschte sie nicht, wie er's sonst mit den vielen Kreuzen that, die ihm die Kinder des Dorfes zum Aerger hinzeichneten. Ohnehin las sie kein Mensch, weil die Thüren des Gewölbes den Tag über an die Wand angelehnt waren. Was versteckt war, darum kümmerte er sich nicht, aber bei guter Gelegenheit nahm er sich vor, den Schreiber jener Worte, für die er das ganze Dorf verantwortlich machte, über dessen Unkenntniß der heiligen Schrift aufzuklären.
Noch an demselben Tage sollte ihm selbst ein Aufschluß über seine eigene Unkenntniß werden.
Trotz des Sonntags, an dem die alte Marjim sich sonst auch im Gewölbe zu schaffen machte, weil es da viele „ Kunden “zu bedienen gab, blieb sie heute länger im Bette und schien zu schlafen. Während dem schlich Fischele auf den Zehen in der Stube umher, um die Großmutter nicht zu stören. Plötzlich verrieth ein leises Husten, daß sie aufgewacht sein mußte. Fast unhörbar rief sie den Namen ihres Enkels, der zu ihrem Bette hinflog.
Hast du schon geort (gebetet), Fischele Leben? fragte sie flüsternd.
Ich hab 'nur noch das letzte Stückel zu sagen, sprach Fischele laut.
Um Gott's Willen, red nicht so hoch, rief die alte Marjim, indem sie ängstliche Blicke nach der Thür hinwarf, die in das Gewölbe führte.
Der Knabe sah erstaunt die Großmutter an; er begriff nicht, warum er eine so einfache Frage und die man fast täglich an ihn stellte, nicht laut beantworten sollte.
Sind Leut im Gewölb drin? fragte sie dann leise, es kommt mir vor, als wär 'kein Mensch drin.
Der Knabe mußte auf den Zehen leise zur Thür schleichen und das „ Vorhängl “vor dem Guckfensterchen zurückziehen, durch das man in das Innere des Gewölbes blicken konnte.
Ich seh 'den Vater im Handel mit einem Bauern, der eine Lederhaut kaufen will, lautete die Antwort des spähenden Knaben.
So ist's gut, sagte Marjim und schien durch diese Nachricht von einer drückenden Sorge befreit, denn wenn man mit einem Bauern etwas zu thun hat, wird man mit ihm vor drei, vier Stunden nicht Handel Eins. Ender läßt sich der Bauer todtschlagen, als daß er den Juden einen „ Pehm “an sich verdienen läßt. Der Bauer ist jetzt klüger als der Jüd selbst, er hat jetzt einen Kopf auf sich, wie von Eisen, und läßt sich nicht so leicht mehr aufsitzen. Ich sag's ja immer, es wird zuletzt noch dahin kommen, daß der Jüd wird müssen auf dem Feld ackern und säen, und daß der Bauer wird im Gewölb stehen und wird dem Jüden verkaufen. Leider Gottes! die Welt wird Tag für Tag schlechter ...
Plötzlich stockte der Redefluß dieser dem Knaben nur allzu bekannten Gedanken. Die Großmutter hob den Kopf auf, der sich in diesem Augenblicke so unfähig gezeigt hatte, gerade dasjenige zu tragen, was der Mund aussprechen sollte; sie sah aufs Neue mit ängstlicher Miene nach der Gewölbthür hin.
Guck noch einmal, sagte sie flüsternd, ob der Vater drin ist.
Fischele schlich wieder zum Vorhängel hin und schob es leise zurück. Marjim folgte dem Thun des Knaben zitternd vor innerer Aufregung.
Was siehst du? fragte sie mit fast stockendem Athem.
Ich seh ', daß der Vater noch nicht ist Handel Eins mit dem Bauer, lautete aufs Neue die Antwort des Knaben, der Vater hält noch immer die Lederhaut in der Hand.
Gott Lob und Dank, sagte die Großmutter mit freudigem Antlitze, und es trat eine lange Pause ein, während welcher der Knabe die räthselhafte alte Frau halb neugierig, halb mitleidig anstarrte.
Fischele Leben! rief sie aufs Neue.
Er stand hart an ihrem Bette. Da richtete sich die Alte auf und fuhr ihm mit der Hand über Stirne und Wangen. Eine wunderbare Röthe, fast anzusehen, wie die verschämte Züchtigkeit eines jungen Mädchens, lag auf dem Antlitze der alten Frau. Sie sprach:
Lang 'mir das hervor, was ich da liegen hab' unter meinem untersten Kopfkissen; ich kann nicht mehr recht dazu.
Fischele griff nach dem bezeichneten Orte, und ein ziemlich schweres Päckchen kam in seine Hand; die Großmutter nahm es ihm sogleich ab und bedeckte es, gleichsam um es vor sich selbst zu verbergen, mit beiden Händen.
Und auf dem bist du gelegen, Babe? fragte verwundert der Knabe, die ganze Nacht durch, und das hat dir nicht weh gethan?
Ich sag 'dir, Fischele Leben, nicht gespürt hab' ich's die ganze Nacht, antwortete Marjim, ich bin drauf gelegen, als hätt 'ich noch sechs Kissen unter dem Kopf gehabt.
Aber warum?
Wieder entstand eine lange Weile; die Großmutter hustete verlegen, dann blickte sie wieder ängstlich nach der Thürklinke, ob sich die nicht bewege, ob dort Niemand lausche.
Red 'nicht so hoch, mahnte sie und neigte sich zu seinem Ohr:
Weißt du, was da drin ist?
Ich weiß nicht.
Zucker und Kaffeh ist drin, aber ich muß das vor deinem Vater verstecken.
Zucker und Kaffeh?
Fischele blickte sie zweifelhaft an, als ob der Verstand der alten Frau irregegangen wäre.
Nicht sollte dein Vater wissen, sagte sie kopfnickend, wem ich das schicken will, es druckt mir ja genug das Herz ab, daß ich's ihm nicht sagen darf. Gescheidter, wie ich's gemacht, kann nicht einmal ein ausgelernter Dieb es anfangen, daß dein Vater davon hat nichts gesehen.
Vor Fischele dämmerte es wie ein fernes Licht; mit jener, Kindern, die lange mit alten Leuten umgehen, eigenthümlichen Intelligenz begriff er allmählich, welches Ziel die langen Vorbereitungen und Rüstungen der Großmutter verfolgten.
Babe, flüsterte er schüchtern, soll ich dir sagen, wem du den Zucker und Kaffeh schicken willst?
Marjim zitterte am ganzen Leibe, Schauer, wie die eines nahenden Gottesgerichtes, durchflogen sie; krampfhaft bebten die Hände der alten Frau auf dem kleinen Päckchen, das sie bedeckten.
Nu? sagte sie fast unhörbar.
Fischele zögerte mit der Antwort. Endlich brachte er mühsam hervor: Das willst du schicken der Muhm '— der Muhm' Dinah.
Hab 'ich's errathen? fragte er dann nach einer Weile, da die Großmutter, noch immer mit dem Kopf nickend, keine Antwort zu geben vermochte. Sie aber brach in ein so heftiges Schluchzen aus, daß es Josseph gewiß vernommen hätte, wenn er mit dem Bauer schon Handel Eins geworden wäre.
Als sie der Sprache wieder mächtig wurde, glich sie in der That einem siebenzig Jahre alt gewordenen Kinde, das eben so schnell seine Thränen zu trocknen, als sie zu weinen gelernt hat. Statt des Schmollens lag aber eine eigenthümliche Resignation auf ihrem Antlitze; die Last, die dieses Herz gedrückt hatte, mußte aber auch unaussprechlich gewesen sein. Sie selbst meinte:
Kann Einem, der einen Menschen todtgeschlagen hat, anders zu Muthe sein, wie mir ist? Ich hab 'gehört, so Einer, wenn er das ganze Jahr Alles geläugnet hat, was man ihm vorwirft, soll oft mitten in der Nacht um den Richter schicken, und da schüttet er sein Herz vor ihm aus und sagt ihm Alles, was ihm wie ein Centner drauf gelegen ist. Merkwürdig soll aber sein, wie so Einem dann zu Muth ist; es ist ihm, als hätt' er etwas sehr Gutes und Gottgefälliges gethan, und er weiß doch, daß er sich selber hat geschadet, denn jetzt werden die Büttel kommen, und der Galgen wartet auf ihn.
Babe, rief, erschreckt durch das grauenhafte Gleichniß, das er nur halb verstand, der Knabe, wer hat denn einen Menschen todtgeschlagen?
Wer redet von dem? entgegnete die alte Frau, fast selbst erschrocken. Fischele! einen Menschen todtschlagen, wo fällst du auf dem aus? Hab 'ich von dem gesprochen?
Instinctmäßig begriff der Knabe, um was es sich eigentlich hier handle; er that keine Einsprache mehr; er wußte aus langer Gewohnheit, daß man die Großmutter einen Umweg durch das Gedankengebiet müsse machen lassen, bis sie wieder dahin zurückkehre, woher sie ausgegangen.
Weiß ich denn nicht, Gott, Lebendiger im Himmel! begann sie wieder wehklagend, daß ich eine Sünde begeh ', und hab' ich denn die ganze Nacht ein Aug 'können zumachen, wie mir die Sünd' ist eingefallen? Was soll ich aber thun? Was soll ich anfangen? Hast du sie gestern gesehen, wie sie gekeucht hat unter dem schweren Sack, wie sie nicht hat aufstehen können? Ich bin ja doch die Mamm 'und sollt' kein Mitleid mit ihr haben?
Stillbewegt lauschte Fischele auf die eigenthümlich verworrene Rede der Großmutter, die vielleicht nur er verstand.
Mein alter Kopf soll das unterscheiden können, fuhr sie fort, ob ich da eine Sünde begeh 'oder nicht? Hab' ich Gemahra gelernt, daß ich das wissen soll? Nicht einmal fragen kann ich Einen, und dein eigener Vater, Fischele, möcht 'Feuer und Flamm' werden, könnt 'er nur das kleinste Wörtchen davon erfahren! Sag aber selbst, Fischele Leben, du bist ja auch ein Mensch, soll ich's thun oder soll ich's nicht thun?
Was denn? fragte erstaunt der Knabe.
Diese unschuldige Frage mußte der alten Frau ihr ganzes Bewußtsein zurückgegeben haben; sie mußte mit aller Klarheit, die der gereiften Seele eigen ist, ihre Lage überschauen, sich fühlen aufs Neue als die Großmutter des Kindes, das sie zu ihrem Rathgeber erwählt hatte! Ein namenloser Zug zuckte um ihre dünnen, blassen Lippen; aber mit großer Festigkeit im Tone, wie sie der Knabe aus ihrem Munde noch nie gehört, sprach sie nun:
Da, nimm den Zucker und Kaffeh und trag ihn zu ihr hin. Versteck 'ihn aber gut, daß dich der Vater nicht sieht, denn er möcht' gleich Alles errathen. Sag auch keinem Menschen davon und thu, wie ich dir heißen werde. Sag ihr: die Mamm 'schickt ihr das, und sie soll sich nicht so plagen und abzehren, und sie soll sich lieber schonen, damit ihr nichts Böses geschieht. Du kannst ihr auch sagen, sie soll sich damit etwas Gutes anthun, und wenn sie mehr braucht, will ich ihr wieder schicken. Und sag ihr noch, sie soll ja den schweren Sack nicht mehr auf sich packen; sie könnt' sich etwas zerreißen in ihrem Leib, daß sie auf einmal todt umfällt, wie man das schon oft hat gehört. Und vergiß nicht, daß du ihr sagst, wenn sie noch etwas auf ihre Mamme hält, so soll sie nie barfüßig auf dem Feld stehen, und soll nicht trinken, wenn sie erhitzt vom Feld heimkommt, und sie soll auf sich sehen, daß sie sich nicht verkühlt und, Gott behüt '! krank wird. Denken soll sie auf sich, sag ihr, und daß sie Kinder hat, und daß, wenn sie krank wird, Keiner da ist, der den Kindern auch nur einen Löffel Wasser reicht .... Und jetzt geh, Fischele Leben ....
Die Stimme versagte ihr; erschöpft sank ihr das Haupt auf den Polster zurück, nur die Augen hielt sie weit offen, aber sie glänzten von der leuchtenden Freudigkeit glorreich besiegten Mutterschmerzes. So lag sie eine lange Weile da, anscheinend in einer Art Verzückung, daß sie den Knaben nicht bemerkte, der, das Päckchen in der Hand, unschlüssig dastand und mit dem Fortgehen zögerte.
Babe, rief dieser leise.
Die alte Marjim fuhr auf:
Bist du noch da? fragte sie fast grämlich, ich hab 'gemeint, du bist schon über alle Berge.
Babe, wirst du nicht bös sein, begann Fischele kleinlaut — — ich fürcht 'mich.
Fürchten? gehst du denn mitten unter Räuber, entgegnete Marjim lächelnd, ich mein ', es wird dir Keiner was zu Leid thun.
Babe, begann wieder der Knabe, der kaum die Augen aufzuschlagen sich getraute, Babe, was mach 'ich aber, wenn sie das Kreuz über mich macht?
Diese Einwendung schien auf die alte Frau nicht die gehoffte Wirkung hervorzubringen; ein eigenthümliches Lächeln schwebte um die dünnen Lippen, als Glorie eines wahnbefreiten Gemüthes.
Narrele, sagte sie, weißt du, was dein Urdede immer gesagt hat, wenn mir meine Mutter etwas verwiesen hat, was nicht jüdisch war? „ Narrele, “hat er gesagt, „ nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. “
Wenn sie aber doch das Kreuz über mich macht? entgegnete der unüberzeugte Knabe.
Da will ich dir einen guten Rath geben, Fischele Leben, und der wird dich vor allem Bösen bewahren. Weißt du das erste Kapitel Thillim (Psalmen) auswendig, ich meine wenigstens, du hast's oft genug gelernt.
Babe, das kann ich —
So sag's.
Fischele begann in hebräischer Sprache: Wohl dem, der nicht wandelt im Rath der Gottlosen, noch wandelt auf dem Weg der Sünder, noch sitzet da, wo die Spötter sitzen.
Die Großmutter nickte Beifall und „ weiter! “erscholl es aus ihrem Munde.
Sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn, und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, geräth wohl.
Und was er macht, das geräth wohl, wiederholte Marjim, deren Augen im Wiederscheine jener heiligen, aus dem Munde des Knaben kommenden Worte fast überirdisch glänzten.
Aber so sind die Gottlosen nicht, erhub Fischele lauter seine Stimme, sondern wie Spreu, die der Wind verstreuet. Darum bleiben die Gottlosen nicht im Gericht, noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten — —
Weiter! befahl Marjim, der diese letzten Wone anscheinend sehr wehe thun mußten.
Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah!
Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach.
Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig.
Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter.
Ich geh 'schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus. —
Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen.
So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe.
Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur „ Muhm 'Dinah “begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück.
Im Menschengewühle sind die Wandlungen eben so wunderbar, wie die draußen in der Natur, fast noch unerklärlicher, fast noch eigenthümlicher. Die Wissenschaft faltet es sich aus einander, warum auf heiteren Sonnenschein sich oft schwere Regenwolken wälzen, sie prophezeit die Störungen voraus, die im Laufe des Tages, des Monats und des Jahres eintreten müssen. Hat sie aber euch jemals die Stürme eines verstörten Gemüthes voraussagen können?
Ein sonderbares Gedankenleben wogte um diese Stunde durch Josseph's Seele. Es war schon eine geraume Zeit verstrichen, daß er das Geschäft mit dem Bauer abgethan, und nun ging er, da kein anderer Kunde eben kommen wollte, in dem engen Raume des „ Gewölbes “auf und ab.
Es war nicht Ein Gedanke, der ihn da beschäftigte; wie losgelassene Bienen umschwärmten sie ihn zu Tausenden. Er fühlte, daß etwas an seinem Leben einen kranken Theil haben müsse, er sah es fast mit leiblichen Augen, wie irgend ein Ungemach, dessen Namen er nicht anzugeben wußte, ihm nachschlich wie ein düsteres Gespenst; es beunruhigte diese starke, hassende Natur etwas, das sie wie einen in Holz eingetriebenen Keil nicht auszustoßen vermochte. —
Er mußte an den gestrigen Vorfall mit der Schwester denken und begriff es nun nicht, wie er sich zum „ Nachgeben “habe verleiten lassen; er hatte die Regungen des Mitleides vergessen, die ihn selbst ergriffen hatten, als ihm die Mutter den gesegneten Zustand Madlena's berichtet, jene Regungen des Mitleides, die ihn in finsterer Nacht hinausgetrieben hatten, um an dem Fenster eines Hauses die Athemzüge — einer Schwester zu belauschen.
Er fing an darüber nachzudenken, warum die Mutter selbst jetzt weicher und milder gegen die gefallene Tochter gestimmt sei; er war es sich dunkel bewußt, daß die Gewalt, die er so lange über das Gemüth der alten Frau ausgeübt hatte, von ihm gewichen sein mußte, — oder hatte er sie nie besessen? —
Etwas mußte vorgefallen sein, kam er endlich zum Schlusse, so von mir nichts dir nichts ist das der Mamme nicht angekommen. Das Ganze ist, die Mamme ist wie alle Weiber und hat mit ihr Mitleid gehabt, wie sie es mit Jeder hätte, die in der Hoffnung ist. Etwas Anderes ist's gar nicht gewesen. Und endlich, wenn das Kind, das sie jetzt unter dem Herzen trägt, wirklich wird geboren sein, was ist dann vorgefallen? Wird man sich in meinem Haus darüber freuen? Wird es einen jüdischen Namen bekommen? Wird die Mamme die Hand können legen auf den Kopf des Kindes, um es zu benschen? Hat denn der Gallech (Geistliche) nicht schon seinen Wedel bereit und das Wasser, und hätt 'ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm ', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen.
Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr!
Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast.
War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld daran trug, daß sie jetzt wimmernd und ächzend zu Hause lag, hatte er ihr nicht in demselben Augenblicke geflucht? — —
Es befiel diesen starken Menschen eine ungeheure Seelenangst, er hätte um Hülfe schreien mögen, um sich von ihr zu befreien. In der That wollte er anfangs um Fischele rufen; er fürchtete sich fast vor sich selbst. Weßwegen er den Knaben sehen wollte, das wußte er selbst nicht; aber eine gewaltige Sehnsucht nach dem Schauen eines Menschenantlitzes hatte ihn ergriffen.
In diesem Augenblicke war es sich Josseph bewußt worden, welches Unrecht er gestern an der Schwester begangen; er fühlte, wie es mit tausend spitzigen Stacheln in sein eigenes Fleisch gefahren war.
Seine Brust hob sich aber, wie befreit von einer schwarzen That, als er Madlena langsam, aber doch aufrechten Ganges eine Weile später auf die Kirche zukommen sah. Zum ersten Mal seit zehn Jahren, daß sie ihm nicht angethan mit den Schrecknissen der Gehennims erschien, daß er ohne Fluch und Zorn sie unter dem Geläute der schrecklichen Glocke in das Gotteshaus eintreten sah! Zum ersten Male seit einer so langen Zeit, daß ihn Madlena's Anblick mit einer Art Freude überkam!
Sie war also nicht krank! Sie hatte sich also nicht überhoben!
Müde von innerer Erschütterung mußte er sich auf eine Bank niederlassen.
Wer weiß, sprach es in ihm, ob sie gar so schlecht ist; man meint oft nur, man hat einen schlechten Menschen vor sich, und wenn man ihn in einer rechten Stunde antrifft, so sieht man erst, wie man sich betrogen hat. Und woher sollt 'denn das Schlechte ihr auch kommen? Hat sie keine jüdische Ader in sich? Hat ihr Vater nicht Reb Schmul geheißen? Ich möcht' nur das Eine gerne wissen, ob sie in den zehn Jahren, die sie fort ist aus dem Haus, einmal zu Gott gebetet hat. Ich kann mir das nicht denken; jüdisch kann sie und darf sie ja nicht beten, also muß sie's böhmisch thun. — Gott, Lebendiger! und welcher Mensch könnt 'mir einreden, daß sie dort in der Kirche mit den Bauern und vor dem Johann von Nepomuk auf der Brücke, oder vor der heiligen Maria so mit ganzer Seele, mit Leib und Leben sich ausbeten kann und ihr beschwertes gedrückt' Herz ausschütten? — Dinah, Rebb Schmul's Tochter! Wenn sie also nicht beten kann, wie sie will, was muß da herauskommen? Was wird aus einem blanken Stück Silber, was ich in der Erd 'vergrab'? Es kömmt der Rost darüber und verzehrt's fast. Und Madlena sollt 'den Rost nicht schon auf ihrer Seele haben? Der Wein wird dumpf, wenn man den Keller nicht lüftet, und das schönste Kleid zerfällt, wenn man's nicht anzieht — — und Madlena sollt' gut geblieben sein? Schlecht, grundschlecht und verfault wie ein wurmiger Apfel muß die sein, die zehn Jahre schon fort ist aus einem jüdischen Haus, und wie einen wurmigen Apfel muß man sie auch weit weg von sich schleudern. Eine Sünd 'lad ich mir auf den Kopf, wenn ich weiter an sie denk'; sie muß mir heraus da aus dem Herzen; ich seh ', es ist noch zu viel von ihr darin. Heraus muß sie, heraus! —
Die letzten Gedanken hatten eine finstere Wandlung in seinem anfangs so mild gestimmten Herzen hervorgebracht; wieder lag es wie ein düsterer Wolkenflor über seiner Seele. Mit geballten Fäusten, die den inneren Sturm kundthaten, Schweiß auf der Stirne, unter der es heftig arbeitete, saß er da.
Ein Geräusch, das vor dem Gewölbe entstand, weckte ihn aus seinen nächtigen Gedanken auf. Er blickte auf und bemerkte zwei Knaben, die einen flüchtigen Blick in das Gewölbe warfen und dann eben so schnell über die Gasse liefen. Er hörte noch, wie sie die Worte riefen: Ahasverus, du verfluchter Jud. Dann waren sie entschwunden.
Waren das nicht die nämlichen Worte, die er heute früh mit Kreide auf der Gewölbthüre geschrieben gefunden hatte? Sie erschreckten ihn auf eine wunderbare Weise.
Welcher Zusammenhang bestand hier zwischen dem Gesprochenen und dem Geschriebenen?
Josseph wollte auf und den Knaben nach, als er sich zur Zeit erinnerte, daß er einer an und für sich lächerlichen Sache dadurch einen Anstrich von Bedeutsamkeit verleihen würde. Dennoch war er über den zweimal an einem Tage sich wiederholenden Vorfall sehr verlegen; er legte ihm eine Wechselwirkung unter, von der er nur nicht wußte, wo er ihre lenkenden Kräfte suchen sollte.
Kamen sie von Madlena?
Er hatte diesen Gedanken gleich erfaßt. Oder hatte sie ein Anderer aus dem Dorfe ersonnen, um ihm einen Schimpf anzuthun? Er lebte ja sonst mit den Leuten in Frieden und Einigkeit; er drückte Niemanden, und wenn auch keine Freunde, so glaubte er wenigstens keinen Feind im Dorfe zu besitzen. Je mehr er darüber nachdachte, desto unerklärlicher waren ihm jene von den Knaben zugerufenen Worte: er sah darin nicht mehr biblische Unkenntniß, er legte ihnen die verworrensten Erklärungen unter, die aber nicht im Entferntesten dazu paßten!
Zuletzt wunderte er sich über sich selbst, warum er die Sache nicht los werden konnte.
Als Josseph so in Gedanken über die eigenthümliche Lage dastand, in die ihn drei Worte gestürzt hatten, wurde er durch einen rauhen Morgengruß, der über die Gasse herüberschallte, aufgeweckt. Dieser Gruß lautete nicht wie der gewöhnliche aus dem Lande: Gebe Gott einen guten Morgen; was Josseph vernahm, waren die Worte: Gott gebe dir Freiheit und Ruhe von allen Teufeln.
An dieser sonderbaren Sprechweise erkannte Josseph eine Person aus dem Dorfe, die ihm in diesem Augen - blicke wie vom Himmel zugeschickt dünkte. Es war der Bauer Stepan Parzik aus dem Dorfe. — —
So sind die Menschen! In jedem andern Augenblicke hätte Josseph Anstand genommen, sich mit einem „ Bauer “, der nicht im besten Rufe stand, so vor dem ganzen Dorfe „ herzustellen “, jetzt überwog der Gedanke, bei ihm sich Rath erholen zu können, jedes Bedenken, er ging ihm sogar die Hälfte Weges entgegen und reichte ihm die Hand, die er sonst früher in einen stechenden Dornbusch lieber, als in die Rechte des Bauers Stepan Parzik gelegt hätte.
Parzik war im Dorfe als ein wilder, händelsüchtiger Mensch bekannt, wie wohl sich ihm eigentlich Böses nicht nachsagen ließ. Er war im Dorfe mehr gefürchtet als gehaßt, und eine dunkle Sage erzählte von dem beinahe sechzigjährigen Manne, er habe in seiner Jugend vierzehn Schulen studirt und hätte in dem bischöflichen Seminar in Königgrätz Geistlicher werden sollen. Wie es aber gekommen war, daß Parzik wieder Bauer geworden und in das weltliche Leben zurückgekehrt war, das wußte Niemand mit schlagenden Gründen anzugeben. Die ganze Erscheinung des vierschrötigen, breiten Mannes mit seinen weitspurigen Schritten, der rauhen Sprache, dem slavischen Typus in den stark heraustretenden Zügen seines Antlitzes erinnerte sehr wenig an den einstigen Beruf seiner Jugend; er war ganz böhmischer Bauer geworden, nur schien er eine gewisse Unabhängigkeit in „ geistlichen “Sachen, als Erbtheil ehemaliger Studien, gerettet zu haben. Er lag Jahr aus Jahr ein mit dem Pfarrer im Streit; so oft der Zehent abzuliefern kam, konnte man gewiß sein, daß in des Bauern Hause der Geist des offenen Aufruhrs nur durch die Diener der Gewalt gebändigt werden konnte.
Im Dorfe kannte man diese wilde Natur nur unter dem Namen der „ Dechant “! man hatte ihm, der sich der geistlichen Gewalt gegenüber als gleichbedeutende, immer rege Macht betrug, mit richtigem Verständniß die Stola über den Bauernkittel geworfen.
Seit dem März des Jahres 1848 war dieser Bauer noch wilder, noch unbändiger geworden. Man fand eines Tages eine brennende Schwefellunte auf der Schwelle der Pfarrei, und kein Mensch im Dorfe zweifelte, daß sie von dem „ Dechant “dorthin gelegt war.
Er war der Erste, der die Flinte ergriff und das Wild der Herrschaft in dem Walde niederschoß, der Erste nach jenen Tagen, der vor dem Oberamtmann mit bedecktem Haupte stehen blieb, der dem Geistlichen noch vor dem Robbotgesetz Zehent und Robbot verweigerte, der in einer Nacht die Sturmglocke läutete und die Bauern zusammenrief, um ihnen das „ Neueste “vom Wiener Reichstage vorzulesen. Es war die Robbotfreiung, die in jener Nacht Hunderte von Menschenherzen wie mit Peitschenhieben aufjagte, daß sie auf - jauchzten und aufbrüllten, halb Fluch, halb Segen, Haß und Jubel, Gift und Freude vor sich ausgießend.
Man konnte nicht sagen, daß Stepan Parzik irgend einen Anhang im Dorfe hatte, er war eine jener Lebensgestalten, wie wir sie in der Gesellschaft allein und unbegriffen stehend finden, wie sie auch das Dorf erzeugt. Es war ihm Keiner wild und aufrührerisch genug, und darum zeigte er ihnen Verachtung, wo er nur konnte.
Zu dem Judenhause stand er in einem eigenthümlichen Verhältnisse; seine Tochter war nach dem Abfalle Madlena's als zehnjähriges Kind ins Haus gekommen und diente dort als Magd; sie war bei den Juden gleichsam erzogen worden. Mit zärtlicher Liebe hing das Mädchen an ihrem Dienstherrn, und war nie zu bewegen gewesen, in ihres Vaters Haus zurückzukehren. Seinerseits betrachtete Stepan dieses Mädchen als eine Abgefallene und nannte sie eine „ Jüdin “; aber er hatte sich mehr als einmal geäußert, es sei ihm im Grunde das gleichgültig, und wenn sie gleich als Jüdin geboren worden, so wäre ihm das noch lieber, denn die Juden hätten's gut, müßten an ihre Pfaffen keinen Zehent zahlen, brauchten nicht zur Beichte zu gehen und hätten das ganze Geld der Erde.
Wer eine Natur, wie die Josseph's, begreift, wird den Schluß leicht finden, warum ihm Stepan Parzik mit seiner Freigeisterei ein innerlicher Abscheu war, warum es ihn graute, wenn diese wilde, ungeschlachte Natur, dieser „ Rebell gegen Gott und Menschen “, wie er ihn nannte, in seine Stube trat. Zwischen ihm und dem Bauer lag ein unergründlich tiefer See, der sie meilenweit aus einander hielt und jedes innigere Herannahen verhinderte. — —
Wir treffen diese beiden Männer heute unter ganz anderen Umständen. Josseph mußte sonst eine Art Grauen überwältigen, so oft sich ihm dieser wilde Bauer nahte, heute trat er ihm gleichsam furchtlos entgegen, als hätte er ein Mittel zur Hand, diese unbändige Natur zu zähmen. Auf den Gruß Stepan's: Gott gebe dir Freiheit und Ruhe vor allen Teufeln! rief er lächelnd über die Gasse hinüber: Stepan! ich weiß nichts von deinen Teufeln.
Josseph wußte es aus alter Erfahrung, daß der Bauer einem Eingehen in seine „ politischen “Ansichten, wie er es nannte, nie aus dem Wege ging; sonst wäre dem Gruße Stepan's ein stilles Kopfnicken gefolgt, heute war es dem Juden darum zu thun, daß der „ Dechant “Stand hielt.
Josseph täuschte sich nicht. Stepan kam langsam und weit ausschreitend auf das Gewölbe zu. Im Näherkommen konnte Josseph sich nicht enthalten, das „ merkwürdige “Gesicht des Bauern zu bewundern; es lag ein trotzig starker Ernst darauf; zum ersten Male in seinem Leben wurde es ihm klar, daß auf dem Antlitze Stepan Parzik's ein Strahl höherer Intelligenz leuchtete, als sonst auf den Gesichtern der anderen Dorfbewohner zu sehen war.
Du weißt nicht, wer meine Teufel sind? begann der „ Dechant “, der auf der Schwelle des Gewölbes stehen geblieben war. Lebst schon so lange im Dorfe und weißt nicht, wer meine Teufel sind?
Man vergißt viel auf der Welt, entgegnete Josseph mit schlauem Lächeln.
Die Geistlichen sind's, rief der Bauer mit so gewaltiger Stimme, daß Josseph meinte, der Pfarrer müßte diese Worte auf seiner Kanzel gehört haben; die Pfaffen sind von jeher die Teufel der Welt gewesen. Wie ich neunzehn Jahre alt war, hätt 'ich auch ein solcher, wie soll ich sagen? meinetwegen: Geistlicher werden sollen, aber ich hab' mir die Sache überlegt.
Hör an, Parzik, sagte Josseph, du meinst, du kannst mir ein Kalb für einen Ochsen verkaufen? Du wirst dir doch nicht einreden, daß du, wie Einer von deinen Heiligen, gerade aus, mit ausgespannten Flügeln in den Himmel hineinfliegen kannst? Das laß dir ja nicht einfallen.
Stepan schien diesen Witz mit Wohlgefallen aufzunehmen; er schmeichelte seiner Kraft und Selbstständigkeit.
Nein, Bruder, sagte er, ein Engel bin ich nicht, Flügel hab 'ich auch nicht, um damit in den Himmel zu fliegen, aber zwei Hände hab' ich, und mit diesen werde ich mich herumschlagen, so lang ich lebe. Könnte so eine Hand zwei von ihnen auf einen Schlag niederwerfen, ich möcht 'meine eigene Hand in der Kirche aufhängen und wie vor einem Heiligenbild davor knieen.
Geistliche muß es geben, entgegnete Josseph ernst, es kann sich nicht der Erste Beste auf die Kanzel hinaufstellen und den Leuten erklären, wie sie's machen sollen. Es kann auch nicht Jeder Lateinisch und Griechisch lernen, dazu müssen sich besondere Leut 'finden. Geht's bei uns anders zu? Auf zehntausend Menschen kommt oft Einer, der in unserer heiligen Schrift sich auskennt.
Red mir nichts von deiner heiligen Schrift, schrie Parzik zornig, ich meine sonst, du bist gar kein Jud, und bist bei unseren Pfaffen in die Beichte gegangen. So reden nämlich die Geistlichen immer, wenn sie beweisen wollen, daß das Volk dumm ist. Als wenn die heiligen Schriften da wären, damit die Geistlichen davon leben, das beste Bier trinken und alle Tage Hasenbraten auf dem Tisch haben. Unser Herr und Heiland sitzt etwa darum zur Rechten Gott Vaters und die heilige Taube schwebt über ihm, damit der Geistliche in Gold und Silber geht, daß seine Haushälterin wie eine Königin das Mark der Bauern in die Küche hinausträgt? Es braucht keine Pfaffen zu geben, und du möchtest ganz anders reden, wenn dir eure Teufel Ruh 'gelassen hätten.
Meine Teufel? Ich weiß von keinen Teufeln, sagte Josseph unruhig, denn das Gespräch mit dem wilden Bauer überkam ihn mit dem gewohnten Grauen. —
Du weißt nicht, wer deine Teufel sind? rief Parzik mit lautem Gelächter.
Nein.
So will ich dir's sagen. Die Herren Rabbiner mit den langen Bärten, das sind deine Teufel, und von dem, was ich jetzt gesagt, zwacken mir zehntausend Pfaffen nicht einen Bissen ab.
Josseph versuchte zu diesen Worten zu lächeln. Wie jedem gläubigen Gemüthe war ihm wohl die Kraft nach innen, aber keine nach außen gegeben, um sich im Kampfe gegen Spott und Unglauben aufrecht zu erhalten.
Wie kommen unsere Rabbiner zu euren Geistlichen? fragte er und lächelte dabei, so siegesbewußt!
Alles Eins, Alles Eins! schrie der Bauer heftig. Wenn du mir einen Pfaffen zeigst in der ganzen Welt, du kannst auf und ab wandern, bis du einen finden wirst, wenn du mir einen Pfaffen zeigst, der nicht eben so gut Rabbiner bei den Juden sein könnte, so lass 'ich mich auch von der Brücke hinunterwerfen in die Moldau, und die Menschen machen mich vielleicht dann auch zum Heiligen. Jetzt halten sie mich ohnedies für einen Teufel. Wer weiß, wie man's anfangen muß, damit die Menschen einen nach dem Tode für einen Engel und Heiligen halten. Der dort auf der Brücke hat auch in einer Kutte gesteckt, und hat's auch verstanden!
Mit jedem Worte, das bleiern und schwer wie ein Knüttel aus dem Munde des Bauern drang, stieg Josseph's inneres Grauen vor ihm. Er stand hier einem Menschen gegenüber, den er in seinem eigenen Fleische wühlen sah, und er vermochte es doch nicht, ihm das scharfe Messer zu entreißen. Er sagte bloß: Wenn man gut und rechtschaffen ist, hat einen Gott im Himmel und die Menschen auf der Erde gern.
Parzik schlug ein lautes Gelächter auf.
Laß das gut sein, Bruder, sagte er vertraulich, und legte dabei die starke Hand auf die Schulter Josseph's, laß das gut sein, Bruder; wenn die Pfaffen nicht wollen, wird doch kein Mensch heilig gesprochen, und wenn er sich noch so gut mit Gott und seinen Engeln stellt. Sie leiden's nicht.
Als läge eine giftige Raupe auf ihm, schüttelte Josseph die Hand des Bauern von sich herunter und trat von ihm weg. Es sollte ein Raum zwischen ihm und dem Bauer sein, der, so klein und eng er war, in diesem Augenblicke mehr als eine Welt betrug.
Bist noch immer der Alte, meinte er, indem er Parzik ruhig ansah.
Und werd 'es auch bleiben bis an mein selig Ende, entgegnete der Bauer lachend, wenn überhaupt der Pfaff mir ein selig Ende gönnen wird. Will er einmal das Sterbeglöckchen nicht läuten lassen, so weiß ich, wie man's machen soll. Man fragt nicht lange, und macht sich auch ohne diese Dummheiten auf den langen Weg. Es ist doch so Alles Eins.
Josseph sprach kein Wort; es that ihm in innerster Seele weh, die gewaltsame Natur des „ Dechanten “über seine Schwelle geladen zu haben; es war ihm in diesem Momente, als ginge der Hauch einer zerstörenden und zerfressenden Kraft an seinem Leben vorüber, als hörte er über und unter sich Messer schleifen, die die unsichtbarsten Punkte seines Daseins mit scharfer Schneide trafen. Innerlich fühlte er sich von einer großen Last befreit, als Parzik Anstalten zum Fortgehen machte.
Erst als der Bauer sich entfernt hatte und seine breitspurigen Schritte über die Schwelle hinausgetragen, fiel es Josseph ein, daß er über dem Gespräch mit ihm den eigentlichen Zweck, warum er den „ Dechant “gerufen, ganz vergessen hatte.
Fast unbewußt, ob er dem Bauer wirklich nachgerufen habe, entrang sich ihm ein Laut, den die Angst und sein Seelenleiden erzeugt haben mochten. Als Parzik sich wieder umwandte und langsam auf das Haus zuging, war es Josseph, als müßte er vor Scham vergehen; er fühlte sich gedemüthigt, daß er bei einem Bauer sich Raths erholen mußte.
Mit einer hastigen Geberde riß er die angelehnte Gewölbthür auf und fragte bebend, als gälte es die Lösung eines Lebensräthsels: Lies das da und sag mir dann, wie ich's verstehen soll?
Parzik las, dann spie er giftig aus, pfiff gellend, daß es schauervoll durch Josseph's Seele drang.
Da hast du's, sagte er, da hast du's. Kein Kaiser kann schneller bedient werden, wie du, und bist doch ein Jude. Kaum hast du gefragt, und jetzt antwortet man dir schon.
Josseph sah ihn verblüfft an.
Parzik schien mit seinen Augen die Thür, darauf die verhängnißvollen Worte standen, gleichsam durchbohren zu wollen; ein unheimliches Feuer ergoß sich daraus über sein ganzes Wesen, und wie er so dastand neben dem zagenden, ungewissen Dorfjuden, kam er diesem größer, fast über sich selbst hinausgehoben vor.
Fangt ihr wieder an? redete der Bauer, der Minuten lang seine Blicke von den Schriftzügen nicht abwandte, als hätte er eine Figur aus Fleisch und Blut vor sich, gegen die er die Faust ballen konnte. Fangt ihr schon wieder an? Kein Wunder wär's; sie machen ihnen den guten Hafer so wohlfeil, daß die Pferde nicht mehr wissen, sollen sie sich an den Wagen spannen lassen oder ins freie Feld hinauslaufen? Aber wart 'nur, du übermüthiger Gaul! Kommt wieder einmal so ein Herr, wie der vor siebenzig Jahren, über dich, so sperrt er dich wieder in den Stall. Ich sag's ja immer, sie lassen den Hafer zu hoch wachsen und geben ihnen nicht Stroh genug zu essen.
Ich versteh 'nicht ein Wort von dem, was du da sprichst, sagte Josseph, den das unheimliche Treiben des Bauern immer mehr entsetzte.
Parzik erwachte aus seiner wilden Verzückung. Willst du wissen, Jude, sprach er ohne Bitterkeit, fast als ob die Richtigkeit seines Ausspruches über allem Zweifel erhaben stünde, willst du wissen, wer das auf die Gewölbthür hat schreiben lassen?
Josseph nickte ein ängstliches Ja.
Der da drüben, sagte der Bauer, indem er ruhig mit dem Zeigefinger auf die Pfarrei hinwies.
Der Pfarrer? lallte Josseph, zum Tod erblassend.
Parzik hatte sich nach diesem Ausschluß eiligst entfernt; noch lange nachher starrten die Augen Josseph's nach den Fenstern der Pfarrwohnung hin.
Also dort lebte der Feind?
Seltsame Erscheinung! Daß man sich vor dem Zorne der beleidigten Kirche mehr fürchtet, als vor dem drohend aufgehobenen Finger der Staatsgewalt! Ein dunkles Gefühl, dem Josseph nur keinen Ausdruck zu geben wußte, sagte ihm, daß der Rächer eines gekränkten Gottes unsichtbar, aber desto sicherer treffend das Geschoß der Vergeltung auf ihn gerichtet habe. Der Pfarrer mußte sich an ihm rächen, meinte er, seine Religion habe ihn ja dazu bestellt, daß er die Feindseligkeiten vergelte, die Andersglaubende gegen sie ersinnen!
O heiliger Traum der Menschheit! Gedanke, der du leuchtend aus den sterbenden Augen der größten Männer drangst! Die Einen glauben dich bereits verwirklicht, wenn sie dich den allein selig machenden Gedanken nennen, der in dem Manne zu Rom seinen körperlichen Ausdruck bereits gefunden; die Anderen knüpfen die weichsten Fäden ihres Denkens an die Erscheinung eines Messias, der, um sie innerlich und äußerlich zu befreien, kommen soll, wenn es Zeit ist, daß die Menschen in einen Kreis treten, und auf Millionen Zungen nur eine Sprache lebe!
Heiliger Traum der Menschenverständigung! Ist dieses Auseinanderdrängen der Gesellschaft nach den verschiedensten Richtungen, dieses planlose Aufgeben früher betretener Wege, dieses Schwanken und Beugen, als hätte der Weltgeist seine Lust daran, das Schiff der Menschheit auf sturmbewegter See fast umkommen zu lassen, ist das Alles nur der verhüllte Ausdruck deiner unsichtbar nahenden Verwirklichung?
Wenn sich Vater und Sohn, Bruder und Bruder gegenüber stehen, auf Jedes Lippen ein anderer Wahlspruch, jeden Augenblick bereit, um des Gottes und des Wahlspruchs willen sich den Dolch in die Brust zu stoßen: schwebt über diesen wilden Gewässern immer höher schwellender Fluten der Geist des Friedens und der Erlösung?
Aus Millionen wählt euch diesen einzigen Dorfjuden heraus und stellet ihn von Angesicht zu Angesicht dem ewigen Traume von Menschenverständigung gegenüber. Er hat ein schweres Unrecht an seinem eigenen Blute begangen — welche finstere Mächte weben ihre geheimnißvollen Ringe um sein Haupt, daß er zum Erkennen seiner Schuld nicht gelangt?
Er fürchtet die beleidigte Kirche mehr, als die Thränen seiner Mutter, als den Zorn seines eigenen Gewissens. — O unbegreifliches Walten der Menschennatur!
Josseph war der lebendigsten Ueberzeugung, kein Anderer als Madlena selbst könne ihn beim Pfarrer verklagt haben; wer könne und würde sich ihrer angenommen haben, als der Pfarrer selbst, der ihr seinen Schutz geben mußte!
Wie wenige Menschen hätten in einer ähnlichen Lage anders gedacht! —
Es traf sich an diesem Tage gut, daß Josseph den Sterbetag seines Vaters mit Fasten beging, er brauchte darum keinem Menschen unter die Augen zu treten, am allerwenigsten seiner Mutter; er konnte so ungestört sich dem peinlichen Gedankenleben hingeben, das sich an diesem Tage über sein ganzes Leben wie ein dichter Nebel gelagert hatte.
Treten wir wieder zur Großmutter ein.
Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde.
Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte.
Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt.
Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht — —
Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor - gebracht hatte. Red hecher und thu mir nichts verschweigen. Meinst du denn, ich fürcht 'mich vor deinem Vater?
Fischele blickte die Großmutter verwundert an; wie war sie während einer Stunde so ganz anders worden! Was mußte in der Seele dieses alten Weibes vorgegangen sein, daß es jetzt kühn und herausfordernd sich einer Gefahr entgegenstellte, die es vor kurzer Zeit, wie ein Kind die strafenden Augen seines Lehrers, gefürchtet hatte?
Fischele besaß Verständniß genug, daß er trotz der veränderten Stimmung seiner Großmutter keinen Augenblick daran vergaß, daß der Vater nur durch eine dünne Wand von ihnen getrennt sei.
Er wiederholte darum eben so leise seine ersten Worte: Babe, sie hat's nicht über mich gemacht —
Was hat sie nicht gemacht? fragte die alte Frau.
Weißt du denn nicht, daß ich mich hab 'gefürcht'? — das was die Bauern machen, mein 'ich, wenn Abends die Glocke läutet, oder wenn sie an der Kirche vorübergehen?
Das Kreuz, willst du sagen.
Babe, rief der Knabe erschrocken.
Narrele, sagte diese lächelnd, wie ich klein war, wie du, da bin ich auch so erschrocken, wie du, und hab 'gezittert am ganzen Leib, wenn man das Wort hat vor mir ausgesprochen. Ich weiß noch jetzt nicht, ob ich recht handle, wenn ich's in meinen Mund thu' nehmen, aber ich ermahn 'mich immer, was mein Urdede gesagt hat, wenn so etwas ist vorgefallen: Narrele, hat er gesagt, nicht sollst du wissen, was man Alles thun darf. Und mein Urdede war doch ein gewaltig großer und gelehrter Mann! Und willst du noch etwas wissen, Fischele Leben? Es ist mir schon manchmal eingefallen, daß es gar keine Sünd' sein muß, wenn man keinen Haß hat gegen das, was tausend Menschen vor unseren Augen thun. Ich hab 'mir schon oft gedacht: Millionen und Millionen von Menschen gehen, Gott weiß schon, wie viel Jahr auf der Welt herum, der Eine macht so, der Andere so, und meint, er hat's damit gut gemacht, und Gott sieht das Tausende und Tausende von Jahren schon zu und läßt alle die Menschen wachsen und gedeihen. Hab' ich's denn geschrieben und mit rothem Triefwachs versiegelt und einen Stempel darauf, daß ich Gott damit einen Gefallen mache, wenn ich mich jachte (ärgere) über das, was Millionen und Milliassen von Menschen eine Freud 'macht? Vielleicht hab' ich nicht Recht, und weil ich das nicht weiß, soll ich aus mir machen eine Maschin ', die man hinschiebt und herschiebt und in der keine Seele ist?
Red nicht so hoch, Babe, mahnte jetzt selbst der Knabe, an dem die Rede der Großmutter wie ein unsichtbarer Strom mit geheimnißvollem Rauschen vorüberging.
Der ganzen Welt könnt 'ich's jetzt sagen, wie mir ums Herz herum ist, sagte die alte Frau mit starker Stimme, vor wem sollt' sich denn Marjim auch fürchten? Meinst du, und wenn heut 'der Mallech Hamoves (Todesengel) kommt und sagt mir: Marjim, du mußt mit, es ist Zeit, meinst du, ich werd' nur mit den Augenwimpern zucken? Ich hab 'lang genug gelebt — und ausgestanden hab' ich, daß Gott ein ganz Buch damit voll haben muß.
Durch die eigenthümlichen Reden der Großmutter, die er noch nie mit solcher Klarheit und Ordnung sich hatte ausdrücken hören, war Fischele ganz verwirrt worden; er war es früher gewohnt, den Gedankengang der alten Frau wie die Zeiger einer Uhr zu richten, jetzt war er selbst ein willenloses Werkzeug; das Kind fühlte es, wie eine höhere Intelligenz ihm hier gegenüberstand, und beugte sich schüchtern davor.
Aber, Babe, willst du denn nicht, daß ich thu 'erzählen, was ich ausgericht' hab '? wagte er endlich vorzubringen.
Schmah Jisroel, schrie Marjim auf und griff mit ihrer Hand nach der des Enkels und schaute ihm mit allen Anzeichen tiefster Seelenangst in das Antlitz, ist dir, Gott sei davor, nichts geschehen? Hat man den Hund nicht auf dich gehetzt? Hat er dich gebissen und wo? Und die Hack 'hat sie nicht aufgehoben gegen dich, und hat dich damit erschlagen wollen? Mein Kind, mein Kind Leben, wo hab' ich dich hingeschickt, und wie kommst du nur lebendig noch daheim? — —
Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing.
Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh 'lebendig vor dir da.
Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten.
Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter.
Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der „ Muhm 'Dinah “gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm einfallen.
Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende.
Merkwürdig, sprach sie vor sich hin.
In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen, damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte, die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen.
Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum Schutze des Kindes zurückgelassen worden.
Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen, hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu beruhigen gewesen, vielleicht darum, meinte der Knabe, weil „ wer Fremder “in der Stube sich befunden; denn er habe immer gehört, daß das die Kinder sehr gut wissen.
Ein Fremder! that Marjim einen Ausruf, aber so leise, daß der schmerzliche Ausdruck dem Knaben entging.
Zuletzt, berichtete er weiter, sei ihm das Weinen des Kindes schon zu schwer aufs Herz gefallen; das ältere Mädchen habe für sich schon keinen Rath gewußt und wollte schon in die Kirche laufen, um die Mutter zu rufen. Da sei er selbst zur Wiege gegangen und habe das Kind gewiegt, das allmählich stiller und stiller geworden sei. So seien sie Beide, er und das Mädchen, sich gegenüber gesessen und hätten das Kind gewiegt und gewiegt, aber auch nicht ein „ Brösele “mit einander gesprochen. — —
Um das Kind nicht zu wecken? fragte die alte Frau.
Um das Kind nicht aufzuwecken! wiederholte schnell der Knabe, dessen Antlitz bei diesen Worten eine unerklärliche Röthe überflog.
Weiter! verlangte Marjim.
Weiteres wußte Fischele eigentlich nur stockend anzugeben. Sie hätten das Kind so fortgewiegt; da plötzlich, er wisse noch jetzt nicht, wie das gekommen, sei die Muhm 'vor ihm gestanden. Wie er da erschrocken sei! Er habe auf und davon wollen, habe durchbrechen wollen, wie durch ein Haus, das von allen Seiten bereits brennt, aber es sei ihm nicht gelungen. Den ersten Psalm habe er sagen wollen, aber auch nicht das kleinste Wörtchen sei ihm eingefallen. Gewesen sei es ihm in diesem Augenblicke, als hätte er in seinem Leben kein jüdisch Wort gelernt gehabt, als wisse er gar nicht, wo Gott wohnt! Ob das vom Schrecken herrühre, oder was es sonst gewesen wäre? Merkwürdig sei ihm bei dem Allen die Aehnlichkeit aufgefallen, die die Muhm' mit seinem Vater habe; wer sie nur ein Mal angesehen, der könne gar nicht zweifeln, daß sie seine Schwester sei!
Und gesagt was hat sie? Das möcht 'ich wissen! rief die alte Frau fast heftig.
Sie habe ihn bei der Hand gefaßt und fest gehalten. Mit Augen habe sie ihn angesehen, die voller Thränen standen. Fischele, hätte sie zu ihm auf Böhmisch gesagt, warum willst du schon fort?
Auf Böhmisch! nicht auf Jüdisch? schaltete die Großmutter ein. Gewiß wegen der Kinder! setzte sie sogleich hinzu. Zum ersten Male in seinem Leben, fuhr der Knabe fort, ohne die Einwendung der alten Marjim zu beachten, habe er die Stimme seiner Muhme gehört, habe er mit ihr gesprochen; er wisse zwar nicht mehr, was sie alles gesagt, aber es sei ihm vorgekommen, als ob er schon öfters mit ihr sich unterhalten, es sei ihm Alles so bekannt und gar nicht fremd gewesen. Hundert Jahre, wenn sie schon im Hause gewesen, wären ihm nicht so vergangen, als dieser einzige Augenblick, wo er mit ihr zum ersten Male in seinem ganzen Leben gesprochen.
Und?
Was?
Hast du ihr's gegeben?
Er habe darauf ganz vergessen gehabt, so viel hätte ihn die Muhm 'Dinah ausgefragt: was die Babe mache? ob sie ihre gute Abwartung habe? ob sie in der Nacht gut schlafe und nicht vom Husten geplagt werde? ob er, Fischele nämlich, ihr in Allem folge, kein Leidwesen ihr anthue, sie nicht jachte (ärgere)? Alle diese Fragen hätte er ihr umständlich beantworten müssen, ein Wort hätte das andere gegeben, und ehe eine Viertelstunde vergangen, wären sie so bekannt mit einander gewesen, als hätten sie ihr Lebtag es nicht anders gekonnt; alle Furcht wäre von ihm gewichen, und jetzt hätte er, selbst wenn der erste Psalm ihm wieder eingefallen, ihn nicht mehr gesprochen, selbst nicht vor dem hölzernen, rauchangeschwärzten Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube hinge, und vor dem er sich anfangs so gefürchtet habe — —
Alles erzählst du, unterbrach ihn hier die Großmutter, nur nicht —
Was er ihr weiter erzählen solle? entgegnete hierauf Fischele mit einem Anfluge von Aergerlichkeit, ob die Babe nicht genug habe an dem bereits Berichteten? ob er ihr erzählen solle, wie die Muhm 'Dinah ge - gangen und gestanden sei? was sie für ein Kleid angehabt?
Unverständiger Knabe! Du hattest das Unglück gehabt, deine Mutter in den ersten Tagen deiner Kindheit zu verlieren; du kanntest sie nicht, sonst hättest du nicht so harte Reden gebraucht!
Thränen drängten sich zu den Augen der alten Frau hervor, sie fielen wie zischende Tropfen auf das sonst fühlende Herz des Knaben. Er ahnte fast, welch schweres Unrecht er begangen.
Babe, rief er flehend, ich hab 'dir ja Alles erzählen wollen.
Weiter! gebot sie mit plötzlich ruhigem Tone.
Er habe sich also besonnen, daß er das Geschenk der Großmutter an die Muhm 'Dinah abzugeben habe. Schüchtern habe er es aus der Tasche gezogen und ihr überreicht, und dabei gesagt: das schicke ihr ihre Mutter. Meine Mutter, habe sie ausgerufen, meine Mutter schickt mir das? Foppst du mich nicht, Fischele? Er habe bei seinem Leben geschworen, daß dem so sei, und daß ihm die Babe wirklich diesen Auftrag gegeben. Da habe sie aufgeschrieen aus der Tiefe ihrer Seele, daß es ihm durch Mark und Bein gedrungen; drei Worte hätte sie ausgerufen — — — aber er wage sie nicht zu wiederholen.
Narrele, lächelte die Großmutter, was kann sie gesagt haben?
Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst —
Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten.
Und?
Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe?
Nun?
Und hat zu ihm gebetet.
Gebetet! murmelte Marjim nach.
Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt 'ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört. — — —
Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern.
Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer, in finstere Gedanken vertieft, der nicht ahnte, daß nach zehn Jahren langen Entbehrens Mutter und Tochter sich wiedererkannt hatten.
Der Abend dieses merkwürdigen Tages war gekommen; drei Sterne blitzten am tiefblauen Grunde des Himmels auf, aber sie waren für Josseph nur die gesetzlichen Zeichen, daß sein Fasten zu Ende, daß er den Leib mit Speise und Trank wieder laben dürfe — nicht freundliche Tröster in der Noth, nicht goldene Augen, die ihm weit und tief in die Seele schauten!
Auf Josseph's Stimmung war der Fasttag gerade von entgegengesetzter Wirkung gewesen; er machte ihn sonst milde und weich, ein Berg war überstiegen, und der Mensch freuet sich immer des gelungenen Werkes, das mit Entbehrung verbunden war! Diesmal war er bitter, fast gereizt worden; er hatte um seinen Vater gefastet, der vier Wochen nach Madlena's Abfall vor lauter Gram in die Grube gefahren war, und diese Erinnerung, gesellt zu dem Erlebnisse des Tages, trieb allen Haß und Groll wie glimmende Funken, in die der Wind bläs't, auf einen finstern Winkel seiner Seele zusammen, in dem es nun schrecklich brannte.
Er hatte diesen Vater nie geliebt, in Streit und Hader mit ihm gelebt, so lange sie mit einander auf Erden verkehrten; dennoch hielt Josseph den Todestag seines Vaters hoch und heilig, fast wie den Jom Kippur; er beging ihn mit Fasten und Kasteien und hatte ihn nie versäumt. Um Madlena's willen war er ja gestorben.
Welches Herzeleid, und sei es noch so innig und brennend, sitzt tief genug, daß es den Einflüssen leiblichen Begehrens auf die Länge sich entziehen könnte? Als die drei gesetzlichen Sterne am Himmel erschienen, war Josseph hungriger als je und begehrte zu essen. — —
Wir haben bereits erzählt, daß die Tochter des Bauern Stepan Parzik im Hause als Magd diente. Das Mädchen war in seinem zehnten Jahre zu der Judenfamilie gekommen und konnte fast als ein Glied des Hauses betrachtet werden. Sie hatte Fischele auf den Armen getragen, ihn fast erzogen, da seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war, und mit rührender Zärtlichkeit hing die Bauernmagd an Allem, was zu Josseph's Hause gehörte. Im Laufe der Jahre, als sie mit den Sitten und Gewohnheiten der Familie ganz vertraut worden, hatte sich das dienende Verhältniß der Tochter des „ Dechanten “zu einem wahrhaft beneidenswerthen gestaltet. Es ist dies das Eigenthümliche in solchen Häusern, daß man den Dienstleuten, die ein Kind des Hauses haben zur Welt kommen gesehen, gleichsam aus Dankbarkeit eine bevor - zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen.