PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 15]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Der arme Josy.

Franz Wallner (mit diesem Namen vertauschte er seinen eigentlichen, Franz Leidesdorf), geb. am 19. September 1810 zu Wien, debutirte 1835 in seiner Vaterstadt als Schauspieler und gelangte, nach wechselvollen Schicksalen als Theaterdirector in Freiburg im Br., Baden-Baden und Posen, 1854 nach Berlin, wo er sich um die Hebung des Königsstädter Theaters verdient machte, bis er 1864 dort ein neues großes Theater erbaute, das noch heute seinen Namen trägt. Seit einigen Jahren hat er sich von der Leitung der Bühne zurückgezogen und in einem bewegten Wanderleben sein angeborenes Talent des Erzählens und Schilderns an immer neuen Gegenden und Erlebnissen ausgebildet. Diese seine schriftstellerischen Arbeiten (Aus dem Tagebuch eines alten Komödianten; Aus meinen Erinnerungen; Wenn Jemand eine Reise thut -, Aus meinem Wanderbuche; Von fernen Ufern; Hundert Tage auf dem Nil) haben sämmtlich den harmlosen, von literarischer Prätenston freien Charakter memoirenhafter Mittheilungen, die durch das lebhafte Naturell und die reiche Welterfahrung des Erzählers anziehend werden. Den Novellisten im eigentlichen Sinne ist Franz Wallner nur in so fern anzureihen, als er, wenn er Geschichten zu erzählen hat, auch hier seine glückliche natürliche Gabe der Darstellung bewährt und wo ihm, wie in der von uns mitgetheilten, ein ergreifender Stoff vorliegt, demselben in der schlichtesten Form gerecht zu werden weiß. Wir glauben, daß die merkwürdige Anekdote vom armen Josy mit keinem Aufwande künstlerischer Mittel zu tieferer Wirkung zu bringen wäre, als sie uns hier in aller Anspruchslosigkeit der unmittelbaren Ueberlieferung entgegentritt.

Die ewige Wanderlust, welche mich in früheren Jahren noch mehr als jetzt beherrschte, obwohl mich bis zur Stunde manchmal meine tolle Ahasver-Laune Jahre lang von Land zu Land hetzt, ließ mich unter den gebotenen Engagements-Anträgen immer den wählen, der die weiteste und mühseligste Reise bedingte. So hielt ich es für ein großes Glück, im zweiten Jahre meiner theatralischen Laufbahn einen Ruf an das Theater in Agram zu erhalten. Agram, die Hauptstadt Kroatiens. so nahe der türkischen Grenze, welch eine reiche Aussicht auf neue Erfahrungen, auf nie Gesehenes, welch ein Sporn für den feurigen Kunstjünger zur freudigen Zusage! Ein vorher zugesagtes Gastspiel in Laibach gab mir Hoffnung, durch einen nicht übergroßen Umweg nebst meinen Reisespesen bei Sparsamkeit so viel zu erübrigen, um meiner Sehnsucht, Triest und Venedig zu sehen, Erfüllung prophezeien zu können.

Das Gastspiel in Laibach war nach Wunsch ausgefallen; die erübrigte, für meine damaligen Verhältnisse enorme Summe von 80 Fl. C. -M. war bis auf einen kleinen, kleinen Rest gegen die Seligkeit des An - schauens der beiden Wunderstädte Oberitaliens und ihrer Herrlichkeiten zu Meer und Land eingetauscht worden; und der, wie gesagt, sehr zur Neige gehende Bestand meiner Börse forderte mich, bei meiner Rückkunft nach Laibach, dringend zur äußersten Sparsamkeit auf, wenn ich anders das Ziel meiner Reise, mein Agram das damals meine Phantasie zu einem Bilde gestaltet hatte, wie ich mir jetzt ungefähr Alexandrien oder Kairo denke wenn ich also dies mein Mekka und zugleich mit dem Einzug in dies Asyl die ferneren Existenzmittel erreichen wollte.

Von meiner künftigen Direction hatte ich den freundlichen Auftrag erhalten, bei dem Laibacher Musiklehrer Maschek eine Violine abzuholen und derselben bis Agram ein Plätzchen in meinem Wagen gefälligst zu gönnen. Ter gute Zwonizek so lautete der verhängnißvolle Name meines künftigen Directors hatte keine Ahnung davon, daß ich im sträflichen und doch so verzeihlichen Leichtsinne mein Reisegeld auf dem adriatischen Meere, in der Adelsberger Grotte und auf dem theuren Pflaster Triest's verlustirt hatte und daher gezwungen war, mich auf der langweiligen Straße von Laibach nach Agram meinen eigenen gesunden Fußen und den Transport meiner kleinen Habseligkeiten meinem breiten Rücken anzuvertrauen. Nichts desto weniger war mir der Auftrag meines künftigen Gebieters heilig; so wurde denn die mir anvertraute Violine auf das nette, schlanke Ränzlein geschnallt, und mit einem tüchtigen Stock in der Hand wanderte ich, einem fahrenden, d. h. zu Fuße fahrenden Schüler nicht unähnlich, an einem schönen Sommermorgen hinaus in die frische, grüne, unbekannte Gotteswelt. Wenn Salz und Brod wirklich die Wangen roth macht, so muß ich in diesen Tagen sehr blühend ausgesehen haben.

So schritt ich munter vorwärts an den romantischen Ufern der Save (hier sehr unpoetisch Sau genannt) und ergötzte mich im Anschauen der herrlichen Gegend, die in feierlicher Einsamkeit vor mir ausgebreitet lag eine Eigenschaft, die nur zu bald verderbenbringend für mich werden sollte. Mir linker Hand das stille Flüßchen, an dessen jenseitigem Ufer in weiter Ferne ein Kloster sichtbar wurde; rechts eine wunderschöne Anhöhe, an welche sich ein ziemlich großes Gehölz anlehnte. Alles zusammen gewährt einen reizenden Ueberblick. In übermüthiger Fröhlichkeit ließ ich eben zu meinem Privatvergnügen einige österreichische Gsangeln ertönen, als ich von der Höhe herab drei Männer auf mich zueilen sah, deren wildes und unheimliches Aussehen mir das Zusammentreffen mit ihnen nicht sehr wünschenswerth erscheinen ließ. Alle Drei hatten sogenannte Bunda's über dem groben Hemde hangen, welches vorn offen die gebräunte, mächtig behaarte Brust sehen ließ und über den weiten Leinenbeinkleidern durch einen Ledergurt in der Mitte zusammengehalten wurde. Ueber der wildbärtigen Galgen-Physiognomie trug der Eine einen ungarischen Kalpak und die beiden Andern Mützen aus Lammfellen, nach Art der kroatischen Bauern. Mit schwacher Phantasie konnte man sich doch bei dem Anblicke dieser harmlosen Buschbewohner der Erinnerung an italienische Banditen nicht erwehren; denn wenn auch Dolch und Pistolen fehlten, so ersetzten doch tüchtige Knüttel, ein kurzes Feuergewehr und eine Art Beil (Tschakan) diesen Mangel hinlänglich. Die Art der Begrüßung ließ auch keinen Zweifel über die Absicht der Ehrenmänner mehr obwalten.

War beim ersten Blick auf die Herrschaften der laute Schall meiner Stimme im Vortrage meiner heimischen Volksgesänge zum unbedeutenden Flüstern herabgesunken, so blieb mir bei dem tobenden Geschrei, mit dem die Natursöhne über mich, den Einzelnen, Unbewaffneten, herfielen, ein halbes G'stanzl förmlich in der Kehle stecken. Da sie mir die Unkenntniß ihrer Landessprache wohl ansehen mochten, so waren die gutmüthigen Menschen freundlich beflissen, dafür zu sorgen, daß durch die ausdrucksvollste Mimik, womit sie die mir unverständlichen Laute begleiteten, kein Zweifel mehr über die zarte Absicht ihres Entgegenkommens übrig blieb. Zwei von der Gesellschaft waren sogleich so artig, mich der Last meines Ränzels sammt der fremden Violine zu überheben, und der Dritte untersuchte mit großer Fingerfertigkeit meine Taschen, aus deren Bereich die silberne Uhr und die wenigen Groschen, die ich mein nannte, schnell in den dunklen Schlund eines Schnappsackes, worin der Gute wahrscheinlich Nachtwäsche und Frisirkämme tragen mochte, verschwunden waren. Natürlich glaubte ich, die Sache wäre zu Ende, und froh, mit heiler Haut davon gekommen zu sein, zog ich freundlich den Hut und wünschte den Herren glückliche Reise; zu meinem Erstaunen aber entwickelte der Bärtige plötzlich bedeutende linguistische Kenntnisse und fing an, obgleich mit starken Anklängen eines fremden Idioms, sich mit mir in meiner Muttersprache zu unterhalten.

Nix da furtgehen, Schwab verfluchter, redete er mir liebreich zu, du mußt haben noch Geld! Auf die heilige Versicherung, daß meine sämmtlichen Capitalien bereits in seinen Händen wären, befahl er mir, die Stiefel auszuziehen. Vor Zorn bebend, stand ich einen Augenblick unentschlossen, jedoch der erhobene Stock mit dem blanken Beile und die grimmige Miene des Kerls, der mir wohl aussah, als käme es ihm gleich Körner's Banditenhauptmann aus einen kleinen Mord nicht an, die beiden andern Kerls, wovon der eine das Eingeweide meines Felleisens bereits ans Licht des Tages gefördert, der andere arglos mit seinem Feuergewehr spielte, gaben eine so reizende Staffage zu dem Bilde, daß ich nothgedrungen gehorchte, innerlich mein Agramer Engagement, den näheren schönen Fußsteig, den ich auf Anrathen meines Laibacher Wirthes eingeschlagen, und vor Allem die italienische Reise verwünschend, die mir die Mittel raubte, in bequemer Kutsche stolzirend allen auf Seitenwegen lauernden Buschkleppern ein Schnippchen zu schlagen.

Die Fußbekleidung lag neben mir im Grase, und während mein linguistischer Freund vor mir kauernd dieselbe gierig untersuchte, kam mir das unsinnige Gelüste an, ob meine Hand stark genug wäre, seine Kehle zuzuschnüren. Gleich als sollte diesem lieblosen Vorsatz auf der Stelle die Strafe folgen, erhob der Gauner, getäuscht in seiner Erwartung Geld zu finden, mit grimmigem Blicke das verkehrte Beil und versetzte mir mit dem Stock desselben einen gewaltigen Hieb über den Schädel; das warme Blut rieselte mir über das Gesicht und über die Hände herab, mit denen ich die Wunde zu decken suchte. Ich trage als Andenken an jene Höllenstunde noch immer eine ziemlich tiefe Narbe am Kopfe.

Was ich im ersten Augenblick des Schlages empfunden, weiß ich nicht nur so viel kann ich mich erinnern, daß ich keinen eigentlichen Schmerz fühlte und beim Anblick meiner blutigen Hände im Stillen meine Rechnung mit dem Himmel schloß, jeden Augenblick erwartend, daß mir der Spießgeselle des Gauners seine Kugel durch den Leib jagen würde. So wie jedoch vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt, so auch vom Entsetzlichen zum Komischen; denn beinahe wäre mir in meiner verzweiflungsvollen Lage das Lachen angekommen, als mir mein Peiniger nach kurzer Pause befahl, das Blut abzuwaschen und hernach er deu - tete gebieterisch auf die am Boden liegende Geige einen Ungarischen aufzuspielen.

Man denke sich meine Lage! Beraubt bis auf den letzten Deut, mit blutendem Kopfe und grimmigem Herzen sollte ich meinen Todfeinden ungarische Tänze vorgeigen abgesehen davon, daß ich vom Violinspiele so viel verstehe, wie von der chinesischen Sprache. Eine Art von verzweiflungsvollem Heldenmuthe kam über mich: ich erklärte wuthentbrannt, man solle mich tödten, ich könne und wolle nicht zum Tanze aufspielen; ich sprudelte dem Linguisten eine ganze Reihe Schimpfworte ins Gesicht, die Wirkung meiner Kühnheit mit hoffnungsloser Resignation erwartend. Zu meinem Erstaunen aber packte das saubere Kleeblatt nach kurzem Wortwechsel in illyrischer Sprache meine Effecten auf, maß mich mit verächtlichem Achselzucken und verschwand alsbald im Dunkel des nahen Gehölzes.

Da stand ich nun in der ersehnten romantischen Gegend allein, ausgeplündert, barfuß, geld - und obdachlos, die blutigen Locken reinigend an den reizenden Ufern der Save, nach meiner Berechnung zwei Stunden entfernt von jeder Menschenwohnung.

Im nächsten Orte angekommen, ließ mein erbarmenswerther Zustand bei dem Gastwirthe keinen Zweifel über die Wahrheit meiner Erzählung in Bezug auf meine Beraubung aufkommen, um so weniger, als die Unsicherheit der Gegend den Bewohnern des Fleckens leider nur zu bekannt war. Der ehrliche Kneipier ge - wann mich lieb und vertraute mir nicht nur die Paar Gulden zur Fortsetzung meiner Reise an, sondern empfahl mich auch einem Weinhändler, welchen seine Berufsgeschäfte zwei Tage später in die Hauptstadt Kroatiens führten, und der mir mit gutmüthiger Freundlichkeit einen Platz in seinem Wägelchen anbot. Ich übergebe hiermit die Namen meiner damaligen Wohlthäter feierlichst der Unsterblichkeit: der Gastgeber war ich will sogar hoffen, ist noch ein Krainer und heißt oder hieß Kirschhofer, und der Weinhändler Demeter.

In Bezug auf Agram selbst hatte mich meine Phantasie nicht getäuscht; keine civilisirte Stadt hat eine solche Reihe auffallender Stadt-Erscheinungen auszuweisen; die kroatischen Volksfeste (welchen ich einmal einen eigenen Aufsatz zu widmen denke), die dortigen Sitten und Gebräuche sind so originell und interessant, daß ich in reger Bewunderung dieser auffallenden Erscheinungen mehr trauriges Abenteuer auf der Hinreise rasch vergessen hätte, wenn nicht der Umstand, daß die Sicherheit der Hauptstadt ich spreche vom Jahre 1833 nicht viel größer schien, als die der Landstraße, mir die fatale Begebenheit wieder frisch ins Gedächtniß gerufen hätte.

Kein Tag und vollends keine Nacht verging, ohne daß irgend ein friedlicher Bewohner beraubt und bestohlen worden wäre; ja, der Unfug und die Frechheit des Raubgesindels nahm auf so furchtbar beunruhigende Weise überhand, daß sich die Behörde zu einer der seltsamsten Maßregeln gezwungen sah. Es wurde nämlich bei Trommelschlag die Verordnung verkündet, welche dem Bürger Agram's das Recht gab, auf jeden Abends nach acht Uhr in seine Wohnung Dringenden scharf zu schießen, wenn ihm derselbe aus dreimaligen Anruf die Antwort schuldig geblieben.

Ein Büchsenmacher auf der sogenannten Harmitzen einer Vorstadt Agram's machte von diesem wunderlichen Privilegium auch schon in der ersten Nacht nach der Publication Gebrauch und schoß einen Kerl bei dem Versuche, durch sein Fenster einzusteigen, mitten durch das Herz. Die Leiche des Getödteten blieb den folgenden Tag in derselben Lage, in die ihn die verhängnißvolle Kugel niedergestreckt, zur Schau liegen, und die zahlreich zuströmenden Neugierigen beschenkten den wackeren Schützen reichlich. Der Getroffene hatte freilich sein Schicksal wohl verdient; denn er war, wie sich später auswies, ein ausgelernter Galgencandidat, welcher bereits im Schlößlein Munkats Festungsstrafen überstanden hatte und hier so unverhofft vom Walten des unbeugsamen Fatums ereilt worden war; allein man schaudert, wenn man bedenkt, welches Unglück Willkür und Mißverständniß durch einen so seltsamen Polizeibefehl hervorrufen konnte.

Ich meines Theils habe den ganzen Vorfall nur erwähnt, weil ich durch Neugier ebenfalls zu dem sonderbaren Schauspiel getrieben in dem in seinem Berufe Gefallenen mit Erstaunen die irdischen Reste meines sprachkundigen Räubers erkannte, dem ich noch vor wenig Tagen so frisch und wohlgemuth auf seiner Geschäftsreise in Feld und Wald begegnet war, und den wohl die Lust, einen Ungarischen aufspielen zu hören und nebenbei ein kleines Verdienstchen zu suchen, nach Agram getrieben hatte. Sein treuer Tschakan , an welchem, sofern mich meine lebendige Phantasie nicht getäuscht, noch mein Blut klebte, lag neben ihm.

Ich hatte mich bereits an meine neuen Verhältnisse gewöhnt, einen fröhlichen Kreis gleichgestimmter Freunde jeden Abend im Gasthaus zur Krone um mich versammelt, und manch lustiger Schwank wurde hier besprochen und ausgeführt, manche Stunde verflog hier pfeilschnell, im frischen, anregenden Gespräche in Ernst und Scherz. Mein täglicher Tischnachbar war ein würdiger, alter, aber etwas schweigsamer Offizier, Hauptmann B., der sich mir jedoch freundlich genähert, und dem ich manche interessante Mittheilung aus seinem vielbewegten Leben verdanke.

Seit sechzehn Jahren fand sich hier nach der Tischzeit ein armer Blödsinniger ein, dessen stiller und unschädlicher Wahnsinn den jüngern und leichtsinnigen Tafelgenossen manchen Stoff zu verwerflicher Belustigung bot. Besonderes Vergnügen fanden die jungen Leute an der ihm, gleich vielen Irrsinnigen, eigenen Lust, zu tanzen; denn auf das Commando Josy (sprich: Joschy), tanze schön, hier ist ein Groschen, fing er sogleich an, sich nach einer von ihm gesummten eintönigen Melodie im Kreise zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, bis die Erschöpfung ihn zum Stillstände zwang und der Arme, sich mit der verkehrten Hand den Schweiß abtrocknend, ein ihm dargereichtes Glas Bier oder Wein hastig hinabstürzte, sich mit stierem Lächeln und einer ungelenken Verbeugung gegen die Gesellschaft entfernte, um im nächsten Gasthof dasselbe Spiel mit sich wiederholen zu lassen, bis ihm ein wohlthätiger Rausch die Augen schloß. Schon oft hatte ich mich gegen B. über die unzarte Art, mit welcher man aller Orten mit dem Unglücklichen umging, ausgesprochen, heute jedoch riß mich mein Gefühl hin, und ich erklärte einem jungen Manne, der sich den geistreichen Witz erlaubt hatte, den armen Josy mit einem großen gemalten Schnurrbart fortzuschicken, rund heraus, daß ich derlei Scherze roh und herzlos fände. Mein Gegner meinte, mein Moralpredigen sei lächerlich, der dumme Cretin habe kein Gefühl für meine zarten Rücksichten und sei seit sechzehn Jahren an ganz andere Scherze gewöhnt. Ich wurde ebenfalls heftig, und es wäre vielleicht zu sehr ernsten Erörterungen gekommen, hätte sich nicht der von Allen geachtete B. ins Mittel gelegt.

Meine Herren, sprach der würdige Krieger, Sie sind alle fremd und kennen die Ursache nicht, welche den armen Josy zum Wahnsinn gebracht; erlauben Sie mir, Sie mit derselben bekannt zu machen, und ich bin überzeugt, Sie werden sämmtlich die Lust verlieren, den Cretin, wie Sie ihn zu nennen belieben, in Zukunft zu necken. Rasch hatten sich die Streitenden in einen Kreis aufmerksam ruhiger Zuhörer verwandelt, und B. begann:

Der arme Josy, den Sie jetzt als bleiches Jammerbild verhöhnen, würde vor achtzehn Jahren Ihren Spott wohl nicht so ungestraft hingenommen haben; denn damals war er der schönste, aufgeweckteste und frischeste Bursche in der ganzen hiesigen Garnison. Dabei gutmüthig und rechtlich bis zum Excentrischen, genoß er die ungetheilte Liebe und Achtung Aller, die ihn kannten. Von seinen Vorgesetzten wurde er den Kameraden im Regimente stets als Muster und Beispiel angeführt, ohne je den Neid derselben zu erregen, die im Gegentheil mit einer Art von gerechtem Stolz über die Auszeichnung erfüllt waren, mit welcher der gute Josy überhäuft wurde. Mit beispielloser Freundschaft aber hing der treue Bursche an seinem Landsmann und Jugendgespielen Istvan (Ischtvan), der mit ihm in Einer Compagnie diente, mit dem er aufgewachsen, an den ihn jahrelanges Zusammensein, gleiche Gewohnheiten und erwiderte Herzlichkeiten mit tausend Banden fesselten. In einem hitzigen Nervenfieber hatte Istvan den dankbaren Josy mit aufopfernder Bruderliebe gepflegt, dieser den etwas leichtsinnigen Kumpan dagegen einmal vor einer bedeutenden Regimentsstrafe gerettet, indem er dessen Vergehen auf sich nahm und sich der in Betracht seines sonstigen exemplarischen Wandels sehr gemilderten Buße freudig unterwarf; kurz, es war ein Bund für die Ewigkeit, und um so rührender, je seltener sich derlei zarte Anhänglichkeit bei solch kräftigen und starken, aber ungebildeten Naturen vorfindet. Nach seinem Freunde war dem muntern und hübschen Istvan seine Lisinka das theuerste Gut auf dieser Erde. Bereits hatte er das Wort seines Hauptmanns zur Heirathsbewilligung erhalten, und nächstens sollte ihn der priesterliche Segen mit der schwarzäugigen, bildschönen Dirne auf ewig vereinen als ihm diese einst unter heißen Thränen zu Füßen fiel und gestand, sie könne nicht die Seine werden. Der Sohn ihrer Herrschaft, der junge Graf K .... ey, ein bekannter niedriger Wüstling, hatte durch alle Künste der Hölle die Arme zum folgenreichen Falle gebracht.

Der wüthende Schmerz des armen Burschen bei dieser entsetzlichen Mittheilung läßt sich eher fühlen als beschreiben; doch nach einigen Stunden des schneidendsten Jammers hatte dieser dem grimmigsten Rachedurst in der Seele des heißblütigen und stolzen Kroatenjünglings Platz gemacht. Am andern Morgen durchlief eine entsetzliche Neuigkeit wie ein Lauffeuer die ganze Stadt: der junge Graf K .... en sei beim Heimkehren aus munterer Gesellschaft an der Thür seines Hauses erschossen worden; der Thäter, ein gemeiner Soldat, habe sich heute früh freiwillig dem Kriegs - gericht gestellt und sein Verbrechen ohne Hehl gestanden.

Der peinliche Prozeß nahm seinen Anfang, der vorsätzliche Mord lag klar am Tage; und wie viele Milderungsgründe auch für den Menschen vorlagen, das Gesetz konnte keinen anerkennen, sein tödtender Buchstabe sprach den Henkertod am Galgen über den ihm Verfallenen aus. Der unglückliche Josy hatte die Zwischenzeit in einer Art von stumpfsinniger Verzweiflung verlebt. Alle Versuche, den Freund zu sehen, zu sprechen, schlugen natürlich während der Dauer der Untersuchung fehl, und nur dem zum Tode Verurtheilten wurden zwei Bitten gewährt: erstens, von dem Jugendgespielen ohne Zeugen Abschied nehmen zu dürfen, zweitens diesen den Kameraden beigesellt zu sehen, welche ihn auf dem letzten schweren Gange zu escortiren die traurige Pflicht hatten. Was bei ihrem letzten Zusammensein von den Unglücklichen besprochen worden, welch herzzerreißender Jammer den Abschied fürs Leben begleitete, kann man nur vermuthen; denn als der Gefangenwärter sie zur Trennung aufforderte, fand er Istvan gefaßt und ruhig und vernahm nur die verhängnißvollen Worte: Gedenke deines Schwures, welche er nach einem langen und heißen Bruderkusse dem sich verzweiflungsvoll losreißenden Josy zurief.

Die nächste Frühsonne beschien eine unabsehbare Menschenmenge, welche diesmal nicht rohe Neugierde, sondern innige Theilnahme an dem traurigen Geschicke des armen Istvan um den Morgenschlummer gebracht hatte. Tausend Thränen aus schönen Augen flossen dem hübschen Jünglinge nach, der mit heldenmüthiger Fassung der ersehnten Erlösung aus seiner Schmerzensbahn entgegenging. Desto herzzerreißender war der Anblick des armen Josy, der auf die ausdrückliche Bitte seines der Gerechtigkeit anheim gefallenen Kameraden der Mannschaft, welche diesen zum Hochgerichte zu begleiten hatte, beigegeben war. Bei dem Anblick des in einen bleichen Märtyrer verwandelten Kriegers erfüllte das tiefste Mitleid jede Brust, und man mußte dem Sterbenden grollen, der dem Vielgeprüften diese herbe Pein nicht erspart hatte.

Jetzt ist der Zug am Hochgerichte angekommen, das Sterbeglöcklein schallt klagend durch die Lüfte, der arme Sünder kniet im inbrünstigen Gebete unter dem Galgen nieder, die letzte Absolution des ihn begleitenden Priesters empfangend, kein Auge bleibt thränenleer, selbst der Henker, mit dem verhängnißvollen Stricke nahend, scheint nur mit schwerem Herzen seine traurige Pflicht zu erfüllen da plötzlich knallt ein Schuß durch die Luft, ein Schreckensschrei der entsetzten Menge ertönt, und lautlos stürzt Istvan mit zerschmetterter Brust zu Boden. Die Kugel, welche ihm das Herz durchbohrt, war von Freundes Hand gesandt der Schütze war Josy! Armer Josy!

Der Henker war um seine Beute betrogen, der Freund starb ehrlichen Soldatentod durch Freundes Hand. Vor Schreck und Staunen erstarrt steht die Menschenmasse, man bemächtigt sich des Mörders, dessen Motive Allen ein grauenvolles Räthsel waren, man drängt sich um die Leiche des Delinquenten; da zieht plötzlich ein neues, ebenso unerwartetes Ereigniß die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Von weiter Ferne her schallt ein dumpf anschwellendes Gemurmel, es dringt näher, es verwandelt sich in ein fröhliches Jubelgeschrei. Die Menge theilt sich, ein Reiter auf schaumbedecktem Rosse, ein weißes Tuch schwenkend, naht mit Windeseile. Pardon! ruft das Volk, Pardon für Istvan! Haltet ein! Zu spät! Istvan liegt todt am Boden Josy ohnmächtig neben seinem Opfer. Armer Josy!

Abermals ein peinlicher Prozeß! Abermals ein Prozeß, der den Richtern wenig Mühe machte; denn Josy gestand im ersten Verhör, er habe dem Freunde beim Abschied einen heiligen Eid geleistet, ihn nicht den Tod der Schande am Galgen sterben zu lassen, sondern ihm durch seine Kugel Erlösung zu senden. Der Schwur habe ihn zum Mörder gemacht, er wisse, daß er den Tod verdient habe, und bitte nur um ein rasches Urtheil. Dies fiel für Josy sehr mild aus: der Arzt hatte den Burschen für wahnsinnig erklärt, und wirklich trug die dumpfe, stiere Gleichgültigkeit, mit welcher er seinem Urtheil entgegensah, dazu bei, diesem Ausspruch beizupflichten. Nach einigen Monaten Haft wurde er, zum ferneren Militärdienste untauglich, suspendirt und, da der Wahnwitz nicht vor den Richterstuhl gehört, als unschädlich Irrsinniger freigelassen.

Einige Tage darauf war er verschwunden und zwei volle Jahre völlig verschollen, ohne daß man von dem Armen irgend etwas erfuhr, als man ihn eines Morgens unter dem Galgen schlafend fand, und zwar in dem Zustande, in welchem Sie ihn jetzt noch sehen. Da er kein Kind beleidigt, so erlaubt ihm die Behörde großmüthig damit er dem städtischen oder militärischen Fond nicht zur Last falle, sich seinen Lebensunterhalt bei Denen zusammen zu betteln, die an den Schwänken des Cretins Gefallen finden. Dies, meine Herren, ist die Geschichte von dem wahnsinnigen Josy!

Der würdige Mann hatte geendet. Mit der innigsten Theilnahme hatten wir Alle, mit glühender Schamröthe, mit ehrender Verlegenheit aber der junge Mann, der früher mit Josy seinen Scherz getrieben, zugehört. Den folgenden Tag war er der Erste im Saale und befestigte schweigend eine Büchse an die Wand, worauf die Worte standen: Für den armen Josy. Jeder von uns gab reichlich, was in seinen Kräften stand, und unserem vereinten Zusammenwirken war es leicht, dem Blödsinnigen die nöthigen Existenz - mittel zu schaffen. Er fiel uns jedoch nicht lange zur Last. Durch die Unmäßigkeit, mit welcher er sich auf den Genuß geistiger Getränke verlegte, verfiel er in Säuferwahnsinn, und drei Monate später war er todt. Armer Josy!

About this transcription

TextDer arme Josy
Author Franz Wallner
Extent23 images; 3768 tokens; 1799 types; 26198 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-16T13:02:20Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-16T13:02:20Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Der arme Josy. Band 15. Franz Wallner. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 147-167.

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Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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Editorial principles

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

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