PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz. Herausg. v. Paul Heyse u. H. Kurz. Band 7.
Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg
Der Notar in der Falle von J. Gotthelf. Johann Ohlerich von A. Wilbrandt.
Berlin W. 9. Globus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Johann Ohlerich.

Adolf Wilbrandt wurde am 24. August 1837 in Rostock geboren, wo sein Vater, ein angesehener Philologe und Professor am Gymnasium, um seiner charaktervollen politischen Haltung willen jahrelanger Verfolgung von Seiten der Reaction ausgesetzt war. Der Sohn, das dritte von zehn Geschwistern, studirte in Rostock, Berlin und München Jurisprudenz, Philosophie und Geschichte, war von 1859 bis 1861 als Karl Brater's Mitredacteur an der Süddeutschen Zeitung thätig und ging, nachdem er ein treffliches Buch über Heinrich von Kleist und einen etwas jugendlich überschwänglichen Roman geschrieben hatte, auf ein Jahr nach Italien. Die erste größere literarische Arbeit, die den nach München Zurückgekehrten beschäftigte, war eine mit Rücksicht auf die moderne Bühne unternommene Uebersetzung der Hauptwerke des Sophokles und Euripides in fünffüßigen Jamben und mit Auflösung der Chorgesänge in die Handlung und den Dialog (2 Bände, Nördlingen, C. H. Beck), ein Versuch, der sich bereits mehrfach in höchst wirksamen Aufführungen bewährt hat. In die nächstfolgenden Jahre fallen seine Novellen (2 Bände, Berlin, W. Hertz 1869 und 70), sein Antheil an der neuen, bei Brockhaus erschienenen Shakespeare-Uebersetzung (Coriolan und Viel Lärmen um Nichts), endlich seine Lustspiele Unerreichbar, Jugendliebe, die Vermählten, die Wahrheit lügt, die Maler, ein Schauspiel der Graf von Hammerstein und ein Trauerspiel Gracchus der Volkstribun. Seit Kurzem ist A. W. nach Wien übergesiedelt.

Ein Talent zu charakterisiren, das sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat, vielmehr mitten im reichsten Schaffen und immer neuen Entfaltungen begriffen ist, würde so schwierig als voreilig sein. Und vielleicht scheint es auch verfrüht, unter Wilbrandt's Novellen schon jetzt diejenige auszuwählen, die ihn als Erzähler von seiner eigenthühmlichsten Seite zu zeigen vermöchte. Obwohl er sich, durch vorwiegende Begabung und das schönste Gelingen bestärkt, in neuerer Zeit ausschließlich der Bühne zugewendet hat, steht doch zu hoffen, daß er gelegentlich eben so wohl zur Novelle, wie zu psychologisch-kritischen Arbeiten im Stil seines H. v. Kleist und seiner tiefsinnig anziehenden Studie über Hölderlin (im Historischen Taschenbuch) zurückkehren werde. Für diesen Fall sei ihm in unserer Sammlung ein Platz offen gehalten, um auch von der zu erhoffenden seconda maniera des Erzählers A. W. eine Anschauung zu geben. Die erste Periode glauben wir nicht besser vertreten zu können, als durch den hier mitgetheilten Johann Ohlerich. In dieser liebenswürdigen Geschichte wird unseres Erachtens die ganze Scala novellistisch wenigstens angedeutet, die auch der Dramatiker Wilbrandt beherrscht, von der spielenden Grazie, dem barocken Humor, der ihn rasch zu so unbestrittenen Erfolgen im Lustspiel gebracht hat, bis zu der gemüthvollen Wärme, die sein Schauspiel Graf Hammerstein beseelt, und der leidenschaftlichen Energie, der sittlichen Kraft und Tiefe, die ihn als Tragiker auszeichnen.

I.

Es giebt Gegenden, die wir lieben, weil sie schön sind, und Gegenden, die nur schön sind, weil wir sie lieben. Wenn du, der du diese Geschichte lesen willst, vielleicht in diesem Augenblick mit deinen Gedanken am Golf von Neapel verweilst, so ist es ein sehr undankbares Unternehmen, dich an die Einfahrt von Warnemünde zu versetzen und dir die Sanddünen meiner Heimat zu zeigen. Weite Wiesen, platt wie dieser Tisch; rothe Ziegeldächer, lange Reihen kleiner, gleichförmiger Häuser, über denen die Schiffsmasten wie lange Nadeln in den Himmel wachsen; dunkle Wälder am flachen Horizont, wie große Schlangen, die unbeweglich in der Sonne liegen; eine Kette unfruchtbarer, bleicher Sandhügel am Strande hin, wie ein Gebirge zum Spielen; und hinter dir das grüne, unbegrenzte Meer. Du wirfst einen halben Blick über das alles hin und willst wieder gehen; nur ein unklarer Sinnenreiz hält dich noch zurück. Der feuchte, kräftige Salzgeruch, der dich umweht, das Singen der Flut am Bollwerk, das Flattern der Seemöven über dir fängt an, seine träumerische Wirkung auf dich auszuüben. Ein Fischerboot segelt langsam zwischen den beiden Hafendämmen in den Fluß herein; du siehst ihm gedankenlos nach, bis es zwischen den großen, schwarzen Dreimastern verschwindet. Dort auf dem größten von ihnen hißt man die Segel auf, Ankerketten klirren, das eintönige Ahoi der arbeitenden Matrosen schwimmt dir behaglich ans Ohr. Dein Geist wird schläfriger, deine Sinne schärfer: der Geruch des Theers, der dicken Taue, der Netze, die am Ufer in der Sonne trocknen, des Seetangs, der unten auf dem steinernen Bollwerk fault, des feuchten Meersands, den die Frauen in ihren tiefgehenden Jöllen vorüberfahren, Alles wird dir bewußt. Du hörst den hellen Klang der Pantoffeln neben dir auf den Steinen, sie klingen an dir vorbei, du blickst auf und siehst die schlanke Gestalt, die in diesen Pantoffeln vorüberschreitet. Es fällt dir auf, wie elastisch sich diese junge Seemannsfrau dahinbewegt. Wie gut der sonderbare Strohhut ihr steht, wie angenehm die langen schwarzen Hutbänder über ihre grüne Jacke herunterflattern. Es ist nichts Bäurisches an ihr, keine plumpen Schultern, keine eckigen Arme; auf ihren kleinen Pantoffeln geht sie so sicher und so leicht, wie eine Städterin, nur majestätischer. Eine eigenthümliche Würde liegt in jedem Schritt, in der Art, wie sie die Schultern hält und den Kopf zurücklegt. Sieh da warum hustest du? Sie hat es gehört, sie wendet sich mechanisch um ohne zu wissen, daß du das eben wolltest, und zeigt dir ihr Profil. Dich überrascht dieser scharfe Schnitt; die schön gewölbte Stirn, die kühne, etwas gebogene Nase, der festgeschlossene Mund und das starke Kinn. Sie wirft dir aus ihren großen blauen Augen einen gleichgültigen Blick zu, der dich fast kalt überläuft. Das ist keiner von den Blicken, die man als Netze oder als Schlingen auswirft. Sie wendet sich wieder ab und geht davon. Du siehst ihr nach, hörst wieder ihre Pantoffeln auf den Steinen, verwunderst dich, was für Gestalten hier aus dem Boden wachsen, und weißt nicht mehr, wie öde die Gegend ist.

Die Warnemünder sind ein besonderes Geschlecht; in Gestalt und Wesen nicht von der gewöhnlichen Mecklenburger Art um sie her, auch in der Sprache haben sie ihre Eigenheiten für sich. Wie richtige Hafenstädter leben sie nur aufs Meer hinaus: die Männer in der Jugend als Seefahrer, hernach als Fischer oder Lootsen; die Frauen sieht man Ballast tragen, Sand fahren, fischen, zur Stadt hinauf segeln; sie sind auf dem Wasser so gut zu Haus, wie ihre Väter und Herren. Wie oft leben sie auch lange Jahre auf sich selbst gestellt, als Wittwen vor ihrer Männer Tod, mit den Kindern allein, deren Väter auf langer Fahrt im chinesischen Meer oder in der Südsee kreuzen. Wohl ihnen, wenn sie dann wenigstens ein leichtes, harmloses Herz haben, wenn ihnen kein eifersüchtiges Blut in den Adern fließt. Und wohl den fahrenden Männern, wenn ihre Gedanken Phlegma genug haben, an der Treue ihrer Frauen nicht herumzutasten. Denn diese Frauen sind zwar ein hartes, arbeitsames, treues Geschlecht; aber doch ist's nicht Jedem gegeben, sein hübsches junges Weib für eine Penelope zu halten. Ich kenne Einen und er wird der Held dieser Geschichte sein der immer mit felsenfestem Vertrauen hinaussegelte, aber immer mit schweren Sorgen wiederkam; der in seiner ehrlichen Brust Kämpfe erduldete, die wir sonst nur hinter der schwarzen Haut eines Othello suchen. Er war Steuermann auf einem Dreimaster, der bereits die Welt umsegelt hatte; in der allerbesten Lebenszeit, fröhlich und jähzornig, wie es gerade kam, bald voll guter Laune, bald voll Trübsinn, aber der beste Kamerad auf seinem Schiff und der beste Schiffer unter den Kameraden. Wenn auch nicht so hoch und wohlgebaut, wie sein Schwiegervater, der noch im Alter einer der schönsten Männer war, die ich zu nennen weiß, gefiel er doch sogleich durch seine behaglich würdevolle, männliche Gestalt. Die hohe Stirn, die blauen, wetterfesten, Alles durchdringenden Augen, die mäßige Adlernase, und dazu der humoristisch freundliche Mund konnten ihm nicht bloß gute Kameraden, sondern auch Frauenherzen gewinnen. Er hatte denn auch eins der drei schönsten Mädchen seines Orts zum Weib bekommen, und ein Jahr später einen flachshaarigen Buben dazu, der seinen ehrlichen Namen Johann Ohlerich weiter vererben sollte; und so wäre er, Alles in einander gerechnet, vielleicht der glücklichste Mann zwischen den beiden Wendekreisen gewesen, wenn sich nicht der Othello in seinem Herzen gerührt hätte.

Er war eifersüchtiger als die Andern, aber freilich hatte er auch mehr als die Andern zu verlieren. Sein junges Weib, Liesbeth, hatte die großen, majestätischen Züge ihres Vaters und die Schlagfertigkeit ihrer kleinen Mutter geerbt; bei aller Strenge des Profils und der blauen Augen wie der Leser sie vorhin bei seinem Eintritt gesehen war ihr Geist so anmuthig, daß auch die großstädtische Rostocker Jugend sich an ihrem Witz versengen und Kopf und Herz an sie verlieren konnte. Es sah, ging und stellte ihr Mancher nach, der dem wackeren Johann Ohlerich nicht gefiel, und in gut gelaunten Stunden machte es ihm wohl Vergnügen, sein Weib mit dem Warnemünder Leuchtthurm zu vergleichen, an dem sich in Herbstnächten die Zugvögel, vom Licht verführt, so oft die Köpfe zerstoßen. Aber die gutgelaunten Stunden waren nicht immer da, und Liesbeth, als ihres Vaters Kind, von viel zu trotziger Art, um sich seinen mißtrauischen Grillen sanft zu unterwerfen. Sie hatte ihn genommen, weil ihre Eltern es wünschten, und gleich am Hochzeitstag zeigte sie ihm, wie wenig sie Willens war, sich von seinem Eifersuchtsteufel plagen zu lassen. Sie waren getraut und es wurde getanzt, und einer der jungen Bursche, den sie vordem mit günstigen Augen angesehen hatte, forderte sie, mit vielleicht etwas unbillig verliebten Augen, zu einem Zweitritt auf, in dem sie als Mädchen berühmt war. Johann Ohlerich bemerkte dies kaum, so nahm er sein junges Eheweib bei Seite und, von dem Glühwein und seinen neuen Hausherrnrechten erhitzt, befahl er ihr, sich von diesem unerfreulichen Burschen, nicht herumschwenken zu lassen. Sie sah ihm ins Gesicht, ließ ihn stehen, wo er stand, und in dem zornigen Gefühl, daß sie ihn bei Zeiten kuriren und ihre eigenen Rechte wahren müsse, ging sie auf den Andern zu und sagte ihm, daß sie mit ihm tanzen werde, so lange es ihm und ihr nur irgend gefiele. Und so tanzten sie mit einer Ausdauer und Leiden - schaft, daß Alt und Jung sie bis tief in die Nacht bewunderten, und so tanzte sich die schöne Liesbeth in die Ehe hinein, in der sie, nach der Meinung des Geistlichen und des Johann Ohlerich, ihrem Manne in allen Stücken gehorchen sollte.

Indessen kam ihr nach und nach wie in jeder guten Haushaltung auch die Liebe ins Herz, und es hätte gewiß ihr größtes Glück ausgemacht, ihm treu zu sein, wenn seine Eifersucht nicht immer wieder ihren Trotz und ihr Trotz seine Eifersucht erregt hätte. Es war ihr nicht zu verargen, daß sie zur Sommers - wie zur Winterszeit in Mußestunden in ihrer Mutter Haus ging, und an ihr lag nicht die Schuld, wenn die Mutter im Sommer Miethgäste aus der Stadt in ihre Wohnung nahm, und zwar immer dieselben, mit denen Liesbeth schon seit sechs Jahren auf vertraulichem Fuße stand. Auch konnte es ihr nicht angerechnet werden, daß der junge Julius, der Sohn dieser Sommergäste, an dem allgemeinen Wachsthum der Menschen theilgenommen hatte, daß aus dem Knaben, den sie vor Zeiten im Krabbenfangen unterrichtet hatte, ein akademischer Jüngling mit schwachem Schnurrbart und starken Ausdrücken geworden war. Für seine schönen Augen konnte sie so wenig verantwortlich gemacht werden, wie für sein feuriges, verliebtes Temperament; und in ihrem unschuldigen Herzen war sie überzeugt, daß sie ihn nicht ermuthigt hatte, die Strahlen seines feurigen Temperaments grade auf sie zu werfen. Nichts führt leichter zur Vertraulichkeit, als das sichere Gefühl, daß gesellschaftliche Unterschiede die volle Vertraulichkeit unmöglich machen. Liesbeth war plattdeutsch, Herr Julius hochdeutsch aufgewachsen. Sie machte sich im frühesten Morgengrauen zum Sandfahren auf, wenn Julius, vom Champagnertrinken ausruhend, im ersten Schlaf von ihr träumte. Sie kämpfte in ihrem Fischerboot, bis auf die Haut durchnäßt, gegen die Spritzwellen an, wenn Julius im Dünensand auf dem Rücken lag, um Heine'sche Verse auf sie zu machen. Sie war seit seiner Geburt vier Jahre älter als er, hatte also, nach Frauenart, das beruhigende Gefühl, fast seine Mutter zu sein. Kurz, mochte es nun gekommen sein, wie es wollte: er war zwanzig Jahre alt geworden und in sie verliebt, und sie hatte sich im Laufe des Sommers in das Schicksal gefunden, von seinen scherzenden Anspielungen schüchtern verfolgt und von seinen seelenvollen Studentenliedern angesungen zu werden.

Johann Ohlerich segelte unterdessen auf dem atlantischen Ocean, von Rio de Janeiro nach London, dann von London nach Hamburg, und fand bei der friedlichen Fahrt leider Zeit genug, sich in seine zweifelsüchtigen Gedanken zu vertiefen. Nach London hatte ihm sein munteres Weib geschrieben, daß Herr Julius wieder da sei und sich inzwischen aus der Universität ein Herz angeschafft habe; ein unglückseliges Wort, das, in Verbindung mit der ungewöhnlichen Fröhlichkeit ihres Briefs, dem wackeren Steuermann manche unmuthsvolle Stunde machte. Das irdische Dasein des Herrn Julius war ihm schon lange nicht recht; die unbillige Einrichtung der Natur, daß ihn sein Schifferleben frühestens im Winter, den Herrn Julius seine Studentenferien im Sommer nach Warnemünde führten, kam ihm vollends wie eine feindselige Veranstaltung vor. Zum ersten Mal hatte sich jetzt der Zufall ins Mittel gelegt und sein Schiff zur Sommerszeit mit Kohlen nach Hamburg geführt, von wo er seinen häuslichen Herd leicht erreichen konnte, wenn er sich nur das Wort gab, in spätestens fünf Tagen wieder an Bord zu sein. Er machte sich ohne Weiteres auf, bestieg in Hamburg den nächsten Eisenbahnzug und freute sich bei sich selbst, wie er sein gutes Weib überraschen werde; während er verstohlener, gleichsam hinter seinem Rücken, dachte, wie gut es sei, unangemeldet nach dem Rechten zu sehen. So kam er nach Rostock, stieg auf einen der Flußdampfer, die zwischen Rostock und Warnemünde fahren, und schwamm auf der Warnow seinem Hafenstädtchen zu. Es war Vormittag, die warme Augustsonne wanderte über das Verdeck. Die grünen Uferhügel, weidende Kühe, langgestreckte Dörfer zogen vorbei, die Tannen am flachen Lande schienen hinter einander fort zu gehen, die weißen Möven flogen darüber hin, und so im Gefühl der allgemeinen Bewegung, die seine Ungeduld dämpfte, stand er am Bugspriet, ohne sich zu rühren, wie für das Gallion aus Holz geschnitzt, und suchte sich gleichzeitig vorzustellen, daß seine Frau ihm treu sei, und daß er sie gleichwohl mit dem Herrn Julius finden und diesen Jüngling mit einem Faustschlag niederstrecken werde.

Die kurze Fahrt ging mittlerweile ihrem Ende zu; der Fluß, der sich vor seiner Mündung zu einem stattlichen See, dem Breitling , erweitert, zog sich auf einmal in einen Wasserfaden zusammen, und die kleinen, spitzgiebeligen Häuser von Warnemünde, die bis ans Meer neben ihm her gehen, wuchsen heran. Johann Ohlerich sah die Wellen seines Dampfers gegen das Bollwerk ziehen, die alten Lootsen vor den Hausthüren auf den Bänken sitzen und ihre Pfeife rauchen, die Kinder am Wasser spielen, die Frauen mit übereinandergelegten Händen nach dem Dampfschiff sehn; es wurde ihm heimathlich und weich zu Muth. Nun kam auch sein Häuschen hervor, das nicht weit von dem des Schwiegervaters in der langen Uferreihe lag, und er spähte, ob er seine Liesbeth nicht entdecken werde. Doch außer einigen Geraniumtöpfen an den Fenstern und einem neuen Anstrich der Thür und der Bank war nichts Hübsches zu sehen. Nur seinen kleinen Jungen glaubte er herzhaft, mit der bekannten Ohlerich'schen Stimme, schreien zu hören; das that ihm wohl. Sie dampften nun auch am Haus des Schwiegervaters vorbei; hier war Alles leer und still. Das Schiff legte an, Johann Ohlerich stieg aus, mit dem etwas unsicheren Seemannsgang, der an künstlichere Aufgaben für das Gleichgewicht gewöhnt ist. Er grüßte hier und dort, ohne still zu stehen, und in der warmen Sonne und gelinder Auflegung hinträumend, wanderte er dem Wiedersehen zu.

Das Haus seines Schwiegervaters kam zuerst, eines der größten im Ort, weiß angestrichen, die grüne Thür in der Mitte, rechts und links davon je zwei Fenster und eine Bank. Das ganze Vorderhaus war, wie es Sitte ist, an die Sommergäste vermiethet; im kleinen Hintergebäude wohnte der alte Hausherr mit seiner Frau. Es war vormittagsstill, Alles schien ausgeflogen zu sein, auch durch die offene Hausthür verlautete nichts. Trotz alledem hatte Ohlerich so ein dunkles Gefühl, als werde er seine Frau hier finden und nicht daheim, und der unglückselige Kitzel überkam ihn, sie zu beschleichen. Zwischen je zwei Häusern ist ein schmaler Durchgang, den eine Thür verschließt und der nach hinten auf den Hof und zum Garten führt. Johann Ohlerich trat an diese Thür, drückte die Klinke auf und ging zwischen den Mauern auf den Zehen fort, bis er mit vorgestrecktem Kopf den kleinen Hof übersehen konnte. Hier lagen unter einem Birnbaum geflickte Netze herum, und die farbigen Hemden und grauen Leinwandhosen des Schwiegervaters schwankten an einer Leine im leichten Wind auf und ab. Dann erschien die kleine Schwiegermutter vom Garten her, ohne ihn zu sehen, und lachte mit ihrer männlichen Stimme laut auf, als habe sie da hinten irgend ein lustiges Wort gehört. Auch vom Garten herüber hörte er lachen. Es war Liesbeth's Stimme. Die alte Frau fuhr auf ihren klappernden Pantoffeln in die Küche hinein. Johann Ohlerich, ohne sich nun länger zu besinnen, ging über den Hof, öffnete die Gartenthür, so geräuschlos er konnte, schlich hinter das Gebüsch, das in der Nähe stand, und sah nun wirklich das Paar, das ihm die Träume seiner Nächte verstört hatte.

Unter einem Apfelbaum neben dem Gurkenbeet, auf einem Brettstuhl, der sich gegen den Baumstamm lehnte, saß sein junges Weib, frisch und hübsch wie je, und hielt ein Messer in der Hand und eine Schüssel mit langen Bohnen im Schooß, doch ohne sie abzuziehen. Ihr zwanzigjähriger Anbeter saß ihr gegenüber, den Strohhut über die Stirn zurückgeschoben, mit geöffneter Weste es schien ihm hinter der Stirn und unter der Weste am heißesten zu sein und auf seinen Knieen ein Schachbrett, auf dem die Figuren von Zeit zu Zeit merklich erzitterten. Er war eben beschäftigt, ihr die Bedeutung der Figuren zu erklären und dabei in ihre Augen zu sehen, und sie lachte ihm herzlich ins Gesicht.

Ach Gott, wozu machen Sie sich all die Mühe! sagte sie; ich bin ja doch viel zu dumm dazu.

Er sah sie aufgebracht an. Ich wollte, meine Schwestern wären so klug, wie Sie, Liesbeth! Sie wollen nur nicht Acht geben; da, sehen Sie her. So zieht der Läufer, und so springt der Springer über ihn weg.

Lassen Sie ihn nur springen! Sie sind gerade so ein Springinsfeld, wie er, wollen auch über Alles wegsetzen. Wozu müssen Sie eine alte Frau, wie mich, noch Schachspielen lehren? Er lachte laut und ergriff ihre warme Hand; aber sie zog sie zurück. Lassen Sie mich an die Arbeit! sagte sie eifriger. Warum gehen Sie schon wieder nicht zum Baden, Julius? (Seit sechs Jahren nannte sie ihn so bei seinem Namen; aber sie hatte vor, damit ein Ende zu machen, sobald er's zum Doctor gebracht hätte.) Ich muß Ihnen nur ein bischen die Leviten lesen: warum laufen Sie mir immer hinter der Schürze her, wenn Sie mit Ihrem Bruder Gustav ins Bad gehen sollen?

Der junge Mann wurde dunkelroth, sah sie aber dreist an und suchte wieder zu lachen. Weil das Baden keine Eile hat, antwortete er, weil's aber Zeit wird, Liesbeth, daß ich was für Ihre Bildung thue. Ich bin ja doch so eine Art Bruder von Ihnen! Liesbeth schwieg und lächelte vor sich hin. Und es könnte Ihnen nichts schaden, wenn Sie Ihren hübschen Kopf ein bischen anstrengen wollten: so könnten Sie nachher an den langen Winterabenden mit Ihrem Johann Ohlerich Schach spielen.

Ach Gott, mein Johann Ohlerich! sagte sie und that einen Seufzer. Es regte sich hinter dem Gebüsch. Sie drehte unwillkürlich den Kopf zurück, sah aber nichts. Mein Johann Ohlerich! wiederholte sie. Der spielt nur schwarzen Peter oder armen Schäfer. Wenn der uns hier sähe, wie wir mit der Zeit umgehen!

Warum haben Sie ihn eigentlich geheirathet, Liesbeth? fragte er plötzlich und sah sie gleichsam vorwurfsvoll an.

Warum? Sie wußte nichts weiter zu erwidern, so sonderbar kam ihr die Frage vor. Julius legte seine Hand wie zufällig auf die ihre. Liesbeth! sagte er. Warum haben Sie nicht noch ein wenig gewartet, auf die paar Jahre kam's ja gar nicht an. Sie hätten noch keinen Jungen, das ist wahr; aber es wäre ja noch Zeit genug. Ich würde Sie heirathen, Liesbeth.

Sie stand auf und stellte die Schüssel mit den Bohnen auf ihren Stuhl. Einen Augenblick schien sie sich zu besinnen, wie sie darauf antworten sollte; dann machte sie ein schalkhaft ernstes, trockenes Gesicht. Das hab 'ich nicht einmal gedacht, daß es Ihnen so ernst wäre! sagte sie. Dann hätt' ich natürlich gewartet, und wir könnten nun mit einander auf die Universitäten gehen und Collegi hören oder wie das Ding heißt. Ja, das ist nun vorbei! Ich hab 'meinen Jungen, und meinen Mann noch dazu, und die Leute in Warnemünde sagen ja alle, ich wär' eine Steuermannsfrau.

Ich hätte Sie was lernen lassen und eine Frau Doctorin aus Ihnen gemacht! sagte er mit tragischem Humor. Sie sind ja viel zu gescheidt für eine Steuermannsfrau. Man muß sich schon Glück wünschen, wenn man sich neben Ihnen halten kann! Sie sah zu Boden und lächelte ein wenig. Und das Leben hier! Wenn Sie beim Sandholen so lange mit den nackten Füßen im Wasser herumwaten, so bekommen Sie Zahnschmerzen, wie neulich; Sie sind zu zart, Liesbeth. Mit dem Ballasttragen verderben Sie sich Ihre schöne Figur; von dem fürchterlichen Rudern werden Ihre Arme zu muskulös

Und die Hand fest! fiel sie muthwillig ein und hob ihre rechte Hand, als schwenke sie den Pantoffel. Aber wo haben Sie heute Morgen all das Süßholz her, Julius? Sind Sie schon so früh beim Kaufmann gewesen? Sie sah ihn mit einem Blick über die Achsel an, der, so spöttisch er war, seine ganze Begehrlichkeit in Brand steckte. Es ist nichts so verführerisch, wie ein muthwilliger Blick; vielleicht, daß sie doch eine Ahnung davon hatte.

Was reden Sie von Süßholz, Liesbeth? Ich will es wissenschaftlich beweisen, daß Sie für dies Leben hier zu gut sind! Sie machen zwar jetzt so ein strenges Gesicht wie Ihr Vater, so ein Lootsengesicht; aber im dunkelsten Kämmerlein Ihres Herzens sieht es doch anders aus. Sie haben Gefühle, Liesbeth. Leugnen Sie es nicht ab. Sie haben zuweilen lyrische Gefühle

Was heißt das? unterbrach sie ihn. Er ließ sich dadurch nicht stören, sondern rief aus: Für Johann Ohlerich war auch eine Andre gut genug; warum mußte er Sie gerade heirathen?

Hinter dem Gebüsch raschelte es wieder. Liesbeth und Julius hörten es alle Beide; aber der junge Mann horchte nur flüchtig auf, Liesbeth sah sich um, ohne etwas zu sehen. Sie reden so schöne Sachen! sagte sie dann mit drolliger Ironie; schade, daß ich allein davon profitire, daß mein Mann es nicht hört! Er hat sich wohl damals die Sache nicht überlegt, nun könnt 'er sich ein großes Licht von Ihnen aufstecken lasten!

Er sollte nur kommen! rief Julius zuversichtlich aus. Was ich da sage, ist eine ewige Wahrheit, und wenn er Verstand hat, muß er's ja selber begreifen. Man könnte das Alles er stutzte einen Augenblick vor dem, was er sagen wollte, doch sogleich fuhr er muthig fort: Man könnte das Alles von der Kanzel herunter wiederholen, was ich da eben gesagt habe!

Nun, so warten wir bis zum Sonntag! erwiderte sie lachend, nahm ihre Bohnenschüssel und wollte gehen. Es schien ihr bei diesen sonderbaren Erörterungen doch etwas unheimlich zu werden. Julius stand auf, seine Wangen waren feurig geworden, er sah ihr mit offenster Verliebtheit ins Gesicht. Was ich noch sagen wollte, Liesbeth, eh Sie wieder davonlaufen: sind Sie nun wieder zur Vernunft gekommen, haben Sie Ihre Photographie für mich mitgebracht?

Sie blieb noch einmal stehen. Er sah sehr hübsch aus, indem er das sagte; aber sie that vor sich selbst, als merke sie es nicht. Mit möglichst grausamem Lächeln antwortete sie und griff dabei in die Tasche: Hier hab 'ich eine, aber nicht für Sie. Für einen ganz Andern.

Warum nicht für mich?

Weil Sie nicht artig sind.

Was thu 'ich denn? Wollen Sie schon wieder ein bischen Mutter spielen?

Sie reden so viel dummes Zeug, Julius; das müssen Sie nicht mehr thun. Ich will Ihnen mal was sagen: Sie sind entweder schon zu alt, oder noch zu jung dazu. Wollen Sie mir das glauben?

Er war einen Augenblick stumm, betroffen, aus dem Munde dieser Frau diese Worte zu hören. Ich will Ihnen das glauben, sagte er dann leichtsinnig lächelnd; aber nun seien Sie auch artig und geben Sie mir diese Photographie.

Uebers Jahr! sagte sie kopfschüttelnd und zog dabei das Kärtchen ein wenig hervor, um ihm zu zeigen, wie sie mit ihm spiele. Er wollte danach greifen, aber nun fuhr sie mit der Hand hinter ihren Rücken, ließ die Photographie noch einmal um die Ecke gucken und trat dann zurück. Sie stand schon neben dem Gebüsch, als Julius sie einholte und in seinem Feuer ihren Arm ergriff. So kommen Sie nicht fort! sagte er aufgeregt. Liesbeth, geben Sie her! Diese Photographie muß noch heut 'über meinem Schreibtisch hängen, oder ich springe ins Wasser.

Da wird's Ihnen Mühe machen, in den Stiefeln zu schwimmen! spottete sie. Lassen Sie mich los! Wir haben hier städtische Polizei, mit Gewalt wird hier in Warnemünde nichts ausgerichtet.

Liesbeth! sagte er und hielt sie fest. Mit dreister Vertraulichkeit legte er seinen Arm um ihre Schulter, um ihr den Raub besser zu entwinden. Doch sowie sie das fühlte, stieß sie ihn zurück. Eine andere, schwerere Hand faßte sie plötzlich am Arm, und wie ein breiter Schatten trat es zwischen die Beiden. Sie sah hin, erkannte ihren Mann, Johann Ohlerich, und stieß in der unsäglichen Ueberraschung einen halben Schrei aus.

Nun ja! sagte Johann Ohlerich mit grimmigem Humor; was ist da weiter zu schreien: ich wollte nur mal wieder guten Tag sagen und ein Bischen nach dem Rechten sehen. Guten Tag auch, Herr Julius! Hier werden ja sehr hübsche Spiele gespielt und er sah auf den Jüngling und auf die Photographie ; da kann ich freilich nicht mitmachen: ich hab 'nur schwarzen Peter und armen Schäfer gelernt! Warum wirst du denn roth, Liesbeth? Was ist dabei roth zu werden, wenn dein Mann, Johann Ohlerich, nach Hause kommt? Die Leute in Warnemünde sagen ja alle, du wärst meine Frau, und so werd' ich dich doch auch einmal besuchen dürfen?

Du hast hier gestanden und gehorcht! stieß sie auf einmal hervor und sah ihn sehr zornig an. Hier hinterm Busch hast du gesteckt, Ohlerich, hast gehorcht wie ein Spion!

Es kommt mir selber so vor, antwortete er mit bösem Lächeln; wenigstens hab 'ich Allerlei gehört, das ich vordem nicht gewußt hab'. Wenn wir's richtig theilen, so krieg 'ich den Jungen und du den Herrn Julius: dann wär' Alles in Ordnung! Goddam! Hätt 'ich mich nicht in Hamburg so schnell auf den Wagen gesetzt, so hätt' ich die ganze Buschpredigt verpaßt und wär 'noch der dumme Johann Ohlerich von gestern so ein dummer Kerl, der sich' ne feine Frau nimmt, die viel zu gut für ihn ist! Nun, was stehst du da sag's doch gleich heraus! Wenn du dir die Sache jetzt anders überlegt hast, so kann ich ja gleich wieder gehen, mich für das freundliche Wiedersehen bedanken und mir eine Andere aussuchen! Ich bin ja nicht so, daß ich mich aufdränge

Du sprichst lauter unsinniges Zeug! unterbrach ihn die junge Frau mit harter Stimme, ohne sich daran zu kehren, daß ihm allmählich mehr und mehr die Zornader anlief. Ist das die Art, wie man seine Frau wiedersieht? Du schämst dich nicht, da hinter dem Busch zu stecken, als wär 'ich ein schlechtes Weib, dem man bei Tag und bei Nacht auflauern muß? Lauf' ich dir nach China und Brasilien nach, um hinter deinem Rücken zuzuhören, was du den Chinesinnen vormachst? Wozu hast du mich denn geheirathet, wenn du mir nicht traust?

Johann Ohlerich ward durch diese Frage etwas außer Fassung gesetzt, erröthete über sein ganzes wetterbraunes Gesicht, doch dann auf einmal brach die Wuth bei ihm aus. Wozu wozu ich dich geheirathet habe? Damit ich 'ne ordentliche Frau im Hause hätte, die mir meinen Jungen aufzieht, statt mit so jungen Herren Bruder und Schwester zu spielen! Blitz und Hagelschlag! Und statt so vornehm zu thun und sich eine halbe Stunde lang vorreden zu lassen, daß sie für einen Warnemünder Steuermann zu gut ist und still dabei zu sitzen, wenn man ihr Heirathsanträge macht Herr Gott! Es war, als wenn die Wuth ihn ersticken müßte, er spuckte aus, um sich Luft zu machen. Dazu komm' ich nach Haus! fahre Tag und Nacht! und steh 'hier nun wie ein Narr! wie ein Er suchte mit nutzloser Bemühung nach dem rechten Wort, warf seinen Hut auf die Erde und ließ ihn den Gang zwischen den Beeten hinunterrollen.

Du sagst selbst, wie du hier stehst! nahm Liesbeth wieder das Wort, mit einem Blick, aus dem ihr ganzer beleidigter Stolz ihn bedrohte. Du weißt nicht mehr, was du thust; komm erst wieder zu dir! Wenn du da hinter dem Busch deine Ohren aufgemacht hast, so weißt du auch, daß nichts Unrechtes geschehen ist, daß ich mit keinem Wort Aber so steht's nicht zwischen uns, daß ich für mich reden muß! Keine Silb 'sag' ich mehr, bis du mir's abgebeten hast, daß du daß du von Hongkong nach Warnemünde fährst, um mich in meines Vaters Garten wie ein schlechtes Weibsbild zu belauschen! Wenn ich zu Etwas auf der Welt zu gut bin, Ohlerich, dazu bin ich zu gut. Laß mich ausreden, fall 'mir nicht ins Wort! Von deiner Eifersucht hab' ich genug. Damals bei der Hochzeit hättst du's merken können, daß ich mir's vorgenommen hatte, dir das abzugewöhnen. Aber du hast's nicht gelassen. Wenn du mir jetzt nicht abbittest, Ohlerich, so seh 'ich dich nicht mehr an so weiß ich gar nicht, daß du nach Hause gekommen bist so thu' ich, was mir grad einfällt. Warum siehst du mir so ins Gesicht? Ich sage das nicht zum Spaß. Du kennst mich nun doch schon lange! Entweder machst du das Alles wieder gut, oder ich thue, was mir in den Sinn kommt.

Johann Ohlerich antwortete nichts, blieb vor ihr stehen und sah ihr steif in die Augen. Indeß sie erwiderte seinen Blick eben so fest. Die scharfen blauen Augen ihres Vaters, die aus ihrem blaß gewordenen Gesicht hervorblitzten, hielten es länger aus. Nach einer Weile fing Ohlerich an, sich auf die Lippe zu beißen, in die Luft zu starren. Das fehlte mir noch! murmelte er endlich. Abbitten! Vor dem jungen Herrn da Er sah Julius von der Seite an, der möglichst bewegungslos dastand und mit nichts Anderem beschäftigt war, als nach einer zugleich würdigen und nichtssagenden Geberde zu suchen.

Vor wem sonst? fiel Liesbeth ein, ohne Julius anzusehen. Vor ihm hast du mir das Alles angethan vor ihm sollst du's abbitten.

Nein! nein! nein! rief Ohlerich plötzlich wild aus, durch ihren Ton gereizt. Ich will's nicht! Ich thu's nicht! Ich bin der Herr nicht du! Zwischen meinen eigenen vier Wänden wollen wir weiter reden; komm nach Haus, Liesbeth! dahin, wo du hingehörst!

Hast du weiter nichts zu sagen? antwortete sie kalt.

Nein! Nur daß ich wieder da bin, und daß wir nach Hause gehen!

Du vielleicht; ich nicht. Ich bleibe hier und sie sah nach der Hofthür zurück, in der mittlerweile die kleine, aufgeregte Gestalt ihrer Mutter erschienen war bis du zur Vernunft kommst und ich zu meinem Recht.

Du gehst mit mir, Liesbeth!

Sie schüttelte nur den Kopf. Johann Ohlerich schien sie bei der Hand ergreifen zu wollen; aber ihr leidenschaftlicher Blick verwirrte ihn. Er bewegte die Lippen, doch ohne etwas zu sagen. Seine Augen sahen umher, als suchte er seinen Hut. Endlich entsann er sich, daß er ihn vorhin hatte fallen lassen. Er ging an den Apfelbaum, hob ihn dort auf, und ohne sein Weib oder den Andern noch anzusehen, schritt er den Garten hinunter, öffnete die Thür, die nach den Wiesen hinausführte. Man konnte seine dumpfen Tritte noch hallen hören, als er hinter den Nachbargärten schon verschwunden war.

Liesbeth! rief die Mutter jetzt von der Hofthür her. Die junge Frau horchte auf, warf einen Blick über Julius hin, der ihn nicht zu bemerken schien, und griff mechanisch nach der Schüssel auf ihrem Stuhl. Dann lief es ihr roth über das Gesicht, und sie ging davon. Die vier Pantoffeln klapperten über den Hof. Julius verfolgte den Ton noch eine Weile, endlich sah er tiefathmend auf und sah sich im Garten allein.

II.

Es ist ohne Zweifel ein sonderbares Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben durch seine Persönlichkeit ein eheliches Unglück angerichtet zu haben; doch ein nicht minder sonderbares, so ohne alle Gefahr daraus entronnen zu sein. Julius mußte sich ausdrücklich die Thatsache ins Gedächtniß rufen, daß man ihn in keiner Weise bedroht oder angefochten hatte; und er besaß viel zu viel Ehrgefühl, um nicht die Beleidigung, die darin lag, zu empfinden. Er ging über den Hof und verließ das Haus; Niemand hielt ihn auf. Am Strom entlang wanderte er in der Sonne fort, in der Aufregung seiner zwanzig Jahre, aber mißvergnügt für vierzig; die Hand in der Rocktasche geballt und den Strohhut tief ins Gesicht gedrückt, wie um zu verhindern, daß man ihn erkenne. Es lag ihm ein eigenthümlicher Druck auf der Brust, daß er einen so tragischen Zwiespalt zwischen so wackeren Leuten herbeigeführt; aber noch mehr bedrückte es ihn, mit zwanzig Jahren noch so wenig gefährlich zu sein. Er wiederholte sich Alles, was er Liesbeth gesagt hatte, und mit einer gewissen sorgenvollen Beklemmung freute er sich doch, daß er ihr so starke Sachen gesagt. So ging er am Wasser hin, bis er an den Durchstich kam, wo die Häuser zu Ende sind. Er sah nur noch das weite Wiesenland zur Seite, den Breitling , vor sich, hinter dem die Thürme von Rostock in den Himmel wuchsen. Hier warf er sich auf das sonnenwarme Gras, sah in die blaue Luft und dachte nach, wie er die unglückselige Geschichte wieder gut machen könnte. Er stellte sich Liesbeth's Benehmen gegen Johann Ohlerich vor, freute sich über sie und wurde doppelt verliebt. Wie sie ihren Stolz, ihre Frauenwürde vertheidigt hatte man mußte sie bewundern. Dann sah er Ohlerich's finsteres, drohendes Gesicht; sein ganzes Gefühl bäumte sich empor. Wie um die schöne Liesbeth gegen ihn zu schützen, legte er in Gedanken wieder seinen Arm um sie und gerieth darüber in eine Aufregung, daß er sich nicht mehr zu fassen wußte. Mit einem furchtbaren Blick und einigen hingedonnerten Worten schlug er den eifersüchtigen Ohlerich in die Flucht, beugte sich dann liebreich zu seiner Beschützerin vor und gab ihr einen Kuß. Ein tiefer Seufzer weckte ihn aus dieser Vorstellung auf. Es kam ihm vor, als habe ein Anderer neben ihm geseufzt; er richtete sich auf, doch er war ganz allein. Der schwere Ton kam aus seiner eigenen Brust. Sonst war Alles so still, daß er die kleinen Fische schnalzen hörte. Das Wasser spielte kaum vernehmbar gegen den Uferrand; es klang wie das verhaltene Kichern eines Kobolds, der in der heißen Mittagsglut die Gedanken der Menschen zu verwirren sucht. Die Luft war so warm geworden, daß sie die Haut wie ein laues Bad umfloß. Julius glaubte zu fühlen, wie das Blut in seinen Adern sich allmählich erhitzte. Er sah die hellen Bläschen in der Luft, sah dann die schläfrigen Kühe, rothe und braune, auf dem kurzgeschorenen Sammetgrün der Wiesen hingelagert. Ueber dem Wasserspiegel schwebten einige Segel in der Ferne, die sich bei der Windstille nicht zu bewegen schienen; sie kamen ihm wie Schwäne vor, die im Schilf auf ihren Nestern brüten. Das alte Märchen vom Pan fiel ihm ein, der um diese Mittagsstunde, vom Jagen ermüdet, schläft, und den dann zu stören nicht gerathen ist. Auf einmal umspann ihn ein unheimliches Gefühl, wie es am heißen Mittag, in der hellen, brütenden, regungslosen Stille, den träumerischen Menschen leicht beschleichen kann. Es ward ihm fast gespenstisch, diese stumme Welt um sich her zu sehen. Wie zur Gegenwehr drückte er die Augen zu, lehnte sich zurück und stellte sich wieder Liesbeth's Bild vor die Seele. Ihr zorniges Gesicht von vorhin tauchte vor ihm auf; dann lächelte es ihn an. Die wundersame Stille rief ihm die eben so stillen Abende zurück, an denen er vor fünf Jahren damals knabenhaft verliebt mit Liesbeth unter dem dunklen Nachthimmel im Kahn gesessen, um mit Korb und Kescher die kleinen Krabben zu fangen. Wie die grauen, kaum erkennbaren Thierchen in der schwarzen Flut am Bollwerk dahinschwammen, um aus dem Fluß in die See zu gehen; und wie Liesbeth zuweilen durch die Nachtstille lachte. Damals lachte sie noch wie ein Mädchen, das keinen eifersüchtigen Herrn über sich hat! Der Jüngling seufzte; fing dann an mit immer geschlossenen Augen aufgeregt zu murmeln. Seine Empörung gegen Ohlerich wachte wieder auf. Es kitzelte ihn, dem Mann gefährlich zu werden. Ihm sehr ernst zu zeigen, wohin die Eifersucht führt; sich gegen ihn als Mann zu bewähren, und wenn es auch tragisch ausginge. Liesbeth's rothe Lippen kamen ihm plötzlich so sonderbar nah, er brauchte sich nur ein wenig zu regen, um sie zu berühren. Ganz schwach, wie ein blasser Schatten, flatterte noch einmal sein erster Gedanke vorbei, wie er diese unglückselige Geschichte wieder gut machen könnte. Er flatterte vorüber, und gleich dahinter kam Liesbeth, lachend, Arm in Arm mit ihm selbst, während Johann Ohlerich in der Ferne die Hände ballte, und sein wüthendes Gesicht wie ein Nebel zerfloß. Julius fühlte, wie Liesbeth ihn in ihre Arme drückte, lächelte triumphirend und schlief ein.

Die Sonne weckte ihn endlich wieder auf, die inzwischen nach Westen zu gesunken war und sich bemühte, unter dem Strohhut weg in sein Gesicht zu sehen. Es erstaunte ihn sehr, daß er das Mittagessen verschlafen hatte; das begegnete ihm heut zum ersten Mal. Er stand auf, und von der Sonnenglut ermattet schlich er langsam nach Haus. Hier empfingen ihn die Seinen mit gerechter Verwunderung. Er fragte, wo Liesbeth sei; man wußte ihm nur zu sagen, daß sie sich wieder nach Hause begeben habe. Ein seltsames Gefühl ging ihm durch die Brust; es gefiel ihm eigentlich nicht, daß sich die Beiden, wie es danach schien, wieder ausgesöhnt hatten. In sich gekehrt er, ließ sich zerstreut erzählen, daß am Abend eine Stromfahrt mit Musik, bunten Lampen und Feuerwerk sein werde. Das berührte ihn nicht. Ihm schwebte fortwährend eine tragische Verwickelung vor, bei der er sich als Mann bewähren werde. Endlich ging er wieder aus, auf möglichst einsamen Umwegen dem Meere zu. Die große Wasserfläche war ihm zu still; statt der hohen Sturmwogen, die er sich wünschte, zitterten nur spielende Sonnenfunken auf den kleinen Strandwellen dem Ufer zu. Der schöne Sommertag war nicht für wilde Wallungen, nur für Liebe gemacht. Von der allgemeinen Zärtlichkeit der Natur um und um gewühlt, hielt er's zuletzt nicht mehr aus, so für sich allein dahinzuschlendern. Er kehrte wieder um, strich im Rücken des Orts über die Wiesen hin und trat in Johann Ohlerich's kleinen Küchengarten ein, der an dessen Häuschen stieß. Er überließ es dem Schicksal, was daraus werden sollte. Klar vor dem Bewußtsein stand ihm nichts, als das Verlangen, Liesbeth wiederzusehen. Der Garten war leer, der Hof desgleichen. Er trat links in die Küche ein und fand hier die junge Frau am Herd, einen Winterstrumpf strickend; in einer sanften Dämmerung, denn der Tag ging schon dem Ende zu, und mit nachdenklichem, etwas finsterem Gesicht.

Guten Abend, Liesbeth! sagte er verlegen. Sitzen Sie hier allein?

Sie sah auf, erkannte ihn und betrachtete ihn mit seltsamem Lächeln. Es schien fast, als wenn sie ihn erwartet hätte. Ja, ich sitze hier allein! sagte sie kurzweg, aber nicht unfreundlich.

Wo ist Johann Ohlerich?

Fort.

Wohin?

Nun, wohin? Nach der Stadt hinauf; nach Rostock.

Julius machte ein überraschtes Gesicht. Da kommt er ja eben her! Was hat er in Rostock zu thun?

Nun, er wird's ja wohl wissen!

Liesbeth, haben Sie sich Sind Sie wieder gut mit ihm?

Die junge Frau schwieg eine Weile; dann antwortete sie: Nein. Ist er denn gekommen, hat er abgebeten?

Oh! Sie haben ihn also noch nicht wiedergesehen?

Wann soll ich ihn denn gesehen haben? Durch die alte Rieke hat er mir sagen lassen, daß er in Rostock zu thun hätt ', und mit dem letzten Schiff käm' er wieder zurück. Und nun sitz 'ich hier und stricke Strümpfe für mich.

Nun, das ist auch eine Beschäftigung! sagte Julius, um etwas zu sagen. Darf ich Ihnen dabei etwas zuschauen, Liesbeth?

Da steht ja ein Stuhl! antwortete sie und ließ wieder dasselbe seltsame Lächeln sehn. Julius nahm den Stuhl, der mit Leder gepolstert und schon tief eingesessen war, und streckte sich möglichst unbefangen darin aus. Das war eine sonderbare Geschichte heute Morgen! fing er endlich mit verlegener Heiterkeit an. Ich hoffe, Sie sind wieder guter Laune, Liesbeth?

Da fehlt's nicht dran, antwortete sie.

Sie haben sich einen etwas wilden Mann ausgesucht, Liesbeth!

Der wird noch zahm werden, sagte sie ganz ruhig. Dann lief ihr irgend ein trotziger Gedanke über das Gesicht; sie ließ die Unterlippe sinken und schien in Bedenken zu stehen. Plötzlich griff sie neben sich nach der Kommode, auf der ein Buch und ein Kärtchen lag, nahm das Kärtchen und hielt es ihm hin. Wenn Sie meine Photographie noch haben wollen da ist sie.

Ich danke Ihnen, Liesbeth! sagte er verwirrt. Damit nahm er die Photographie etwas zaghaft zwischen zwei Finger, wie wenn es ein gefährliches Ding wäre, das in seiner Hand explodiren könnte. Doch gleich darauf sah er die junge Frau wieder um so muthiger an. Sie hatte ihren Strickstrumpf in den Schooß fallen lassen, und ihre Augen leuchteten in der Dämmerung so aufgeregt, daß er nicht umhin konnte, es zu bemerken. Sie murmelte etwas vor sich hin, das er nicht verstand. Er soll sich wundern! sagte sie endlich halblaut.

Wer soll sich wundern? fragte Julius.

Sie antwortete nicht.

Sprechen Sie von Ihrem Haustyrannen, Liesbeth?

Sie warf die Lippen zu einem gereizten, herausfordernden Lächeln auf. Ach was! sagte sie. Warum haben Sie sich noch keine Cigarre angesteckt? Sie rauchen ja so gern.

Ja, das könnte ich thun! Ich dachte nur Er sah sich um, als mache es ihn um ihretwillen bedenklich, daß Johann Ohlerich bei seiner Heimkehr hier den Tabaksdunst finden und sich nicht daran freuen werde. Sie errieth seine Gedanken und lachte kurz auf. Was thut das? Wenn ich's nun so will. Ich könnte mir ja ein Dutzend Mannsleut 'hier zusammenbitten, kein Mensch sollte mich hindern.

Nun, ein Dutzend sind nicht so schlimm wie Einer! dachte Julius, doch er sprach es nicht aus. Er zog sein Feuerzeug aus der Tasche und setzte eine Cigarre in Brand. Der rothe Schein glühte dabei über sein junges, blühendes, angenehmes Gesicht.

Sie kriegen ja nachgerade einen wirklichen, ordentlichen Mannsbart! sagte Liesbeth in aufgeregter Munterkeit. Sie werden noch ein schmucker Mensch, Julius; wer hätte das gedacht! Warum sind Sie eigentlich so ein Stubenhocker und Gelehrter geworden? Das paßt gar nicht zu Ihnen.

Ein Gelehrter ! wiederholte Julius lachend. Mit der Gelehrsamkeit sieht es noch traurig aus. Ich bin so faul, Liesbeth; ich thue ja nichts.

Nun, da werden Sie Ihren Eltern viele Freude machen! Warum thun Sie denn nichts?

Weil Sie Recht haben: weil ich zum Stubenhocker nicht geschaffen bin. Da sitz 'ich bei meinen schweinsledernen, kalbsledernen Scharteken und krieg' sie nicht in den Kopf, denke ans Segeln, an die See an Liesbeth Ohlerich. Ich glaube, ich bin eigentlich als Wasserratte auf die Welt gekommen, aber man hat dann künstlich eine Landratte aus mir gemacht! Das ist der tragische Humor meines Lebens, Liesbeth.

Das verstehe ich nicht; aber Ihre Cigarre geht aus.

Ja, allerdings; weil ich sie nicht in den Mund stecke.

Weil Sie mich ansehen!

Er lachte. Ja, allerdings: weil ich Sie ansehe, Liesbeth. Doch ich sehe eigentlich nichts mehr, als die beiden Abendsterne in Ihrem Gesicht: sonst ist Alles Nacht. Hören Sie da etwas? Das klingt, wie wenn eine Rakete in die Höhe prasselt. Das Feuerwerk, Liesbeth! Feuerwerk und Stromfahrt! Wollen wir wieder mit einander spazieren gehen, wie fünf Sommer früher, und die Komödie mit anschauen?

Er sah ihr nach den Augen, doch in der Erwartung, daß sie ihn auslachen, ihn an die veränderte Zeit erinnern werde. Statt dessen stand sie auf, nahm ein Tuch und schlang es sich um den Kopf. Ja, das wollen wir thun! sagte sie hastig. Alles wollen wir thun! Oh! Sie sprach den Gedanken nicht aus, der in diesem Ausruf lag. Eine zweite Rakete ließ sich von Weitem hören, und es war, als elektrisire sie das. Einen Augenblick stand sie noch und horchte; mein Junge ist still, murmelte sie, und die alte Rieke ist da. Warum haben Sie die Thür noch nicht aufgemacht, Julius? Gehen Sie doch voran!

Der Jüngling öffnete, und sie traten hinaus. Liesbeth fing an, leise ein Lied zu singen, ein Schifferlied, das aus ihrem Mund sonderbar übermüthig klang. Ihr ganzes Wesen erschien ihm verwandelt. Sie ging so frei neben ihm her, als gehöre es sich so, als kenne sie es nicht anders. Draußen am Strom empfing sie die laue, schwüle Nachtluft, nur durch den Wasserdunst ein wenig gekühlt; die junge Frau öffnete die Lippen, wie um diese Schwüle eifriger einzuathmen. Hier und da stand ein Stern am Himmel, doch mit gedämpftem Schein zwischen losem Gewölk. Weiter unten am Strom aber, den man von diesen Häusern aus in seiner ganzen Biegung übersah, nicht weit von der Mündung, stiegen die Feuerpfeile lang in die Höhe, lös'ten sich oben am Himmelsgewölbe auf und fielen als blaue, grüne, rothe Sterne geräuschlos wieder herab. Schwärmer prasselten hinter ihnen her, Feuerräder schienen sich unten am Ufer zu drehen; man konnte sie von hier aus wegen der dunkeln Schiffe im Strom, wegen der auf und ab schwimmenden Kähne nur undeutlich erkennen. Plötzlich entflammte sich dann irgend ein bengalisches Licht und warf seine phantastische Farbe über den gekrümmten Strom, die Ufer, die Menschenmassen, die sich in den Böten und am Lande drängten. Die ganze Bevölkerung, Einheimische und Fremde, schien dort unten, wie die Motten ums Licht, versammelt zu sein. Liesbeth und Julius standen nicht weit von Johann Ohlerich's Haus am Bollwerk, neben einer Yacht, die hier vor Anker lag, ganz mit sich allein und wie in den Mantel der Nacht eingehüllt, aus dessen Kapuze sie in den künstlichen Tag hineinstarrten, ohne von den Tageskindern gesehen zu werden.

Wollen wir auch näher gehen? fragte Julius.

Sie schüttelte den Kopf. Eine gewisse Furcht vor den Menschen, vor der Helligkeit schien sie doch zu befallen. Ohne etwas zu sagen, setzte sie sich auf der hölzernen Einfassung des Bollwerks nieder, die sich nur wenig über den Boden erhob. Julius folgte ihr, setzte sich neben sie. Während sie den farbigen Sternen der Raketen nachstarrte, sah er auf ihr Profil, das sich in seiner ganzen scharfen Kühnheit in den Nachthimmel hineinzeichnete, und freute sich, daß sie so friedlich und so romantisch ihm zur Seite saß. Nach einer Weile horchte sie plötzlich auf; ein dumpfes Schüttern in der Luft weckte ihr scharfes Ohr. Es wuchs heran; nun erkannte auch Julius, daß es Räderschlag auf dem Wasser war. Eine dunkle Masse wälzte sich hinter ihnen stromabwärts, oben auf dem Verdeck schwach erhellt. Sie rauschte an ihnen vorbei und dem Landungsplatz zu.

Der Dampfer! sagte Liesbeth vor sich hin.

Johann Ohlerich! dachte Julius, blieb aber still. Es war das letzte Schiff, das heute von Rostock kam, also brachte es Johann Ohlerich zurück. Unwillkürlich nahm der junge Mann eine andere, stolzere, fast drohende Stellung ein, als müsse er sich rüsten, seine Rolle als Liesbeth's Beschützer durchzuführen. Er zog den Hut ein wenig tiefer in die Stirn herein und legte die Beine, lang ausgestreckt, über einander. Dann hörte er, wie Liesbeth's Athem rascher und schwerer ging. Es ward ihm sehr zärtlich und heroisch zu Muth; er legte sanft einen Arm auf ihre Schulter, wie um sie seiner Nähe zu versichern. Sie zuckte etwas zusammen, ließ es aber ruhig geschehn.

Liesbeth! Liesbeth! sagte er nach einer Weile und drückte sie in seiner Aufregung leise an sich heran. Sie schien es nicht zu bemerken, denn mit gespanntem Blick starrte sie in die Dunkelheit hinein, und auf einmal hörte er, wie ihre Zähne heftig zusammenschlugen. Auf der unbeleuchteten Uferstraße schritt eine Gestalt daher, die Julius nicht erkannte; er sah nur den breiten Umriß und vernahm den festen, schallenden Schritt. In der Nähe der Beiden blieb die Gestalt einen Augenblick stehen, als suche sie etwas; dann ging sie eben so festen Schrittes vorüber. Liesbeth hatte fast das ganze Gesicht in ihr Tuch gehüllt. Nach einer Weile murmelte sie dumpf vor sich hin: Das ist mein Mann! Julius hörte, daß sie etwas sagte, die Worte verstand er nicht. Er sah ihr fragend in die Augen, doch sie war wieder still. Ihr Gesicht war blaß gewogen, und eine fast wilde Aufregung flog darüber hin.

Der Beginn der Musik, die sich in der Ferne auf dem Wasserspiegel in einem der Kähne erhob, zog seine Augen wieder den Strom hinab. Mit phantastischer Schnelligkeit tauchten überall Schiffchen mit bunten Lampen, mit hin und her schwankenden Fackeln auf, die in die dunkle Flut feurig hinuntertrieften. Die kleinen Fahrzeuge, mit halb beleuchteten Menschen angefüllt, schienen in lustiger Unordnung durcheinander zu fahren. Lachen, Rufen, Schreien tönte bis hier herauf; dazwischen die ernsthaft gleichmäßige Musik der Trompeten. Liesbeth that, als höre sie dem Allem so andächtig wie ihr Begleiter zu; sie ließ ein Lachen vernehmen, das indessen nicht lustig klang. Ihr Ohr horchte in Wirklichkeit nur hinter sich. An ihrem Haus ging die Thür, sie hörte Johann Ohlerich aus die Schwelle treten, in den Flur hinein. Dann nach einer Weile klang die Thür von Neuem, derselbe männliche Schritt tönte über das Holz, über die Steine, kam wieder auf die Straße und ging den Weg an den Häusern hin zurück, den er gekommen war. Sie hörte Johann Ohlerich dumpf mit sich selber sprechen, als er in ihrer Nähe vorüberschritt. Diesmal schien er nichts von den Beiden zu sehen. Zuletzt versank seine Gestalt in die allgemeine Nacht, und nur die bunten Lichter auf dem Strom füllten ihr noch die Augen.

Was haben Sie, Liesbeth? fragte Julius, da die Schulter der jungen Frau unter seiner Hand leise zu zittern anfing. Wie, Sie frieren doch nicht?

O, mir ist warm genug! antwortete sie mit Doppelsinn, der aus dem herben Ton ihrer Stimme wiederklang. Ich finde es sehr schön hier draußen, und hier will ich bleiben.

Die ganze Nacht, Liesbeth?

Warum nicht? antwortete sie kurz. Was soll ich zu Hause thun?

Sie fürchten sich vor Ihrem Tyrannen!

Ich mich fürchten! sagte sie mit einer stolzen Bewegung. Aber er soll mich nicht wiedersehen, bis er mir mein Recht gegeben hat. Er soll's erleben, daß ich noch bin wie damals.

Sie haben Recht, Liesbeth! sagte Julius jetzt feurig aufgeregt. Bleiben Sie hier; ich beschütze Sie!

Sie antwortete nichts.

Wie kann man so ein Unmensch sein, Ihnen Unrecht zu thun! Sie haben ihn verwöhnt. Sie sind zu gut gegen ihn. Wenn Sie nur auch einmal gegen mich so gut sein wollten gegen mich, Liesbeth.

Sie sind ein Narr, Julius! sagte sie sanft.

Wenn ich einer wäre, so sind Sie selbst daran schuld! Hören Sie doch die Musik diese schöne Musik! mur - melte er mit aufgelös'ter Stimme. Die ganze Flotte der beleuchteten Schiffchen schwamm stromauf, nahe an sie heran, und die Hornisten bliesen: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, in die Nacht hinaus. Dann kehrten Musik und Lampen wieder um, und in langsamem Verklingen zog sich die weichherzige Melodie in die Ferne zurück, nach dem Meere zu. Liesbeth's Wangen fingen an zu glühen, die starre Blässe hatte sie verlassen. Julius nahm ihre Hand; sie ließ sie ihm. Er fühlte, wie rasch ihr Puls auf und nieder zuckte. Ach, Liesbeth! ich wollte, ich könnte Sie entführen! flüsterte er mit einem scherzenden Seufzer.

Wohin? fragte sie.

Wohin? In eine Gegend, wo es immer so schön ist, wie heute. Wo es keine Johann Ohlerichs und keine Tyrannen giebt.

Sie antwortete nur durch ein bitteres Lachen.

Sie sollen nicht mehr unglücklich sein; ich geb 'es nicht zu! Ich will Ihnen zeigen, daß ich auch ein Mann bin! Liesbeth, sagte er dann weich und drückte ihre Hand, ich bin in Sie verliebt!

Ach Gott! murmelte sie mit kaum vernehmlichem Lächeln.

Und ich halt 'es nicht länger aus! flüsterte er, plötzlich vor Aufregung zitternd. Liesbeth! Er drückte sie an sich, seine beiden Hände hatten sie auf einmal umschlungen. Ich beschütze Sie! Indem er das sagte, suchte er ihren Mund und küßte sie so ungestüm, daß er ihr den Schrei zwischen den Lippen erstickte. Ich muß es thun, Liesbeth! ich muß es thun! flüsterte er, ohne mehr zu wissen, was er sagte. Und damit drückte er wieder seine Lippen auf ihren Mund.

Herr mein Gott! sagte sie endlich und machte sich von ihm los. Nun sah er erst ihr Gesicht und erschrak. Sie war aufgesprungen, eine plötzliche Angst hatte sie entfärbt, ihr einen verzweifelten Ausdruck gegeben, der sie entstellte. Ihr Blick flog umher, sie rang heftig nach Luft. Herr mein Gott! wiederholte sie dann und trat zurück. Julius! Lassen Sie mich gehn!

Nein! flüsterte er, sprang in die Höhe und streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu halten. Doch sie war zu schnell. Das Kopftuch war ihr bei seiner Umarmung in den Nacken geglitten; in der Auflegung riß sie es sich vom Halse, schlug damit nach seiner Hand und lief davon. Er wollte sie noch bei ihrem Namen rufen, aber Stimmen und Schritte, die sich näherten, brachten ihn zur Besinnung. Mit halb geöffneten Lippen blieb er stehen. Liesbeth, wie wenn er sie verfolgte, lief durch die Nacht weiter bis an ihr Haus, riß die Thür auf und warf sie hinter sich zu. Dann hörte er, wie der Schlüssel sich im Schlosse drehte. Er sah ihr nach wie einem Nachtgespenst, das vor seinen Augen zerflattert war, und glaubte sie doch noch in seinen Armen, an seinen Lippen zu fühlen

III.

Die junge Frau athmete erst wieder auf, als sie in ihrem Zimmer neben der Lampe stand. Sie hatte sie angezündet, die angstvolle Dunkelheit erhellte sich, sie sah wieder alle die gewohnten Dinge um sich her. Das Bettchen ihres Knaben stand neben dem ihren. Sie hörte den Kleinen in ruhigem Schlummer athmen, und das Blut stieg ihr vor innerer Verwirrung ins Gesicht. Die Musik von vorhin klang ihr wieder im Ohr, sie sah sich in Julius 'Armen, fuhr von Neuem zusammen und fühlte doch die Aufregung aller ihrer Sinne. Es war etwas in ihr erwacht, vor dem sie sich fürchtete. Sie hatte sich nie so gekannt. Ein Gesangbuch lag neben ihr, das Buch, von dem sie vorhin ihre Photographie genommen, in dem die alte Rieke inzwischen gelesen hatte, die nun still auf dem Hof in der warmen Nachtluft saß. Sie schickte die Alte fort, nahm das Buch und fing an mit halblauten Lippen darin zu lesen, indeß ihre Gedanken um den unverstandenen Sinn der Worte herumflatterten. Sie konnte sich nicht fassen, es rührte sich so fieberhaft in ihrem Blut. Endlich legte sie das Buch auf den Stuhl, kleidete sich aus und ging zu Bett. Durch die Fenster drang eine wachsende Helligkeit herein: der Mond war aufgegangen und beschien ihren Hof. Aber sie konnte sich dennoch nicht entschließen, die Lampe auf dem Nachttisch auszulöschen. Es verlangte sie so sehr nach hellem Licht. Die Musik summte ihr noch fort und fort im Ohr, und sie fühlte doch, daß es eine Täuschung ihrer Sinne war. Sie glaubte sogar Julius neben sich flüstern zu hören, aufgeregte, verführerische Worte. Als könne sie diesen Einbildungen so besser ein Ende machen, richtete sie sich auf. Nun klang die Thür, die durch den Durchgang nach dem Hofe führte, und deutliche Schritte keine Einbildung mehr kamen laut heran. Es war Johann Ohlerich's Schritt. Sie legte sich wieder in ihr Kissen zurück, in tiefer Beklemmung. Die Thür nach dem Hof ging auf sie hatte nicht daran gedacht, sie zuzuschließen, und nicht lange darauf trat die hohe Gestalt ihres Mannes herein, den Hut auf dem Kopf.

Das ist heut ein böses Wiedersehen, nach so langer Trennung! dachte sie.

Johann Ohlerich sagte nichts, ging in dem kleinen Zimmer mehrmals auf und ab, blieb vor dem Bett seines Jungen stehen, der ruhig fortschlief, und murmelte nur etwas vor sich hin. Sie blickte ihn von der Seite an, er hatte ein geröthetes Gesicht; sie errieth, daß ihn irgend ein heißes Getränk so geröthet hatte. Denn seine Haut färbte sich allemal, wenn er hastig trank. Die Brauen hatten sich über der Nase stark zusammengezogen, auch sah sie die blaue Ader auf seiner Stirn. Dieser Anblick machte ihr Furcht; doch sowie sie das fühlte, erwachte der alte Trotz, der die Furcht vor ihm nicht dulden wollte. Er hat es so gewollt! dachte sie, obwohl ihr noch die Beklemmung auf dem Herzen lag. Er hat es selber gewollt!

Es verging noch eine Weile, bis er sich zu ihr wandte. Liesbeth! sagte er dann und blieb vor ihr stehen. Wo bist du gewesen, als ich nach Hause kam?

Sein Ton war ruhig, und sogleich regte sich auch ein weiches Gefühl in ihr. Wo ich gewesen bin? antwortete sie sanft. Das Feuerwerk und die Stromfahrt hab 'ich mir angesehen.

Mit wem?

Sie war einen Augenblick stumm. Mit dem Herrn Julius, sagte sie dann und erröthete wider ihren Willen.

Ihr zwei Beide allein?

Nun ja; wir Beide allein.

Es war natürlich noch helllichter Tag?

Ihr Gesicht wurde bei dieser stachelig bösen Frage flammendroth. Sie sah ihn erbittert an und schwieg.

Antwort! rief er plötzlich mit losgelassener, jähzorniger Stimme. Antwort, oder ich weiß nicht, was ich thue! Was ist zwischen euch geschehn?

Wenn du so schreist, sage ich kein Wort. Ich bin auch ein Mensch, wie du; du sollst mich nicht anfahren wie einen Hund, ich krieche auch nicht vor dir. Heute Morgen hab 'ich dir's gesagt, daß ich etwas thun würde, was dich nicht freut

Was ist zwischen euch geschehn? schrie er sie wieder an. Herr Gott Sakrament was ist zwischen euch geschehn? Er ergriff ihren Arm und drückte ihn so heftig, daß sie einen Schrei ausstieß. Durch diesen Laut wieder ein wenig zur Besinnung gebracht denn er war außer sich ließ er nach zu drücken, aber er behielt ihren Arm in seiner Hand. Ich sag 'dir, ich will die Wahrheit wissen, oder ich bring' dich um!

Liesbeth richtete sich mit ihrem freien Arm im Bette auf. Ihr ganzer Widerstand war durch seine Mißhandlung entflammt. Du weckst das Kind auf! sagte sie mit wilder Kälte. Laß meinen Arm los, oder kein Wort geht mehr über meine Lippen. Ich fürchte mich nicht vor dir!

Er ließ sie los. Was habt ihr mit einander zu thun gehabt, draußen in der Nacht? rief er wieder aus.

Nichts, daß ich dir drum nicht mehr ins Gesicht sehen könnte! sagte sie und blickte ihn ruhig an. Ich weiß, was ich mir selber schuldig bin; brauch's von Niemand zu lernen. Aber nun sag 'ich nichts mehr. Mit Gewalt zwingst du mir nichts ab! Zieh doch dein Messer und bring mich um; so fühl' ich's wenigstens nicht mehr, wenn du mir den Arm zerbrichst und mir ins Gesicht schreist.

Liesbeth! sagte er mit gedämpfterer Stimme, durch ihre Worte in Verwirrung gebracht. Wer ist Schuld daran, als du? Warum machst du mich toll?

Ich mache Niemand toll, der's nicht von sich selber wird! Sie hörte das Kind weinen, das aus dem Schlaf geschreckt war, stand auf und setzte sich neben ihren Knaben ans Bett. Ihr Gesicht, ihr wenn auch erzwungenes Lächeln wirkte beruhigend auf den Kleinen. Er hielt zwar die Augen noch offen, lag aber wieder still, mit einer von seinen Händen die der Mutter streichelnd.

Johann Ohlerich ging von Neuem im Zimmer auf und ab, mit gedämpftem Schritt. Endlich stand er vor Liesbeth, die auf den Knaben sah, und murmelte ihren Namen. Sie wandte ein wenig den Kopf. Du willst mir also nicht sagen, Liesbeth, fing er halblaut wieder an, was heut Abend geschehen ist.

Was du zu wissen brauchtest, hab 'ich dir gesagt! Nun ist's aus.

Das ist dein letztes Wort?

Sie gab keine andere Antwort als ein kurzes Nicken. Darüber ließ das Kind die Augen wieder zufallen und schlief ein. Johann Ohlerich sah diesem Vorgang zu, als sei es das Wichtigste, was er jetzt zu thun hätte. Dann warf er auf Liesbeth einen leidenschaftlichen, zornig zärtlichen Blick. Sie erwiederte ihn nicht. Nun, so hab 'ich auch noch ein letztes Wort! sagte er nach einem langen Schweigen.

Sie that, als hörte sie nicht.

Ich bin der Herr im Haus! Morgen fahr 'ich nach Hamburg zurück, Liesbeth und du fährst mit mir.

Ueberrascht sah sie ihn an. Was soll das heißen? fragte sie nach einer Weile.

Das soll heißen, daß ich der Geschichte hier ein Ende machen will! daß ich es satt habe, dich mit deinem jungen Herrn allein zu lassen! daß ich dir nicht traue verstehst du! Und daß du mir gehorchen sollst, oder es giebt ein Unglück!

Er sagte das mit wachsender Leidenschaft, sie hörte aus jedem Wort, wie es ihn durchwühlte. Er stand still und sprach nicht laut, um das Kind nicht zu wecken, aber der Ton, die Augen sprachen Alles aus. Es kam sie ein Zittern an; doch sie überwand es. Ohlerich! sagte sie dann aufgeregt. Du weißt, daß ich meinen Willen habe, so gut wie du. Ich lasse mich nicht länger von dir behandeln wie ein schlechtes Weib! Wenn du mich zwingen willst, so lauf 'ich davon, so bin ich dein Weib nicht mehr, und mit aller Lieb' ist's vorbei.

Ich traue dir nicht! knirschte er zwischen den Zähnen.

Wann hättst du's auch je gethan? sagte sie mit aller Bitterkeit. Was Vertrauen heißt, das weißt du ja nicht. Jetzt laß mich schlafen gehen! Sie trat wieder an ihr Bett.

Liesbeth! sagte er außer sich, doch mit immer verhaltener Stimme; sie sprachen beide kein lautes Wort Liesbeth! du fährst morgen früh mit mir nach Hamburg, oder es giebt ein Unglück, so wahr ich lebe.

Ich bleibe hier bei dem Kind! antwortete sie.

Du sollst diesen Menschen nicht wiedersehen jetzt nicht! Ich will's nicht! Morgen früh um Vier stehst du auf, wir segeln nach Rostock hinauf. Du giebst jetzt dein Wort, daß du mit mir gehst, oder ich thue was, das mich reut, das ich nicht lassen kann.

Thu's! Sie sollen hier nicht mit Fingern auf mich zeigen, wie auf eine nichtsnutzige Frau, der ihr Mann nicht traut, die er wie ein havarirtes Schiff hinter sich her schleppen muß! Noch bin ich ein ehrliches Weib sie sah ihn finster drohend an: treib's nicht so weit, daß mir's leid wird! Treib's nicht so weit, Ohlerich! Es weiß kein Mensch, was aus ihm werden kann!

Nun, da hör 'ich ja, wie es steht! sagte er mit einer Art von Lachen. So weit verlaufen sich deine Gedanken schon! Goddam, da muß ich ein Ende machen, oder ich fahr' auf den Grund. Du segelst morgen früh mit mir nach Hamburg ab: gieb Acht, Liesbeth, jetzt sag 'ich's zum letzten Mal.

Ich bleibe hier! antwortete sie kurz.

Ich thue, was mich reut! Er oder ich! Liesbeth, ich mach 'ein Ende!

Sie sah ihn plötzlich angstvoll an, richtete sich etwas auf, aber sie schwieg. Johann Ohlerich wartete auch nicht mehr, ob sie noch etwas sagen werde. Seine Augen sahen offenbar verstört umher, dann griff er mit der geballten Faust in seine Tasche, in der er das Dolchmesser trug, rückte seinen Hut und ging mit raschen Schritten zur Thür hinaus. Sie rief seinen Namen, doch er hörte nicht. Er war schon draußen im Mondschein. Durch den Durchgang trat er auf die Straße, so hastig, wie wenn hier keine Zeit mehr zu versäumen sei. Dann schloß er die Thür von außen wieder zu, murmelte ein paar verstörte Worte er war fassungslos in seiner Wuth und ging an den Häusern fort, still vor sich hin.

Die nächtliche Beleuchtung auf dem Strom war mittlerweile erloschen, Musik und Gondelfahrt hatten aufgehört. Doch am Ufer entlang war noch nicht Alles still. Die warme Mondnacht schien die Menschen länger als gewöhnlich festzuhalten; aus dem nächsten Wirthshaus lärmte es hervor. Matrosen von den Schiffen, die an beiden Stromufern lagen, hatten sich dort unter dem luftigen Vordach angesiedelt, sangen ein ausländisches Lied, während Andere dazwischen lachten und schrieen. Johann Ohlerich hörte es mit dumpfem Ohr, indem er dem Geräusch näher und näher kam. Doch er war noch nicht weit gegangen, als ein anderer Lärm ihm die Straße kreuzte. Eine junge Dirne aus dem Ort, die ein trunkener schwedischer Matrose um den Leib gefaßt hatte, machte sich schreiend von ihm los und lief davon; der Andre hinter ihr her. Sie wollte in das nächste Haus hinein; in demselben Augenblick trat aus der Thür ihr Vater, ein eisgrauer alter Lootse, hervor, eine lange Stange in der Hand, mit zornrothem Gesicht, um den frechen Menschen niederschlagen. Doch da seine altersschwachen zitternden Arme die schwere Stange nicht regieren konnten, hatte der Schwede schnell das andere Ende gepackt, zog den Lootsen sammt der Stange an sich heran und holte mit seinem langen Matrosenmesser gegen ihn aus. Es war für Ohlerich schon zu spät, zu Hülfe zu eilen. Der Alte schien verloren, als plötzlich ein junger Mann herzusprang, den man bisher nicht gesehen hatte, und sich mit seinen unbewaffneten Händen vor den Bedrohten hinstellte. Das Messer des Matrosen fuhr nun nach dessen Hand. Doch gleich darauf hatte der junge Mann seinen Gegner an der Brust, und während das Blut aus der Wunde lief, warf er ihn so heftig zurück, daß der trunkene Mensch zu Boden fiel. Der Boden schüttelte, so schwer fiel er hin. Auf seinen Ruf sprangen sogleich ein paar seiner Landsleute aus dem Wirthshaus hervor, schrieen dem jungen Mann in gebrochenem Deutsch drohende Worte zu und traten ihm mit ihren Dolchmessern entgegen.

Nichts da! rief nun Johann Ohlerich dazwischen, der mittlerweile auch herangekommen war. Steckt eure alten Käsemesser wieder ein; hier wird nicht so zugestochen! Wenn ihr nicht eben so betrunken seid, wie der Lump da auf der Erde, so hebt ihn auf und bringt ihn wieder an Bord, oder es geht ihm schlecht! Und wenn all seine Rippen noch heil sind, so kann er sich Glück wünschen, daß er so davon kommt. Bringt ihn an Bord, sag 'ich!

Die fremden Matrosen, durch Ohlerich's wildes Gesicht eingeschüchtert, vielleicht auch in dem Glauben, daß er hier am Ort zu befehlen habe, murmelten nur noch etwas vor sich hin, hoben ihren Kameraden vom Boden auf und trugen ihn in ein Boot, das unten am Bollwerk lag. Der Betrunkene suchte sich von ihnen loszumachen, drohte bald mit dem einen, bald mit dem andern Arm nach der Straße herauf. Doch die Matrosen setzten ihn auf eine Bank, stießen vom Lande ab und ruderten nach einem der dunklen Schiffe am andern Ufer hinüber. Im Mondschein sah man noch das aufgeregte Gesicht des Schweden, der mit seinem Messer in ohnmächtiger Wuth ins Wasser schlug, daß die Tropfen versilbert aufspritzten. Er stieß mit unsicherem Arm so heftig zu, wie wenn er dem Fluß den Bauch aufschlitzen wollte. Endlich landete das Boot drüben am Schiff, und man sah ihn nicht mehr.

Pfui, es sieht häßlich aus, so ein wüthiger Mensch! murmelte Johann Ohlerich vor sich hin.

Hat der Hundsfott tüchtig zugestoßen? fragte er dann und wandte sich zu dem jungen Mann, dessen Gesicht er noch nicht gesehen hatte. Doch jetzt fuhr ihm ein unwillkürlicher Laut der Ueberraschung aus der Kehle. Es war Julius, der neben ihm stand. Der Jüngling hatte sein Taschentuch gezogen und fing das Blut damit auf, das ihm noch tropfenweise zwischen den Fingern hervorquoll. Zugleich betrachtete er die Wunde aufmerksam, weil ihm wenig daran lag, Johann Ohlerich ins Gesicht zu sehen.

Ah! Sie sind es also! sagte dieser endlich sehr gedehnt und nicht ohne Mühe.

Ja, ich bin es, antwortete Julius.

Wie kamen Sie denn hieher?

Ich wollte noch einen Spaziergang machen, in der schönen Nacht! sagte Julius in unverhehlbarer Verwirrung.

Was für einen Spaziergang Der wohl machen wollte? dachte Ohlerich und blickte den Jüngling äußerst argwöhnisch an. Dann sah er wieder das Blut und fragte mit einer Gutmüthigkeit, die er beim besten Willen nicht unterdrücken konnte: Hat er gut getroffen?

O nein; herzlich schlecht! sagte Julius lachend. Es that ihm sehr wohl, daß er einen Anlaß hatte, zu lachen. Dabei schwenkte er die Hand geringschätzig und ließ den nächsten Tropfen den Finger hinunterlaufen. Es ist ein elender Schmiß! Mit einem kleinen Stück Heftpflaster macht man der Sache ein Ende!

Nun, so ein paar Blutstropfen kann man zur Noth entbehren, wenn man so viel davon in Vorrath hat, sagte Ohlerich gutmüthig, mit einem Blick auf Julius 'blühendes Gesicht. Es fiel ihm auf einmal in die Sinne, wie hübsch und stattlich dieser junge Mensch aussah. Die schönen braunen Augen regten ihn auf. Dazu der junge, kriegerische Bart, wie er selbst ihn nicht hatte. Es ward ihm wieder heiß in der Brust. Er dachte an Liesbeth, und wie natürlich es sei, sich in so einen Menschen zu verlieben, Alles in ihm bäumte sich wieder auf. Unterdessen zog Julius ein Stück Heftpflaster aus seiner Brusttasche hervor und klebte es auf den langen, aber schmalen Riß. Dann fragte er, um nicht länger stumm zu sein: Und Sie wo wollten Sie hin?

Wo ich hinwollte? Nun, ins Wirthshaus! antwortete Johann Ohlerich.

In das nächste da?

Wahrscheinlich!

Man hat da gutes bayrisches Bier! fiel Julius ein zu bemerken.

Und guten Porter, setzte Ohlerich hinzu. Ich für meine Person ziehe Porter vor; er hat mehr Gewalt, er geht besser ins Blut.

Wenn ich ihn mit Ale mischen kann, ist er mir noch lieber, warf Julius möglichst behaglich hin. Indem er das sagte, bekam er lebhaften Durst. Er sah Johann Ohlerich zuversichtlicher an, und unfähig, seine menschenfreundlichen Wallungen länger zu unterdrücken, setzte er hinzu: Ich habe Ihnen übrigens noch nicht einmal gedankt, Ohlerich, daß Sie mir einen zweiten Messerstich erspart haben. Kommen Sie, lassen Sie uns etwas Porter mit Ale trinken!

Johann Ohlerich wollte den Kopf schütteln, aber seine Gefühle mischten sich sonderbar durch einander. Danken! Sie haben mir nichts zu danken, antwortete er.

Doch, ich hab 'Ihnen zu danken. Womit hätt' ich mich gegen die Kerle wehren sollen? Ich hatte ja nichts, als die beiden Hände.

Warum liefen Sie denn mit Ihren nackten Händen so auf das Messer los?

Nun, da besinnt man sich doch nicht lange, wenn man helfen muß? antwortete Julius.

Johann Ohlerich ließ ein beifälliges Murmeln hören. Dann ärgerte er sich wieder über dieses Murmeln und suche nach irgend einer unfreundlichen Wendung, die seine feindselige Stimmung ausdrücken sollte. Doch über dem Anblick von Julius 'blutiger Hand fiel ihm keine ein. Endlich sagte er nur: Porter mit Ale ist gut.

Ja, Porter mit Ale ist gut! wiederholte Julius. In so 'ner warmen Sommernacht hab' ich immer Durst. Und wenn einem das Wirthshaus so vor der Nase liegt Und damit ging er vorwärts, um die letzten Schritte bis zum Wirthshaus zu machen. Johann Ohlerich ging in demselben gemessenen Tempo neben ihm her. Er hatte Lust, stehen zu bleiben oder umzukehren, aber es fiel ihm nicht ein, was für einen Beweggrund er dafür angeben sollte.

O ja, Porter mit Ale ist gut, sagte er endlich noch einmal und trat unter das Vordach, wo noch etwa ein halbes Dutzend Gäste an den Tischen saß. Peter Jungmann, der Wirth, kam sogleich auf ihn zu. Hier steht ja ein leerer Tisch! sagte Julius, dem nun auf einmal etwas beklommen ward. Ja, der Tisch ist leer, bestätigte Ohlerich. So setzten sie sich und fingen an, Porter mit Ale zu trinken.

IV.

Als Liesbeth in der nächsten Morgenfrühe, nach kurzem Schlaf und qualvollem Wachen, mit schwerem Herzen erwachte, wunderte sie sich sehr, daß sie an der verschlossenen Hausthür klopfen hörte. Sie stand auf und sah nach der Uhr; es war zwischen Vier und Fünf. Das Klopfen wiederholte sich im Takt, wie nach einer lustigen Melodie. Sie verwunderte sich noch mehr, fuhr in ihre Kleider und ging über den Flur, um zu öffnen. Draußen standen die Beiden, an die sie die ganze Nacht, im Traum und im Wachen, gedacht hatte; aber nicht als Gegner mit gezogenen Messern, sondern äußerst friedlich, Jeder gegen einen der Thürpfosten gelehnt. Sie schienen etwas zu frieren, ein frischer Morgenwind ging ihnen durch die wirren Haare. Aber sie summten Beide ein Lied vor sich hin und warfen heitere Blicke aus ihren überwachten, großen Augen. Bei diesem gänzlich 'unerwarteten Anblick fuhr Liesbeth zurück, und da sie nicht begriff, was sie dazu sagen sollte, sagte sie kein Wort.

Du könntest uns einen Kaffee machen, Liesbeth, fing Ohlerich an, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen, mit einem eigenthümlich humoristischen Ausdruck um die Lippen. Mit dem Kaffee muß man allemal abschließen; und du machst ihn ja gut, sagt der Herr Julius. Das ist ein Mann, der es wissen muß! Also Kaffee, vom besten.

Ja du mein Gott, wo kommt ihr denn aber her? fragte die junge Frau immer noch fassungslos.

Weißt du denn nicht mehr, wer Peter Jungmann ist? antwortete Ohlerich.

Liesbeth griff sich vor Verwunderung an den Kopf. Wie, seid ihr denn die ganze Nacht im Wirthshaus gewesen?

Julius nickte ihr heiter zu, schlug dann aber auf einmal die Augen verwirrt vor ihr nieder und sah sie nicht wieder an.

Ja, die ganze Nacht, erwiderte Ohlerich.

Und habt immerfort ?

Getrunken? Nein, immerfort getrunken haben wir nicht. Erst haben wir uns in Porter und Ale versucht; die waren beide gut. Dann sind wir der Nacht näher auf den Leib gerückt, und als die Abendwache aus war, haben wir während der Hundewache mit dem Schiffer Albrecht schwarzen Peter gespielt. Und zwischen der Hundewache und der Morgenwache sind wir auf den Bänken eingeschlafen.

Was! Unter dem Vordach, in der freien Luft?

Peter Jungmann, der junge nicht der alte hat uns Decken über den Leib gelegt. Und jetzt sind wir hergekommen, um hier Kaffee zu trinken.

Herr du mein Gott! Liesbeth sah bald den Einen, bald den Andern an, sie verstand von alledem noch immer kein Wort. Es fiel ihr auf, wie sonderbar vergnügt Johann Ohlerich wieder lächelte; dann spitzte er die Lippen und pfiff eine echte Schiffermelodie in den Morgen hinaus. Sie sah wohl, daß er nicht betrunken war; ein viel zu sicherer, überlegener Humor blickte ihm aus den Augen. Endlich hielt sie es nicht mehr aus, diesen räthselhaften Menschen anzusehen, und ging in die Küche an den Herd.

Von Zeit zu Zeit hörte sie ihren Mann etwas vor sich hin summen; der Andre war still. Als sie mit dem fertigen Kaffee wiederkam, fand sie die Beiden auf der Bank vor der Thür, Julius fröstelnd und mit zugeknöpftem Rock in eine Ecke gedrückt, einstweilen bemüht, sich durch eine Cigarre zu erwärmen und munter und zuversichtlich dreinzusehen. Ein runder Tisch stand vor ihnen, den Ohlerich aus dem Wohnzimmer herausgetragen hatte. Die frische Morgenluft ist gut! sagte er und warf sich behaglich auf die Bank, in die andere Ecke.

Liesbeth stellte den Kaffee auf den Tisch; nun bemerkte sie, wie scharf beobachtend Ohlerich's Augen in aller Stille auf ihr und Julius ruhten. Es ward ihr unheimlich zu Muth. Ohlerich! nahm sie endlich das Wort und ward dabei feuerroth: warum bist du die ganze Nacht im Wirthshaus gewesen?

Warum? Wenn etwas Besonderes vom Stapel läuft, Liesbeth, so wird allemal der Kiel heiß und fängt an zu brennen: da muß viel Feuchtigkeit aufgegossen werden. Das hab 'ich heut Nacht gethan, setzte er lachend hinzu.

Ich versteh 'dich nicht! murmelte Liesbeth verwirrt. Ohlerich antwortete nicht. Er nahm den Kaffee und schenkte seinem Gast und sich selber ein. Julius dankte und trank hastig aus. Sein morgenbleiches Gesicht fing wieder an sich zu färben, gleichsam aufzuthauen. Mein Alter wird sich wundern, wenn ich erst heute Morgen nach Hause komme! sagte er mit unwillkürlicher Heiterkeit vor sich hin.

Er wird sich wohl noch ganz anders wundern! brummte Ohlerich leise.

Es war mittlerweile voller sonniger Tag geworden, und auf der Yacht, die ihnen zunächst am Bollwerk lag, entstand Geräusch und Bewegung. Zuerst steckte ein Schiffsjunge seinen Kopf aus der Luke vorn am Bug, neben dem Anker, hervor; dann stieg der Schiffer, ein etwas beleibter, jovial aussehender Mann, aus dem Mittelraum aufs Verdeck und hielt sich die Hand vor die Augen, um nach der Wind - und Sonnenseite zu sehn.

Sieh da, das ist der Schiffer Albrecht, mit dem wir heute Nacht Karten gespielt haben! sagte Julius, der es noch immer vermied, Liesbeth anzublicken.

Ein lustiger Kamerad! bemerkte Ohlerich mit seinem heimlichen Lächeln.

O ja! Er erzählt sehr gute Geschichten; rechte Seemannsschnurren.

Nun, er war auch nicht immer Ostseefahrer; als Matrose ist er zweimal um die Welt gesegelt, erwiderte Ohlerich.

Plötzlich wandte sich der Schiffer Albrecht herüber, machte ein sonderbar pfiffiges Gesicht, winkte mit der Hand und rief aus: Guter Wind, Johann Ohlerich.

Guter Wind, ho! rief dieser sogleich zurück. Der laute Ton durchfuhr Liesbeth, als höre sie irgend einen geheimen Sinn heraus, den sie nicht verstand. Sie wollte auf ihres Mannes Gesicht zu lesen suchen; aber Julius 'Nähe und Ohlerich's Heiterkeit beklemmten sie allzu sehr. Es lief ihr heiß und kalt über die Haut. Hör' ich da nicht etwas? sagte sie endlich. Ich glaube, mein Junge ist schon aufgewacht! Sie ging scheinbar horchend in das Haus hinein und machte die Thüre zu.

Johann Ohlerich sah ihr nach. O ja! fing er dann gemüthlich wieder an, er erzählt gute Geschichten, der Schiffer Albrecht! Und er trägt sie gut vor. Aber nun sollten Sie nur mal die Bilder sehen, die er aus China und Japan mitgebracht hat: die spaßhaften Bilder, wissen Sie, wovon er heut Nacht bei Peter Jungmann erzählte. Für Frauensleut 'ist das nichts; aber für Mannsleut' ist es sehr possirlich anzusehn.

Kann man die Sachen einmal zu Gesicht bekommen? warf Julius nachlässig hin.

Warum nicht? Er hat sie immer an Bord, der alte Schwede. Albrecht! rief er zu dem Schiffer hinüber, der auf seinem Verdeck auf und ab schlenderte, während der Schiffsjunge sich an den Segeln zu schaffen machte, hast du eine halbe Stunde Zeit, kannst du uns deine japanesischen Kunstschätze zeigen?

Ich hab '' ne ganze Stunde Zeit und dann noch 'ne halbe! rief der Schiffer zurück. Es wird mir eine große Ehre sein, das versteht sich! Johann Ohlerich stand sogleich auf und winkte seinem Gast mit den Augen, das Gleiche zu thun. Indessen Julius sich reckte und in die Sonne trat, um ans Schiff zu gehen, zog Ohlerich seine Brieftasche hervor, riß ein Blatt heraus und fing an, am Kaffeetisch ein paar Worte zu schreiben. Nur so' ne kleine Geschäftssache! rief er Julius zu, als dieser stehen blieb und fragend zurücksah. Gehen Sie nur an Bord, ich komme! Damit schrieb er hastig fort. Julius stieg vom Bollwerk aufs Verdeck hinauf, begrüßte den Schiffer, und sie waren eben erst auf der kleinen Treppe, die zur Kajüte führte, als auch Ohlerich hinter ihnen erschien.

Ein nicht sehr einladender Geruch und eine dumpfe Lust kam dem hinuntersteigenden Julius entgegen; doch er war von früheren Schiffsbesuchen, seit seinen Knabenjahren, an diese Luft gewöhnt. Unten sah er sich in einem höchst bescheidenen, engen, leidlich reinen Raum, mit zwei Kojen über einander, einem in die Holzwand eingelassenen Schrank, einem kleinen Tisch und den einfachsten Sesseln. Etwas blauer Dampf zog noch die Treppe hinauf und zeigte, daß Schiffer Albrecht hier unten schon eine erste Morgenpfeife geraucht hatte. Das ist meine Kabuse! sagte der Schiffer mit Humor. Die Welt ist groß, Herr, und die Kajüte ist klein! Er schloß seinen Wandschrank auf und holte eine uralte Ledermappe hervor, in der er seine Kunstschätze verwahrte. Dann zog er bedächtig einen Haufen einzelner Blätter und einige lange Papierrollen aus der Mappe, legte sie auf den Tisch, ersuchte seine Gäste, Platz zu nehmen, und stieg nach einer nachdenklichen Pause wieder das Treppchen hinauf.

Die Beiden hatten sich mittlerweile schon in die burlesken Zeichnungen aus Yeddo und Kanagawa vertieft, die Ohlerich, so gut er es verstand, zu erklären suchte; von Zeit zu Zeit erscholl ein herzhaftes Lachen. Nicht wahr, das ist lustiges Zeug? fragte Ohlerich mit Genugthuung. Hin und wieder sah er von den Blättern auf und warf durch den Dampf, mit dem ihre Cigarren die Kajüte durchwölkten, einen halben Blick zum Fenster hinaus. Endlich stand er unruhig auf und ging, so gut es möglich war, in der Kabuse umher. Er qualmte immer gewaltiger. Julius saß noch eine Weile still, sein Humor hatte sich ganz in diese tollen asiatischen Phantasieen vertieft. Doch zuletzt fühlte er die dicke Luft vor seinen gereizten Augen, erhob sich auch, wandte sich um und sah nun Johann Ohlerich mit einem eigenen, unbeschreiblichen Lächeln hinter sich stehen. Es fiel ihm zugleich auf, wie unsicher seinen Beinen zu Muthe war. Der Boden bewegte sich unter ihm hin und her. Er mußte sich an dem Brett der Koje halten, um nicht zu fallen, und hörte ein dumpfes, schluchzendes Geräusch, das von außen gegen die Schiffswand schlug.

Was ist das für Wellenschlag? fragte er erstaunt. Fährt eben ein Dampfer vorbei?

Kann wohl sein! erwiderte Ohlerich. Kann wohl sein!

Nun, jedenfalls muß ich endlich nach Hause! sagte Julius und griff nach seinem Hut. Meine Leute werden Augen machen! Und ich werde gleich in mein Zimmer gehen und ein bischen nachschlafen; denn ich werde jetzt höllisch müde.

Das wird wohl das Beste sein! entgegnete Ohlerich.

Der junge Mann stieg die Treppe hinauf, klammerte sich oben an den Mastbaum an, weil ihn eine plötzliche Bewegung des Schiffes taumeln machte, und stieß einen Schrei aus. Seine Ueberraschung war zu groß. Die Yacht fuhr eben mit vollen Segeln in das Meer hinaus. Sie hatte schon die beiden Hafendämme hinter sich, und breite Seewellen, von der frischen Brise aufgewühlt, rollten heran, während das große Segel sich bauschte, und das Bugspriet mit dem dreieckigen Klüver sich nach Westen drehte. Julius sah die Einfahrtthürme noch so nah, daß ein Flintenschuß sie erreicht hätte, die Häuser am Strom entlang, den Leuchtthurm auf der Anhöhe, die Badehütten am Ufer. Es faßte ihn eine Art von Schwindel an, diese tollste Phantasie wofür er das Alles zu halten Lust hatte leibhaftig vor sich zu sehen. Was soll das heißen? stieß er endlich hervor.

Johann Ohlerich kam hinter ihm die Treppe herauf, stellte sich an den Schiffsbord und sah ihm mit ehrlich triumphirendem Lächeln ins Gesicht. Sehn Sie, es läßt sich nun nicht mehr ändern! sagte er so gemüthlich, als ihm bei der zitternden Aufregung seiner Stimme möglich war. Daß ich's nur ganz kurz sage, Herr Julius: es ging wirklich nicht an, daß ich Sie und meine meine Liesbeth noch länger zusammenließ. Ich hab 'mit ihr zu Land nach Hamburg fahren wollen; aber sie hat nicht gewollt. Nun müssen Sie mit mir zu Wasser nach Hamburg; so oder so.

Julius starrte dem Steuermann so verwirrt ins Gesicht, daß ihm alle Worte versagten.

Sehn Sie lassen Sie mich ausreden! fing Ohlerich wieder an. Es mußte etwas geschehen, Herr Julius, oder es gab ein Unglück. Ich hielt's so nicht mehr aus! Ich bin ein wilder, hitzköpfiger Kerl! Da hab 'ich gestern Abend gesehen an dem Schweden da, mein' ich wie häßlich so ein nichtswürdig wüthiger Mensch ist, der wie ein blindes Unwetter dreinfährt, ohne zu wissen, wie es enden wird. Und dann haben wir Porter mit Ale getrunken und danach ist mir etwas besser geworden. Lassen Sie mich ausreden; es dauert ja nicht mehr lange. Sehn Sie, da ist mir ein Gedanke gekommen er lächelte wieder wie ich Sie so unter der Hand aus meiner Bucht hinausbugsiren könnte! Während Sie bei Peter Jungmann auf der Bank geschnarcht haben, hab 'ich's mit dem Schiffer Albrecht ausgemacht, daß er uns heute Morgen mitnehmen sollte, weil er grade nach Hamburg fährt. Das ist so eine kleine unfreiwillige Seereise, Herr Julius; Sie sind ein junger Kerl von zwanzig Jahren, Sie verstehen ja Spaß! Nehmen Sie's Johann Ohlerich nicht übel, daß die Sache so gekommen ist: ich hab' selber keine Freud 'd'ran ich laß' Weib und Kind zu Haus, um mit Ihnen auf der Ostsee herumzusegeln Goddam! Sie haben's nicht anders gewollt!

Er setzte diese letzten Schlußworte eifriger und etwas zornig hinzu, da er Julius bleich und bleicher werden und auf dessen Gesicht gar keine Neigung sah, die Sache heiter zu fassen. Doch der Jüngling blieb still. Er hielt sich nur immer am Mastbaum fest und sah starr vor sich hin, auf Schiffer Albrecht's Rücken, der breit und unbeweglich vorne am Burgspriet stand. Johann Ohlerich wartete eine Weile, ob der Sturm, der im Anzug schien, ausbrechen werde. Es erfolgte nichts. Sehen Sie, Herr Julius, fing er dann langsam wieder an wenn so ein Teifun weht! so ein Teufels-Wirbelwind, der einem das Herz im Leibe durcheinander wirbelt! Ist da der Schiffer gescheidt, hat er was gelernt, so weiß er, wo der Teifun hinaus will, und segelt ihm aus dem Weg. So, dacht 'ich, sollst du's auch machen! Hast du' nen Sturm im Haus, so nimm einen andern Kurs und segle ab! Und so hab 'ich's gemacht. Und da schwimmen wir nun herum, immer westwärts fort, und wer dabei den Humor verliert, dem ist nicht zu helfen.

Aber was ist Ihnen? setzte er auf einmal lauter hinzu. Julius war grün geworden, wie junges Gras, und statt den klugen Gedanken seines Reisegefährten zu folgen, versuchte er nur noch durch ein mattes Lächeln gegen die sonderbare Verstörung seiner Züge anzukämpfen. Fehlt Ihnen etwas? rief Ohlerich und trat auf ihn zu.

O nein mir ist nur sehr übel, antwortete Julius. Dabei sah er nach der Kajütentreppe zurück, wie um dort unten gegen seine Haltlosigkeit Schutz zu suchen. Der kräftige, gesalzene Wind, der ihm um die Ohren blies, das Wühlen der Wellen, der immer auf und ab schwankende Mastbaum hatten schnell ihr Werk an ihm gethan. Johann Ohlerich begriff nun endlich die Sachlage und nahm Julius 'Arm, um ihn hinunterzuführen. Goddam! rief er aus, warum sagten Sie das nicht früher?

Ich mochte nicht sprechen, antwortete Julius. Er kam unten an, streckte sich auf Ohlerich's Wink in der unteren Koje aus und überließ sich nun wortlos seinen unaussprechlichen Gefühlen.

Das Schiff schwankte stark. Johann Ohlerich schien es nicht zu spüren. Er ging in der Kajüte umher, setzte sich seinem Kranken gegenüber, sah ihn bald kopfschüttelnd, bald ermuthigend an und suchte sich durch alle möglichen Handreichungen nützlich zu machen. Von Zeit zu Zeit stieg er die Treppe hinauf, um seinen Kopf einen Augenblick in den Wind zu stecken, kann aber gleich wieder zurück und setzte sich in irgend eine Ecke. Dann saß er da, wie eine Mutter, die ihr Kind bewacht. Er schien keinen anderen Gedanken mehr zu haben, als seinen Kranken zu hüten. Wird Ihnen schon besser? fragte er in gemessenen Pausen, als ginge es nach der Uhr. Ich glaube, antwortete Julius, es scheint so, und ward dann durch einen neuen Anfall seiner Leiden zum Verstummen gebracht. Auch Johann Ohlerich war dann eine Weile still. Zu gebührender Zeit fing er wieder an zu lächeln und murmelte irgend ein aufmunterndes Wort: Ja, bei so einem steifen Ostnordost! Wenn man seine erste Seefahrt macht! Die Ostsee ist nur klein, aber sie ist ein schlimmes Wasser, Herr Julius! Unterdessen lag Julius mit grünem Gesicht und heroischem Schweigen da. Er fand es zu schwer, sich der Ereignisse, die ihn in diese Koje geführt hatten, genau zu erinnern. Er nahm die Thatsache hin. Er wunderte sich nur, wie viel Kopfschmerzen und wie wenig Gemüth er hatte. Es war ihm unendlich gleichgültig, ob eine Frau hübsch oder häßlich sei, ob sie Amalie oder Liesbeth heiße. Alles lag hinter ihm. Nur hin und wieder wandte er sich auf die Seite und sah dann immer wieder Johann Ohlerich's wetterbraunes, theilnehmend lächelndes Gesicht. Es tröstete ihn. Trotz seiner Schwäche fühlte er sich gerührt, versuchte zu lächeln, und fiel dann wieder mit starrem Gesicht in sein Elend zurück.

Gegen Abend war es endlich stiller, die See ging nicht mehr hohl. Er versank in den Schlaf, den er sich den ganzen Tag vergebens gewünscht hatte. Als er wieder zu sich kam er hatte nicht lange geschlummert fand er zu seinem Erstaunen, er sei wunderbar wohl. Es hungerte ihn, aber es war ihm nicht mehr weh und übel zu Muth. Die Yacht schwankte nur noch gelind. In der Dämmerung, die sich inzwischen um ihn her verbreitet hatte, erkannte er Ohlerich und den Schiffer Albrecht die ihm mit Vergnügen in die aufgefrischten Augen sahen und sein erstes gesundes Wort zu erwarten schienen. Der genesene Patient richtete sich auf. Johann Ohlerich lachte, als er ihn in der Kajüte noch etwas herumtaumeln sah; drückte ihm dann die Hand mit einem strahlenden Blick, und fragte, ob er schon Sinn dafür habe, Speck zu essen. Julius schüttelte wehmüthig den Kopf. Ob es ihm dann vielleicht Vergnügen machen werde, sich einstweilen mit englischem Zwieback und Rostocker Weißbier zu vernüchtern; es sei auch Stockfisch zu haben. Bei diesen Worten fühlte Julius, daß ihm die ganze Welt der Genüsse wieder aufging. Aber er sehnte sich sehr nach frischer Luft. Sowie er ein halbes Wort darüber gesprochen hatte, nahm Johann Ohlerich ihn unter den Arm und führte ihn wie einen jüngeren Bruder der Treppe zu. Sie kamen hinauf; Julius erstaunte, wie die Welt sich während seiner Leidenszeit verändert hatte. Das Meer hob und senkte sich nur noch in langen, schaumlosen, nichtsbedeutenden Wellen, wie wenn es regelmäßige, gesunde Athemzüge thäte. Der Himmel war rein gefegt, vom Wind nichts mehr zu spüren als ein erfrischender Hauch, der die Dünste des Meeres über das Verdeck hinüberwehte. Hier und da blinkte schon ein Stern in der helldunklen Höhe auf, und die niedrige Küste dämmerte in der Ferne.

Was für eine wundervolle Reise das ist! sagte Julius in seiner überfließenden Lebensfreude, um Johann Ohlerich etwas Angenehmes zu sagen.

Nun, wie man's nimmt! sagte dieser und lachte.

Der Schiffsjunge erschien auf des Schiffers Ruf, und in zwei Minuten stand ein gedeckter Tisch mitten auf dem Verdeck, drei Stühle herum, eine Reihe von Bierflaschen in geschützter Lage gegen den Bord gelehnt. Wir haben ja wieder festes Land unter uns! sagte der Schiffer heiter, und die Luft geht mild! Jetzt möcht 'ich doch auch dabei sein und sehen, was Ihr Magen wieder leisten kann! Julius saß schon und griff nach den Wunderwerken menschlicher Erfindung, die man ihm aufgetischt hatte. Alles erschien ihm neu und wunderbar. Sie setzten sich zu Dritt (der Schiffsmaat stand am Steuer), und Johann Ohlerich, in seiner besten Laune, warf die Korkstöpsel, die er aus den Flaschen zog, rechts und links über Bord. Dann wurden die Flaschen mit seltener Geschwindigkeit leer, und Schiffer Albrecht mußte den Steuermann mit sanfter Gewalt verhindern, sie gleichfalls den Stöpseln nachzuwerfen. Es dauerte nicht lange, so fing Julius, vom Essen und Trinken begeistert, zu singen an, daß der Maat am Steuer und der Schiffsjunge am Klüverbaum herüberhorchten. Herr Gott, es geht nichts übers Schifferleben! rief er endlich aus.

Nun das versteht sich! sagte Ohlerich lachend. Wie's im Liede heißt:

Matrosenleben,
Und das heißt lustig sein!
Wenn andre Leute schlafen,
Da muß ich wachen,
Am Steuer stehn,
Am Steuer stehn!

Das ist Alles Eins! seufzte Julius. Ich hab 'meine schöne Jugend verlumpt, hätt' ein Seemann werden sollen, statt mich hinter den Büchern festzusetzen! Alle Seeleute sollen leben! Er hob sein Glas mit etwas elegischem Ausdruck und stieß mit den Beiden an.

Nun, Sie find ein junger Kerl und was für ein strammer junger Kerl! und Ohlerich sah ihn mit herzhaftem Wohlbehagen an; 's könnt 'ja Alles noch werden! Mit der Seekrankheit das nimmt auch ein Ende wie Alles auf dieser Welt! So ein richtiger Matrose, das ist doch etwas: das weiß doch, wozu es seine Arme und Beine hat, und wozu die Erde rund ist. Denn nach der einen Seite fährt er ab, und von der anderen kommt er wieder zurück! Und dann hat er mittlerweile was gesehen, Goddam! und er fing an, Seemannsgeschichten zu erzählen. Julius hörte zu, Schiffer Albrecht trank. Endlich begannen sie alle Drei lustige Schifferlieder durch die Nacht zu singen.

Es war tief dunkel geworden, aber der späte Mond ging nun auf und wanderte über die kleinen Wasserkämme, indem überall von seinem Silber etwas hängen blieb, zum Verdeck herüber. Sein elegisches Licht hatte noch nicht lange geleuchtet, als Julius stille ward und der Einfluß des Nachtgestirns auf ihn zu wirken schien. Er legte seine erloschene Cigarre auf den Tisch, fing an zu träumen und starrte ins Meer hinaus. Das Sonderbare seiner Lage ward ihm plötzlich bewußt. Auch Johann Ohlerich neben ihm verstummte. Schiffer Albrecht sang allein noch eine Weile fort; dann hörte er gleichfalls auf, klopfte am Bord seine Pfeife aus, sah nachdenklich in den Mond, wie auf eine Uhr, und ging ans Steuer, um Peter Jürß, den Schiffsmaat, abzulösen. Auf dem ganzen Verdeck war Alles stumm. Eine Weile starrten Julius und Ohlerich beide still vor sich hin.

Endlich nahm Julius seine Cigarre wieder in die Hand, steckte sie aber nicht an, sondern sagte nur: Das ist eine merkwürdige Nacht! Ich wollte mich noch über etwas zu Ihnen aussprechen, Johann Ohlerich.

Da bin ich gerne dabei! murmelte Ohlerich, ohne seinen Blick zu verändern.

Ich wollte Ihnen nur sagen, Johann Ohlerich: Sie sind ein ganzer Kerl, und ich habe alle Achtung vor Ihnen.

Nun, das kann mich freuen, brummte Ohlerich vor sich hin.

Ich möchte gern, daß wir uns wie gute Freunde verständigten, Johann Ohlerich! Was meine Person betrifft, so hab 'ich mich in dieser Sache nicht so gut benommen, wie Sie. Ich habe Ihrer Frau Die Zunge stockte ihm eine Weile. Ich habe Ihrer Frau mehr dummes Zeug gesagt, als ich verantworten kann.

Ach was! Davon reden wir ja nicht mehr. Das ist abgemacht.

Doch; ich rede davon. Ich fühle das dringende Bedürfniß, davon zu reden. Johann Ohlerich, ich bin nun einmal ein verliebter Kerl! Und so kam die verwünschte Geschichte Aber jetzt bin ich kurirt.

Sie sind noch ein junges Blut, Herr Julius! Da kommt Allerlei vor. Und wenn Sie kurirt sind doch er sah dem jungen Mann etwas ungläubig ins Gesicht nun so ist's ja gut.

Ja; Sie haben mich kurirt, Johann Ohlerich! Aber sagen Sie nicht mehr Herr Julius , das hat keinen Sinn. Sagen Sie meinetwegen Julius! So wahr ich hier sitze, ich nehm 'es Ihnen nicht übel, daß Sie mir diese diese Vergnügungsreise arrangirt haben. Ich weiß nun, daß Sie ein ganzer Kerl sind, Johann Ohlerich. Sie haben sich selbst überwunden; nun, das ist leicht gesagt, aber schwer gethan. Es ist jetzt an mir, daß ich dasselbe thue! Und ich wollte Ihnen nur noch mein Ehrenwort geben, daß das geschehen soll.

Nun, das wird mich freuen! sagte Ohlerich, doch ohne ein besonders kräftiges Zutrauen zu verrathen. Er sah dabei vor sich nieder auf den Tisch.

Sie meinen, mit dem Ehrenwort ist's noch nicht gethan! Wenn der Geist auch willig ist, das Fleisch ist schwach! Sehn Sie, Johann Ohlerich, ich verstehe sehr gut, was Sie eben denken. Sie haben mich in dieses Rettungsboot geloots't er lächelte unwillkürlich um über einen sehr kritischen Moment hinüberzukommen: denn es war ein kritischer Moment, das gebe ich zu. Ich war ein verrückter Narr! Aber wenn wir nun morgen oder übermorgen nach Hamburg kommen, und ich von da als guter Sohn nach Warnemünde zurückfahre, so kann ich wieder verrückt werden. Nicht wahr, das haben Sie eben bei sich gedacht?

Es wär 'wohl möglich! murmelte Ohlerich; konnte dabei nicht umhin, zu lächeln und dem treuherzigen jungen Menschen mit einem ehrlichen Wohlgefallen ins Gesicht zu sehen.

Johann Ohlerich! Ich könnte Ihnen einen Vorschlag machen Julius erröthete über das ganze Gesicht, indem er das sagte. Ich könnte Ihnen einen Vorschlag machen, mit dem die Sache wohl zu Ende käme. Jeder Mensch hat doch irgend einen Ehrenpunkt, von dem er nicht losläßt! Wenn ich z. B. mit Jemand verbrüdert bin, wenn ich ihm Freundschaft zugeschworen habe, so kann ich doch unmöglich mit seiner Frau das sehen Sie ein. So kann ich doch gar nicht mehr daran denken, wieder verrückt zu werden! Ich habe gestern und heut mit Ihnen getrunken, Johann Ohlerich; doch das bedeutet noch nicht viel. Ich habe alle Achtung vor Ihnen gewonnen; ich habe Wär 'ich nicht ein Mann, so würd' ich gradheraus sagen, daß ich mich in Sie verliebt habe. Wenn's nur auf mich ankäme, ich könnte gleich dieses Glas nehmen und und mit Ihnen Brüderschaft trinken; und dann sollte kein Mensch auf der Welt mehr sagen, Johann Ohlerich, daß ich mich je wieder an Ihrem Lebensglück vergreifen könnte!

Er wartete eine Weile auf Antwort. Johann Ohlerich nickte mit dem Kopf, stand dann aus und sah dem jungen Redner gerührt ins Gesicht. Julius! fing er endlich an; ich hab 'doch nicht Unrecht gehabt! Sehn Sie, ein richtiger Seemann muß aus einem einzigen Stück Rundholz errathen können, wie groß das ganze Schiff ist. So hab' ich mir gestern Abend gleich gedacht, Sie sind ein Kerl auf dem Platz! und mit dem muß ich in Frieden fertig werden!

Stoß an, Junge; warum sollen wir nicht Brüderschaft trinken, und warum soll ich mir nicht den letzten Span, der da drin noch steckt, aus dem Herzen reißen!

V.

Es war wohl Mitternacht geworden, als Julius endlich, trotz aller Aufregung und Freudigkeit zum Sterben müde, in seine Koje schlich. Ueber sich hörte er Musik; Johann Ohlerich saß noch auf dem Verdeck, hatte die Handharmonika des Schiffers Albrecht genommen und spielte allerlei Weisen darauf, so gut er's gelernt hatte. Es waren weichherzige Melodieen, sie klangen sehr heimwehmüthig und verliebt in die Nacht hinaus. Darüber schlief Julius ein, und schlief bald so fest, als wollte er nie wieder erwachen.

Gegen Morgen fing er endlich zu träumen an; ein Traum immer glücklicher als der andere, Alles ging ihm gut aus. Er sah sich mit zwei großen schweinsledernen Büchern unter dem Arm, die er in den Warnemünder Strom warf und mit herzlichem Vergnügen untersinken sah. Dann donnerten auf einmal alle Kanonen, und die norddeutsche Flotte denn der Strom hatte sich unvermerkt in den Kieler Hafen verwandelt zog in Schlachtordnung auf. Er befand sich unter den Offizieren, gleich ihnen den dreieckigen Hut auf dem Kopf, im dunkelblauen Frack mit den großen, zweireihigen Ankerknöpfen; der breite Goldstreifen blitzte an seiner Hose hinunter. Es verwunderte und freute ihn, daß doch noch ein Seemann aus ihm geworden sei. Gleich darauf sah er, wie alle Schiffe im Hafen ihre Flaggen strichen und unter Kanonendonner und Musik die Admiralsflagge am großen Topp in die Höhe ging. Er hörte die Leute in seiner Nähe sagen, das geschehe, weil der Admiral Julius das Kommando übernommen habe. Indem ihm das noch schmeichelte, ward der Traum undeutlich und verlor sich in eine Schlacht, wie man sie noch nie gesehen hatte. Der Sieg war errungen, der Admiral Julius kam zurück und fuhr mit der ganzen Flotte, er selbst auf Wilhelm I. voran, den Strom hinauf und an Johann Ohlerich's kleinem Hause vorbei. Liesbeth stand auf dem Bollwerk, grüßte ihn mit einem Kopfnicken und legte ein Brett, auf dem er ans Ufer stieg. Er reichte ihr die Hand und wollte sie auf den Mund küssen; aber sie gab ihm eine Ohrfeige, und indem er eben einige Worte der Entschuldigung stammeln wollte, wachte er auf.

Johann Ohlerich stand vor ihm, mit lächelndem Gesicht. Willst du nicht aufstehen, Junge? Du hast ja einen prächtigen Schlaf! Aber ich muß dem Vergnügen doch ein Ende machen. Gegen Morgen zu hat der Wind wieder ein Bischen nachgeholfen, und nun liegen wir hier in der Kieler Bucht. Der Schiffer Albrecht hat hier etwas zu thun, und ich denke, wir beide lassen ihn allein mit seiner alten Yacht und fahren per Dampf nach Hamburg und Altona! Es wird dir wohl nicht viel daran liegen, den Eiderkanal und die schwarzen und weißen Elb-Tonnen zu sehen, und vielleicht noch einmal in hohle See zu kommen, wie am gestrigen Tag.

O, das thäte mir nichts! sagte Julius, der noch etwas von dem Admiralsgefühl seines Traums verspürte. Aber es ist freilich besser, bald nach Hamburg und nach Hause zu kommen! Es giebt eine Familie, die sich schon sehr über mich verwundern wird.

Nun, dann arbeite dich aus der Koje heraus! Gleich nach sieben geht der Zug. Eine halbe Stunde haben wir noch. Dann können wir in Hamburg ein paar Beefsteaks zu Mittag essen! Damit stieg Johann Ohlerich wieder die Treppe hinauf. Julius warf sich in seine Kleider und folgte ihm bald. Er sah sich hart am Bollwerk des Kieler Hafens, allerlei Masten und Flaggen um sich her. Weiter abwärts lag ein gewaltiges, schwarzes Ungeheuer von der deutschen Flotte, in dessen Nähe die schlanken Kanonenboote dampften, wie es schien, um sich zu einer Uebungsfahrt seefertig zu machen.

Nun, das ist doch schon etwas, murmelte Ohlerich bei diesem Anblick mit halb zurückgedrängtem schmunzelndem Wohlbehagen. So weit haben wir's doch endlich einmal gebracht! Wie der große Kerl daliegt; wie eine alte Eule, um die die Schwalben herumsitzen.

Julius erwiderte nichts. Es war ihm sonderbar ernst zu Muth geworden; seine wachen Gedanken gingen hinter seinen Träumen her und dachten daran herum. Er sah still auf die Schiffe, zählte mechanisch ihre Kanonen, so viele er sehen konnte. Endlich trieb Johann Ohlerich zum Aufbruch an. Sie nahmen vom Schiffer Abschied, der behaglich neben dem Steuer saß und rauchte, wanderten zum Bahnhof und rollten in der Morgenfrische nach Hamburg zu.

Ein Jeder von ihnen hatte sich bald in seine Gedanken vertieft. Johann Ohlerich schien mit jeder Stunde melancholischer und stiller zu werden; sein Heimweh nach Warnemünde war erwacht, Alles, was er dort zurückgelassen hatte, lag ihm auf der Seele. Doch er sagte nichts. Sie kamen in Hamburg an, Ohlerich führte seinen Gast denn als das erschien ihm Julius hier in der Seestadt, in der er zu Hause war, wie in seiner eigenen Seele durch allerlei enge Straßen vor Allem dem Hafen zu. Ihr Weg führte sie zuerst am Binnenhafen entlang. Hunderte von Elbkähnen lagen hier so wunderbar in einander gedrängt, daß es unmöglich schien, den hölzernen Knäuel auseinander zu wickeln. Julius starrte das Phänomen mit weit aufgerissenen Augen an. Das ist noch nichts! sagte Ohlerich stolz und zugleich geringschätzig und zog seinen Freund vorbei, nach dem Elbufer zu. Wenn wir erst an den Rummel-Hafen kommen, und so weiter!

Sie wandelten Arm in Arm, ein ungeheurer Mastenwald ragte jetzt näher und näher vor ihnen auf. Das ist freilich etwas Anderes, als bei uns zu Hause! sagte Julius, von einer Art schiffsjungenhafter Ehrfurcht ergriffen. Aber was für eine hübsche Figur dieses Weibchen hat! Seine Bewunderung für die hohen Mastenspitzen hinderte ihn nicht, auch das Schöne zu ebener Erde zu sehen. Eine stattliche, jugendliche Gestalt in ehrbarem schwarzem Kleid, aber von höchst angenehmem Wuchs, ging vor ihnen auf, ein wenig rascher als sie. Julius fing an größere Schritte zu machen und seinen Kameraden mit sich fortzuziehen. Nun, wozu laufen wir so? fragte dieser endlich, als er merkte, daß er im Schlepptau war. Denkst du, mein Junge, daß uns die Indienfahrer da so plötzlich davonsegeln?

Wir sollten der jungen Person ein wenig nachgehen! antwortete Julius und zeigte auf die, die er meinte.

Wozu?

Wozu? Wenn man in fremden Städten ist, muß man auch die Menschen betrachten, Ohlerich. Ich will wetten, sie hat ein hübsches Gesicht!

Nun, das kann sie wohl haben; aber da hätten wir in Hamburg viel zu thun. Und da geht sie ja eben rechts um die Ecke.

Eben um diese Ecke sollten wir auch gehen! entgegnete Julius. Ich bin doch neugierig Und er zog den Andern um die Ecke herum.

Johann Ohlerich lachte. Du bist ja wohl 'ne rechte Magnetnadel, sagte er, die immer nach der Windrichtung Frauenzimmer zeigt! Ich hab' mir die Dirne noch nicht einmal angesehen. Oho! da geht sie eben in das Wirthshaus hinein.

Eben in das Wirthshaus sollten wir auch hineingehen! setzte Julius sogleich hinzu. Abgesehen davon, daß ich nachgerade höllischen Appetit verspüre Und damit zog er Ohlerich nach der Wirthshausthür.

Wenn das meine Frau wüßte, murmelte Ohlerich lachend, daß ich hier dem ersten besten Unterrock nachlaufe! Sie traten ein; das Gastzimmer lag gleich links neben dem Flur. Es schien eine stille, unbesuchte Wirthschaft zu sein. Das ganze, mit Tischen und Stühlen angefüllte Zimmer war leer, auch nicht sehr von Tabaksdünsten heimgesucht. Nur die junge Person hatte sich eben gesetzt, ein zusammengeknüpftes Bündelchen auf den Tisch gelegt und sah, ihnen den Rücken zuwendend, zum Fenster hinaus.

Nehmen wir nur vor Allem Platz! sagte Julius und warf sich auf einen Stuhl am nächsten Tisch. Du mußt ohnehin noch eine Flasche Rothspohn mit mir trinken, Ohlerich; heut Nacht haben wir die Brüderschaft nur mit Rostocker Weißbier begossen!

In diesem Augenblick sah die junge Frau verwundert zu ihm herüber, und die beiden Männer zu ihr. Alle Drei starrten einander an. Liesbeth nicht in ihrer Warnemünder, sondern in städtischer Tracht zeigte ihr Gesicht, auf das sich mehr Erstaunen drängte, als es fassen wollte, während Ohlerich die Farbe wechselte, und Julius endlich in ein verlegenes, lautes Lachen ausbrach.

Hatt 'ich nicht Recht, Ohlerich, rief er aus, dich hereinzuschleppen? Hatt' ich nicht Recht? Plötzlich aber besann er sich, wie es hier noch stand, glaubte sehr zur Unzeit gelacht zu haben und ward feuerroth. Guten Tag, Liesbeth! stammelte er, mit einem Blick auf Ohlerich's ernstes Gesicht. Ich will ich will etwas zu essen bestellen! Das ist gut! Das wird das Beste sein! setzte er hinzu, indem er seinen stillen Gedankengang verrieth. Niemand antwortete ihm etwas. Er nahm seinen Strohhut wieder auf, den er hingelegt hatte, suchte die Thür nach der Küche und ging schweigend hinaus.

Die beiden Eheleute sahen sich allein. Guten Tag, Ohlerich! sagte Liesbeth nach einer Weile, mehr erstaunt als beklommen. Ich höre ja, daß ihr euch duzt!

Ja, wir duzen uns, entgegnete Ohlerich sanft.

Daß ihr heut Nacht bei Rostocker Weißbier Brüderschaft mit einander getrunken habt!

Ja; da hast du ganz richtig gehört, Liesbeth: das ist geschehen. Warum sollten wir Beide auch nicht Brüderschaft trinken? Das kommt zwischen Mannsleuten vor, wenn sie lustig sind.

Ohlerich! rief die junge Frau aus und sah ihm wie einem Räthsel ins Gesicht.

Johann Ohlerich, ohne eine Miene zu verziehen, gab ihr den Blick zurück. Uebrigens, wo kommst du her, Liesbeth? fragte er möglichst ernsthaft.

Ich? Von Hause! antwortete sie kurz.

Du willst dir wohl Hamburg ein bischen ansehen?

Ja, das will ich. Und dann Sie blickte mit verlegener Liebe zu ihm auf, schlug aber die Augen sogleich wieder nieder und bohrte sie in den Tisch. Und dann hatt 'ich auch am Fenster, auf meinem Nähtisch, einen Zettel gefunden; einen Zettel mit etwas Geschriebenem drauf.

So! Ih was!

Ja. Und weil auf dem Zettel stand, daß Johann Ohlerich, mein Mann, mit einem jungen Menschen aus meiner Bekanntschaft, Umstände halber, nach Hamburg abgesegelt wäre Sie zog den Zettel aus ihrem Busen hervor.

Das Alles stand auf dem Zettel! sagte Ohlerich in tiefster Verwunderung.

Ja; und da steht's auch noch! Und weil ich dann Schiffer Albrecht's Yacht draußen beim Mol um die Ecke segeln sah so dacht 'ich, Ohlerich, daß ich mich aufmachen und auch ein bischen nach Hamburg fahren sollte.

Um es dir anzusehen!

Ja, um es mir anzusehen. Und um mich an Bord, bei unserm Kapitain, zu erkundigen, ob der Steuermann Johann Ohlerich schon da wäre sie stockte und ob er wirklich von seiner Frau nichts mehr wissen wollte.

Und was haben sie dir denn an Bord gesagt? fragte Ohlerich, der nun einen ersten zärtlichen, verstohlenen Blick nicht länger zurückhalten konnte.

Daß, wenn er nicht bei seiner Frau in Warnemünde wäre, so wüßten sie nichts von ihm und könnten mir auch nichts sagen. Und da hab 'ich mich entschlossen, auf ihn zu warten und vorläufig hier etwas zu essen, denn vom Reisen wird man nicht satt.

Nein, das wird man wohl nicht! Aber was ist das, Liesbeth? Dein Herr Julius ist ja ein ganz treuloser Mensch? Vorgestern will er dich noch heirathen, und heute läuft er hier in Hamburg hinter dem ersten hübschen Mädchen her, das über die Straße geht? Und wenn dieses hübsche Mädchen nicht zufällig Liesbeth Ohlerich gewesen wäre

Ohlerich! fiel sie ihm ins Wort, roth bis an die Schläfen. Ich ich hab's nicht besser verdient! setzte sie dann nach einer Pause hinzu. Ich hab's dir schlimm genug getrieben, Ohlerich! Du mußt dich recht schämen, daß du so eine Frau hast.

Nun, es trägt Jeder seinen Packen! antwortete er mit ernsthaftem Humor. Mir thut's nur leid, daß ich dir von dem Herrn Julius überhaupt gar nichts Angenehmes berichten kann! Heute Nacht hat er mir gesagt, er wäre in mich verliebt; aber von Madame Ohlerich wollte er nichts mehr wissen.

Hat er das wirklich gesagt? Liesbeth fing auf einmal an, glückselig zu lächeln, und hob ihre leuchtenden Augen zu Ohlerich auf. Das ist Es wundert mich gar nicht, daß er in dich verliebt ist!

So? Es kommt sonst nicht alle Tage vor, daß so ein junger Mensch den Mann lieb hat statt der Frau. Es ist ja auch wohl nicht immer so gewesen Er sah sie mit humoristischem Mißtrauen von der Seite an.

Ohlerich! fiel sie ihm wieder in die Rede. Sie ging auf ihn zu, ganz aufgelös't, und wollte sich ihm an den Hals werfen, aber ein verlegenes Schamgefühl hielt sie noch zurück. Was für ein Mensch du bist! Kein Andrer auf der Welt hätte das so gemacht wie du! Ohlerich, so gut hast du mir im Leben noch nicht gefallen; wenn ich nur das Eine wüßte, ob du mich noch lieb haben kannst!

Sie war so nahe an ihn herangetreten, er brauchte nur die Arme auszustrecken, wenn er sie wieder an sein Herz drücken wollte. Sanftmüthig und geduldig wartend, wie ein Kind, blickte sie ihn an. Ohlerich suchte noch nach einem Wort, das er ihr auf dieses verliebte Bekenntniß erwidern wollte. Aber da ihm keines einfiel, das ihm die Hälfte von Dem zu sagen schien, was er zu sagen wünschte, zog er sie einfach auf seinen Schooß, hüllte sie ganz in seine beiden Arme und küßte sie stumm, mit einem Kuß ohne Ende, auf den Mund.

Der Wirth trat, als es im Zimmer so still geworden war, nach einer tiefen Pause behutsam herein, lächelte und ging endlich auf das zärtliche Paar stillschweigend zu. Er hatte ein Billet in der Hand, das mit einer Oblate verklebt war. Indem er Johann Ohlerich sanft auf die Schulter klopfte, hielt er ihm das Billet vor die Augen; dann legte er es ihm auf die flache Hand, wie auf einen Teller.

Was soll ich damit? fragte Ohlerich.

Lesen! antwortete der Wirth. Ein hübscher junger Mensch hat es draußen bei mir in der Küche geschrieben. Ich sollte Sie die erste Viertelstunde lang nicht stören, hat er gesagt; aber nach Verlauf dieser Viertelstunde sollte ich hereingehen seine Hand klimperte unwillkürlich mit Julius 'Trinkgeld in der Hosentasche und Ihnen das Stück Papier da in die Hand drücken.

Siehst du, es ist an mich und nicht an dich! sagte Ohlerich mit spaßhafter Heiterkeit zu seiner Frau, indem er die Aufschrift las. Er öffnete das Billet. Der Wirth stand noch auf demselben Fleck; er schickte ihn hinaus, das Mittagessen zu bringen, und hielt ihr das Blatt so von der Seite zu, daß sie mit hineinsehen konnte. Sie lasen stumm zu gleicher Zeit, Liesbeth mit den Lippen.

Ich kann nicht mit euch zu Mittag essen, Ohlerich; es geht mir gegen die Natur; lebe wohl! Noch heute Nachmittag fahr 'ich nach Kiel zurück, um von da meinem Vater zu schreiben, daß ich ihm nicht helfen kann, ich trete in unsre Marine. Zu diesen zwei Tagen hat sich viel entpuppt; ich bin eine Art von Mann geworden, Ohlerich! Ich will Admiral werden oder Kajütenjunge, mir ist Alles gleich, aber die Wasserratte will schwimmen, und ich werde schwimmen.

Leben Sie wohl, Liesbeth! Ich muß dir noch einmal sagen, Ohlerich, daß du ein ganzer Kerl bist. Machen Sie ihn glücklich, Liesbeth machen Sie ihn glücklich! Ich werde mich fassen wie ein alter Philosoph; es wird schon gehen; nur kann ich nicht heute Mittag mit euch Beefsteak essen! Auf Wiedersehen übers Jahr, wenn wir ein Jahr älter sind, einen Backenbart tragen und keine Gefühle mehr haben.

Ohlerich, ich achte dich! Leben Sie wohl!

Sie hatten zu Ende gelesen, Ohlerich legte das Blatt wieder zusammen. Ein stilles Lächeln ging ihm übers Gesicht. Und vorgestern Abend murmelte er überlegte ich mir's noch, wie ich ihm am Besten das Lebenslicht ausblasen könnte, und mir hinterdrein! Wo kein Humor mehr ist, da ist keine Vernunft! Liesbeth, ich sollte mich einen ganzen Tag lang wundern, was für ein Narr ich war.

Mein Liebster, mein Schatz bist du, Ohlerich, und weiter nichts! sagte die junge Frau, und legte ihre Lippen wieder auf seinen Mund, um ihn nicht reden zu lassen. Sie dachte an ihre eigene Narrheit, und er an die seine; und so saßen sie ganz stille da und hielten sich umschlungen.

About this transcription

TextJohann Ohlerich
Author Adolph Wilbrandt
Extent66 images; 18622 tokens; 3915 types; 115660 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-16T13:21:33Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-16T13:21:33Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Johann Ohlerich. Band 7. Adolph Wilbrandt. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 267-332.

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Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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Editorial principles

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

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