PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 10]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.

Charles Edouard Duboc wurde am 17. Sept. 1822 zu Hamburg geboren, wohin sein Vater, ein französischer Kaufmann, im Jahre 1816 aus seiner Heimath, dem Havre, übergesiedelt war. Derselbe heirathere die Tochter eines angesehenen Hamburger Kaufmannshauses, zog sich aber bald vom Geschäft zurück, um sich in ländlicher Stille seinem Lieblingsstudium, der Philosophie, und der Erziehung seiner vier Kinder zu widmen. Der Dichter, der dritte Sohn dieser Ehe, begann zuerst im Jahre 1850 Poetisches zu veröffentlichen ( Unterm Schindeldach , Dichters Nachtquartiere , Irrfahrten , Berlins Feiertage ); Prosaisches zuerst im Jahre 1858, und zwar ist die von uns mitgetheilte Novelle wohl so ziemlich sein erster derartiger Versuch. Später folgten die Dorf-Idyllen (in Versen), Lascia passare , Wanderstudien , die Tragödie Brunhild , die Romane Unterm Krummstab , Gehrt Hansen , das Vermächtnis der Millionärin u. s. w. Seit 1854 lebt Duboc in glücklicher Ehe und hat sich 1856 dauernd in und bei Dresden niedergelassen.

Wenn ein so eigenthümliches, reiches und kraftvolles Talent, wie es uns überall in Duboc's Dichtungen entgegentritt, von vielseitiger Bildung unterstützt und tiefem sittlichen Ernst getragen, gleichwohl noch nicht nach seinem vollen Werthe anerkannt ist, so erscheint es als eine lockende und lohnende Aufgabe, tiefer in die Natur dieses Phänomens einzudringen und in ausführlicherer Charakteristik nachzuweisen, was hier Schuld der Zeit, was vielleicht aus der Eigenart des Dichters, einem Zuwenig oder Zuviel seiner schöpferischen Kraft, zu erklären wäre. Wir müssen aber dieser Versuchung im Hinblick auf das wünschenswerthe Gleichmaß unserer einleitenden Notizen widerstehen und uns mit der Hoffnung begnügen, daß die vorliegende Novelle, unseres Dafürhaltens eines der liebenswürdigsten humoristischen Charakterbilder, die wir überhaupt besitzen, den Leser zu eigner näherer Bekanntschaft mit dem Dichter anregen werde.

Erstes Kapitel. Beim Glase Mumme.

Lieben und geliebet werden.
Ist das Beste von der Welt,
Ist, was bloß dies Haus auf Erden
frei vor allem Fall erhält.
Was nicht lieben will noch kann,
Wozu taugt es umb und an?
Simon Dach

In den Krug von Hedeper kam er und zwar zu ungewohnter Stunde. Aber es wird unentschieden bleiben, ob das störende Knarren der Nachbarthüre, oder ein Ueberfall Seitens der scheuernden Marga, oder gar eine jener unerklärten Anwandlungen, welche mit dem Herkömmlichen im Krieg liegen und den ehrbarsten Menschen zu Zeiten von der geheiligten Straße der Gewohnheit abziehen, es wird unentschieden bleiben, sage ich, welche Ursache Herrn Florian Habermus, Küster zu St. Gertrauden in Hedeper, Morgens neun Uhr am 26. August des Jahres 1825 aus seiner kaffeebraunen Hinterstube fort in den Krug zu Hedeper trieb. Nicht daß er selbst über diese Ursache einen Schleier gebreitet und solcher Art eine der wichtigsten Begebenheiten seines Erdenwallens in Dunkelheit gehüllt hätte; im Gegentheil, er hat sich in seinen Denkwürdigkeiten aus dem Leben eines herzoglich Braunschweig-Lüneburgischen Küsters mit großer Ausführlichkeit über die mögliche Veranlassung jenes Wirthshausganges verbreitet, schließt aber nach Erschöpfung aller denkbaren, seinem Gedächtnisse seitdem zweifelhaft gewordenen Ursachen mit dem Trostspruch: und so mag es denn eine jener himmlischen Fügungen gewesen sein, welche, uns Sterblichen nicht immer sichtbar, den Menschen gleichsam an die Hand nehmen und ihn dahin führen, wo sich eine neue Straße seiner irdischen Wallfahrt aufthut.

So viel scheint gewiß, daß bei seinem Eintreten die Stube des Krugs leer war, daß Frau Dorothee, des Wirths hinterlassene Wittib, ihn durch das Küchenfenster gewahrte, sich eilig eine Haube mit grüner Schleife aufstülpte, und der Magd zornig das Glas Mumme aus der Hand nahm, welches diese dem Gaste bringen wollte, daß sie ferner dieses selbige Glas dem Herrn Florian Habermus auf einem hölzernen Teller in höchst eigener Person in die Stube trug und sich die Hände mit der Drellschürze abtrocknete, als beim Niedersetzen des Glases einige Tropfen des klebrigen Trankes verschüttet worden waren.

So weit lassen die Aufzeichnungen des Herrn Florian aus Hedeper keinen Zweifel zu. Da er aber über das folgende Gespräch sich mit einiger Zurückhaltung äußert und namentlich den Eingang desselben nur lapidarisch behandelt, so wird es zum Verständniß des Vorganges nöthig sein, einen näheren Blick auf die Verhältnisse der Betheiligten zu thun.

Wer in dem Oertchen Hedeper gewesen ist, wird sich eines rauch - und altergeschwärzten Strohdaches erinnern, das, etwa dreimal so hoch wie die darunter sichtbare Backsteinmauer, die Hauptsache der ganzen Baulichkeit zu sein scheint, während in der That der Backsteintheil des Gebäudes allein bewohnt wird, das Uebrige aber höchstens den Mäusen zum Tanzboden dient. Zu der Zeit, wo Herr Florian Habermus die Mumme der Frau Dorothee trank, hatte der Krämer gegenüber noch kein modisches Haus aufgeführt, und die Küsterei mit dem altergeschwächten Riesen-Strohdach galt für eine der anständigsten Behausungen in ganz Hedeper. Die Böden dienten damals dem Pfarrherrn zum Aufspeichern seines Getreides, denn der ehrwürdige Herr liebte es, sein Korn nicht zu gleicher Zeit mit den Bauern zu verkaufen. Zuweilen gerieth er durch dieses Verzögern mit seinen vollen Vorräthen in Zeiten der Theuerung hinein, wo er dann ohne seine Schuld den Lederbeutel mehr füllte, als Mancher es ihm gönnen mochte. Es gab Leute, die, als er starb, ihn einen Kornwurm nannten und seiner Wittwe und ihren fünf Kindern alles das wünschten, was nach einem aufrichtigen Fluch auf den Hingeschiedenen ihnen noch an Wünschen auf dem Herzen blieb.

Er war etwas über ein Jahr todt, als Herr Florian die Mumme in der Gaststube der Frau Dorothee zu der ungewohnten Morgenstunde trank. Man verdachte der Wittwe des Pfarrers, daß sie noch immer Korn auf der Küsterei liegen habe, da sie doch nicht daran denken werde, mit ihren fünf und dreißig Sommern und ihren fünf Waisen einen neuen Gatten zu beschenken, der große Kornvorrath aber manchem Freier, dem sich blanke Thaler eben nicht füglich unter die Augen bringen ließen, den Kopf behexen konnte, während sonst ihr Hab 'und Gut wohl vergessen worden wäre. Was den Küster von Hedeper betrifft, so findet sich in seinen Denkwürdigkeiten nichts, was über seine persönliche Ansicht über diesen Punkt Licht verbreiten könnte. Seine Stellung war übrigens eine ausnahmsweise, und zwar aus folgenden Gründen:

Das Geschlecht der Habermas schrieb sich aus einer Zeit her, welche von Einigen ins Heidenthum, von Anderen auf die Doppelregierung Otto und Wilhelm's mit dem langen Beine, also ins vierzehnte Jahrhundert, verlegt wurde. Noch Andere waren der Meinung, Otto der Lahme habe den ersten Habermus zum Küster gemacht; zum Kaplan des im Jahre 1400 auf dem Heimwege von Frankfurt ermordeten Friedrich's von Braunschweig erhob ihn eine unverbürgte Nachricht von abermals anderer Seite. Auch gab es einige Habermus, welche behaupteten, einer ihrer Vorfahren habe die heimliche Ehe zwischen Heinrich II. und dem Hoffräulein Eva Trott, vielbekrittelten Andenkens, eingesegnet. Genug, die Angaben schwankten in solchem Grade, daß es kaum ein größeres historisches Ereignis; in den vielen braunschweigischen Seitenlinien gab, bei dem nach Ansicht der Habermus nicht irgend einer ihrer Altvordern betheiligt war; ob auf rühmliche Weise, darauf kam es zuletzt kaum noch an.

In Ermangelung eines Stammschlosses hatte sich ein Brauch in der Familie Habermus vererbt: die Ehelosigkeit eines ihrer Glieder und dessen Anrecht auf die Küsterstelle zu Hedeper. Es gab in der Küsterei ein vergilbtes Buch, das als die Familienchronik der Habermus angesehen werden durfte. Es ging bis auf das Jahr 1697 zurück, galt als Fortsetzung einer noch weit umfangreicheren, angeblich in den Grundstein der Kirche St. Gertrauden mit vermauerten Sammlung ähnlichen Inhalts und enthielt die Aufzeichnungen lauter ehelos gestorbener Habermus. Von 1730 1735 fand sich eine Lücke, erklärt durch eine Stelle des nächstfolgenden Chronisten, des Inhalts: der Teufel habe Herrn Bastel Habermus, Küster zu St. Gertrauden, im Jahre des Heils 1730 bethört, daß sich derselbe einem Weibsbilde zu eigen gegeben habe, selbigeswelches aber schon nach fünf Jahren beim Glockenläuten durch den Blitz erschlagen worden und mit garstigem Pech - und Schwefelgestank in die Hölle gefahren sei, allen Nachlebenden zur Warnung. Seit jener Abirrung eines Habermus hatte die Küsterei nur noch Hagestolze dieses Namens beherbergt, und der einsame Hahn, der sich als Windfahne auf dem Strohdache drehte, durfte nicht minder für ein Wappenschild des uralten Küstergeschlechts gelten, als dies die Aufgabe des lebendigen Hahns war, der als Junggeselle die Stube des Küsters mitbewohnte und allemal durch einen Nachfolger ersetzt wurde, sobald er ausgekräht hatte. Er pflegte schwarz von Federn zu sein. Auf dem Meierhofe der Habermus jenseits des Erlenkamps hielt man immer schwarze Hähne als Ersatz in Bereitschaft, und nur ein einziges Mal (im Jahre 1699) war man, in Folge eines Fuchseinbruchs, genöthigt gewesen, acht Tage lang sich mit einem roth und grün gescheckten Spornträger zu behelfen, bis der aus Bevern verschriebene schwarze Ersatz eingerückt war.

Inzwischen hatte der Zeitgeist auch in Hedeper neue Farben an die Häuser, Laternen - und Verordnungspfähle gemalt, hatte den Hedeper Stadt - und Landanzeiger bis zu dem Format eines Pulsnitzer Groschenkuchens ausgeweitet, hatte an die Stelle der Nachthüterin mit dem Kuhhorn einen vierschrötigen Nachtwächter mit Schnarre und Pike gesetzt, hatte dem Thurm von St. Gertrauden eine vergoldete Krone als Vermächtniß der ältesten Jungfrau des Oertchens verschafft, hatte den Schlagbaum mit einer Vorrichtung zum Aufwinden und Niederlassen versehen und gar mancherlei Neuerungen eingeführt, welche auf den Geist der Einwohner von Hedeper nicht ohne Einfluß blieben. Fand auch manche solcher Neuerungen Anfangs entschiedenen Widerstand, namentlich ein von dem Prediger beim Kirchenvorstand eingebrachter Vorschlag, den Thran für die Sakristeiampel nicht mehr von Braunschweig, sondern aus einer Hamburger Thranbrennerei zu verschreiben, so setzte der Zeitgeist doch die Widerstrebenden von Jahr zu Jahr mehr zwischen Thür und Angel, bis sich zuletzt eine Art Fortschrittspartei bildete, welche ohne äußeren Zusammenhang sich doch in vielen Fragen allgemeiner Art an der Freisinnigkeit erkannte, mit der sie ihre Antworten gab.

Hedeper ist kein London, kein Paris. In diesen Städten würde es nicht bemerkt werden, wenn ein Einzelner, wie Herr Florian Habermus, sein kaffeebraunes Zimmer nach und nach immer einsamer zu finden beginnt und zu einer Stunde ins Wirthshaus geht, zu welcher in jenen großen Städten eben erst die Stühle auf die Wirthshaustische gestellt und die Erinnerungszeichen der Gäste vom Tage vorher mit dem Birkenbesen ausgekehrt werden. Hedeper ist ein kleines Oertchen und theilt die Eigenheiten derselben, von dem Gebahren jedes Einzelnen Kenntniß zu nehmen, sich durch eine Beurtheilung dieses Gebahrens daran zu betheiligen, jeden Vorfall in gewissem Sinne zu einem Ergebniß der Gesammtstimmung zu machen. Es könnte z. B. psychologisch nachgewiesen werden, daß der ins Wolfenbüttler Gefängniß transportirte Gänsehirte nur deshalb des Physicus fünf Ferkel stahl, weil ganz Hedeper, der selige Pfarrer obenan, der Ueberzeugung war, an den Galgen werde der Gänsehirte doch noch einmal kommen. Daß der Apotheker seine Nichte heirathete, obschon er sie aus der Taufe gehoben und sich selbst seitdem nicht verjüngt hatte, geschah einzig in Folge der allseitig geäußerten Vermuthungen über die Wahrscheinlichkeit dieser Verbindung; die allgemeine Meinung, wenn sie gleich sich gegen ihn erklärte, ließ ihn nicht eher los, bis er ihrem Ahnungsvermögen Recht gegeben hatte. Auch der Musicus, links von der Kirche St. Gertrauden, ließ sich nicht eher einfallen, seinen Bruder zu enterben, bis man in ganz Hedeper erzählte, so werde es kommen. Und was der jüngeren Tochter des Siebmachers auf der Kirchweih begegnete, wußte schon jedes weibliche Mitglied des Hedeper'schen Freundschaftkränzchens vier Wochen vor dem ersten Nudeln der Kirmeßgänse. Man hatte es eben berufen.

So gab es seit ein paar Jahren Stimmen unter der Fortschrittspartei, die da voraussagten, der Küster zu St. Gertrauden werde nicht als Hagestolz ins Grab steigen. Mit jedem Geburtstage des Herrn Florian Habermus kamen mit den hergebrachten Honigkuchen, Tauben und Blumensträußen der Schuljugend zugleich neugierige Gratulanten, die sich auch beiläufig in Redensarten über jene Vermuthung ergingen und auf diese oder jene ihres Widerparts noch nicht habhaft gewordene Ledige das Augenmerk des Geburtstagskindes zu lenken suchten. Es fanden sich, seit die angedeutete Meinung an Anhängern gewann, an solchen Tagen auch die zwei älteren Schwestern des Küsters ein, beide, wie sie gern hervorhoben, ledig geblieben, um ihrem Bruder als Beispiel vorzuleuchten, und sehr gereizt in ihren Ausdrücken, wenn der bösen Zungen gedacht wurde, welche des Einsamen Zukunft als eine nicht lange mehr einsame verkündigten. Der verheirathete Bruder auf dem Meierhofe am Erlenkamp vermied gern den Geburtstagsgang, um nicht über seine Meinung befragt zu werden; seine kugelrunde Ehefrau aber fand sich mit ihrer Kuchenspende regelmäßig ein und führte, in ihrer äußern Erscheinung wie in ihren ehefreundlichen Aeußerungen, dem Küster ein so überzeugendes Exempel von den Wohlthaten jener ältesten Paradiesesstiftung vor, daß er noch wochenlang nachher in seinem Herzen Gewissensbisse über die in ihm wachgerufenen Gedanken empfand.

Denn theilten sich schon in dem Oertchen die Stimmen sehr zwischen verdammenden und entschuldigenden, wenn von der möglichen Küsterehe die Rede war, so kämpften in ihm selbst noch viel heftigere Widersacher und beunruhigten ihn oft sogar, wenn er an des Pfarrers Stelle in St. Gertrauden Kinderlehre hielt, oder wenn er die Kerzen am Altar anzündete und dabei zufällig zu weit nach den Weiberstühlen hinüber sah, oder wenn er gar bei Hochzeiten fungiren, den Gottespfennig von der Braut einholen und Tags darauf die Gebühren von dem jungen Eheherrn einfordern mußte. Was ihm da das Roßhaar unterm Sitze glühte, wenn die junge Frau ihn zum Ausruhen genöthigt und ihm einen Herzogskuchen vorgeschnitten hatte, der, verlockend wie die Ehe selber, ihm mit der buntesten Ueberzuckerung in die Augen lachte, als feiner Gewürzduft durch die Nase ins Gehirn stieg und mit Mandeln, Citronat und Zibeben ihm Geschmäcke aller Art auf die Zunge zauberte, wie sie nur seine Auffassung der Hochzeit zu Cana und des Gastmahls im Hause Levy ihn je hatten ahnen lassen. Schloß sich dann aber wieder die Thüre des kaffeebraunen Zimmers hinter ihm, kam der schwarzbefiederte einsame Hahn ihm feierlich entgegen, surrte im großen Kachelofen die derbe Kost, mit welcher ihn die alte Haushälterin Marga schon so manches Jahr hindurch bei guter Gesundheit und friedlich bescheidener Sinnesart erhalten hatte, ja grüßte gar die Habermus'sche Küsterchronik vom Bücherbrette herab, als wolle sie sagen: Jahre wie die von 1730 bis 1735 möchte ich nicht noch einmal erleben, da strich sich der Küster wie erwachend über die Augen, sprach auch wohl ein kurzes Herre Christe, bleib bei uns! und war, wenn er zum einsamen Essen niedersaß, mit seinen Gedanken so sicher im lange bewährten Gewohnheitshafen vor Anker, daß er sein Schläfchen nach Tisch ohne irgend störende Träume halten und bei dem nachfolgenden Schälchen Cichorienkaffee die wunderbare Geschichte von den Reisen Marcus Paulus, des hornhäutigen Venezianers, an der er seit zwanzig Jahren las, ohne Zerstreuung weiter verfolgen konnte.

Es ist mir leid, das Alter des Küsters von St. Gertrauden durch zwanzigjährige Lectüre annäherungsweise verrathen zu haben. Mehr als eine achtzehnjährige Le - serin wird ihm ihr Interesse entziehen, wenn sie erfährt, daß hie und da ein Haar von zweifelhafter Farbe unter seinem Sammetkäppchen hervorguckt. Füge ich hinzu, daß als Napoleon, der Artillerielieutenant, den akademischen Preis zu Lyon über die Frage: Welche Grundsätze soll man den Menschen einprägen, um sie glücklich zu machen? erwarb, daß zu jener Zeit, sage ich, die Eltern des einjährigen Küstercandidaten über die Frage beriethen, ob er wirklich geschickt erscheine zum geistlichen Stande, oder ob der ohne Geschrei zur Welt gekommene ältere Bruder nicht besser für die Nachbarschaft des schweigsamen Hahns tauge; füge ich diese Fingerzeige über das jetzige Alter des Herrn Florian Habermus hinzu, so hoffe ich, daß man mir weitere Indiscretionen erläßt und sich auch des Nachschlagens geschichtlicher Tabellen überhebt, wo etwa eine Gedächtnißlücke hier oder da dem Küster von St. Gertrauden zu Statten kommen sollte. Genüge die Versicherung, daß seine Gestalt sich zwischen der Fülle des Fleischers am Schlagbaum und der Hagerkeit des Drellwebers an der Wolfenbüttler Straße in richtiger Mitte hielt; daß kein Bartgestrüpp die Aehnlichkeit beeinträchtigte, welche nach der alten Marga Versicherung zwischen ihm und einem Kreidebilde bestand, dem seinen aus der Knabenzeit nämlich, neben dem Thonpfeifenstande im kaffeebraunen Stübchen; daß endlich seine Haltung erst angefangen hatte minder steil zu werden, seit der von seinem Vorgänger auf ihn vererbte Mantel einen neuen Plüschkragen erhalten hatte, einen Kragen, auf dessen Sauberkeit die Haushälterin des Küsters große Stücke hielt, und der, wie sie sagte, nicht lange vorhalten würde, wenn der Herr Florian sich nicht gewöhnen könne, den Kopf weniger als bisher im Nacken zu tragen.

Und was bedeuten denn auch am Ende die Jahre eines Menschen? Hier bei Zwanzigjährigkeit Uebersättigung, Siechthum, Müdigkeit; dort bei der doppelten Anzahl von Jahren Fülle der Kraft und Gesundheit, Lebenslust, innere Jugend. Zuweilen täuscht eine Runzel der Haut, die dem jüngeren Lebensüberdrüssigen noch fehlt und dem älteren Lebensfrohen schon die Wange furcht, über das innere Mißverhältniß zwischen Beiden; aber eine kleine Weile noch, und die äußere Jugend verfliegt, und man fragt sich erstaunt: was bedeutet am Ende das Mehr oder Minder an Lebensjahren? Wenig genug! Nun, so mag man denn auch erfahren, daß Herr Florian Habermus so eben den Reigen der Vierziger zu vermehren im Begriff war. Verüble es ihm, wer da sein Kindergesicht nicht gesehen hat oder sich's nicht vorstellen kann, meinen Versicherungen zum Trotze.

Zweites Kapitel. Eine Traube, welche zu hoch hängt.

Frau Dorothea, die verwittwete Krugwirthin zu Hedeper, rieb noch mit der Drellschürze den klebrigen Gerstensaft von ihren Fingern, als der Küster schon einen herzhaften Zug gethan hatte. Was zwischen Beiden seit Herrn Florians Eintreten gesprochen worden war, verschweigt der Verfasser der Denkwürdigkeiten, und wir vernehmen nur, daß die blanke Stirne der Frau Dorothee dem Küster noch nie so glänzend erschienen war, wie eben heute. Auch die Bergobzoom-Jacke der Wirthin schien ihm von eigenthümlich silberner Farbe. Ohne sich daran zu erinnern, daß ein Trunk handfester Mumme zu so ungewohnter Stunde sein leicht erregbares Wahrnehmungsvermögen für gesteigerte Eindrücke noch empfänglicher gemacht haben mochte, ließ er die behäbige Erscheinung der Frau Dorothee ihren ganzen Zauber auf sich üben, und mit Verwunderung ertappte er sich auf Vergleichen zwischen ihr und der alten Marga oder einer seiner ledig gebliebenen Schwestern. Wie spitznasig diese letzteren waren, fiel ihm erst jetzt beim Anschauen der stumpfnasigen Hebe ein. Er meinte um eine werthvolle Beobachtung reicher zu sein, als er zu dem Schluß gelangte, eine sehr spitze Nase würde ihm auf die Länge nicht diejenige friedliche Stimmung bereiten, welche er für den Grundton seiner Ehestandsplane hielt. Der Gedanke an diese Plane ging indessen nicht ohne einen gelinden Gewissensschauder durch seine Seele, und er schüttelte ablehnend den Kopf, als die Wirthin den delicaten Gegenstand in ihrer gewohnten geraden Weise berührte.

Ganz Hedeper, sagte sie, redet davon, Ihr ginget auf Freiersfüßen. Nun, Ihr wäret nicht der Erste und nicht der Letzte, der sich fangen ließe. Treffet Ihr's gut, warum solltet Ihr da auch nicht freien? Aber der Treffer giebt's nur nicht so viel wie der Nieten. Da sitzt der Knoten! Viel Stroh und wenig Körner! Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen einem reifen und einem faulen Apfel, oder gar einem, der noch den Mund zusammenzieht. Dirnen giebt's genug in Hedeper, Seinstedt und Wolfenbüttel, schockweise könnt Ihr sie nach jeder Kirmeß zusammenlesen. Aber findet mir Eine, die da saubere Fäden spinnt, die den Zwirn beim Nähen nicht zehnmal aus dem Nadelloch schlüpfen läßt, ehe ein einziger Saum fertig ist, die nicht schwach im Leibe wird, wenn sie einen Kessel, vom Feuer heben oder am Brunnen von früh zwei Uhr bis Mittag waschen soll; findet mir Eine, die Morgens ihre Schuhe nicht niedertritt, ihre Decke nicht übers Lager wirft, statt sauber ihr Bette zu machen, ihre Haare nicht mit den Fingern unter die garstige Haube zwängt, weil der Kamm voll Haare sitzt oder ins Waschbecken gefallen ist, findet mir Eine, die nicht vorm Spiegel steht, so oft ein fremder Besuch erwartet wird, den Kaffee aber überkochen und die Milch verbrennen läßt, so oft nur der Herr Gemahl zu bedienen ist; findet mir Eine heutigen Tags, die das Alles nicht thut, und Ihr habt mehr Glück, als der Schützenkönig Geschick braucht, um den Vogel herabzuschießen.

Frau Dorothee setzte sich nach Abfeuerung dieses Salutschusses dem Küster gegenüber und ließ ihre runde Hand in dem Sonnenstrahle hin und her gleiten, der die blanke Tischplatte beschien. Der vermeintliche Freier erwog im Herzen die von der erfahrenen Wirthin vorgebrachten Bedenken und fand sie so gerechtfertigt, daß er es für einen Anfall von Narrheit hielt, sich überhaupt in seiner Lage noch mit solcherlei Planen herumzutragen.

Er wollte so eben seine Beistimmung ausdrücken, als die Wirthin, mit der zweiten Ladung fertig, von Neuem in Schußlinie vorrückte und ihm das Wort von der Lippe ins Herz zurückfeuerte.

Ich kann über dergleichen mitsprechen, sagte sie und trommelte mit den Fingern die Begleitung, denn als Wirthin lernt man Menschen kennen. Was an den Mägden heut zu Tage ist, weiß eine Wirthin, wie keine Andere. Darüber ist schon einmal nicht zu streiten. Es geht nicht mehr in Zucht und Ordnung zu, wie zu der Zeit, da ich aufgewachsen bin. Die nicht in Dienst treten, taugen noch weniger. Fragt in der Wolfenbütteler Leihbibliothek nach: man wird's Euch schon sagen, wer die Eselsohren in die Bücher hinein lies't. Zu meiner Zeit gab's außer Bibel und Gesangbuch kein ander bedrucktes Papier im Hause, als den ewigen Kalender. Dafür weiß unsereins aber auch, was man werth ist, und wirft sich nicht an den Ersten Besten weg, wie's heute Brauch ist. Ich hätte schon zwanzigmal wieder freien können. Da kommt gar Mancher nach Hedeper, dem es wohl schmecken würde, Krugwirth zu werden und eine Frau, wie mich, in den Kauf zu bekommen, aber unsereins ist nicht billig. Es müßte närrisch zugehen, wenn ich noch einmal Hochzeit machen sollte, nachdem ich weiß, was die Männer taugen, und wie eine tüchtige Frau heut zu Tage im Preise steht. Ja, prosit die Mahlzeit!

Ja prosit die Mahlzeit! wiederholte der Küster, völlig überzeugt. Ich verstehe wenig von solchen Dingen, aber Ihr habt gewiß Recht. Und er begriff nicht, wie er in seinen Jahren auf so tolle Gedanken verfallen könne.

Nicht daß ich mich deßhalb verschwören will! hob die Wirthin von Neuem an, den eingeschüchterten Ton ihres Gastes gewahrend. Was Gott zusammen fügt, das soll der Mensch nicht trennen. Wir wissen Alle nicht, wie das Schicksal es noch mit uns im Sinn hat, und unsere Weisheit reicht nicht weit. Allein steht sich's im Leben auch nicht zum Besten; an zwei Bäumen zauset der Wind minder, als an einem, und wo ein Feuer auf dem Herde brennt, da lassen sich zwei Töpfe nicht schwerer unterbringen, als einer. Kommen die Tage, von denen es geschrieben steht Sie gefallen uns nicht, schob der Küster ein da ist's auch nichts werth, fuhr die Wirthin fort, wenn nur zwei Augen da sind, um nach dem Rechten zu schauen. Einsam Leben, ist ein elend Leben.

Der Küster seufzte.

Und am Ende, schloß die Wirthin, geht man aus der Welt, und hat kaum Einen daheim gelassen, der das Sterbezimmer aufräumt und säubert, eh 'die Condolenzvisiten beginnen.

Sie wischte bei diesen Worten mit dem Bergobzoom-Aermel über die Augen, und der Küster, dem das Augenwasser ohnehin leicht durch die Schleußen brach, bemühte sich, möglichst gefaßt in anderer Richtung zu blicken, um nicht in so früher Stunde die Herrschaft über sich zu verlieren.

Wie wahr jedes Wort, das die verständige Frau gesprochen hatte! Wie begreiflich, daß bei so weichen Gemüthssaiten sie zu Zeiten ihre Vereinsamung beklagen mußte! Wie unwahrscheinlich aber auch, daß ihr noch ein gleichtüchtiger Lebensgefährte auf ihrem Lebenspfade begegnen werde, und wie verwandt Beider Loos, insofern auch ihm wohl nicht mehr bestimmt zu sein schien, Rosen hienieden zu pflücken. Eine Verbindung mit der Wirthin lag seinen Gedanken nach der heutigen Zwiesprache noch ferner als sonst. Nicht daß die Küsterei ihm überhaupt je mit einer Krugwirthschaft vereinbar erschienen wäre: über diesen Punkt hatte er noch nicht nachgedacht, da Ehegedanken nun einmal zu dem ver - botenen Wild in seinem Geistesgehäge zählten und nicht regelrecht gestellt wurden. Aber die Ueberlegenheit, die Unerreichbarkeit der Frau Dorothee war ihm gleich nach den ersten beiden Salven so unerschütterlich zum Bewußtsein gekommen, daß er sich durchaus unberechtigt fühlte, seine Wünsche nach so fernem Ziele schweifen zu lassen. Vielleicht auch mischte sich in dieses Verzichten ein Gefühl, von dem er nichts ahnte und das recht füglich unter dem Geschützfeuer der Frau Wirthin, ihm unbewußt, erwacht sein konnte eine Ahnung nämlich von der untergeordneten Stellung, welche der Freier einer so bedeutenden Frau auszufüllen haben würde. Er hatte nie so sehr die eigene Unfähigkeit gespürt, neben einer beredt ausgesprochenen Meinung noch selbst eine Meinung zu haben. Sprach Frau Dorothee, so sagte Alles in ihm ohne Unterlaß Amen, Amen! und ohne daß ihm dieses weibliche Uebergewicht klar war, kam er sich doch noch mehr seinem eigentlichen Lebenselement entfremdet vor, als das jemals früher der Fall gewesen war.

Die Wirthin hatte sich entfernt, um der draußen am Küchenfenster lauschenden und bei einer Kopfwendung ihr zu Gesicht gekommenen Magd eine Schelle zu verabreichen, und der Küster war im Begriff, einem dunklen Fluchtdrange nachzugeben, als sein Blick auf ein Exemplar der Braunschweigischen Anzeigen fiel, ein Blatt, das nach dreitägigem Ausliegen in der Gaststube für die Honoratiores von Hedeper, welche allabendlich in der Ofenecke zum Tarock zusammenkamen, die Fidibusse ab - gab. Die Augen des Küsters überliefen die gerichtlichen Bekanntmachungen. Sie suchten nichts, blieben aber durch den magischen Reiz gefesselt, den ein bedrucktes Stück Papier auf Leute ausübt, welche wenig Derartiges zu lesen bekommen und doch die Fähigkeit dazu nicht verlernen möchten. Da wurde ein Großbauerhof zum Verkauf angeboten, dessen Zubehör in der Berechtigung bestand, jährlich vierzehn Malter nebst zwei Schock Waasen-Brennholz zu beanspruchen. Da gab es eine Brennerei zu pachten, bei welcher forstzinsfreies Bauholz geliefert wurde. Da sollte ein Großkothhof mit nicht weniger als 87 3 / 4 Ruthen Gartenland versteigert werden. Zwei Wohnhäuser wurden ausgeboten, bei denen ein Antheil an den sogenannten achtundzwanziger Wiesen abfiel. Da gab es Edictalvorladungen, Concurseröffnungen, Präclusivbescheide, Steckbriefe.

Dem stillen Bewohner der Küsterei schwindelte es vor den Augen, wie allemal, wenn er in eine Zeitung sah und die Weltgeschichte sich in ihren Nächstliegenden mikroskopischen Aeußerungen an ihm vorüber bewegte. Und er hatte sich aus seiner unbemerkten Klause hinaus begeben wollen, hatte auf Unternehmungen gesonnen, die sich mit dem weitsehendsten Blick nicht überschauen ließen, die seinen Namen vielleicht über Jahr und Tag in dieses selbe Staatsblatt bringen und ihn aus seinem sichern Hafen auf die stürmische See des lauten Lebens hinaus verschlagen konnten! Das Glas Mumme steigerte die Bilder, welche vor seiner Phantasie aufstiegen, ins Un - gemessene. Das Blatt zitterte in seiner Hand, als er von Neuem hineinsah und eine Anzeige fand, die ihn nicht stärker außer Fassung gebracht haben könnte, wenn sie dem Abbruch des Riesendaches mit der Wetterfahne über seiner Küsterzelle gegolten hätte. War doch das Korn auf seinem Boden dasjenige des seligen Herrn Pfarrers, und floßen doch für ihn die Begriffe von Küsterei und Pfarreigenthum so in einander, daß es ihm schwer war, sich eines von dem andern gesondert zu denken. Die verhängnißvolle Anzeige lautete aber wörtlich wie folgt:

Amtsgericht Wolfenbüttel. Auf den Antrag des Herrn Pastors Klepp zu Seinstedt, als Bevollmächtigten des Consistoriums, ist auf den 10. September d. I. zehn Uhr Morgens im Kruge zu Hedeper Termin angesetzt, um das Pfarrwittwenhaus sub. No. 97 zu Hedeper nebst Scheuer und Stallgebäude und dem dazu gehörigen, mit Obstbäumen bepflanzten und einen halben Morgen enthaltenden Garten als Anbauerwesen mittelst Meistgebots zu verkaufen, wozu sich Kauflustige zeitig einfinden wollen. Wolfenbüttel, den 26. Aug. 1825.

Erst nach dreimaliger Lesung hatte der Küster von Hedeper sich mit dem Inhalt dieser Anzeige hinlänglich vertraut gemacht, um über ihren Zweck und ihre Veranlassung eigene Gedanken zu finden. Schon als sein Oheim noch in dem kaffeebraunen Hinterstübchen saß, war einmal die Rede davon gewesen, das alte Pfarrwittwengehöft solle eingehen und die Wittwe durch eine vergrößerte Jahresrente entschädigt werden. Es ist wahr dem Hause fehlte Alles, was auch äußerlich die Kirchenkassenverwaltung vor übler Nachrede schützen konnte. Während ringsum Ziegeldächer das träumerische Strohdachansehen der alten Häuser zu verwischen strebten, während die Mauerwände weiß getüncht und die Einfriedigungen der Gärten durch moderne Holz - oder Eisenzäune verdrängt wurden, während ganz Hedeper im sichtlichen Verjüngungsprozeß begriffen war, beharrte das uralte Pfarrwittwenhaus in seiner zweihundertjährigen Zusammengesunkenheit und machte jedem vorbeikommenden Handwerksburschen und jedem durch Hedeper passirenden Fremden die entsetzlichsten Einsturzgrimassen. Selbst der visitierende Herr Consistorialrath hatte seit manchem Jahre sich nicht tiefer als auf den Hausflur des mürrischen Baues gewagt, so wenig traute er dem bedrohlich überhängenden Giebel, an welchen sich noch obendrein ganze Waldungen wilden Weinlaubs festgeklammert hatten, unverständigen Kindern gleich, die eine Ehre darin suchen, Gefahren sich auszusetzen, von denen sich Erwachsene fern halten. Auch der Wolfenbütteler Kandidat, welcher nach Antritt und bald darauf erfolgter Erkrankung des neuen Pfarrers vier Wochen lang allsonntäglich die Kanzel zu St. Gertrauden bestiegen und seine Beköstigung in dem Wittwenpfarrhause zu beanspruchen gehabt hatte, war nur einmal in Hedeper geblieben, die anderen Male aber unter allerlei Vorwänden der bedrohlichen geistlichen Herberge ausgewichen. Freilich hatte die Wolfenbütteler Braut des Candidaten noch andere als Einsturzbefürchtungen im Hinterhalte, als sie ihm das Gelöbniß abnahm, nicht wieder im Wittwenpfarrhause zu speisen.

Die letzten Anstrengungen, dem ärgerlichen Kirchenzubehör ein anständigeres Kleid anzuziehen, waren von dem vorletzten Kirchenvorstande zu St. Gertrauden gemacht worden. Man hatte den Braunschweiger Stadtbaumeister in der Chaise des seligen Krugwirths herüber geholt und ihn nach einem guten Frühstück in den noch zugänglichen Räumen des Methusalem herumgeführt. Der moderne Mann aber war nicht zu bewegen gewesen, Reparaturpläne vorzuschlagen. Ihm galt das aus der Lothlinie gewichene Haus nicht viel mehr, als dem Schuhmacher ein Stiefel zu gelten pflegt, der nach dreimaliger Versohlung von seinem Besitzer ihm zu abermaliger Reparatur mit der Versicherung übergeben wird, es gehe sich so bequem darin, einmal werde sich's wohl noch thun lassen. Auch in dem Wittwenpfarrhause wohnte sich's bequem, weit bequemer als in den weißen, gerade stehenden Häusern ringsum. Aber dafür hatte der Stadtbaumeister keinen Sinn. Als er verdrießlich fortkutschirt war, den Besichtigungsducaten in der Tasche und den nicht durchgedrungenen Neubauplan in der Mütze, fand sich der Wolfenbütteler Rathszimmermann gemüßigt, dem Braunschweiger zum Schabernack zu erklären, der alte Kasten könne noch hundert Jahre stehen, wenn nur nicht daran gerührt werde. Da nun anzunehmen war, daß in einem Wittwenpfarrhause Stille und Frieden herrsche, auch nicht getanzt oder gedroschen werde, so drang die conservative Partei durch, und Nr. 97 war abermals für einige Zeit fernerer Duldung versichert.

Die jetzt plötzlich erfolgte Verurtheilung des zählebigen Baues war durch ein Gerücht verschuldet, das ein müßiger Zeitungscorrespondent als Lückenbüßer in die Luft geworfen und das sich solcher Art bis unter die Naturperrücke des vortragenden Consistorialschreibers verirrt hatte: der Landesfürst selbst werde auf einer Jagdpartie Hedeper berühren. Schon war dem Holzbilde der heiligen Gertraude, das noch aus katholischer Zeit her das Portal des Gotteshauses schmückte, die vor Urzeiten abhanden gekommene Nase durch Wolfenbütteler Schreinerhand wieder angesetzt worden, etwas zu spitzig freilich, wie der Küster meinte. Auch das tiefe G der Orgel hatte unter Herrn Florian's eigener Leitung der Kupferschmied aus Hedeper wieder aus seiner Fis-Lage in die Höhe geklopft. Jetzt kam das Pfarrwittwenhaus an die Reihe. Beschlossen war, Kirchengut könne es nicht länger bleiben. Wollte sich's ja Einer über dem Kopfe zusammenbrechen lassen, so möge er's für eigene Rechnung thun.

Der Küster konnte bei dreimaligem Ueberlesen der Verkaufsanzeige die Chronik des alten Hauses hinlänglich in seinem Gedächtniß auffrischen, um die Erklärung des jetzigen Beschlusses sich selbst zu machen. Immer aber blieb das Ereigniß von erschütternderer Bedeutung für ihn, als irgend eines, das die letzten Jahre mit sich gebracht hatten, den Tod des vorigen Herrn Pfarrers etwa ausgenommen. Das Wittwenhaus lag der Küsterei schräg gegenüber. Die Obstgärten grenzten aneinander. Das braune Hinterstübchen hatte den Blick auf den weinumrankten, vielgefürchteten Giebel. Das ganze Leben des Herrn Florian Habermus, je weniger die Außenwelt es berührte, hing mit unzähligen Gefühls - und Gewohnheitsfäden mit seiner nächsten Umgebung zusammen. Schmerzte es ihn schon, wenn im Herbst das Obst im Wittwengarten von den Bäumen geschüttelt wurde, einzig, weil diese Lese eine plötzliche Aussichtsveränderung mit sich brachte, ein wie viel größeres Stück gewohnter Behaglichkeit wurde ihm entrissen, wenn das Wittwenhaus plötzlich fremde Bewohner, nie gesehene Gesichter bekam oder wenn man etwa Anbaue, Stützungen, Veränderungen an dem alten Giebelhause vornehmen sollte! Die Möglichkeit, ein modisches Haus an die Stelle des alten treten zu sehen, mochte er gar nicht in seinen Gedanken aufkommen lassen.

Als er das Blatt mit der verhängnißvollen Anzeige wieder auf den Tisch gelegt hatte, klappte er das Bierglas zu, zog einen Groschen mit darauf geprägtem galoppirendem Pferde aus dem Tabacksbeutel und ging, ohne der Wirthin Rückkehr abzuwarten, aus dem Kruge.

Drittes Kapitel. Aussprechen.

Bei dem Pfade, der über die Gänseweide nach dem Wittwenhause führte, stand der Küster nachdenkend still. Die Nachricht in dem Anzeigeblatt war nagelneu. Kaum ein anderer Gast mochte vor ihm im Kruge gewesen sein. Er schwankte, ob es sich für ihn zieme, der Nächstbetheiligten die Kunde zu hinterbringen. Seit des Pfarrers Tode hatte er nur in Berufsgeschäften hin und wieder das Wittwenhaus betreten; in den letzten drei Monaten gab es auch deren nicht mehr, und so schien ihm der Gang bedenklicher, als er in Wirklichkeit sein mochte. Nicht daß er das Auge der ihm etwa nachblickenden Krugwirthin fürchtete, oder die Wachsamkeit der Seifensiederstochter gerade neben dem Spritzenhause, oder den mit Hanf in der Schürze hin - und hergehenden Seiler, der über alle Vorfälle in Hedeper Buch führte. In seiner Zurückhaltung gegen die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten lag eine andere Art Scheu, theils durch den auf sie übertragenen Respect vor diesem seinem Vorgesetzten veranlaßt, theils durch eine höfliche, entfernt haltende Weise der Wittwe selbst, einen gegen ihn nie veränderten Ton, der nach und nach dem Küster ganz aus der Erinnerung brachte, daß er vor Zeiten als ältester Knabe des Meierhofs am Erlenkampe manches Mal mit der damals fünf - oder sechsjährigen Pfarrerstochter der jetzigen Wittwe selbst Sand und Steine in des Großvaters zerbrochener Geige spazieren gefahren hatte. Seitdem waren drei Jahrzehnte in die Vergangenheit hinabgerollt. Der Sohn des Meierhofs hatte beim Wolfenbütteler Magister den kleinen Zumpt rück - und vorwärts auswendig gelernt, um nach des Oheims Tode die lateinischen Floskeln in Tauf - und Trauscheinen richtig schreiben und auf einen etwaigen Witz des Herrn Kirchenvisitators mit der herkömmlichen grammatikalischen Phrase antworten zu können. Er hatte den Blasebalg auf dem Chor getreten, bis ihm der Oheim sein Lederkissen auf dem Orgelstuhl und zugleich das Organistenamt abtrat, das mit der Küsterstelle vererbte. Er hatte die Wachskerzen allsonntäglich am Altar angezündet und von Mariä Heimsuchung bis Martini jeden Morgen sein: Wie schön leuchtet der Morgenstern über das schlafende Hedeper geblasen, hatte sich an die alternde Marga und den ledigen Hahn im kaffeebraunen Hinterstübchen gewöhnt und die kurze Beklemmung vergessen, die ihn zum erstenmal im Leben beschlich, als die im alten Giebelhause aufgewachsene Pfarrerstochter, seine langjährige Nachbarin, vor zehn Jahren von seinem damaligen Vorgesetzten als Braut heimgeführt wurde. Er hatte sich an Alles gewöhnt, was des Gewohntwerdens bedurfte, hatte Alles vergessen, was ein Küster von St. Gertrauden, dem 1730 bis 1735 warnend im Geständniß standen, vergessen mußte, war Kind geblieben, ungeachtet die alte Marga von Jahr zu Jahr mehr Bartseife von Wolfenbüttel verschreiben mußte, war immer stiller und immer friedfertiger geworden, je mehr die Möglichkeit einer Doppelexistenz in das Reich der Jugendphantasieen hinabsank, und spann sich allmählich in jenes Traumleben harmloser Naturen hinein, das in heiterer Unbedeutendheit und auf der ebenen Straße des Nichterlebens fast dasselbe Glück schon erreicht zu haben scheint, nach welchem stürmische Naturen auf gefahrdrohenden Wegen noch erst jagen.

Der Küster von St. Gertrauden wäre nicht so bald zum Entschluß gekommen, ob er nach Hause gehen oder ob er die Pfarrwittwe benachrichtigen solle, hätte sich nicht von fern auf der Landstraße ein fechtender Handwerksbursche gezeigt, der ihn aus seinen Betrachtungen aufstörte. Sein Herankommen abzuwarten, das schien ihm ein zu großer Zeitverlust er hätte den Werth der Zeit nimmer bedacht, wenn es nicht auf einen Andern zu warten galt; sich davonzumachen, das sah einer durch Geiz eingegebenen Flucht gleich. Er zog seinen Tabaksbeutel und holte einen kupfernen Dreier hervor; dann fiel ihm aber ein, wie er selbst schon heute früh einen Groschen vertrunken hatte, und wie unchristlich es sei, einen dürftigen Bruder nach eigener Sättigung so kärglich zu bedenken. Er nahm deshalb einen Groschen heraus, wickelte ihn in Papier und machte dem noch Entfernten durch Zeichen verständlich, daß ein Reisepfennig für ihn auf dem Chausseesteine liege.

Jetzt besann er sich nicht länger. Durch die Almosenreichung aus seiner Unentschiedenheit aufgerüttelt, faßte er sich ein Herz und ging auf das jenseits der Weidenbäume gelegene Wittwenhaus mit festen Schritten zu. Er überschaute es der ganzen Front nach. Sechs Fenster in der Breite, drei unterm Giebel, durch Weinranken versperrt und wohl seit manchem Jahre aus Besorgniß vor dem Einsturz der wetterbraunen Spitze nicht mehr geöffnet; in dem anstoßenden Stallgebäude zwei mit Blumentöpfen ausgestattete Fenster, einer Stube angehörend, welche als Ersatz für die verlassenen Giebelräume wohnbar gemacht worden war; zur Linken, in den Obstgarten vorspringend, die seit Langem nicht mehr benutzte Scheune, grün bemoos't, von Johanniskraut überwuchert, ihrer großen Flügelthüren beraubt und den freiesten Einblick gestattend auf die lehmgeebnete Tenne, den Spielplatz mancher vergessenen Kindergeneration. Die Morgensonne schien voll hinein und beleuchtete die schillernden Farben der auf der Tenne behaglich sich sonnenden Hühner. Ein schöner, goldstrahlender Hahn klappte mit den Flügeln, daß rings Stroh - und Futterreste umhertanzten, und ließ mit geschlossenen Augen seine Stimme erschallen. Von Weitem klang eine etwas melancholische Antwort: der Küster glaubte den schwarzen Einsiedler der Küsterei an der Stimme zu erkennen, und ihm ward in des Eingesperrten Seele gar weich zu Muthe. Auch Tauben flogen über die Tenne hin und her, einige auf beständiger Flucht, andere in unermüdlicher Verfolgung begriffen. Ein röthlich gelbes Kätzchen saß mit halb geschlossenen Augen auf der sonnigen Scheunenschwelle und nahm spielend das Köpfchen zwischen beide Vorderpfoten, wie um dem stehen gebliebenen Küster anzudeuten, daß sie nichts dagegen habe, wenn er mit ihr anbinden wolle. Ein kleiner unbeholfener Hund kam kläffend zum Vorschein, blieb einen Augenblick in sicherer Ferne stehen, erschrak aber, als der Fremde die Hände in einander legte, und überschlug sich beim Davonlaufen, was neuen Schrecken und ängstliches Quieksen zur Folge hatte.

Der Küster wollte weiter gehen, aber er ließ sich immer wieder von Neuem Zeit, mit den Blicken aus der sonnigen Tenne umherzuwandern. Was ihm durchaus nicht einfiel, war, daß er im Grunde lauter längst vergessenes Spielzeug wieder beisammen hatte, Hund, Katze, Tauben, Hühner, gute Gefährten seiner Kinderjahre, immer aufgelegt mit sich spielen zu lassen, eines Bauernkindes beste Kameraden, für die alles Nürnberger Spielzeug ein Stadtkind nur dürftig entschädigt. Wenn das Stadtkind der Blechtrompete überdrüssig wird, wenn das Schaukelpferd Mähne und Schwanz einbüßt und dadurch seine Hauptreize verliert, wenn der Hampelmann Arme und Beine schlaff hängen läßt und die Bleisoldaten nur noch zum Einschmelzen tauglich scheinen, da hat das Bauernkind sein lebendiges Spielzeug noch im besten Stande, und wo ein richtiger Hof ist, giebt's ohn 'Unterlaß Neues und immer Neues: heute junge Kaninchen, morgen possierliche Frischlinge, übermorgen ein steifbeiniges Kalb und überübermorgen gar ein Füllen, das wie auf Stelzen geht und weder wenn es ausschlägt, noch wenn es zu galoppiren versucht, gefährlich ist. Ja, die Dorfkinder haben's gut mit ihrem fröhlichen Spielzeug, das mit ihnen aufwächs't, mit dem sie selbst groß und verständig werden, und das sie nicht nach der Einsegnung über die Achsel anzusehen brauchen, im Gegentheil, besten Werth und Nutzen sie dann erst begreifen lernen, und dessen stete Nähe ihnen immer ein Stück seliger Kinderzeit vor Augen bleiben läßt. Fragt so manchen Bauern, warum er sich mit dem Viehstand plagt, statt sich zur Ruhe zu setzen und Rahm und Käse gleich den Städtern von Andern zu kaufen. Er weiß es nicht, aber er bleibt doch dabei, und wir errathen leicht, um welcher geheimen Ideenverbindung willen. Fragt den Küster von Gertrauden, warum er seinen Blick nicht von der Tenne läßt. Er weiß es nicht, oder er meint doch, weil er sich fürchte, ins Giebelhaus zu treten und die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten ohne Berufsgeschäfte aufzusuchen. Aber drinnen auf der Tenne hat er vor drei Jahrzehnten mit der damaligen Pfarrerstochter getanzt, und sind die Schuhe beider Tänzer auch längst vertreten und den Weg alles Leders gegangen, wenn ja die kleinen Füße beschuht waren, es trippelt doch noch etwas in der Erinnerung des Küsters herum, auf das er sich nicht besinnen kann, das ihm aber beim Anschauen der sonnigen Tenne fast wieder deutlich vor die Seele tritt und die Hauptschuld trägt, daß er sich in dem lächelnden Anschauen des alten Spielplatzes von der Wittwe selbst überraschen läßt.

Frau Pastor Anna Malter ist es in der That, die eben aus der Thür des Giebelhauses tritt und den fremd gewordenen Besucher einen Augenblick von ferne mustert, ungewiß, ob es der Nachbar aus der Küsterei oder der ihr durch ein unverständliches Gerichtsschreiben angekündigte Wolfenbütteler Amtsbote sei. Sie ist zart von Wuchs und blaß von Farbe. Die Krugwirthin würde sie zu Denjenigen gezählt haben, welche schwach im Leibe werden, wenn sie einen Kessel vom Feuer heben oder von zwei Uhr früh bis Mittag am Brunnen Zeug waschen sollen. Und mit Recht. Ihre Gesundheit hat gelitten, seit ihr plötzlich die Sorge für Unterhalt und Erziehung fünf unerwachsener Kinder allein auf die schmalen Schultern geladen worden ist, seit ihr ein Rechnungswesen zugefallen ist, von dem sie nichts begreift, und ein Rathgeber entrissen ward, dessen Unentbehrlichkeit sie jetzt erst zu ahnen beginnt. Drei Kinder sind ihre eigenen, zwei sind die der ersten Frau des seligen Herrn. Da giebt es abgesagte Gelder, vormundschaftliche Anfragen, gesteigerte Verantwortlichkeit schon um der vorausgesetzten Parteilichkeit willen, deren bloßen Schein es zu vermeiden gilt. Sie soll einen Curator wählen, und hat doch kein Vertrauen zu den ihr vorgeschlagenen. Von einem Monat zum andern hat sie ihren Entschluß verzögert, und durch die Verschleppung ist die Klärung des Nachlasses nur noch schwieriger geworden; sie mag kaum noch daran denken.

So hatte die Bedrängniß der Wittib des wohlseligen Herrn, heißt es in den Denkwürdigkeiten, diejenige Höhe erreicht, von welcher der Prophet Elisa redet, und die der König von Syrien verspottete, als er dem Weibe antwortete: hilft dir der Herr nicht, woher soll ich dir helfen? Von der Tenne oder von der Kelter?

Der Küster hatte indessen zu jener Zeit wenig Ahnung von der Stimmung, in welcher er die Pfarrerswittwe fand. Er brauchte sogar eine Weile Sammlung, um sich auf die Veranlassung seines Besuchs zu besinnen. Als er den Inhalt der Verkaufsanzeige endlich zusammengefunden und in möglichst amtsmäßiger Weise vorgetragen hatte, wartete er auf eine Aeußerung seiner Zuhörerin, die ihrerseits aber durch das Vernommene so sehr betroffen worden war, daß sie keine Antwort zu geben vermochte.

Das Haus ist alt, sagte er endlich, um nur etwas zu sagen, und ich thue vielleicht Unrecht, wenn ich es erhalten wünsche. Nur habe ich mich seit manchem Jahr an seine Nachbarschaft gewöhnt und kann mir nicht vorstellen, wie die Küsterei drüben sich ausnehmen wird, wenn hier abgerissen und aufgeräumt werden sollte. Er machte Anstalten, sich zum Rückzüge vorzubereiten, immer mehr der Vermuthung Raum gebend, er habe sich eine fremde Sache zu Herzen genommen, ohne dazu berufen zu sein. Aber die Wittwe nöthigte ihn ins Haus und in die Fremdenstube. Sie habe Niemanden, der ihr rathe, sagte sie, den Küster zum Sitzen einladend, und da komme Eins über das Andere sie wisse gar nicht mehr aus noch ein. Ein Mann habe Erfahrungen mancher Art und könne sich durch Formen und Geschäfte durchhelfen. Was verstehe sie davon? Sie habe schon mehrere Male daran gedacht, ihn über die Nachlaßbesorgungen befragen zu wollen warum es unterblieb, sagte sie nicht er könne ihr einen großen Dienst leisten, wenn er zu ihren Angelegenheiten schauen wolle. Es liege wie ein Alp auf ihr. Sie möchte am liebsten auf und davon gehen setzte sie, die letzte Fassung verlierend, hinzu und bedeckte ihre Augen mit der Schürze, aufgeregt und erleichtert zugleich durch das begonnene Aufschließen ihres Innern, von welchem seit einem Jahr und wohl noch eine gute Weile länger der Riegel nicht zurückgezogen worden war.

Der Küster schlug die Augen nieder, völlig unfähig, sich in die ihm plötzlich aufgenöthigte Stellung zu finden. Nie war ihm etwas Aehnliches begegnet. Die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten in Thränen, rathlos, ihm sich ausschließend, ihm, der sich vor Zeiten und noch vor einer Viertelstunde kaum getraute in ihrer Gegenwart niederzusitzen, nicht etwa weil sie hochmüthig oder herrisch gegen ihn gewesen wäre, aber um eines von ihm empfundenen Abstandes willen, über den er selbst nie ganz klar geworden war! Verlegenheit, Bedrängniß, Noth wohl gar in dem Hause Derjenigen, deren goldene Hafergarben noch ungedroschen auf dem Boden der Küsterei lagen und die Mäuse über seinem Kopfe bei guter Laune erhielten! Abermals entfaltete seine Einbildungkraft ihre ungemessenen Flügel. Er sah nicht nur das Giebelhaus versteigern, auch den Hausrath, auch den Bücherschrank des seligen Herrn, seine Meerschaumpfeifen, seine drei Brillen, die goldumrahmten Confirmandenwünsche, die im Glasschrank aufgestapelten Weihnachtsstickereien seiner ersten und seiner zweiten Gattin, die mit Geburtstagsgedichten bedruckten Atlasbänder die eigenen darunter wußte der Küster noch auswendig das Gypspantheon über dem Kachelofen mit lädirten Statuen der Diana, Apoll's und einer namenlosen Muse, den lackirten Papierkorb, von dessen Inhalt die Heizung der Sakristei in milden Wintern bestritten wurde, die zwei Bronzeleuchter, die einzigen in Hedeper, in denen überdies noch die vor zehn Jahren während der Trauung benutzten Wachskerzen prangten, die aufgenagelten falschen Geldstücke, auf die der selige Herr bei Privatreprimanden gern bildlichen Bezug nahm, die in der Gemeinde confiscirten ungestempelten Spielkarten, eine Sanduhr, ein Todtenkopf, ein Hahnenschweifwedel draußen krähte der stattliche Hahn, und von fern antwortete der melancholische Einsiedler der Küsterei; Herr Habermus konnte des alten Kameraden Stimme deutlich erkennen. Er fuhr mit der Hand über die Augen, und als er fand, daß kein Traum ihn be - trüge, daß die Wittwe ihm rathlos gegenüber sitze und von ihm Beistand in ihrer Verlegenheit erwarte, da nahm er zu seinem gewöhnlichen Schutzheiligen, einem dehbaren Bibelspruche, seine Zuflucht und schloß mit der Versicherung, daß er mit Gottes Beistand ihr über alle Noth wegzuhelfen gedenke.

Die bedrängte Frau hatte inzwischen wieder hinreichende Fassung gewonnen, um die Gefühlsseite dem geschäftlichen Theile dieses Vorgangs unterzuordnen und die Hauptsachen, welche erledigt sein wollten, einigermaßen in Reihe und Glied zu bringen. Die Nachlaßangelegenheiten wurden erst oberflächlich berührt, dann eingehend und mit zunehmender Ausführlichkeit zusammengetragen, wobei freilich weder sie noch der in solchen Dingen völlig unbewanderte Rathgeber Abschweifungen vermieden, die zur Aufhellung der Sachlage nicht nöthig waren und der Wittwe immer wieder Thränen in die Augen brachten. Ueber allgemeinen Betrachtungen, die sich der Küster hierbei nicht versagen konnte, ging dann der eben gewonnene Ueberblick Beiden von Neuem verloren. Doch floß jedes solches, dem weichen Herzen des Küsters entquellende Wort wie mildes, besänftigendes Oel in die bewegte Brust der Pfarrerswittwe, und die balsamische Wirkung des Verstandenseins that ihrer Seele wohler, als wenn der geschickteste Braunschweiger Notar in fünf Minuten ihr aus dem chaotischen Papier - und Zettelgewirr ihrer Buchführung eine regelrechte Bilanz mit stattlichem Ueberschuß der Einnahmenseite zusammen - getragen hätte. Immer rückhaltloser that sie die Geheimfächer nicht ihres Inneren, denn dem Küster fehlte für solche Wahrnehmungen jede Anlage, und ihm gingen daher alle naheliegenden Auslegungen verloren wohl aber ihres Haus - und Rechnungswesens auf, und was sie in der ersten Viertelstunde ungenau angegeben hatte, wie man gern durch einzelne Verschweigungen und Unrichtigkeiten sich über zu rasche und zu weit gegangene Mittheilungen andererseits selbst beruhigt, das berichtigte sie in der zweiten Viertelstunde, um in der dritten nochmals mit neuen Zusätzen darauf zurückzukommen. Weder sie noch Herr Habermus hatten von dem wirklichen Verhältniß der Nachlaßmasse eine Anschauung gewonnen, als die Mittagstunde schlug und er zum verspäteten Läuten eiligst aufbrach. Aber in dem Auge der Frau Anna leuchtete es zum erstenmale wie zurückkehrende Gesundheit, nun sie zu den Kindern trat, die auf des Hauses anderer Seite im Lindenschatten mit Hanfbrechen beschäftigt worden waren. Eine Wolke, die ihre Stirne lange umflort hatte, begann langsam, langsam zu verfließen. Sie hatte einen Rathgeber gefunden, hatte ihr Herz erleichtert, hatte sich ausgeweint, und zwar mit anders nachhaltiger Wirkung, das fühlte sie, als während der ersten fünf thränenreichen Jahre ihres Ehestandes, ja als während der fünf thränenarmen, welche jenen folgten, und des langen, dumpfen Wittwenjahres das eben zu Ende ging.

Viertes Kapitel. Anstoß.

Kleinigkeiten sind die endlosen Ursachen von Weltereignissen. Das vermeintlich zu große Fenster in Trianon ward zur Pforte des Janustempels und spie Brand und Verwüstung über Deutschland aus. Ein Glas Wasser, versicherte Voltaire, löschte die erbittertste Kriegesfackel, welche je zwischen Frankreich und England geschwungen worden ist. Das Spottlied eines alten Tuchmachers, das derselbe unter Otto des Großen Denkmal in Magdeburg sang, blies den dortigen Bischof und seinen ganzen Anhang von ihren Sitzen und eroberte dem evangelischen Glauben eine ihrer Hauptvesten. Ein unerklärter Schuß, vor dem Pariser Ministerium des Innern abgefeuert, setzte die schon verglimmenden Kohlen der französischen Februarrevolution wieder in helle Flammen, stürzte einen Königsthron und wiederhallte so mächtig durch ganz Europa, daß seine Gehörnerven noch jetzt die Luftschwingungen des Echo's zu spüren behaupten.

Kleinigkeiten sind die endlichen Ursachen von Welt-ereignissen. Nicht daß wir den Horizont dieses Abrisses plötzlich ins Unermeßliche zu erweitern beabsichtigten; nicht, daß wir aus dem stillen Küster von Hedeper zur Überraschung unserer Leserinnen einen jener trefflichen Männer zu entwickeln gedächten, deren Predigtsammlungen an regnerischen Sonntagsmorgen ihnen die Hausandacht so manches Mal erbaulich gemacht und sie vor nassen Füßen behütet haben; nicht daß wir aus der Anspruchslosigkeit einer Idylle in die schönrednerische Untrüglichkeit einer akademischen Biographie überzulenken und ein für allemal festzustellen wünschten, was bis dahin als sagenhafte Nachricht von einem bedeutenden Charakter der weitesten Auslegung fähig war. Verschollen ist der Küster von Hedeper, und selbst seine Denkwürdigkeiten, die uns als Anhalt für diese Schilderung dienen, liegen nur in wenigen schlecht erhaltenen, wenn auch sauber geschriebenen Papierstreifen vor uns, kostbare Reste einer zu Schneidermaaßen verschnittenen Lebensskizze, in welche des seligen Herrn Pfarrers älteste Tochter bei ihrer Verheiratung die getrockneten Blumenangebinde ihres Bräutigams wickelte und die solcher Art den Weg in die Schneiderstube der Wolfenbütteler Bürgermeisterin fanden, wo ich sie unlängst auflas, während die Frau Bürgermeisterin meinen Reisepaß visirte. Verschollen ist der friedliche Küster von Hedeper. Die Welt spricht nicht von ihm, und Weltereignisse knüpfen sich nicht an die Fußspuren, die er im Hedeper'schen Torfboden hinterlassen. Aber was waren ihm Weltereignisse? Nicht der Sturz Carl's X., nicht die Entdeckung der australischen Goldlager, nicht die Erfindung der Dampfwagen, des elektrischen Telegraphen konnten ihm dafür gelten. Seine Welt begrenzten die Meilensteine der Hedeper Chaussee, seine Weltereignisse waren Visitationen Seitens des Konsistoriums, Thurmknopfvergoldungen, Kanzeldeckengeschenke, Anschaffung neuer Zifferbretter, Kirchenstuhlvermiethungen, Grabverkäufe, Nothtaufen, Armesünderbeerdigungen, und vor allem solche Vorfälle, welche geeignet schienen, die überlieferte Ehelosigkeit der Hedeper Küster in Gefahr zu bringen.

Und hier müssen wir zweier Kleinigkeiten Erwähnung thun, welche ein Weltereigniß solcher Art verschulden konnten: einerseits des in Papier gewickelten Groschens, andererseits des Wittwenzaun-Erkletterns, dessen sich der Küster schuldig machte, als er zum verspäteten Mittagsläuten den kürzesten Weg einzuschlagen für gerechtfertigt hielt. Der eingewickelte Groschen wurde von der ledigen ältesten Habermus entdeckt, ehe der Handwerksbursche herbeikam, führte zu Auseinandersetzungen zwischen diesem und der ältlichen Jungfrau und leitete sie auf die Spur des geistlichen Bruders, der ihrer Kurzsichtigkeit ohne diesen Wegweiser entgangen wäre. Sie beschloß sogleich in dem kaffeebraunen Hinterstübchen Posto zu fassen und, so gut die in der Küsterei aufbewahrte Brille des verstorbenen Oheims es zuließ, die Vorgänge im Giebelhause auf künstlich optischem Wege zu überwachen. Nachdem bei diesem Geschäfte ihre Geduld über die Gebühr auf die Probe gestellt worden war, erschreckte sie plötzlich der Anblick des Zaunkletterers, in dem sie Anfangs einen Kirchendieb witterte, bis sie, roth vor Beschämung und Entrüstung, ihren geistlichen Bruder erkannte. Während des folgenden Läutens absolvirte sie sich von dem sonst ihr geläufigen Mittagsgebet, auf die passendste Anrede bedacht, mit der sie ihren Bruder zu empfangen habe. Als sie ihn endlich eintreten hörte, richtete sie sich möglichst feierlich auf und wartete mit abgewandtem Gesicht des günstigsten Moments, in welchen sie ihn durch den Blick ihrer kleinen Augen und durch das gleichzeitige Entgegenstrecken ihrer spitzen Nase außer Fassung bringen könnte.

Kaum spürte der Küster die oft schon an ihm erprobte Wirkung, als ihm der ganze Umfang der von ihm begangenen Ungebührlichkeit auf die Seele fiel und seine gehobene Stimmung mit Gewalt niederdrückte. Was sollten die Leute sagen? Stunden lang ohne zwingendes Amtsgeschäft im Wittwenhause zu verweilen, war schon ein Verstoß gegen die Ehrbarkeit eines Hedeper Küsters. Aber nun noch das Fortschleichen auf heimlichen Wegen, das Ueberklettern des Zauns zwischen seinem und dem Wittwengarten, eines Zauns, der, wie das Apfelverbot im Paradiese, allen bisherigen Bewohnern der Küsterei für heilig gegolten haben mochte, und der nun plötzlich um seine makellose Unberührtheit gebracht worden war. Der Küster legte seinen schwarzen Filzhut geräuschlos hinter den ungeheizten Ofen und stellte sich mit dem Rücken gegen diesen, in der Verlegenheit vergessend, daß seit fünf Monaten kein Kienspahn hinein gethan worden war, und daß draußen eine Augusthitze von etlichen zwanzig Grad auf den Dächern brannte.

Du thust Recht, begann endlich die Schwester, nicht zu nahe ans Fenster zu treten und deiner Schwester nicht ins Gesicht zu sehen. Die Beschimpfung des Namens Habermus steht dort in Flammenschrift zu lesen.

Friederike ... stammelte der Bruder und faltete rathlos die Hände.

Du schämst dich! hob sie abermals an, bleibe nur in deinem Hinterhalt stehen, und laß die Reue den Flecken fortbrennen, der unsern Namen von heute an beschmutzt hat.

Friederike! sagte der Küster von Neuem.

Nenne mich nicht! wiederholte die Schwester, mit wachsender Heftigkeit die Brille des Oheims in die Höhe haltend. So wahr ich jetzt in jungfräulichem Schmerz diese Reliquie deines untadeligen Vorgängers gen Himmel hebe, so wahr wird, was ich durch sie erblicken mußte, gegen dich zeugen und Wehe über dich rufen, wenn du einst dahin berufen sein wirst, wo sie schloß ihre Rede mit einer Geberde, die dem Küster bedeutete, ihr versage der Athem, und sie werde die Schmach nicht überleben.

Ehe indessen seine Antwort auf der Zunge war, hatte sie von Neuem Kraft genug, um ihre Meinung über seine ewige Verdammniß, über das wuchernde Unheil, das er angerichtet habe, über den Fluch, den er auf alle seine Geschwister lade, über die Entweihung des kirchlichen Kleides und das Heraufbeschwören des göttlichen Zorns mit so lebhaften Farben dem Gemüthe des Bruders vorzuführen, daß er zerknirscht in seinen Lehnstuhl sank und dem schwarzen Hahn kaum Zeit ließ, seinen Lieblingsplatz auf dem Stuhlkissen in Hast zu räumen.

Dann schlug sie heftig mit ihrem Strickbeutel auf den Tisch, verschwor sich, die Küsterei nie wieder zu betreten, ließ eine Verwünschung gegen alles Weibervolk los, das nach ledigen Mannspersonen angle, versetzte mit ihrem Schirm dem ängstlich umhertrabenden Spornträger einen Seitenstoß und entfernte sich mit lauteren Schritten, als die Küsterei seit manchem Jahrzehnt vernommen hatte.

Sie war schon eine Viertelstunde fort, ehe der. Küster die Fassung wiederfand, um welche ihn der schwesterliche Zorn und sein eigenes Schuldgefühl gebracht hatten. Marga vervollständigte bei ihrem Erscheinen die Gedanken der grollend Fortgegangenen in einer Weise, daß eine Verabredung zwischen der Letzteren und der alten Haushälterin dem Küster nur zu unzweifelhaft schien. Während des Tischdeckens versuchte er vergebens dem Redestrome durch begütigende Vorstellungen eine andere Wendung zu geben; da er indessen aus langjähriger Erfahrung wußte, daß seine Hausgenossin von Zeit zu Zeit solcher Gelegenheiten zum Austoben bedurfte, so begnügte er sich bald, über der versalzenen Bohnensuppe und dem angebrannten Rindfleisch seine Umgebung zu vergessen, so gut sich's eben thun ließ. An ein Schälchen Kaffee war heute nicht zu denken. Man hatte Tags vorher, hieß es bei solchen Gelegenheiten, den Rest gebraucht, und die neue Sendung aus Lüneburg müsse erst abgewartet werden. So schwer sich der Küster auch den gewohnten Nachmittagstrank versagte, so fand er sich doch ins Unvermeidliche und suchte im Marcus Paulus Trost für das, was ihm an häuslicher Behaglichkeit fehlte. Aber mit dem Lesen wollte es heute nicht gehen. Der Unmuth Marga's donnerte noch zwischen den Töpfen und Schüsseln in der Küche; der Hahn hinkte auf einem Bein und ließ die Flügel kläglich hängen; des Oheims Brille starrte mit Argusblicken vom Fensterbrett herüber; das Kreidebild aus seiner Jugendzeit, das neben dem Pfeifenstande hing, und auf das die Geberden der Schwester wie auf ein verlorenes Land der Unschuld und Paradiesesreinheit hingedeutet hatten, guckte aus dem gesteiften Knabenkragen wie ein lebendiger Vorwurf heraus und schien im fortwährenden Stirnrunzeln begriffen; das ganze kaffeebraune Stübchen schaute mürrisch und verdrießlich aus; ja die Mäuse über der Zimmerdecke verhielten sich so ungewöhnlich still, als sei ihnen der Appetit an dem goldenen Hafer vergangen, seit die Eigenthümerin desselben ihren Nachbar ins Vertrauen gezogen hatte.

Wohl eine Stunde saß der Küster ganz unschlüssig und rathlos im Lehnstuhl, den Eindrücken seiner Umgebung sich wehrlos hingebend und seine Lage nur dann verändernd, wenn einer derselben ihm zu mächtig werden und ihn völlig um seinen Gleichmuth bringen wollte. Er wagte nicht aus dem Fenster zu schauen, aus Furcht, er werde den Zaun und sichtbare Spuren von dessen Entweihung erblicken. Als er einmal bei einer Kopfwendung den überhängenden Giebel gewahrte, glaubte er denselben deutlich wackeln zu sehen. Er fühlte ganz klar, daß ihm ein plötzlicher Einsturz des Giebels in dieser Minute auch nicht die geringste Ueberraschung bereiten würde, obschon er sonst immer zu den Anhängern des Wolfenbütteler Zimmermanns gehört und an die Unverwüstlichkeit des Wittwenhauses geglaubt hatte.

Am Ende entschloß er sich zu einem Gange nach dem Meierhofe am Erlenkamp. Er wollte seinem Bruder vorstellen, wie die Verhältnisse im Wittwenhause beschaffen seien, wollte ihn bitten, sich der Frau anzunehmen, Curator der Wittwe, Vormund der Kinder zu werden und wegen des Hausverkaufs diejenigen Schritte zu thun, welche etwa im Interesse der Bewohner des Giebelhauses rathsam erscheinen könnten.

Mit dem Vorsatz, sich solcher Art der eingegangenen Verpflichtungen zu entledigen und zugleich den Ruf der Wittwe, so wie seinen eigenen, vor Nachreden zu wahren, holte er seinen Filzhut hinter dem Ofen hervor und machte sich auf den Weg.

Fünftes Kapitel. Sie hat's gut!

Der Meierhof lag in behaglicher Ruhe vor dem Küster, als er, aus dem Erlenkamp biegend, an dem Teiche entlang dem Ziele seiner Wanderung zusteuerte. Auf dem grün blühenden Wasser schwammen schnatternde Enten, und goldgelbe Entchen platschten hinterdrein, bald die Hälse untertauchend und mit den Füßen hoch oben mühsam das Gleichgewicht bewahrend, bald mit den Flügeln klappernd und sich ganz aus dem Wasser hebend. Ein Nachen voll Wasser lag noch am Strande; der Küster kannte ihn aus guter alter Zeit; bei einem Ferienaufenthalt des Wolfenbütteler Scholaren war zuletzt darin gefahren worden, und seitdem diente er nur noch im Winter den Schlittschuhläufern als Platz zum Anschnallen und Ausruhen. Wie manches Mal hatte er auf diesem Teiche, wenn der Winter glatte Bahn und rothe Nasen brachte, seine ältere Schwester im Schlitten umherkutschirt, oft länger, als ihm's Freude machte, bis ihm die Hände starr und die Füße lahm waren, aber immer ihrem Willen gefügig, kaum je sich einfallen lassend, daß es anders sein könnte.

Ihm kamen neue und wieder neue Vorgänge ins Gedächtniß, die seine Schwester als herrisch befehlend ihm vorführten. Hatte er eigentlich je einen eigenen Willen ihr gegenüber gehabt? War er je im Stande gewesen, dauernd Widerstand zu leisten, wenn sie nicht seiner Meinung war? Und hielt der Grund ewig vor, den sie für seine Unterordnung geltend machte, immer, immer wieder, daß sie nämlich an seiner Wiege ihre Jugendtage versäumt und seinetwegen nicht geheirathet habe? Der Küster rückte den Filzhut aus der Stirne. Wie lange in aller Welt hatte er denn in der Wiege gelegen? Es kam ihm zum erstenmal in seinem Leben der Gedanke, daß das nicht so viele Jahre gewesen sein konnte, als ein junges Mädchen zum Blühen braucht. Er dachte Anfangs, über fünf Jahre habe er doch schwerlich in dem Korbmacherbette verträumt; dann schienen ihm vier Jahre noch mehr, als aller Wahrscheinlichkeit nach seine Wiegenzeit gedauert hatte. Endlich fiel ihm ein, sein jüngstes Schwesterchen habe er selbst gewiegt und im zweiten Jahre sei es schon ins Holzbett gekommen. Er war über die Kürze der ihm als endlos vorgehaltenen Opferjahre so außer Fassung gebracht, daß er seinen Filzhut abnehmen mußte, um sich Luft und Erleichterung zu verschaffen. Aber freilich, was folgte daraus, wenn er auch die Schuld seiner Dankbarkeit gegen die Schwester um eine runde Summe verminderte? Blieb deßhalb weniger wahr, daß er Küster zu Hedeper geworden, daß ein Küster zu Hedeper seit Menschengedenken zur Ehelosigkeit verurtheilt und als ein Wesen betrachtet war, über dessen Thun und Lassen aus diesem Grunde der ganze Ort vormundschaftliche Aufsicht zu führen hatte? Hielt er nicht selbst dafür, daß ein Christ, der zum Islam übertritt, nicht viel tiefer sinkt, als ein Küster Namens Habermus, der gegen den Brauch des Cölibats verstößt?

Er blieb sinnend stehen, denn es kam ihm vor, als halte auch dieser traditionell gewordene Vergleich nicht mehr Stich, und als sei die Zeit vorüber, wo er zu dergleichen Glaubensartikeln Amen sagte. Noch brannte in ihm das ungefährliche Feuer der Entrüstung über die fälschliche Verlängerung seiner Wiegenzeit, und er war nicht abgeneigt, alles von der Schwester Behauptete um jener einen Fälschung willen zu bekämpfen. Je näher er aber dem alten Meierhofe kam, desto mehr fiel er in die strengere Auffassung seines Standes zurück, die ihm hier seit seiner frühesten Zeit anerzogen worden war. Drüben hinter dem Wagenschuppen hatte er seinen Platz, gehabt, wenn die Geschwister Kirchgang spielten. Nur er durfte dort stehen und die große Kuhglocke läuten, die vor uralten Zeiten dort zu diesem Spiele aufgehängt worden war. Das Holzdächlein über der Glocke stammte aus seiner frühesten Zeit. Er hatte nicht leiden wollen, daß Spatzen sich auf die Glocke setzten und sie zum Läuten brachten. Der Vater selbst war dem Kinde mit dem abwehrenden Dächlein zur Hand gewesen, froh darüber, daß es auf seine Privilegien halte.

Wo jetzt der Weizenschober stand, hatte er früher auf leeren Biertonnen seinen Ehrenplatz, so oft die Ge - schwister Ringelreihen tanzten. Leere Tonnen waren seine Orgelpfeifen, ein alter Hammer ersetzte die Tastatur; kein Anderer als er hatte das Recht droben zu sitzen und zu orgeln, und der Vater hatte es sehr übel vermerkt, als die Geschwister einmal einen Leiermann zum Aufspielen herbeigeschleppt hatten. Und war's ihm nicht auch dafür verboten gewesen, mitzutanzen, Blindekuh, Topfschlagen, Bergmann mitzuspielen? Blieb ihm nicht, eben dieser Absonderung wegen, das Abenteuer mit der Sandfuhre in der väterlichen Geige im Gedächtniß, bei welchem Abenteuer die jetzige Pfarrerswittwe einen Theil der ihm zugedachten Schläge mit auf den Weg bekam? Hatte er nicht jetzt erst fiel's ihm wieder ein mit ihr auf der sonnigen Tenne des Giebelhauses getanzt und, als Anna's Vater herbeikam, wohl eine Stunde lang unter einem umgeworfenen Holzkorbe verborgen gesessen, mäuschenstill, die Anna neben ihm, beide durch das Geflecht nach dem alten Pfarrherrn blinzelnd, der wegen Regenwetters seine Nachmittagspromenade auf der geschützten Tenne hielt und dabei die nächste Sonntagspredigt memorirte? Ihm ward bei dem Gedanken an diesen Jugendstreich ganz warm ums Herz, und es schoß ihm durch den Sinn, als sei er noch heute nicht zu alt zur Wiederholung desselben, als sei er jung geblieben, und als liege die Grenze noch fern, die er in so mancher kleinmüthigen Stimmung schon als längst überschritten betrachtet hatte.

Schönen Gruß, Herr Schwager! klang ihm beim Betreten des Hofs jetzt eine helle Stimme entgegen. Die kugelrunde Gattin des Bruders saß, Rübchen schabend, auf der Steinbank vor der Thür, den Jüngstgeborenen auf dem Schooß, die zwei kleinen Töchter neben sich, beiden abwechselnd neue Rüben zureichend, so oft eine ihren Vorrath abgethan hatte. Setzt Euch und sagt, was uns die seltene Ehre verschafft, fügte sie hinzu, indem sie einen Sitz auf der Bank frei machte.

Der Küster dankte und ließ sich mit gewohnter Würde nieder. Wo ist mein Bruder? fragte er nach Erledigung der näher liegenden Erkundigungen.

Weiß nicht, versetzte die Meierin, in der Arbeit fortfahrend. 'S wird wohl nicht gar lange dauern. Er hat nur den Knechten beim Heuumlegen nachschauen wollen.

Sie hatte eine Menge Wirthschaftsgedanken auf dem Herzen, die sie den Kindern nicht vorplaudern konnte, und die jetzt der Schwager hören mußte. Im Korn sei diesmal noch mehr Mutterkorn als im letzten Jahr; die Katze habe sechs Junge geworfen, zwei schwarze, die anderen vier habe der Schwager wohl im Teiche schwimmen sehen? Steinobst gebe es diesmal sehr wenig, Kernobst so so. Zwischen den Tauben sei gestern der Marder gewesen; der Knecht wolle ihm mit der Flinte auflauern. Sie gebe es aber nicht zu, ein Marderschuß habe schon manches Strohdach in Brand gesteckt. Mit dem Schleußenbau werde man's nun doch nicht länger anstehen lassen können. Die Kuhmagd habe ein Unglück gehabt. Butter koste in Wolfenbüttel sieben Groschen. Schinken geben sie dieses Jahr nicht weg und was dergleichen Wirthschaftsreden mehr waren.

Der Küster nickte zustimmend, je nachdem in dem Vorgetragenen ein Ja oder Nein vorausgesetzt war. Dazwischen streichelte er wohl einem der Mädchen ein loses Haar aus dem Gesicht oder blinkte dem Jüngsten zu, der mit den wasserblauen Guckern Himmel und Erde belugte und die nackten Füße unablässig bewegte, im dunklen Naturdrange des Ausarbeitens der kleinen Gliedmaßen begriffen.

Ja, trample nur, du armer Schelm! sagte die Meierin, als sie einen dem Säugling geltenden Blick des Schwagers auffing. Ist's nicht hart zu denken, daß der arme Tropf in die Küsterei muß und es dermaleinst gerade so schlecht haben soll, wie Ihr es habt?

Das Amt hat auch seine guten Seiten, versetzte der Küster kleinlaut und wenig überzeugt von dem, was er vorbrachte. Man lebt still und friedlich seinen Berufsgeschäften und hat wenig Gelegenheit, Böses zu sehen und nachzuthun.

Macht mir das nicht weiß! sagte die Frau, ihre Schürze von Neuem mit Rüben füllend. Der katholische Brauch, wonach der Kirchendiener ledig bleiben muß, ist nicht viel besser als die Schwierigkeit, die das dienende Volk findet, wenn sich's ehrbar zusammenthun will. Was geschehen soll, geschieht doch. Meiner Seel, lehrt mich doch die Welt nicht kennen!

Dem Küster stieg das Blut in die Wangen. Er gedachte des heutigen Schleichwegs, des Zaunkletterns, des schwesterlichen Unwillens, und er wagte nicht auf eine Lauterkeit zu pochen, gegen die sich gerade heute so mancher Verdacht geltend machen ließ.

Die Küsterei in Ehren! hub sie nach abermaligem Rübenaustheilen wieder an. Ich will nicht behaupten, was ich nicht weiß. Eure Vorgänger mögen brave Leute gewesen sein, obschon die alte Marga nicht immer so vertrocknet und verhotzelt war, wie sie es seit Eurer Amtsthätigkeit ist. Wo sie herstammt, weiß ich nicht, was Andere darüber wissen wollen, geht mich nichts an. Euer Großoheim ist längst vermodert, und ich will ihm nichts Böses nacherzählen.

Der Küster deutete mit ängstlichen Blicken auf die kleinen Mädchen hin, deren Anwesenheit die Mutter übrigens nach Bauernart noch niemals abgehalten hatte auszusprechen, was ihr gerade in den Mund kam, weßhalb sie auch diesmal des Schwagers Vorsicht nicht theilte.

Aber das weiß ich, fuhr sie fort, indem sie dem kleinen Küsterei-Aspiranten ein trocknes Tuch unterschob, daß mir immer derjenige Eurer Vorgänger der liebste gewesen ist, von dem die Chronik meldet, der Teufel habe ihn mit einem Weibe bethört.

Der von 1730 bis 1735 im Amte gewesene? fragte der Küster, nicht ohne Scheu.

Derselbe, sagte die kugelrunde Schwägerin. Wenn's der Herr Doctor Martin Luther für eine Sünde gehalten hätte, ein Weib zu nehmen, da hätt 'er's hübsch bleiben lassen und sein Küster nicht minder. Es ist ein dummes Geschwätz, was sie von der Schlange im Paradiese erzählen. Geben sie ihr da im Kalender ein Weibergesicht, und auf dem Sakristeibilde nicht minder! Als ob Weib und Schlange eins wären, während die Bibel doch ausdrücklich das Gegentheil sagt und der Herr ewige Feindschaft zwischen dem Weib und der Schlange setzte! Die Sache verhielt sich ganz anders. Die Kraft hatte der Herr dem Adam gegeben, die Klugheit wollte er für das Weib im Hinterhalt behalten. Deßhalb verbot er dem Adam, von dem Baum der Erkenntniß zu essen; dem Weib verbot er's nicht, sie war noch gar nicht erschaffen. Aber die Schlange kam dem Herrn ins Gehege. Sie verrieth der Eva, daß der Baum klug mache, und wußte wohl, das Weib werde seine Weisheit nicht für sich behalten, wenn's einmal gegessen habe. So bekam der Mann auch sein Theil Klugheit ab, und da nur auf Eine Portion gerechnet war, so sind sie Beide nicht gescheidt davon geworden. Daß hernach der Herr sie nicht mehr in seinem Paradies um sich haben mochte, ist mir ganz begreiflich. Der Adam war feig genug gewesen, sein Weib vorzuschieben; das verdroß den lieben Gott. Es fiel ihm ein, daß der Adam an die Arbeit müsse, und da ihm die Eva mit ihrer halben Portion Klugheit auch nicht mehr recht war, so hat er sie eben Beide ausgetrieben und sich im Paradiese mit Thier - und Pflanzengesellschaft begnügt.

Ihr gebt da eine wunderbare Bibelerklärung, versetzte der Küster, nachdem die Meierin sich wieder zu ihren Rüben gewendet und die Antwort ihres mit offenem Munde dasitzenden Zuhörers nicht abgewartet hatte. Meine Vorgänger aber müssen anderer Meinung gewesen sein, und ich möchte den Lärm nicht erleben, wenn's in Hedeper ruchtbar würde, der Küster wolle freien.

Verlaßt Euch darauf, Schwager, sagte die Frau aufstehend, wenn dieser hier sie zeigte auf ihren Kleinen wenn dieser hier dereinst Euer Nachfolger wird, so führe ich selbst ihm ein Weib zu. Der soll nicht ledig und elend in die Grube gehen, so wahr mir Gott helfe! Sie legte etwas in ihre Worte, was dem Küster die Haare unter dem Filzhute auftrieb, etwa als habe sie den Zusatz: An Euch ist freilich wenig mehr verloren , nur mühsam verschluckt. Da kommt mein Mann, rief sie zurück, indem sie beim Gehen sich nochmals umwandte, und dem Küster schien's abermals, als habe sie das Wort Mann betont, um ihn fühlen zu lassen, er sei keiner.

Der Küster war von der letzteren Auslegung so empfindlich betroffen worden, daß er Zeit brauchte, um zu überlegen, was ihm eigentlich zu thun obliege, und ob es nicht an der Zeit sei, sich fürs Eine oder das Ändere mit Bestimmtheit zu erklären. Er wollte noch des Bruders Meinung erforschen, ehe er sich selbst entschied, und ging dem von fern Kommenden mit gewohnter Feierlichkeit entgegen.

Rike hat dir den Kopf warm gemacht, sagte der Meier, nachdem ihm der Küster den Zweck seines Besuchs vorgetragen hatte. Ich weiß schon Alles. Du bist ein Thor, daß du ihr nicht das Haus verbietest. Mir sollte sie mit ihrem Strickbeutel keine Beulen auf den Tisch schlagen. Im Uebrigen mußt du dir selbst rathen können. Mit Curatel - und Vormundsachen geb 'ich mich nicht ab. Meine Knechte und Mägde würden's bald merken, wenn ich ihnen nicht mehr auf dem Dache säße. Ums Giebelhaus ist's kein Schade, wenn eine Aenderung geschieht. Willst du den alten Schmaucher kaufen, so thu's in Gottes Namen. Hoch in die Hunderte wird er nicht abgehen. So viel steht wohl noch von dir auf dem Meierhof.

So viel stand allerdings von des Küsters Erbantheil auf dem Hof. Hätte man die Zinsen hinzugerechnet, so wäre wohl das Doppelte herausgekommen, aber Zinsen wurden nicht gezahlt. Das war einmal bei den zur Küsterei Bestimmten nicht Sitte.

Und du meinst also, begann der Küster nach einigem Nachdenken, ich solle die Geschäfte der Wittwe selbst zu ordnen suchen?

Da magst du dir selbst rathen, versetzte der Bruder, seine Schuhe ausziehend und sie durchs Fenster ins Schlafgemach schiebend. Andern Leuten Rath geben, ist ein undankbar Geschäft. Jeder setze seinen Topf selbst aufs Feuer. Willst du einen Trunk mit auf den Heimweg? Und er langte nach einem Kruge, der neben seinem Bett im Schlafzimmer stand, hielt ihn dem Bruder zum Trünke hin und setzte ihn erst wieder an seine Stelle, als der darin verwahrte Mummevorrath zwischen Beiden redlich getheilt worden war.

Es ist bei ihm fixe Idee, Niemandem Rath zu geben! sagte der Küster zu sich selbst, indem er wieder am Teich entlang und auf den Erlenkamp zutrollte. Ich hätte mir's selbst sagen können, war er doch nie anders, ging er doch immer seinen eigenen Weg, der ihn zu Glück und Segen führte, weil er nicht links noch rechts sah.

Er schlich gesenkten Kopfes am Teiche weiter und stand nur einen Augenblick nachdenkend still, als er die vier ersäuften Kätzchen entdeckte, die der Wind an den Strand getrieben hatte und bei denen sich Krähen und Elstern zu schaffen machten.

So geht's im Leben, seufzte er, indem er weiter schritt. Dem Einen will's wohl, den Andern läßt's zu Schanden werden, und böses Gezücht findet seine Atzung daran. Die vier da sind Küster geworden und verkommen, wie ich, die andern sitzen auf dem Meierhof, und man streichelt ihnen den glatten Pelz. Könnt 'ich nur herausbringen, was mein Bruder gethan hätte, wenn er ganz in meiner Stelle gewesen wäre, da hätte ich gleich einen Wegweiser.

Er stutzte, denn der alte verwitterte Wegweiser, der beim Eingang des Erlenkamps in zwei Richtungen deutete, stand eben am Wege und reckte die Holzfinger ohne lesbare Inschrift nach entgegengesetzten Seiten, als wolle er ihm sagen: suche deinen Weg selbst! Des Küsters Blicke schweiften in den Richtungen, wohin der hölzerne Rathgeber zeigte. Ein Strohmann, der im Kartoffelfelde seine Zeuglappen im Winde flattern ließ, schien der eine Gegenstand, worauf die Holzfinger deuteten. Die andere Holzhand wies auf die Straße nach Hedeper. In der Ferne erkannte der Küster eine vom Felde heimkehrende Bäuerin, die ihr kleines Kind in der Hucke auf dem Rücken trug und ihm dabei ein Lied vorträllerte. Eine Weile stand der Küster in Gedanken. Als er die Vogel - und die Hasenscheuche nochmals ansaht meinte er sein eigenes Gesicht unter dem randlosen Filzhut des Strohmanns hervorgucken zu sehen. Ein Schauder schüttelte ihn, und er machte, daß er in den Erlenkamp kam, wo ihm die singende Bäuerin noch eins Weile in der Ferne vorausging. Als sie seitwärts abbog, folgte ihr sein Blick. Sie war in eine Hütte getreten und kam nicht wieder zum Vorschein; das Fortklingen des Liedes verrieth ihm indessen, daß sie in ihrer eigenen Behausung war.

Sie hat's gut! dachte der Küster und setzte seine Wanderung langsameren Schrittes fort.

Sechstes Kapitel. Sehr bedenklich!

Dies war der traurigste Tag meines Lebens, heißt es in den Denkwürdigkeiten beim Rückblick auf die eben erzählten Begebenheiten, aber auch der zukunftsreichste.

Im Propheten Ezechiel las ich bis tief in die Nacht und fand eine auf mich anwendbare Stelle, die mir viel zu denken gab. Du sollst dich auf deine rechte Seite legen, heißt es da, und sollst tragen die Missethat des Hauses Juda vierzig Tage lang; denn ich dir hier auch je einen Tag für ein Jahr gebe. Mir fiel mein naher Geburtstag ein, allwelcher mein vierzigstes Prüfungsjahr beschließen und mir meine Freiheit wieder geben sollte. Ich schnitt die schöne Stelle aus der Bibel und klebte sie auf den Wandkalender, der über meinem Bette hing, hart dem Tage zur Seite, auf welchen mein Geburtstag fiel.

Die nächstfolgenden Aufzeichnungen sind leider unleserlich geworden; wir müssen mehr als vierzehn Tage überspringen und holen nur noch eine abgerissene Notiz nach, welche am Rande eines Gürtelmaßes sich erhalten hat, und nach welcher der Küster an einem der folgenden Spätabende durch das Nichtverlöschen eines Lichtes im gegenüberliegenden Giebelhause sich verleiten ließ, noch kurz vor Mitternacht eine Latte aus dem trennenden Zaun zu heben und bis unter das erhellte Fenster hinanzuschleichen, in Sorge, wie er sagt, eine Erkrankung veranlasse das späte Brennenlassen des Lichts. Er scheint dann an dem Weinspalier bis zur Fensterhöhe hinaufgekommen zu sein und die Wittwe, den Kopf in die Hand gestützt, am Schreibtische sitzen gesehen zu haben, vor sich ausgebreitet die sämmtlichen von ihm dem seligen Pfarrer verehrten, mit Gedichten bedruckten Atlasbänder. Das eine habe sie, heißt es weiter, zu wiederholten Malen ganz sonderbar angeschaut, was ihn so consternirte , daß er den Halt am Spalier fahren ließ und mit Geräusch auf die unter dem Fenster wuchernden Küchenkräuter hinabglitt. Die Hand des Herrn, setzt er hinzu, wachte indessen über mir, und ich kam unversehrt wieder durch den Zaun in den Schutz der Küsterei.

Es ist anzunehmen, daß die verloren gegangenen Tagebuchblätter von den weiteren Geschäftsbesprechungen zwischen dem Küster und der Wittwe Bericht geben. Mindestens wird aus einem Kragenmuster der Endsatz: und somit ward nach mancher Sitzung der Stand der Rechnungen in gehöriger Form festgestellt , nicht wohl anders zu deuten sein. Ein Aermelausschnitt erwähnt eines Nachmittags, an welchem der Küster den fünf Kindern der Frau Anna eine Düte mit Süßigkeiten überbrachte, die er sich heimlich von Wolfenbüttel ver - schrieben hatte, von welcher Sendung in Hedeper jedoch Einiges ruchtbar wurde. Die Krugwirthin wenigstens sandte eine schöne Empfehlung, und ob der Herr Küster nichts in den hohlen Zähnen behalten habe? eine Anfrage, welche den Küster zu der nicht unerfreulichen Randbemerkung veranlaßt: er habe damals erst einen einzigen hohlen Zahn und im Uebrigen ein sehr stattliches Gebiß gehabt.

Noch findet sich ein zusammengenähtes Längenmaß, dessen nicht ganz verständliche Inschriften hier der Vollständigkeit wegen zusammengestellt werden mögen: ... zum Händedrucke .. derweil die Zeit noch nicht gekommen war, und somit ... doch versagte die Zunge ... fünf vaterlose Waisen ... es geschehe der Wille des Himmels ...

Endlich lassen sich verschiedene Papierschnitzel in solcher Weise zusammenlegen, daß fünf Fasttage herauskommen, durch welche die alte Marga die im Herzen des Küsters entzündete Flamme zu löschen versuchte; daß ferner die kugelrunde Schwägerin ihm während dieser Hungerzeit alle Mittag einen Topf mit Suppe und Fleisch durch eines ihrer kleinen Mädchen zusandte; daß die Schwester Friederike den Pfeifenstand sammt darauf verwahrten Thonpfeifen am letzten des Monats Augusti zertrümmerte, den Marcus Paulus durch die regenbogenspielenden Scheiben der Küsterei ins Grüne hinausreisen ließ und das Kreidebild mit dem Steifkragen, als zu gut für die entweihte Stätte, in ihrem Strickbeutel entführte; daß endlich der gelähmte Hahn, die Reiseroute des Marcus Paulus benutzend, ins Freie entkam und sich in die Scheune zu den Hühnern des goldgefiederten Nachbars begab, wo er, nach erwiesenen friedfertigen Gesinnungen, als ungefährlicher Familienbeirath geduldet wurde.

So standen die Sachen, als die Morgensonne des 10. September die Kirchthurmspitze von St. Gertrauden vergoldete und dem Küster ins schwindelhohe Schallloch schien, aus welchem er eben seine Klarinette zum Abblasen des Morgenchorals hinausstecken wollte. Unten begann das erste vereinzelte Leben des stillen Oertchens. Beim Küster öffneten sich die Läden; in der Mühle klang das Glöckchen, das zu neuem Aufschütten mahnt; der Nachfolger des diebischen Gänsehirten blies auf seiner Schalmei durch die Hauptstraße, und Gänse, deren Leiberfülle schon den nahenden Herbst verkündete, watschelten aus mancher halb geöffneten Pforte oder klemmten sich unter den Hofthüren durch, wo immer eine verschlafene Magd den Riegel noch nicht zurückgeschoben hatte. Dann kam der Schweinehirte, der nicht musikalisch war, sich aber um so besser darauf verstand, Peitschenschnüre zu drehen und schläfrigen Betthockern die Ohren gellen zu machen; quiekende Ferkel vermehrten den Lärm seines Durchzugs, grunzende Speckträger schlossen sich an. Das war kein schöner Morgengruß, und manchem Träumer führte die über - und doch auch wieder nicht übernatürliche Symphonie Wurst - und Schinken - gedanken zu, um ihm dafür die Ambrosia und den Nektar des Traumlebens zu entführen. Eine Weile darauf schallte das Kuhhorn der kleinen Ochsenhüterin, die übrigens auch die Hut der Milchkühe für ein Neujahrsgeschenk mit besorgte. Der Küster hatte sie manchen Sommer lang aus dem Schallloch beobachtet. Sie wuchs nicht mehr, war, wie man in Hedeper sagte, stehen geblieben, mochte Jedem gern eins nachrufen und zählte zu den ausrangirten Töchtern des Orts, die wohl noch manches Enkelkind dereinst beim Ochsenhüten sehen werden. Ihr Hund hatte sich's in den Kopf gesetzt, auch nicht mehr wachsen zu wollen, und vor seinen kurzen Beinen, und seiner heiseren Stimme hatte kaum das jüngste Kalb Respect.

Der Küster setzte wiederholt die Clarinette an den Mund, aber immer störte ihn noch das ferne Knallen, das verklingende Kuhhorn, das Brüllen der Kühe. Er nahm das Mundstück von Neuem aus den Lippen und blickte nach dem fern im Wiesendampf liegenden Meierhof hinüber, wo ihm über die erste Mutter der Menschen eine so eigenthümliche Bibelauslegung geworden war. Er ließ, was er von dem andern Geschlecht kannte, an seinem innern Blick vorüberziehen und verweilte gern bei dem Gedanken an die kugelrunde Schwägerin, die ihn nicht mehr verachten werde, wenn sich sein Schicksal heute erfüllen sollte; denn heute war der Versteigerungstag. Das hingeworfene Wort des Bruders hatte Früchte getragen. Der Küster ward, wenn Alles nach Wunsch ging, an diesem selbigen Tage noch eigenthümlicher Besitzer des Giebelhauses, und sein Auge schweifte nach dem alten Bau hinüber, der so manches Jahr ihm ins kaffeebraune Hinterstübchen geguckt hatte und in dessen Räumen seine Gedanken seit Kurzem bei Tag und Nacht ihr Wesen trieben, er wußte sie kaum mehr hinaus zu bringen.

In diesem Augenblick rollte ein grünwollenes Rouleau an einem der Giebelhausfenster in die Höhe; das Fenster öffnete sich, und eine weibliche Gestalt, die Nachthaube noch auf den Locken, die Wangen vom Schlafe noch geröthet, wurde sichtbar. Sie sog mit langen Zügen die frische, erquickende Morgenluft ein, faltete die Hände und blieb im dankbaren Genhimmelblicken stehen. Der Küster hatte schon beim ersten Geräusch des Fensters sich ins Schallloch zurückgebogen. Als ein zweites scheues Hinabschauen ihn die Züge der Betenden erkennen ließ, da zog auch er sein Käppchen vom Kopfe und bat den Himmel um Segen und Gedeihen, wenn sein Vorhaben preiswürdig sei, um ein warnendes Zeichen, wenn er auf dem betretenen Wege inne halten solle.

Er wartete in banger Spannung, ob nicht eine Krähe ins Schallloch hinein fliegen oder eine Eule den alten Thurm mit Geheul verlassen werde. Aber es blieb Alles still. Als er zum dritten Mal hinabschaute, war das Fenster leer. Er nahm seine Klarinette zur Hand, klopfte mit seinem Kammerschlüssel das Mundstück zurecht und stand in Gedanken, über den Choral nachsinnend, der eben dem heutigen Tage zieme. Ein altes Buch, das in der Tischschieblade des Thurmstübchens lag und Choräle aus früheren Jahrhunderten enthielt, setzte ihn durch die reiche Auswahl in Verlegenheit. Die wenigsten waren ihm heute fröhlich und festlich genug. Verzage nicht, du Häuflein klein , wurde ohne weiteres verworfen, so gern er's auch als den Schlachtgesang Gustav Adolph's an andern Tagen vom Thurm geblasen hatte. Ach Gott, vom Himmel sieh darein! paßte ihm heute eben so wenig; die Tage, wo er den alten Choral aus eigner bedrängter Brust anstimmte, waren hoffentlich für alle Zeit vorüber. Lange verweilte er bei Paul Gerhardts

Auf, auf, mein Herz, mit Freuden,
Nimm wahr, was heut geschicht!
Wie kommt nach großen Leiden
Nun ein so großes Licht!

Aber der Nachsatz:

Mein Heiland ward gelegt
Da, wo man uns hinträgt

wollte ihm nicht gefallen. Er hatte es nie früher bemerkt, wie viel Grabgedanken die meisten Kirchenlieder enthalten. Endlich meinte er das rechte gefunden zu haben. Rist's altes Kraftlied: Q fröhliche Stunden, o herrliche Zeit! war ganz seiner Stimmung gemäß. Er nahm die Klarinette zur Hand und wollte eben ansetzen, als ihm die zweite Zeile: Nun hat überwunden der Herzog im Streit beschämt das Instrument wieder von den Lippen brachte.

Der Löw hat gekrieget,
Der Löw hat gesieget,
Trotz Feinden, trotz Teufel,
Trotz Hölle und Tod .

Das wäre Vermessenheit gewesen. Bei Leibe! Er schlug das Buch zu; für ihn stand nichts darin. Aber während er im eigenen Gedächtnißschatz umher stöberte, lernt ihm das alte Liebeslied des Doctor Martin Luther in die Erinnerung. Bei Hochzeiten hatte der Küster es wohl einmal auf der Orgel zum Besten gegeben und sein eigen Theil dabei gedacht, da von der Gemeinde es kaum Einer kannte; der selige Herr Pfarrer war der Einzige, der ihm je darüber etwas sagte, es aber doch als Choral gelten ließ, wenn auch nur bei hochzeitlichen Festen. Es ging nach der Melodie Ach Lieb mit Leid , die über dreihundert Jahr alt war, und es lautete:

Sie ist mir lieb, die werthe Magd,
Und kann ihr nicht vergessen.
Lob, Ehr 'und Zucht man von ihr sagt,
Sie hat mein Herz besessen.
Ich bin ihr hold, Und wenn ich sollt'
Groß Unglück han,
Da liegt nicht dran,
Sie will mich deß ergötzen
Mit ihrer Lieb und Treu an mir,
Die sie zu mir will setzen .

Als der Küster das alte Liebeslied zu Ende geblasen und den letzten Ton lange angehalten hatte, immer, immer fort, so weit nur der Athem reichte, streckte er zum Schluß den Kopf noch einmal aus dem Schallloche und gewahrte, daß sich die Gardine des im Giebelhause geöffneten Fensters bewegte, als ob so eben erst eine andächtige Zuhörerin zurückgetreten sei. Der Gedanke, daß sie allein vielleicht in der ganzen Gemeinde den Text des Liedes kennen werde, trieb ihm das Blut in die Wangen, aber auch ein Lächeln auf die Lippen, und fröhlicher bewegt, als je in seinem Leben, schloß er das Schallloch, um aus seiner Höhe in die Küsterei hinabzusteigen. Es hatte sich zwischen dem Laden des Schalllochs und der Thurmbekleidung etwas eingeklemmt, das beim Schließen frei ward und hinab fiel. Er blickte hinterdrein, hörte indessen nur einen hellen Metallklang, veranlaßt durch das Niederfallen des Gegenstandes auf die Grabsteine unterhalb des Thurms. Beim Nachsuchen vermißte er den Kammerschlüssel, den er zum Zurechtklopfen des launenhaften Mundstücks mit auf den Thurm zu nehmen pflegte. Eine Bangigkeit beschlich ihn, dies könne das vom Schicksal erbetene Warnungszeichen sein. Hatte er zu früh gefrohlockt und etwas Unziemliches begangen, als er das Liebeslied vom Thurm herabblies, daß ihm jetzt die Gräber unten Antwort sandten? Mit schwerem Herzen stieg er die knarrende Treppe hinab und las unten auf dem Kirchhof seinen platt gefallenen Kammerschlüssel auf. Wie war ihm doch mit einem Male seine ganze Hoffnungssaat so trostlos verhagelt! Er hatte kaum Muth, in die Küsterei zurückzukehren, aus Sorge, der Warnungszeichen möchten mehr werden.

Siebentes Kapitel. Glück damit!

Inzwischen war die Versteigerungsstunde näher gerückt, und Frau Dorotheens Krug wimmelte von Gästen. Der Gerichtsauctionar hatte einen Mahagonihammer mitgebracht, der alte Schreiber eine Mappe voll Papiere und dazu eigenes Schreibgeräth; eine Stange Siegellack, so lang wie des Apothekers Thonpfeife, lag zinnoberroth auf dem seitwärts frei gemachten Tische und zog wechselsweise mit der etwas erhitzten Nase des goldbebrillten Auctionars die bewundernden Blicke der Kruggäste auf sich. Der Schreiber erhielt Mumme, sein Vorgesetzter Bordeauxwein. Der erstere schnitt unablässig Federn und zog von Zeit zu Zeit die steife Roßhaarcravatte zurecht, deren Schleife sich's nicht nehmen ließ, alle fünf Minuten nach des Schreibers linkem Ohr hinüberzurutschen. Da er seit fünfzig Jahren als Schreiber fungirte, hatte er noch aus dem vorigen Jahrhundert Vorliebe für fließendes Papier mit herüberge - bracht, brach auch die Bögen in einer längst abgekommenen Weise, nach welcher der Rand genau neun Zehntheil der ganzen Bogenbreite einnehmen mußte, legte zu des Auctionars Verdruß Tabacksdose und Schnupftuch immer neben sich auf den Tisch und brauchte mehr Streusand, als hundert Schreiber heutigen Tags, so daß, wo er vom Schreiben aufstand, allemal genug Vorrath nachblieb, um bei Glatteis eine ganze Straße von der Länge Hedeper's damit zu bestreuen. Auch der Auctionar hatte seine Angewohnheiten, wohin unter Anderem das Sauersehen nach jedem Trunk gehörte, nicht minder das übermäßige Aufziehen der Brauen, so oft er durch seine goldene Brille sich die Umstehenden ansah, und in letzter Reihe das Räuspern vor jeder amtlichen Aeußerung, zu der er den Mund aufthat. Aber diese nämlichen Angewohnheiten hatte sein Vorgänger gehabt. Sie wurden lange mühsam nachgeahmt, endlich glücklich erlernt und als wesentliches Auctionatszubehör im Amte vererbt. Der Vorgesetzte bemerkte deßhalb nur die verdrießlichen Angewohnheiten des alten Schreibers, von denen dieser seinerseits nie und nimmer zu lassen für die Hauptaufgabe seines Lebens und für das einzige ihm verbliebene Selbstständigkeitsmerkmal zu halten schien.

Punkt zehn Uhr erhob sich der Auctionar, sah ein paar Mal mit hoch gehobenen Brauen durch die goldene Brille umher räusperte sich, stieß drei, vier Mal an, schob des Schreibers Schnupftuch mit dem Mahagonihammer vom Tisch herab, lächelte mit, als die Nächst - stehenden den Witz sehr lustig fanden, und rief endlich die Bedingungen aus, unter welchen das baufällig gewordene Wittwenhaus versteigert werden sollte. Es waren deren nicht viel andere als die üblichen, doch pflegten die letzteren schon unter der Zunge des Auctionars zu einer so ansehnlichen Breite verklopft zu werden, daß die für noch nöthig erachteten Zusätze dem Vortrage des Redenden kaum mehr zu Statten kamen.

Während dieser langen Vorbemerkungen thaten sich die Kauflustigen mit schlechten Reden über den alten Rumpel hervor. Ihrer waren nicht viele, aber hätte man ihnen glauben dürfen, so mußte, der sich daran wagte, noch Gottes Lohn verdienen. Nur zum Niederreißen tauge der Kasten; kaum die Stricke, die man dabei abnutze, würde er bezahlt machen. Wär's nicht eine Schande für den ganzen Ort, Niemand würde so feige sein, sich die Finger dabei schmutzig zu machen. Thue es ja Einer, der müsse schon ein guter Patriot sein, und was der Reden mehr waren.

Solcher Patrioten fanden sich nach und nach drei. Anfangs sagte der Eine, es sei ihm nur um das Obst im Wittwengarten zu thun, der Andere, den Wein am Spalier werde er noch reif werden lassen, wenn er ja mit seinem Angebot hängen bleibe, der Dritte, er habe eben nichts um die Hand und werde sich so bei Kleinem selbst ans Abdecken machen. Nach und nach wurden aber diese Liebhabereien den Reflectanten so werth, daß sie einander zu ganzen Zehnthalern in die Höhe trieben, bis der Eine, in der Hoffnung, mit den anderen Beiden gemeinschaftliche Sache machen zu können, um fünf Minuten Pause bat, während welcher Zeit die Reflectanten ihre Köpfe zusammensteckten, der Schreiber verlangend in sein leeres Bierglas sah, der Auctionar aber der neben ihm stehenden grünen Bordeauxflasche mit sauerem Gesichte zusprach.

Der Küster hatte sich zur rechten Zeit eingefunden, war jedoch nicht bis an den Tisch durchgedrungen und fühlte auch, daß seine Stellung eine selbständige Betheiligung an diesem öffentlichen Verkauf sehr auffallend erscheinen lassen würde. Nicht nur waren die Kauflustigen mit Sticheleien aller Art bei der Hand, sobald sich ein Neuer mit einem Gebot vorwagte, und auch der Küster wäre als solcher nicht verschont worden; es störte ihn noch eine andere Rücksicht, diejenige auf die Krugwirthin nämlich, denn sie hatte schon bei seinem Eintritt auf die Wolfenbütteler Süßigkeiten angespielt, und es konnte nicht fehlen, daß man ihn hier öffentlich mit der Pfarrerswittwe ins Gerede brachte, wenn man seine Betheiligung überhaupt gewahr wurde. In seiner Noth kam ihm die Pause wie ein helfender Engel von oben. Nach vielen mißverstandenen Finger - und Augenzeichen gelang es ihm, dem Schreiber verständlich zu machen, es warte seiner ein Auftrag zum Mitgebot. Dergleichen Geschäftchen wurden ihm nicht oft, fanden auch nicht immer Gnade vor seinem Vorgesetzten, warfen aber doch so wie so eine kleine Gratification ab, um dessenwillen sich schon ein nachträglicher Ausputzer hinnehmen ließ. In eine Ecke des Gastzimmers sich zurückziehend, nahm der Schreiber demnach des Küsters feierliche Anweisung entgegen und versprach, so lange Herr Habermus nicken würde, immer den Uebrigen um einen Thaler vorauf zu sein.

Als der Mahagonihammer dann von Neuem zur Aufnahme des Meistbietens zusammenrief, mischte sich des Schreibers schnarrende Stimme unter die der anderen Käufer, Anfangs zu deren großem Verdruß, nach und nach als gleichberechtigt angesehen und nur allemal mit einem Witze aufgenommen, da der Schreiber ungleich den anderen nur thalerweise aufstieg. Unglücklicherweise stand aber vor dem fern im Gedränge steckenden Küster ein Stuhlgast auf, so daß der zeichentelegraphische Zusammenhang zwischen Küster und Schreiber unterbrochen wurde, und trotz allem Halsrecken des Letzteren und allem Zehenspitzen des Ersteren nicht wieder hergestellt werden konnte.

Statt des Küsters trat ein anderer Käufer in der Person des Auctionars auf, und zwar sofort mit einem runden Zuschlag von hundert Thalern, welcher den übrigen Kauflustigen den Muth zum Höherbieten benahm und nach dreimaligem Rufen: Niemand mehr? das schließliche Glück damit! zur Folge hatte.

Neben dem betroffen und sprachlos dastehenden Küster sagte ein Hedeper Zimmergeselle: Für den Meister in Wolfenbüttel wird's ein gefundenes Fressen sein! Dacht 'mir's schon, daß er's nicht fahren ließe!

Für den Wolfenbüttler Zimmermeister? fragte der Küster, noch kaum fassend, was er versäumt hatte, und daß nun Alles zu spät sei.

I freilich! gab der Geselle zur Antwort. Der würd 'sich auch solch Geschäft aus der Nase gehen lassen; fünf Fuhren brauchbar Holz sind in dem alten Kasten und mindestens zweimal so viel an Backsteinen. Wer's zum Abbrechen verkauft, kann sich einen neuen Rock dabei anziehen. Garten und Obstbäume hat er dann noch umsonst. Der Meister weiß aber schon, daß ein neu Haus noch mehr Grütze abwirft. Ihr sollt das blaue Wunder kriegen. Der macht eine ganze Straße daraus.

Des blauen Wunders bedurfte der Küster nicht mehr. Der Pfeifenqualm erstickte ihn fast. Ohne das spöttische Gesicht der Frau Dorothee zu bemerken, bahnte er sich den Weg ins Freie und fühlte erst ganz, mit welcher Geschäftsunerfahrenheit er sich an eine wichtige Sache gewagt hatte, als der Giebel voller blauer Trauben ihn von fern durch die Obstbäume grüßte, als wolle er fragen: Nun, wie steht's? warst du ein ganzer Kerl und zur rechten Stunde in der Bresche? Hundert Jahr halt 'ich den Nacken noch brav, verlaß dich darauf! Komm herein und laß die Frau Anna nicht in ungewisser Sorge.

Ja, so redete ihn der alte Schmaucher an und steifte sich, meinte der Küster, daß es schier aussah, als habe er sich nach langem Bücken aufgerichtet, wie jener Papstgewordene Cardinal, der die Schlüssel Petri gesucht hatte.

Da lag die Tenne, die sonnige, erinnerungsreiche Tenne mit der Hühnerfamilie und dem lahmen Spornträger aus der Küsterei, zu dem sich schon eine verstoßene Henne des Goldgefiederten gesellt hatte. Da spielte wieder das Kätzchen in der Sonne, und der unbeholfene Hund lief klaffend den Fliegen nach, die sich auf dem warmen Lehmboden umhertrieben. Da stand das Fenster mit dem grünwollenen Rouleau offen, das nämliche Fenster, auf das er heute Morgen so herzensvergnügt aus dem Schallloche hinabgeblickt, das nämliche, durch das er die nächtliche Leserin der Altasbandgedichte belauscht; und darunter stand der schön gerundete Salat, auf den er hinabgeglitten war, der in Saat geschossene rothbeerige Spargel, der ihm schon in Vorahnung künftiger Tafelfreuden den Mund hatte wässern machen, der gewürzige Estragon, zu dessen Einthun die alte Marga nie zu bewegen gewesen war, und dessen Wohlgeruch ihm Nachts bei jenem Falle zuerst erfrischend in die Nase gezogen war.

Das Alles war zwar nichts gegen das Zertrümmern der übrigen Kartenhäuser seines neuen Glücks aber so heftig war der Schlag gewesen, daß er dem Verlust nur in seinen unbedeutendsten Atomen zu begreifen vermochte. Als er der Frau Anna selbst ge - dachte und des Risses, den der Hausverkauf in das ganze Gedanken - und Hoffnungsnetz der letzten Tage gebracht hatte, da gingen ihm die Augen über, und er hörte im Geiste die Stimme seiner kugelrunden Schwägerin, wie sie, den Gegensatz zu seiner Unselbständigkeit, Halbheit, Unmännlichkeit scharf betonend, auf seinen Bruder mit den Worten deutete: Das ist mein Mann!

Die Worte waren's freilich nicht, die eben jetzt zu seinem Ohre klangen, aber die nämliche Stimme war's. Als der Küster aufschaute, kam die Meierin keuchend heran, die Wangen geröthet und die Stirn voll Schweißperlen.

Lauft Ihr doch wie ein Faßbinder! rief sie, und habt die Ohren unter dem Filzhut, daß man sich die Lunge nach Euch ausschreien möchte! Was habt Ihr nicht gewartet, bis der Käufer genannt wurde? Botet Ihr denn nicht mit, oder that's der Zimmergeselle neben Euch?

Fragt nicht, Schwägerin! sagte der Küster, seine Bewegung mühsam meisternd. Der Wolfenbütteler Meister hat mich überboten. Alles ist zu Ende.

Ihr verdient's nicht besser, versetzte die Meierin, ihr Oberkleid aufnehmend und sich auf einen Stein am Wege setzend. Vom Thurm blasen und zur Predigt orgeln, das könnt Ihr; aber was Ihr weiter könnt, das hab 'ich noch nicht herausgebracht. Ihr seid, weiß Gott, ein abschreckend Exempel für Jeden, der, wie Ihr, mit einem alten Weibe neben sich und einer kärglichen Versorgung vor sich, zu versauern in Gefahr ist. Meiner Seel', ich weiß nicht, was ich zu thun fähig wär ', käm's darauf an, ein Kind von mir vor solchem Elend zu bewahren!

Diesmal hatte der Küster nicht den Muth, die guten Seiten seines Amts hervorzuheben. Er antwortet nichts. Was lag ihm noch an den Vorwürfen der Schwägerin? Das Giebelhaus, das jedes Wort vernehmen konnte, blickte ihm ganz andere Vorwürfe ins Gesicht.

Ich hab 'vorgestern den Knecht fortjagen müssen, der mit der Kühmagd zusammen hielt, hob die Meierin wieder an, denn ich darf dergleichen auf meinem Hof nicht einreißen lassen. Aber da steckt doch Uebermuth dahinter, und wo Uebermuth ist, giebt's meist auch Kraft. Am rechten Fleck kommt schon was Rechts heraus, besteht's auch anfangs aus ein paar Topfscherben. Aber Ihr ! Sie schüttelte den Kopf, und der Küster sah zum Glück nicht die Miene, welche die unwillige Geberde begleitete.

Geht jetzt heim, begann die Meierin von Neuem, geht heim und hütet Euch, je wieder anderer Leute Geschäft in die Hand zu nehmen. Die Frau Anna wird's früh genug erfahren, daß ihr das Dach überm Kopfe abgedeckt werden soll. Versöhnt Euch mit Eurem Drachen in der Küsterei und schlagt Euch Freiergedanken aus dem Kopf, wenn Ihr überhaupt jemals solche hattet; denn aus Euch, Schwager, werde ein Anderer klug.

Ihr seid rechtschaffen hart mit mir in die Schule gegangen, versetzte der Küster, durch die letzte Anspielung der Schwägerin zu einer Erwiderung gereizt, und ich hab 'mir's gefallen lassen, weil ich weiß, daß Ihr aus gutem Herzen so bös redet. Aber mit nachträglichem Vorhalten macht Ihr keine Dummheit ungeschehen. Ich bin von Kindheit an nur für die Küsterei erzogen worden, hab' an die fünfundzwanzig Jahre unter dem altes Strohdach gesessen und mein Lebtag kein Haus gekauft, noch nach einem Mädchen zum Freien ausgeschaut. Jetzt soll ich mit Einem Mal Beides fertig bringen, und nur ich Lehrgeld zahlen muß, macht Ihr Euch noch einen Festtag, um mich mit meiner Unerfahrenheit ausspotten zu können.

Geht, sagte die Meierin halb begütigend, Ihr wißt schon, wie ich's meine.

Euer Mann hätte mir nicht den Heimtrunk annöthigen sollen, fuhr der Küster sich erwärmend fort, da ich ihn um Rath bat. Aber er redet auch lieber hinterdrein, als wenn's Zeit ist. Hernach ist's ein Leichtes, meistern, wenn man den Gesellen wirthschaften ließ, wie er's eben verstand.

Schwager, sagte die Meierin, Ihr sprecht wie ein aufsäßig Kind. Gegen meinen Mann lass 'ich nun schon nichts aufkommen, es sei denn, er hör's mit eigenen Ohren. Habt Ihr ihn um Rath gefragt, ob Ihr freien sollt?

Das nicht, versetzte der Küster, ungewiß, wie er das wiederholte Berühren dieses empfindlichen Punkts aufnehmen solle, und ob die Schwägerin sich nicht unberufen in seine Sachen mische.

Und ich wette, sagte die Schwägerin, ihre Arme in die Seiten stemmend, Ihr wißt noch heute nicht, ob Ihr freien wollt, oder nicht!

Laßt das, bat der Küster, sich verlegen nach dem Giebelhause umsehend.

Ihr meint, das gehe mich nichts an, fuhr die Meierin fort; aber ich hätte mir den Weg vom Erlenkamp wahrlich nicht zugemuthet, wär 'nicht Anderes in Hedeper auszurichten gewesen, als hier vor Euch auf dem Stern zu sitzen und Euch Predigten zu halten. Ihr sollt schon erfahren, warum ich Euch nachgekeucht bin. Doch erst muß ich reinen Wein kosten. Wollt Ihr freien, ja oder nein?

He, sagte der Küster, so hat mich noch Keiner gefragt. Zum Freien gehören Zwei.

Ihr sollt nur für Euch sprechen.

Ihr redet, mit Verlaub, wie man von einem Jahrmarkthandel redet, versetzte der Küster, dem bei der nüchternen Gradheit der Schwägerin der ganze poetische Duft seiner Ehestandsbilder zu zerfließen begann. Wenn ich jemanden glücklich machen könnte, so glaub 'ich schon die Leute schwatzen lassen zu sollen.

So gefallt Ihr mir schon besser, erwiderte die Meierin; aber Ihr seid mir noch nicht wild genug, wenn Ihr von Eurem jetzigen Elend sprecht. Seht Ihr denn nicht ein, daß Ihr eigentlich gar nicht lebet, wie Euch so ein Jahr nach dem andern hinschleicht? Wem könnt Ihr nützlich sein, wenn Ihr ein fröhlich Gesicht macht, wenn Ihr bei Tisch derb einhaut, wenn Ihr einen gescheidten Einfall habt? Da ist's doch ein ander Ding, wenn die eigene Frau am Herd steht und beim Sieden und Pretzeln denkt: Heut 'wird's ihm aber schmecken! Von eigenen Kindern will ich noch gar nicht einmal reden da giebt's im Leben schon nichts, was dagegen Stich hält, und Ihr seid doch noch kein alter Abraham aber sitzt denn nicht manche brave Wittwe da, ohne Versorger und männlichen Rathgeber, und die armen Kinder sind ihre Noth und Angst, statt ihre Lust und Freude sein zu können, wenn sich ein rechtschaffenes Mannsbild ihrer annähme? Wozu ist denn der Mann in allen Dingen des Erwerbs und Verkehrs gegen das Weib im Vortheil? warum lernt er mehr und stößt sich im Leben herum, als weil die Weltordnung darauf Rechnung macht, er werde dem schwächern Theile mit durchhelfen?

Der Küster faltete die Hände und nickte unwillkürlich zustimmend.

Ein lediger Mann, fuhr die Meierin fort, ist ein elender Mann. Geht's ehrbar bei ihm zu, so schrumpft er allmählich ein, wird alt und kalt, und schaufeln sie ihn ein, da ist er vergessen. Geht's nicht ehrbar bei ihm zu, so wird er ein Taugenichts, der noch obendrein dem Teufel in die Hände arbeitet. Kein Baum im Walde ist sicher, daß er nicht dereinst an solch einem Wüstling zum Galgen werde.

Wißt Ihr doch trotz dem Herrn Pfarrer zu reden, sagte der Küster, sich den Schweiß von der Stirne trocknend. Gott bewahre einen Jeden vor solch einem Armsünderende.

So nehmt Euer Herz in die Hand, versetzte die Meierin, und sagt der Wittwe drinnen, wie Ihr vom Freien denkt. Mir habt Ihr's nicht sagen wollen, und das machtet Ihr recht. Sie wird's aber wissen wollen, denn ich will nicht gesund nach dem Meierhof heimkommen, wenn ihr's nicht schon mit der Vorrede zu lange dauert.

Aber Ihr vergeßt das Haus, sagte der Küster, zwischen Freude und Angst schwankend und die Hauptsache nicht mehr von der Nebensache unterscheidend.

Davon reden wir nachher, erwiderte die Meierin, von Neuem niedersitzend. Jetzt geht hinein, denn es rückt stark auf Mittag, und ich möcht 'heim sein, eh' der Mann nach der Suppe fragt. Geht! sagte sie, ihn fortschiebend, geht und laßt mich nicht lange sitzen.

Der Küster zog seinen Rock zurecht, steckte sein Taschentuch, das im Filzhute lag, in die Rocktasche und entfernte sich zögernd in der Richtung des Wittwenhauses. Nahe vor dem Gitter des Gartens pflückte er eine Hand voll wilder Nelken, die er Anfangs ins Knopfloch steckte, dann aber, um seinen Worten mehr Feier - lichkeit zu geben, als zu überreichendes Angebinde in die Hand nahm.

Nachdem er die verfallene Steintreppe erstiegen, pochte er an die Thüre des Fremdenzimmers. Niemand antwortete. In der Küche warf die Magd eben einen Eierkuchen in die Höhe und ließ ihn, durch des Küsters Eintritt gestört, in die Asche fallen. Daß ihm trotzdem eine höfliche Antwort ward, diese Selbstbezähmung hätte ein minder argloses Gemüth, als dasjenige des Küsters, auf gewisse Aeußerungen der Hausfrau schließen lassen, durch welche diese ihre Umgebung auf den dem Küster schuldigen Respect vorbereitet hatte. Als er sich nach der Rückseite des Hauses wandte, wo die schattige Linde stand, sah er die Pfarrwittwe beschäftigt, mit Hülfe der Kinder ein großes Netz auszubessern, das um die Zeit des Traubenreifens zum Schutze gegen die Spatzen über das Spalier gehängt zu werden pflegte. Der ganzen Länge nach war's auf dem Rasen ausgebreitet; die drei ältesten Kinder saßen lachend drunter und banden Spagatfäden über die schadhaften Stellen, die zwei jüngsten mußten fürs Straffhalten sorgen. Frau Anna überwachte die Arbeit und half nach. Als sie des Küsters Schritt vernahm, wandte sie sich nach ihm um, die Wangen vom Bücken geröthet, und stand auf, um ihm den Hut aus der Hand zu nehmen.

Die feuerrothen Nelken hatten seinen Worten mehr Feierlichkeit geben sollen; die Worte fanden sich aber nicht gleich, und so mußten die Nelken allein die Ein - leitung machen. Die Röthe der Frau Anna wurde dadurch nicht vermindert; dem Küster fiel das heutige Thurmlied ein und seine Vermuthung über die Textkenntniß seiner wahrscheinlichen Zuhörerin. Er fühlte seine gehobene Morgenstimmung wiederkehren und führte die Hand der Wittwe an seine Lippen.

Nie in seinem Leben war ihm das begegnet. Wie es kam, wußte er selbst nicht, sie nicht viel mehr, doch ließ sie's geschehen und wandte sich nur mit einem Blicke seitwärts, der Kinder gedenkend, die ohne Ahnung der bedeutungsvollen Minute an ihren Spagatfäden fortknüpften.

Was auf seinen Lippen schwebte und doch nicht zu Worte kam, verstand sie mit dem liebegeschärften Blick eines weiblichen Auges. Ihr war, als fahre ein thränenfeuchter Schwamm über die Schicksalstafeln ihrer letzten zehn Jahre, als sei sie noch einmal jung und dürfe diesmal ihr Herz frei verschenken, ohne eine Binde um die Augen zu haben. Sie warf einen flüchtigen Blick in des Jugendgespielen Auge und schlug das ihre dann nieder. Nicht mehr der Worte bedurft 'es; wie sie zu ihm stand, wie er zu ihr, war Beiden in diesem Einen Blicke deutlicher geworden, als alle Reden der Welt ihnen es hätten deutlich machen können. Klangen ja Worte durch ihre Seelen, so waren's die des alten Liebesliedes!

Und wenn ich sollt 'groß Unglück han,
Da liegt nicht dran!

Da liegt nicht dran, da liegt nicht dran! klang's fort und immer fort; denn woran ist in Gottes weiter Welt noch etwas gelegen, wenn zwei Herzen zum ersten Mal inne werden, sie wollen zu einander halten?

Aber ist die Seele zu bewegt gewesen, als daß der Mund reden konnte, so fühlt die Brust doch endlich das doppelt dringende Bedürfniß, in Worten aufzuathmen, und das Ohr will auch sein Theil haben, nachdem Aug 'und Hand den Bund schlossen. Ist es nicht mehr das Ungestüm des Jugendblutes, das im Herzen pocht, so ist es die ewige verjüngende Kraft der Liebe, die nach Ausdruck ringt, sei auch das Gefäß noch so armselig, aus dem sie ihre Opferdüfte gen Himmel steigen läßt. Die Meierin auf ihrem Steinsitz vernahm es nicht, und die Kinder hörten's nicht, und auch die Magd mit dem Eierkuchen in der Asche hat's nicht vernommen; aber der Garten des alten Wittwenhauses, die Rosenbüsche und das Geisblatt rechts und links, der Kiesweg und der Fliederbusch an dem verhängnißvollen Zaune sie alle haben belauscht, was die Auf - und Abwandelnden einander zu sagen hatten, Dinge, die ihnen zum Theil erst heute ganz ins Bewußtsein gekommen waren, und deren Wurzeln sich nach allen Seiten hin verfolgen ließen, nach den ersten Morgenliedern, die vom Thurm herab ins Ohr der Pfarrerstochter klangen, nach dem ersten und einzigen Blick, den sie vor langen Jahren in die einsame Küsterei that, nach den späteren kurzen Begegnungen, die ihr das Blut in die Wangen und die Kälte auf die Lippen trieben, nach den beklemmenden Empfindungen, die sie beschlichen, als von der Orgel der Choral:

Meine Liebe hängt am Kreuz ...

an ihrer Hochzeit ihr ins halb betäubte Ohr klang.

Und auch er besann auch er sich nicht auf jene nämliche bange Stunde, über die er damals nicht nachzudenken wagte? Kamen ihm nicht kalte Decembermorgen ins Gedächtniß, an denen er lange in Gedanken am Fenster stand, hinüberblickend nach dem Giebelhause, wo die Pfarrerstochter nicht mehr zu sehen war, und von dem Gefühl seiner Einsamkeit ergriffen, wie es nur im trostlosen Winter ganz so heftig möglich ist? Erinnerte er sich nicht der Februarpredigten, die er einen Monat lang an des seligen Pfarrers Stelle abgelesen hatte, weil diesem die Kälte zu arg gewesen war, und der regelmäßigen Zuhörerin im Pfarrbetstuhl, die ohne Feuertöpfchen von Anfang bis Ende andächtig aushielt? Waren denn die Weihnachtskuchen zu vergessen, welche am heiligen Abend die einsame Küsterei mit Duft erfüllten, und die seine Vorgänger noch nicht gekannt hatten, die erst des polternden Herrn Pfarrers junge Gatttin einführte? Hatte es nicht zu Pfingsten, wenn Kanzel, Orgel und Altar bekränzt wurden, auch allemal für die Küsterei einen Kranz gegeben, der bis Martini über dem Kreidebilde hängen blieb und dem kaffeebraunen Hinterstübchen einen Festanstrich verlieh? Verschüttete der Küster nicht an einem Charfreitag einmal vom heiligen Wein, als er dem Herrn Pfarrer secundiren mußte und unerwartet hinterm Altar hervor die Frau Pfarrerin unter den Communicanten ihm zu Gesicht kam?

Alles das und noch vieles Andere hatte von Zeit zu Zeit den Schleier zu lüften versucht, der zwischen beiden Seelen trennend und verhüllend hing. Aber es war nur ein vorübergehender Lufthauch gewesen. Der Schleier hatte Stand gehalten, Beider Blicke umflorend, Beiden verbergend, was im eigenen Grunde des Herzens nur des Bei-Namen-Rufens wartete, um aus dem Schlummer zu erwachen. Jetzt war es bei Namen gerufen worden und stand mit hellwachen Augen da.

Und wenn ich sollt 'groß Unglück han,
Da liegt nicht dran!

Noch schritt der stille Küster an der Seite der Pfarrerswittwe den sauberen Kiesweg auf und ab, als die kugelrunde Meierin, des langen Wartens müde, sich von ihrem Steinsitze erhob. Was ihr im Sitzen wegen des Zauns entgangen war, sah sie jetzt beim Aufrechtstehen: die zwei im Garten Lustwandelnden, Hand in Hand, bald Worte, bald Blicke wechselnd, und Beide, so schien's, mit ihren Gedanken weit ab von der geduldigen Wächterin draußen.

Da hätte ich bis zum Abend warten können, sagte sie halb mürrisch vor sich hin und war im Begriff, sich gekränkt zu fühlen. Aber es kam nicht dazu, die Gutmüthigkeit überwog. Sie dachte ihres Säuglings daheim, und wie ihm der heutige Tag eine Gewähr mehr sein werde gegen die durch kein Gesetz vorgeschriebene und doch als alter Brauch vererbte Ehelosigkeit der Küster zu Hedeper. Um meines Toni willen, sprach sie ihre Hände faltend, mög's ihnen gut gehen, hier und in Ewigkeit, Amen!

Sie wollte sich eben, um nicht zu stören und auch den Mann nicht mit der Suppe warten zu lassen, auf den Heimweg nach dem Erlenkamp begeben, als eine Wendung der im Wittwengarten Wandelnden die Schwägerin dem Auge des Küsters verrieth. Er hob die Hand seiner Begleiterin vielbedeutend in die Höhe und rief die Meierin herbei, indem er ihr die künftige Frau Küsterin entgegenführte.

Gottes Segen! sagte die Meierin, näher kommend und mit Thränen in den Augen der neuen Schwägerin die Hand schüttelnd. Es lohnte sich schon, in Geduld zu warten, nun Alles zu fröhlichem Bunde gediehen. Sie meinte das Warten auf dem Steinsitz, aber die Wittwe verstand ihre Worte anders und konnte vor Bewegung keine Antwort geben. Nur die Hand der Meierin hielt sie fest und drückte sie, daß selbst die arbeitgehärtete Haut den Druck durch und durch spürte.

Um nicht gleich von dem geschäftlichen Theile ihres Verweilens zu reden, besann die Meierin sich in der Geschwindigkeit auf ein paar taugliche Bibelsprüche, zu denen der Küster aus eigenem reichen Gedächtnißschatze beisteuerte, während die Wittwe mit Kopfnicken und Amensagen die Pausen ausfüllte. Als aber das Pulver der Meierin verschossen war, glaubte sie die Frage wegen des künftigen Hauses nicht länger unbesprochen lassen zu müssen. Sie erwähnte des Hausverkaufs und ließ dem Küster Zeit, diesen allem Anscheine nach ihm fast entfallenen Gegenstand von dem rathlosen Standpunkte aus zu beleuchten, den er ihr gegenüber zuletzt eingenommen hatte. Sie verrechnete sich indessen. Der Bräutigam war noch so voll des süßen Weines, so ganz von dem Glücke erfüllt, welches ihm plötzlich aufgegangen war, daß ihm für alles Andere der Maßstab verloren gegangen schien. Die Küsterei wuchs in seiner Einbildung ins Ungemessene. Für dreimal so Viele finde sich noch Platz darin; des leicht ausweitbaren Kornbodens nicht einmal zu gedenken, lasse sich das Hinterstübchen durch Hinausschaffen überflüssiger Stühle und Tische jeden Augenblick nach Belieben vergrößern; auf die Kammern vorn hinaus wolle er gar nicht Rücksicht nehmen. Die Wittwe nickte zustimmend, von dem Gefühle beherrscht, daß auch in engem Raum Glück und Zufriedenheit Platz finden. Aber die Meierin verneinte rundweg die Möglichkeit, daß die Küsterei bei Ausdehnung des Haushalts ausreichen könne. Auch hielt sie es nicht für passend, daß eine Pfarrerswittwe sich in die Küsterei hinab begebe. Man werde schon genug Verstandes brauchen, um gegen Nachbarn und böse Leute den Kopf oben zu behalten. Man dürfe sich nicht noch Blößen geben, statt gleich Trumpf anzusagen und zu zeigen, welches Blatt man in der Hand habe.

Da sie nur mit Einwänden, nicht mit Auskunfts - mitteln herausrückte, gewann die Rathlosigkeit endlich die Ueberhand, und der Küster fühlte ein Nachwehen des bedrückenden Gefühls, mit dem er dem Tabaksqualm des Krugs entflohen. war. Selbst der warnende Kammerschlüssel fiel ihm ein, und er wendete den Kopf mechanisch dem Thurme zu, nicht ohne eine gewisse Sorge, ihm werde aus dem Schallloche noch ein weiteres Warnungszeichen werden.

Aber die Schwägerin konnte es nicht übers Herz bringen, die Freude länger als vorübergehend zu dämpfen. Vielleicht ließe sich Rath finden, sagte sie, das eine Auge pfiffig zukneifend und abwechselnd den Küster und die Wittwe anblickend, als gäbe es was zu errathen. Der Schwager hat einen Bock geschossen, das ist wahr, und mit dem Giebelhause ist ein Anderer durchgegangen. Aber hinterdrein ist er ein besserer Schütze gewesen. Euch, Frau Anna, hat er ins Herz geschossen, und das thut ihm so leicht kein Anderer nach. Nun, da scheint mir's, darf ihm der Fehlschuß nicht so schlimm nachgetragen werden. Zur guten Stunde stand ich hinter dem Auctionar, und als der Schreiber nicht mehr am Bot war, zupfte ich den Auctionar am Aermel. So hab 'ich den alten Schmaucher unversehens am Hals behalten. Ihr könnt ihn von mir kaufen, Schwager, wollt Ihr ihn? Schlagt ein! Für den Kaufpreis ist er Euch feil. Der Zimmermeister aus Wolfenbüttel kam fünf Minuten zu spät. Ihm war ein Wagenrad gebrochen.

Schwägerin, sagte der Küster, mit feierlicher Miene in die ihm hingehaltene Hand schlagend, ich hab 'Euch immer für eine Frau gehalten, die auch ohne Hammer einen Nagel einzuschlagen versteht; aber heute habt Ihr Euch selbst übertroffen. Er sah sich nach dem Giebelhause um, das er schon gering zu schätzen versucht worden war und das ihn dennoch keinen Augenblick ganz aus seinem Behaglichkeitsbann losgelassen hatte. Alter Freund, fuhr er fort, sein neues Eigenthum überblickend, alter Kopfhänger, stehe noch lange fest, wie du mir's heute versprochen hast! Es soll auch ferner ein still ehrbar Leben unter deinem schützenden Dache geführt werden. Wir wollen fest zu einander halten! Falle nicht aus dem Text! Und zu der künftigen Frau Küsterin gewendet, sagte er: Der Zaun, der die Küster von Hedeper so lange gefangen hielt, ist eingerissen; auch der Zaun zwischen den zwei Gärten wird jetzt verschwinden. Im alten Giebelhause soll gewohnt, in der alten Küsterei geamtet werden. Führt uns zu Euren Kindern, Frau Anna. Mir wird so weich ums Herz, ich muß die Kinder küssen.

Die Wittwe hatte schon das nämliche Verlangen auf den Lippen gehabt. Sie ging dem Küster und der Meierin vorauf, zupfte den Kindern in Hast die verschobenen Kleider zurecht und flüsterte ihnen etwas zu, das keines ganz verstand, das sie indessen gehorsam in Reih und Glied brachte und dem herankommenden Küster die Mühe ersparte, sie einzeln aus den Netzmaschen her - vorzuholen. Während er ihnen einem nach dem anderen feierlich den ersten Versorgerkuß gab, wischte die Meierin wiederholt mit der Schürze über die Augen und sagte zuletzt, mit einem Blick auf die saubere Kinderreihe: Ihr seid eine brave Mutter. Gott segne Euch!

Und Euch! antwortete die Wittwe. Ich wird 'noch oft Euren Rath brauchen. Seid mir eine treue Schwester!

Wie sich dergleichen sagen, hören, ansehen ließe, ohne endlich vom Händedrücken zum Kusse zu führen, ist nicht wohl abzusehen, und so kam denn auch richtig dieses beste Bundessiegel zu Stande. Daß auch der Küster seine Schwägerin küßte, versteht sich am Rande; sie reichte ihm selbst den Mund hin, vielleicht um der Frau Anna einen Gefälligkeitsdienst zu leisten, denn jetzt erst erhielt auch sie den feierlichen Weihekuß. Dies waren des Küsters erste Wagnisse, und wir haben keinen Grund, ihm zu mißtrauen, wenn er in seinen Denkwürdigkeiten versichert, daß er erst am Hochzeittage den zweiten Kuß erbat und erhielt.

Was ihm über das Warnungszeichen hinweg half, ist nur andeutungsweise ausgesprochen. Es scheint, daß er noch an jenem Verlobungstage, als die Schwägerin endlich nicht mehr bleiben zu können erklärte, sich an den Kammerschlüssel erinnerte und ihre Meinung über die Bedeutung dieses Warnungszeichens erfragte, worauf die Meierin, auf die künftige Frau Küsterin deutend, erwi - derte, die werde ihm schon sagen, was es künftig mit dem Kammerschlüssel auf sich habe.

Und so mögen denn die Manen des stillen Küsters von Hedeper nicht zürnen, wenn der wichtigste Wendepunkt seines Lebens ohne Arg und Spott, einfältig, wie Herr Florian Habermus im Bibelsinne selbst war, und ohne künstlichen Redeaufwand hier nacherzählt worden, zu Nutz und Frommen um mit den letzten Worten seiner Denkwürdigkeiten zu schließen zu Nutz und Frommen Jeglichem, der sich noch in der eilften Stunde des alten, wahren Paradieseswortes erinnern will:

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.

About this transcription

TextEs ist nicht gut, daß der Mensch allein sei
Author Charles Edouard Duboc
Extent95 images; 19076 tokens; 5528 types; 127551 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-16T12:58:19Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-16T12:58:19Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Band 10. Charles Edouard DubocWaldmüller, Robert. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 203-295.

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Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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Editorial principles

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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Shelfmarkdeu 838.29/h29
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