PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz
Vierte Serie. Vierter Band. (Der ganzen Reihe zweiundzwanzigster Band.)
[Erste Auflage]
München. Druck und Verlag von R. Oldenbourg. [1875]

Inhalt.

Eure Wege sind nicht meine Wege.
Erzählungen aus der Frauenwelt. Von Hermine Wild. Mit einem Vorwort von Leopold Kompert. 2 Bände. Wien und Leipzig. Verlag der liter. -artist. Anstalt von C. Dittmarsch.

Adele Wesemael, aus einer niederländischen Familie (der Vater war aus Prügge, die Mutter aus Gent), wurde im Jahre 1825 in Mecheln geboren, kam aber schon im dreizehnten Jahre nach Sachsen, von da im Jahre 1850 nach Österreich, wo sie ihren beständigen Wohnsitz aufschlug. Die deutsche Sprache lernte sie schon als Kind, da in ihrem elterlichen Hause für deutsche Bildung und Literatur eine große Vorliebe herrschte, und fast zu gleicher Zeit kamen Racine und Schiller in ihre Hände. Daß sie seitdem vollständig zur Deutschen geworden ist, bezeugt jede Seite ihrer Erzählungen, die zuerst von Leopold Kompert eingeführt, in Österreich verdiente Anerkennung gefunden haben, dem großen deutschen Publikum aber noch wenig bekannt geworden sind. Die hier mitgetheilte Novelle, wenn sie auch noch an einer gewissen Ungleichheit in der Gruppierung und Beherrschung des Stoffes leidet, erschien uns jedenfalls durch die energische Charakteristik und die Schärfe der Beobachtung so bedeutend, daß wir auf dies ungewöhnliche Talent, das weit über das Mittelmaß weiblicher Begabung hinausragt, in unserer Sammlung aufmerksam zu machen wünschten. Niemand wird der Entwicklung der Hauptfigur ohne den lebhaftesten Antheil folgen, was um so mehr für ein hohes Verdienst der künstlerischen Darstellung Zeugniß giebt, je weniger der Charakter dieser Leonie auf unsers Sympathien rechnen kann.

Es mochte gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts sein; die französische Revolution, deren furchtbarer Ausbruch nur wenige Jahre danach erfolgte, kündigte schon hier und da durch verlängerte Stöße der unterwühlten Gesellschaft ihre Annäherung an; da kehrte Graf Thornstein auf seine Güter nach Deutschland zurück. Fast ein Fremdling kehrte er dahin zurück; als junger Mann hatte er die Heimath verlassen, sich seitdem bald hier, bald dort im Auslande aufgehalten, und nachdem er an den lockeren Sitten seiner Zeit den gehörigen Antheil genommen, sich in Paris mit einem französischen Fräulein vermählt, das, reich an Ahnen und arm an anderen Gütern, ihm nichts zubrachte, als die Verbindung mit einer alten, angesehenen Familie und ihre eigene ungewöhnliche Schönheit. Von dieser Schönheit hatten die Insassen des Gutes durch den Verwalter gehört, der einst, Geschäfte halber, nach Paris gerast war und den Grafen einen glücklichen Mann pries. Wieder waren Jahre verstrichen, den alten Mann deckte die Erde, und ein andrer Verwalter nahm seine Stelle ein. Die junge, schöne Gräfin, sagte ein Gerücht, hatte ein früher Tod von der Seite ihres Gatten gerissen, und vom Grafen kam noch immer keine Kunde. Er lebte in der Erinnerung seiner Unterthanen ein schattenhaftes Leben, das nur manchmal von Seiten des Ver - walters durch besonders empfindliche Eintreibung grundherrlicher Gerechtsame aufgefrischt ward. Da sprach man denn von ihm als von einem ziemlich leichtsinnigen, ein wenig zum Stolz geneigten, im Ganzen aber freundlichen und milden Herrn, auf den man einst große Hoffnungen gesetzt und dessen Rückkehr man herbeiwünschte, ohne daran zu glauben, weil man in ihr die einzige Schranke für die oft unausstehliche Tyrannei der Beamten sah. Und nun war er wirklich gekommen, fast unerwartet, und Alt und Jung war herbeigelaufen, sich an seinem Anblick zu erfreuen, und Alt und Jung schüttelte die Köpfe über die Verschiedenheit zwischen dem Grafen, den sie geträumt, und demjenigen, den sie nun sahen. Es kehrte zurück ein gebrochener Mann, vor der Zeit gealtert und die in früher Jugend so muthig erhobene Stirn von einem finstern Ernst umwölkt, der jede Freude ob seiner Rückkehr schnell verstummen hieß.

Der Tod seiner Gemahlin habe ihn so geändert, sagte man sich. Er habe vergebens auf Reisen Zerstreuung für seinen Schmerz gesucht; noch jetzt könne er ihren Namen nicht aussprechen hören, und keine Frau habe seit ihrem Verluste einen Eindruck auf ihn gemacht. Die Bauern schüttelten die Kopfe dazu; Sentimentalität ist auf dem Dorfe wenig zu Hause; sie waren froh, daß der Gram seine Gerechtigkeit und Einsicht nicht getrübt, die Plackereien der Beamten hatten ein Ende, mehr verlangten sie nicht. Doch Liebe und Vertrauen erwarb sich bei ihnen der kalte, schroffe Gebieter nicht, dessen Stolz durch sein Unglück nur gewachsen schien. Ein freundliches Gesicht hatte ihm mehr Herzen gewonnen, als alle seine wirklichen Eigenschaften es vermochten. Nur die Frauen waren mildern Sinnes, sie bedauerten ihn, um die verstorbene Gräfin, die solche Liebe eingeflößt, galt unter ihnen, trotz ihres Todes, für eine hochbeglückte Frau. Zwei Kinder hatten ihn begleitet; der Knabe mit seinem deutschen Na - men Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floß.

Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf, daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein.

Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloss.

Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend zu sein, war sie doch die Seele von allem Lärm, und die Knaben des Dorfes, ihr Bruder nicht ausgenommen, dem sie an geistiger Gewandtheit weit vorausgeeilt war, erkannten sie stillschweigend als ihre Herrscherin an. Unter ihnen war sie in ihrem Elemente, von ihnen wurde dem kleinen Fräulein die erste Huldigung dargebracht, und wunderbar war es, wie ihre zierliche Erscheinung sich immer sauber herausschälte aus der rohen Atmosphäre, in der sie sich so wohl gefiel.

Bei Otto drohte der Bauerntölpel mit der Zeit den adeligen Junker ganz zu überwuchern, bei Leonie war das unmöglich. Ihre ganze Organisation widersetzte sich dem. Sie war und blieb ein kleines, feines Ding, das nirgends viel Platz einnahm, geräuschlos auftrat und immer da war, man wusste nicht wie. Alles war Widerspruch an ihr; ihre blonden, lockigen, etwas ins Röthliche schimmernden Haare umrahmten seltsam den zarten Kopf mit den schwarzen, denkenden Augen. Statt des weichen Gemüthes, das ihrem Bruder bei den tollsten Streichen stets den Stempel kindlicher Liebenswürdigkeit verlieh, zeigten sich bei ihr nur kurze, seltene Aufwallungen voll Leidenschaft, die aber der nächste Augenblick spurlos zu verwischen schien. Bis jetzt war eine zähe Beharrlichkeit, die vor keinem Hindernis zurückschrak, vielleicht einer der deutlichsten Züge dieses keimenden, sonderbar schwer zu erkennenden Charakters. Wohin kein Fuß gekommen, da drang gewiss der ihrige durch. Fest wie Stahl und leicht wie eine Feder, hatte ein Tanzmeister von ihr gerühmt; die Bauern druckten sich minder kunstgemäß aus, zollten ihr aber nicht geringere Bewunderung. Und es war ein eigener Anblick, sie so geschmeidig und luftig in ihrer unbändigen Gesellschaft durch Flur und Felder streifen zu sehen. Wie eine verzauberte Prinzessin-Tochter von bösen Kobolden bewacht, nur daß die Kobolde hier mehr gehorchten als befahlen, und selbst Otto entzog sich diesem Zauber seiner Schwester nicht. Aber keck und muthig in dem kleinen Kreise, in welchem sie Königin war, wurde sie scheu und still, sobald sie vor ihrem Vater stand. Er war ihre einzige, aber auch ihre große Furcht. Wann diese Furcht angefangen, darüber hatte sie nicht nachgedacht; es war ein Zustand, der für sie in der Ordnung der Welt begriffen war. Nie hatte sie ein freundliches Wort von ihm vernommen, nie einen Blick, eine Liebkosung von ihm empfangen, wie sie Otto, trotz seines finsteren Wesens, doch oft von ihm empfing; ja ihre aufkeimende Lieblichkeit, die, wechselvoll wie die Welle, in allen Schattierungen quellenden Lebens unaufhörlich ging und kam, immer dieselbe und doch stets eine andere schien, weckte bei ihm, anstatt Stolz und Befriedigung, offenbar nur eine größere Strenge und eine Kälte, die fast an Abneigung stieß. Doch ruhten seine Augen oft eigenthümlich forschend auf ihr, als suche er ein Räthsel zu lösen, das seinen peinlichsten Anstrengungen stets von neuem zu entschlüpfen schien. In diesem Blicke vielleicht lag der erste Grund der Scheu, die Leonie vor ihrem Vater empfand; sie hatte ihn in seiner unheimlichen Tiefe so oft auf sich geheftet gesehen! Als sie noch in den Armen ihrer Amme lag und das werdende Verständnis an den ersten schwachen Eindrücken der äußeren Welt sich allmählich zu entfalten begann, war es dieser Blick vielleicht gewesen, der an ihr zitterndes Leben trat und der klaren Welle der Empfindung eine dünklere Färbung verlieh. Wer forscht dem Keime unserer Gefühle nach? Genug, die Furcht vor ihrem Vater schien mit Leonie's Lebenswurzel verwachsen zu sein, ein heimlicher Trotz gegen einen Druck, der ihr mehr willkürlich als berechtigt erschien, mischte sich nach und nach ihrer Empfindung bei; sie war verschlossen und still in seiner Gegenwart und ging ihm aus dem Wege, wenn sie ihn kommen sah. Er bemerkte es wohl, aber er rief sie nie zurück. Er glaubte sie zu kennen; vielleicht kannte er sie auch, und doch wir möchten fast sagen, es wäre besser gewesen, er hätte sie nicht so gut gekannt.

Sie sind zu streng gegen Ihre Tochter, Herr Graf, sagte der Pfarrer eines Tages zu ihm.

Finden Sie? frug der Graf in den Hof deutend, wo Leonie, in dem Kreise einiger jugendlichen Verehrer stehend, die ihr angeborene Anmuth in unbewusster Koketterie zum Zeitvertreib an ihnen übte.

Kinderei! meinte der Pfarrer, die Achseln zuckend.

Die Zeit wird kommen, wo es keine Kinderei mehr sein wird, versetzte der Graf, was dann?

Ich begreife Sie nicht. Jeder andre Vater hätte seine Freude an dem schönen Kinde, und Sie

Ja, sie ist schön, sagte der Graf, und eine Wolke zog über seine Stirn, ich wollte, sie wäre es nicht.

Der Pfarrer war erstaunt, schwieg aber, da er zu fühlen glaubte, dem Grafen sei das Gespräch unangenehm. Seine Verstimmung hatte überhaupt seit einiger Zeit bedeutend zugenommen. Er war offenbar unruhig, ritt einigemal selbst nach der nächsten Stadt und unternahm endlich eine längere Reise, von der er erst nach Wochen wiederkam. Ein gewisses Befremden erregte er vorher im Dorfe, das er einen Hof, der in einiger Entfernung vom Dorfe ziemlich vereinsamt am Saume des Waldes lag und dem Schlosse eigen zugehörte, einem seiner Diener in Pacht gab, dem einzigen, der ihn aus der Fremde zurück begleitet, sich durch sein mürrisches, verschlossenes Wesen wenig Liebe erwarb und dazu, obgleich ein Deutscher, doch fremd in der Ortschaft war. Wie gesagt, die Leute verwunderten sich über das Glück des Mannes, und die Gunst, in welcher er bei dem Grafen stand, erwarb ihm manchen Neider. Das kümmerte aber den Thomas Werner nicht. In aller Ruhe ließ er seine neue Behausung herrichten, wie man sagte, mehr wie es sich für ein Herrenhaus gezieme, als für einen Bauernhof. Möbel wurden aus der Stadt herbeigeschafft, die Fenster der oberen Zimmer umhüllten sich mit Gardinen, und man wollte von Teppichen wissen, deren Farbenpracht alles im Dorfe Gesehene bei weitem überstieg und sich nur mit denen des Schlosses vergleichen ließ. Das der Thomas diese Vorbereitungen nicht für sich allein traf, versteht sich von selbst; man munkelte allerhand von einer reichen Braut; als aber das Haus fix und fertig war und in all seinem Glanze dastand, kam eines Tages die alte Mutter des Thomas, die keine Seele kannte, ebenfalls aus der Fremde herbei und quartierte sich ganz still bei ihrem Sohne ein. Von einer Braut war keine Spur, weder aus dem Dorfe, noch aus der Fremde; Thomas und seine Mutter lebten fast ganz allein und hielten keinen Dienstboten, als einen blöden Knecht.

Der Graf ritt hinüber und nahm Alles selbst in Augenschein. Otto bat vergebens mitgehen zu dürfen, das Gerede der Leute hatte ihn neugierig gemacht, und Thomas 'barsches Benehmen, als er einst versucht bei ihm vorzusprechen, hatte den Grafensohn arg verletzt und seine Neugierde dabei nur vermehrt. Allein sein Vater war nicht nachgiebiger gestimmt, als Thomas selbst, und wies ihn mit seiner Bitte scharf zurück. Mißmuthig schlich er zu seiner Schwester hinab in den Hof. Leonie saß auf einem Steine, ihre goldenen Haare leuchteten hell im blendenden Sonnenschein, die zierlichen Füßchen berührten kaum die Erde; sie sah mit den schwarzen Augen grade vor sich hinaus in die Weite und lächelte seltsam bei ihres Bruders Mittheilung. Du bist ein Narr! sagte sie nach einer kleinen Pause, und weiter sagte sie nichts. Und doch wusste Leonie besser als irgend jemand, woran sie war. Auch sie war neugierig gewesen, lange bevor noch irgend jemand es war. Und die Hauptsache ist, das die Kinder sie nicht sehen, und niemand erfahre, wer sie ist, hatte sie ihren Vater zu Thomas sagen hören. Leonie hatte besonders scharfe Sinne, und das Gehör stand den andern keineswegs nach. Wer war es, den sie nicht sehen sollte? dessen Dasein der Vater so ängstlich zu verheimlichen befahl? Leonie's kindische Neugierde klammerte sich an dem Gedanken fest und ließ ihn nicht mehr los. Daß Thomas den Waldhof erhielt, daß er so viele unerklärliche Vorbereitungen traf, geschah nicht ohne Grund, das sah auch sie wohl ein; Alle frugen, sie allein war still, aber ihr lärmendes Gefolge trieb sich plötzlich öfter ohne sie herum, und sie hatte ungemein viel um die neue Behausung des Thomas zu thun. Da saß sie denn eines Nachmittags im Grünen, von der dichten Hecke versteckt; im Garten arbeitete Thomas, und seine Mutter half ihm dabei.

Und sie kommt also wirklich morgen schon? frug plötzlich die zitternde Stimme der alten Frau. Leonie's Ohren öffneten sich weit in horchender Erwartung.

Ja, versetzte Thomas kurz, in seiner Arbeit fortfahrend.

Es ist doch hart, fuhr die Mutter fort; was mag sie nur gethan haben?

Was geht's Euch an? fuhr der Thomas auf, wir werden gezahlt sie zu bewachen, wir bewachen sie damit ist's aus für uns!

Aber man mochte doch wissen, was dahinter steckt. Wenn sich die Polizei nur nicht rein mischt! Wenn ich in meinen alten Tagen noch in eine solche Geschichte käme, es wäre schrecklich.

Der Graf wird wissen, was er thut, sagte Thomas mürrisch; morgen Abend kommt sie an, Alles ist fertig, und das Uebrige kümmert uns nicht.

Damit war das Gespräch zu Ende. Leonie horchte noch immer. Nachdenkend ging sie nach Hause und war den ganzen Abend merkwürdig still.

Einige Tage darauf erzählte man im Dorfe, beim Thomas wohne eine schöne, noch junge, fremd aussehende Frau; man hatte sie in seinem Garten auf und ab gehen sehen, während seine Mutter unter der Hausthüre saß und strickte. Als gefragt wurde, wer sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Kopfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, das man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er thun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Athem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das ließ ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hatte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hatte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt, und doch wäre es gut gewesen, hätte er es gesehen; denn wenn sie auch die Worte nicht vernahm, der Auftritt, der drinnen vorging, war in seiner düstern Färbung gewiss nicht für ein Kinderauge gemacht.

Die Fremde war in des Hauses unterer Stube, sichtbar erschöpft, auf einen Sessel gesunken. Thomas blieb an der Thüre stehen, der Graf maß mit langsamen Schritten und gebeugtem Haupte das Zimmer auf und ab. Endlich trat er mit einer raschen Wendung vor die Fremde hin und schlug mit einer entschlossenen Bewegung ihren Schleier zurück. Sie zuckte sichtbar zusammen, dann erhob sie die bleiche Stirn und starrte ihn aus dem abgemagerten Gesicht mit ein paar dunklen, großen, unnatürlich glänzenden Augen an, welche das einzige Lebendige zu sein schienen an der ganzen Gestalt, so regungslos saß sie da. Des Grafen Augen hafteten fest auf den ihrigen, aber es war kein Blick der Liebe, und die Worte, welche diesem Blicke folgten, waren böse Worte. Der Graf war der erste, der das Schweigen brach.

Du weißt, weshalb du hier bist? sagte er in französischer Sprache.

Die bleiche Frau wurde wo möglich noch blässer, und ihr unruhiger Blick suchte scheu im Zimmer umher; doch bald faßte sie sich wieder.

Ihr wollt mich töten, antwortete sie in derselben Sprache; thut es! und ein leiser Schauer durchrieselte ihren Körper.

Immer Dieselbe! sagte der Graf verdrossen; er wandte sich ab und nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder aus. Ihre Augen folgten ihm anfangs mit fieberhafter Anspannung, dann lehnte sie den Kopf zurück, senkte die Augenlieder, und es war, als schliefe sie. Nur wer ihr sehr nahe war, hörte das rasche, beklommene Athem holen ihrer Brust. Endlich blieb der Graf wieder stehen, und sie sah von neuem auf.

Du sollst hier bleiben, sagte er, für deine Bequem - lichkeit ist gesorgt, so viel es sich thun lies; nur die Kleider sollst du wechseln, denn du giltst für eine Verwandte meines Pächters, und Niemand darf ahnen, das dem nicht so ist.

Die feinen, zitternden Hände schlossen sich krampfhaft in einander, und zum ersten Mal zeigte sich ein Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht.

Laßt mich ziehen, sagte sie nach einer kurzen Pause, was habt Ihr hier von mir, wenn Ihr mich nicht töten wollt?

Ziehen? und wohin? frug der Graf.

Wo mich Niemand kennt, wohin mein Name nie gedrungen ist, von wo Ihr nie mehr von mir hören sollt.

Nein, versetzte er düster, die Zukunft meiner Kinder darf nicht der Laune des Zufalls anheimgestellt sein.

Ich werde schweigen!

Er schüttelte nur heftig den Kopf.

So züchtiget mich, wenn ich rede; Ihr habt ja die Mittel dazu! versetzte sie bitter.

Gott behüte mich davor, sie anwenden zu müssen! rief der Graf mit erhobener Hand. Nein, setzte er kalt und fest hinzu, es bleibt Alles wie bisher, und Nichts ist verändert, als dein Wächter und dein Aufenthaltsort.

Mit unaussprechlicher Angst wandten die Augen der Fremden sich vom Grafen auf Thomas, der regungslos an der Thüre stand; doch der Diener schien nichts gehört zu haben, und die Züge des Grafen blieben unbewegt. Sie stöhnte laut auf und barg das bleiche Gesicht in die Hände. Alles war still, der Graf ging wieder auf und ab, endlich, nach einer längeren Pause, fing er wieder an:

Es soll dir nichts abgehen, sprach er in beruhigendem Tone, weiter kam er nicht. Es war, als habe eine Schlange sie gestochen, mit solcher Heftigkeit warf die Fremde den gebeugten Kopf in die Höhe. Da war keine Spur mehr von Angst und Verzweiflung; ein wilder, wüthender Trotz hatte jeden andern Ausdruck verdrängt. Ihre Lippen bebten, ihre schwarzen Haare wallten unordentlich um das bleiche, noch immer schöne Gesicht, und aus den schwarzen Augen blitzte ein stechendes Feuer, vor dem der Graf unwillkürlich erblasste und einen Schritt zurückwich.

Es soll mir nichts abgehen! wiederholte sie in höhnendem Tone. Was gibt es denn, das mir nicht abginge? Das Ihr mich den Athem des Lebens schöpfen lasset, ist das die große Gnade, die Ihr mir gewährt, für mein Glück, für meine Jugend, die Ihr mir genommen, für jeden Schatz des Lebens, den Ihr mir geraubt! Sie ballte leidenschaftlich die Hände und hob sie mit einem irren Lachen. So saget doch, Ihr versteht Euch ja darauf, saget mir, was es noch giebt, das Ihr mir nicht erbarmungslos zertreten habt. Hättet Ihr mich getödtet, es hätte Euch nicht die halbe Freude gemacht.

Ueber des Grafen Augen schien bei diesen Worten eine Wolke zu ziehen. Mit einem furchtbaren Laute des Zornes trat er auf sie zu, faßte sie heftig am Arme und drückte sie auf den Stuhl, von dem sie sich in ihrer Aufregung halb erhoben. Zitternd vor Erschöpfung sank sie darauf zurück, aber mit ungebrochenem Trotze blickte sie noch immer zu ihm auf. Seine Brust hob sich schwer, es rollte darin ein tiefes Ungewitter, doch brach es nicht sogleich los, und ohne das er es wusste, drückten seine Finger dunkle Flecke in den weißen, weichen Arm, den er gefaßt. Warum ich dich nicht getödtet? sagte er endlich leise, aber mit der zermalmenden Kraft, welche allein der höchste Zorn gewahrt; mahne mich nicht daran! ich habe Blut genug gesehen. Unselige! was hast du aus mir gemacht! Sie wandte erbebend das Gesicht von ihm ab; die Besinnung kam ihm wieder und er ließ sie los. Was nützen Worte? fuhr er dann nach einer Weile, dumpf aber ruhig, fort. Vorwürfe machen das Geschehene nicht ungeschehen, und wir müssen tragen, was nicht zu ändern ist. Er schwieg, dann begann er wieder mit lauter, fester Stimme: Nein, Nichts lässt sich ändern; was zu mildern war, habe ich gemildert; martern will ich dich nicht, aber schwören mußt du mir

Glauben Sie noch an Schwüre, Herr Graf? frug sie, den Kopf erhebend, doch ohne ihn anzusehen. An meine Schwüre? setzte sie höhnisch hinzu.

Auch gut, erwiderte er, deine Unkenntnis der Sprache bürgt mir für deine Unschädlichkeit, und allem Übrigen werde ich vorzubeugen wissen. Er trat zur Thüre, die er öffnete, und Thomas 'Mutter, welche draußen gewartet hatte, trat jetzt herein. Sorget für sie, sagte er ihr in deutscher Sprache, auf die Fremde weisend; dann blickte er noch einmal um: Gott behüte dich! sagte er wieder auf französisch. Sie hatte das Gesicht in die Hände gelegt und rührte sich nicht. Er verließ das Gemach und trat in den Garten hinaus. In tiefen Gedanken blieb er hier stehen, die Hand an die Stirne gelegt. Es wird schwer sein, sie zu bändigen, sagte er endlich vor sich hin, als glaube er sich allein.

Sie ist krank, versetzte Thomas, der ihm gefolgt war, sehr krank, die paar Jahre haben schrecklich an ihr gezehrt.

Nichts konnte mir ungelegener kommen, als diese Verheiratung des Arztes; und sie einem Andern anvertrauen nein, das ging auch nicht an! Er schwieg und versank von Neuem in Gedanken.

Wer weiß, wie bald die letzte Lösung kommt, sagte Thomas halb zögernd. Der Graf antwortete nicht. Ihr kennt meinen Willen! sagte er dann, sich gegen seinen Diener wendend.

Sie kennen mich ja, gnädiger Herr. Der Graf nickte, reichte ihm die Hand, und ohne weitere Worte schieden sie.

Im Schlosse angekommen, lief Otto allein dem zurückkehrenden Vater entgegen. Wo ist Leonie? sagte dieser, sich nach ihr umsehend, und jetzt erst wurde das kleine Mädchen vermisst. Man rief und suchte, und die ganze Dienerschaft gerieth in Aufregung. Der Graf runzelte die Stirne und ging mit verschränkten Armen ungeduldig im Hofe auf und ab. Das Fräulein ist gern im Pfarrhause, vielleicht behielt die Pfarrerin sie über Nacht, sagte der Verwalter zu ihm. Man soll hingehen und sie zurückbringen, wenn sie dort ist, befahl der Graf. Da kam der Pfarrer selbst daher, um seinen Gutsherrn bei der Rückkehr zu begrüßen. Das Kind sei nicht bei ihm, versicherte er. Alle sahen sich bestürzt an.

Sie streift gerne herum, meinte der Pfarrer besorgt, sie hat sich wohl gar verirrt.

So müssen wir sie suchen! rief der Graf und schritt selbst nach dem Stalle, aus welchem schon sein Pferd vorgeführt ward. Alles lief hin und her, Otto wollte mit, und der Pfarrer hielt ihn nur mit Mühe zurück. In dieser Unruhe trat plötzlich Leonie, erhitzt und athemlos, unter das Thor des Hofes. Sie erblaßte, als sie in dem Gewühle ihren Vater hoch zu Pferde sah. Sie hatte gehofft, vor ihm nach Hause zu kommen, aber hat der Eile und der Dunkelheit einen Pfad mit dem andern verwechselt. Der Graf sprang vom Pferde und trat zu ihr: Wo warst du? sagte er, seine Hand fest auf ihre Schultern legend.

Sie sah mit den unergründlichen Augen zu ihm auf: Ich war spazieren, antwortete sie mit zitternder Stimme, die jedoch fester wurde in dem Maße, als sie ihre Fassung wieder gewann; ich war spazieren im Felde und verlor den rechten Weg.

In des Grafen Brust stieg in diesem Augenblicke eine Wallung gegen das Kind an, als könne er es zerdrücken; er fühlte, das seine Hand schwerer wurde auf ihrer Schulter, und er zog sie unwillkürlich zurück.

Solche Irrfahrten kannst du ein andermal unterlassen, sagte er kalt und wandte sich ab.

Wie ein Pfeil schoss sie von ihm fort und athmete erst in ihrem Zimmer wieder frei auf.

Was weiter geschah, haben wir schon erzählt. Des Dorfes Neugierde wurde rege, und Otto blieb natürlich nicht frei. Als alle seine Fragen von Thomas nichts herausbrachten, als einige Grobheiten, die dem Grafensohn schwer zu verdauen waren, wandte er sich endlich um Erklärung an seinen Vater selbst.

Wer ist die fremde Frau, die bei dem Thomas wohnt? frug er ihn eines Tages mit der ihm eigenen Offenheit, die einen der besten Züge in seinem guten, liebenswürdigen Charakter bildete.

Kümmere dich nicht um fremder Leute Angelegenheiten, war des Grafen barsche Antwort.

Allein Otto war des Vaters Liebling und hatte allen Muth eines solchen.

Die Leute sagen aber, das du sie kennst, Papa, fuhr er unerschrocken fort.

Diesmal erblasste der Graf und wandte sich so jählings gegen den Knaben, das dieser zusammenfuhr.

Hörst du noch nicht mit dieser Dummheit auf? rief er zornig. Und höre, fuhr er fort, indem er sich bezwang, der Thomas beklagt sich, das du sein Haus umlagerst wie ein Dieb und ihm beständig auf dem Halse liegst; wenn mir noch etwas dergleichen zu Ohren kommt, so werde ich mich erinnern, wo unser Herrgott die Ruthe hat wachsen lassen, das merke dir!

Er verließ das Zimmer, und Otto's Stirne zog sich trotzig zusammen; des Thomas Angeberei lenkte indessen seine Gedanken von des Vaters unerklärlicher Heftigkeit ab.

Der Thomas ist ein gemeiner Kerl, sagte er ärgerlich, in meinem Leben schaue ich ihn nicht mehr an.

Leonie hatte scheinbar unbekümmert dem Auftritt beigewohnt; auch jetzt sagte sie nichts, aber in ihrem Herzen wühlte es und ließ ihr keine Ruhe. Was war es denn, was der Vater, zu dem sie stets nur mit tiefer Scheu, wie zu einem höheren Wesen, unfehlbar in seiner unerbittlichen Streng, aufgeblickt, was war es, das er so sorgfältig, ja in dem Grunde ihrer Gedanken lag das Wort unausgesprochen: wie ein Verbrechen verbarg?

Ich muss doch dahinter kommen, sagte sie sinnend. Aber es war schwerer, als sie geglaubt.

Eines Tages war sie mit Otto im Walde.

Wir müssen heim, sagte er, es wird spät Oh, wir können den kürzeren Weg nehmen, meinte Leonie.

Dann müssen wir beim Thomas vorbei, und das thue ich nicht.

Der Thomas ist aber nicht zu Hause; ich hörte gestern wie die Leute sagten, er gehe heute nach der Stadt.

Das ist mir einerlei, war Otto's resolute Antwort.

So gehe ich allein, versetzte Leonie schnippisch.

Du weißt, der Vater hat's verboten, und ich sag's ihm, wenn du gehst.

Mir hat er's nicht verboten, erwiderte Leonie in gereiztem Tone. Aber du weißt, er mag mich nicht, und da freust du dich, wenn du mir einen Verdruss machen kannst.

Damit war nun freilich Otto geschlagen. Sein gutes Herz litt unter der größeren Liebe des Vaters, die er als eine Ungerechtigkeit gegen die Schwester empfand; aber sein Nachgeben zeigte sich nicht auf eine freundliche Art.

Du bist eine rechte Katze, sagte er ärgerlich und sah sie zornig an. Meinetwegen! thue was du willst. aber mit dir gehe ich nicht, und wenn's der Vater erfährt, so ist's meine Schuld nicht, wenn er dir ein Wetter macht.

Ich will nur den kürzeren Weg gehen, um schneller daheim zu sein, und das ist nichts Böses, versetzte sie still.

Er entfernte sich langsam; bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um. Kommst du? rief er ihr zu.

Sie hatte sich niedergesetzt. Nein, sagte sie, und er ging fort.

Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand sie auf, horchte ein wenig und schritt dann leichtfüßig und froh den Weg dahin, der zum Waldhof führte; dort angekommen, ging sie langsamer; sie sah um sich; es war um die Mittagszeit und kein Mensch war auf dem Felde zu sehen. Sie näherte sich der Hecke des Gartens und blickte hindurch. Auch hier war Alles verlassen, die Fenster geschlossen, die oberen mit weißen Vorhängen umhängt. Ihr Herz klopfte ein wenig; sie dachte, die fremde Frau könne plötzlich hervortreten und wirklich eine Wahnsinnige sein. Sie dachte an Thomas, an dessen Mutter, die sie sehen konnte, an ihren eigenen Vater, an seinen Zorn, den sie mehr als Alles fürchtete, und sie war nahe daran, die Rückkehr nach Hause in Wahrheit anzutreten, aber die Neugier überwand doch jede Furcht. Ich will nur ein wenig ausruhen, sagte sie und setzte sich. Sie war ermüdet, die Sonne brannte, sie neigte den Kopf zurück, und bevor sie sich's versah, war sie eingeschlafen. Ein leises Geräusch weckte sie. Sie schlug die schweren Augen auf; durch die mühsam zurückgezogenen Zweige der Hecke schimmerte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, aus dem zwei dunkle, weitgeöffnete Augen mit einem fast irren Blick unverwandt auf das zarte, kleine Wesen sahen. Es war die Fremde. Leonie sprang auf. Ihre erste Empfindung war ein überwältigendes Entsetzen, ihre erste Bewegung war eine Bewegung zur Flucht. Aber rasch wie ein Gedanke fuhr eine weise, durchsichtige Hand, sich blutig ritzend, durch die Dor - nen der Hecke und hielt das erschreckte Kind am Kleide fest.

Bleibe! sagte eine süße, leise Stimme in der sanften Sprache, die sie so lange nicht mehr gehört, und die wie ein halbvergessener Traum nur noch in seltenen Nachklangen durch ihre Seele zitterte. Wieder siegte die Neugierde, sie blieb stehen und wandte sich der Fremden zu.

Wer bist du? Wie heißest du? frug diese jetzt, und ihre zweite Hand, ebenfalls durch die Dornen gestreckt, erfasste mit zitternder Hast des Mädchens kleine, halb widerstrebende Hand.

Ich heiße Leonie und bin des Grafen Tochter, dem das Gut gehört.

O komm näher! Las dich anschauen! bat die Frau und zog sie mit beiden Händen dichter an die Hecke heran. Ihre durstigen Augen hing sie an dem feinen, in wechselnder Bewegung erröthenden und erbleichenden Gesichtchen fest. Kein Zug, murmelte sie halblaut, kein einziger Zug! Ein düsterer Ausdruck voll Schmerz und Trauer, aber ohne Weichheit, zog über ihr Gesicht und überdeckte es mit einer noch tieferen Blasse. Wo ist dein Bruder? frug sie plötzlich, wie sich besinnend.

Er wollte nicht kommen, der Vater hat's verboten, sagte Leonie.

Und da kommt er auch nicht?

Nein, er fürchtet sich.

O er ist seines Vaters rechtes Kind! sagte die Frau mit einer Bitterkeit, die nicht ohne Verachtung war. Sie schwieg eine Weile. Hat er dir's auch verboten? frug sie dann.

Die Röthe der Scham schlug unwillkürlich auf in Leonie's Gesicht. Ich habe nicht gefragt, sagte sie zögernd und erwartete fast einen Verweis.

Die Frau betrachtete sie aufmerksam einen Augenblick. Liebst du deinen Vater? frug sie dann.

Leonie stockte darüber hatte sie noch nicht nach - gedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.

Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön man sieht jetzt nichts mehr davon. Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!

Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.

Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er hüte dich vor Ihm hörst du? Er kennt kein Erbarmen! > Aber du wirst mich rächen! O siehst du die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist!

Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.

Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.

Ich ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf 'nicht wissen, daß ich da war.

In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese sich von ihrem Schrecken erholt, stand er schon neben ihr. Er blickte über die Hecke, und als er das zitternde Mädchen auf der anderen Seite stehen sah, zog sich seine Stirne in wunderbar krause Runzeln zusammen; doch er nahm die Mütze ab, und seine Rede war höflich, wenn auch fest. Gnädiges Fräulein, sagte er, es schickt sich nicht, so heimlich herzukommen wider den Willen Ihres Vaters und mit Leuten zu reden, die ihren Verstand nicht bei sich haben, und in deren Nähe man keinen Augenblick sicher ist.

Ich ging vorüber, da rief sie mich an, sagte Leonie, in deren Leben die Großmut nur dann eine Rolle spielte, wenn sie deren von Anderen bedurfte. Sie wandte sich ab und ging. Den ganzen Tag stand sie in der Erwartung eines strengen Verweises von ihrem Vater; sie studierte sein Gesicht; aber es war nicht anders als sonst. Am folgenden Morgen erhielt sie den Befehl, mit der Pfarrerin, welche dort eine Schwester besuchen wollte, nach der Stadt zu fahren. Leonie's Augen öffneten sich weit; das Vergnügen, das ihr geboten ward, kam ihr weniger gelegen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie dachte an die Fremde und saß lange schweigend in dem Wagen neben der ebenfalls schweigenden Pfarrerin. Plötzlich fuhr sie aus ihrer Träumerei auf. Was ist Klugheit? fragte sie die Pfarrerin.

Dieser war die Unterbrechung nicht gerade angenehm. Sie hatte in der Stadt sehr viel vor, theils im Auftrage des Grafen, theils für sich selbst, und in Gedanken ging sie eben die Mittel und Wege durch, sich ihrer verschiedenen Verpflichtungen zu fremder und eigener Zufriedenheit zu entledigen. Sie antwortete daher so kurz sie konnte, was sie einmal von ihrem Manne gehört: Klugheit ist, immer das Rechte zu thun zur rechten Zeit.

Leonie dachte ein wenig nach. So jung sie war, wusste sie doch manchen Fall, wo das Rechte thun dem Thäter übel bekommen war; aber dann lag es vielleicht daran, weil er die rechte Zeit nicht abgewartet.

Wann ist die rechte Zeit, das Rechte zu thun? fuhr sie fort.

Immer sagte die Pfarrerin. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Wenn wir aber Verdruss davon haben, das Rechte zu thun?

Man muss es dennoch thun.

Aber warum?

Weil Gott es befohlen hat.

Aber warum hat er es befohlen?

Weil es so recht ist.

Aber warum ist es recht? fuhr Leonie, die nicht aus dem Kreise heraus kam, zu fragen fort.

Weil Gott es befohlen hat, ist es recht.

Aber er hätte auch das Gegentheil befehlen können, war des Mädchens kecker Schluss.

Kind, rede nicht so gottlos, sagte die fromme Frau, die an dem Ende ihrer theologischen Weisheit angelangt war und in ihre früheren Gedanken versank. Aber in Leonie's regem Geist blieb die ungelöste Frage und beschäftigte sie, bis sie an dem Orte ihrer Bestimmung aus dem Wagen stieg.

Hier indessen schwanden die letzten Eindrücke sehr bald vor den Überraschungen, die sie erwarteten, und die für Leonie den vollen Reiz der Neuheit besaßen. Die Frau Pfarrerin hatte Auftrag bekommen, dem kleinen Fräulein eine standesmäßige Toilette zu verschaffen, und die etwas rohen Stoffe, die bis jetzt ihre Garderobe ausgemacht, wurden durch die feinen und glänzenden Gewebe ersetzt, mit welchen der Luxus seine Auserkorenen bedeckt. Niedliche kleine Schuhe umschlossen die zierlichen Füschen, durch welche zwar das herumsteigen in Feld und Wald, wie es ihnen bis jetzt eigen gewesen, so ziemlich zur Unmöglichkeit gemacht wurde, die aber Leonie's eitles Mädchenherz schnell genug durch ihre Zierlichkeit zu versöhnen versprachen. Auch hatte die Frau Pfarrerin Erlaubnis, Leonie einige Mal in's Theater zu führen, und so flogen die paar Wochen, die der bezaubernde Aufenthalt dauerte, wie ein seliger Traum dahin.

Die Überraschungen, die sie bei der Rückkehr auf dem Schlosse erwarteten, waren indessen weniger angenehmer Art. Leonie erstaunte nicht wenig, als ihr in dem Salon, zu dem sie hinaufging, ihren Vater zu begrüßen, eine ältliche Dame entgegentrat, die ihr der Graf als ihre Gouvernante vorstellte, und welcher er die volle Macht einer Mutter auf das erschrockene Mädchen übertrug. Als sie sich nach Otto erkundigte, erfuhr sie, er sei fort, auf die Schule geschickt, und erst nach Monaten werde sie ihn wiedersehen. Auch eine Kammerfrau war angenommen worden, deren besondere Aufgabe es war, das Fräulein auf ihren Spaziergängen zu begleiten; wenn Fräulein Bertold einmal daran verhindert wurde und Leonie glaubte, ja einmal den günstigen Moment zu erhaschen, um unbemerkt aus dem Schlosse zu entwischen, so eilte stracks ein baumlanger Bediente nach, welcher der kleinen Dame unterthänig Schirm und Überwurf trug.

Und so ging denn Leonie in ihren kostbaren Kleidern und eleganten Schuhen allem Zwang entgegen, der das gewöhnliche Erbtheil der Kinder der privilegierten Kaste ist, und der für Leonie, nach der Freiheit, die sie bis dahin genossen, nur eine erhöhte Marter war.

Sie wußte jedoch, daß ihres Vaters Wille unwiderruflich sei; ihr Widerstand, wenn sie einen wagte, durfte nur ein verborgener sein, und so fügte sie sich mit scheinbarer Gelassenheit in ihr verändertes Geschick und rächte sich so gut sie konnte für die beständige unleidliche Aufsicht durch ein unruhiges, trotziges Wesen, bei dem ihre Studien nur wenig Fortschritte machten.

Fräulein Therese Bertold war indessen keine ge - wöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studieren, sie hatte sie wirklich studiert, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verärgern? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benutzen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.

Es war das zweite Mal, das Leonie die Klugheit rufen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, das ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth.

Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum.

Klugheit, erläuterte Fräulein Bertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken.

Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.

Und kann man Klugheit lernen? fuhr sie mit plötzlichem Interesse zu fragen fort.

Zum Theil kann man sie lernen, zum Theil mus sie freilich eigene Begabung sein; auch gehört ein großer Verstand dazu, immer deutlich zu unterscheiden, was man zu thun und zu lassen hat. Aber anmuthige Manieren und ein feiner, gebildeter Geist erleichtern die Sache sehr und sichern uns überall ein Uebergewicht.

Leonie war nachdenklich geworden und guckte in Gedanken hinaus. Ihr Vater kam so eben in den Hof herein gesprengt. Da ist mein Vater, dachte sie; wäre ich klug, so thäte er Alles, was ich will. Mit Otto und den anderen Knaben ist es leicht genug; nur mit dem Vater ist es schwer. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah träumerisch vor sich nieder.

Von nun an war es nicht mehr nöthig, Leonie zum Lernen anzuspornen. Sie kam selbst mit Büchern und Zeichenmappe; keine Arbeit war ihr zu schwer oder zu langwierig, und mit einer wunderbaren Begabung ausgestattet, überwand sie leicht jede Schwierigkeit. Sie befliß sich eines ernsten Ganges, und die früheren Vertraulichkeiten mit der Dorfjugend schienen bis auf die letzte Spur aus dem Gedächtnis des kleinen Fräuleins verwischt. Fräulein Bertold hatte sich nicht getäuscht und erntete überall bei den wenigen Nachbarn, die Zeuge von der Umwandlung ihres Zöglings waren, viel Lob und Ehre ein. Nur in dem Grafen selbst brachten die glänzenden Fortschritte seines Töchterchens keine Änderung hervor; er blieb still und kalt wie immer und verfolgte die rastlose Thätigkeit des Mädchens mit demselben räthselhaft forschenden Blicke, mit dem er einst den Spielen des Kindes zugesehen.

Von Thomas und seinem Hause, so wie von der fremden Frau war nicht mehr die Rede. Leonie war seit jenem Nachmittage nicht mehr hingekommen. Fräulein Bertold wich nicht von ihrer Seite; aber seitdem blinder Gehorsam gegen ihren Vater eine Triebfeder ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.

Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröthe der Jungfräulichkeit übergoß ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.

Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Bertold's Leitung ihre seinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem früheren Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.

Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, das sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.

Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von andern Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besonderen Anstoß, zu trotzen.

Auch heute stand der Lehnstuhl der Kranken neben dem Fenster, auch heute starrten ihre Augen in heißer Sehnsucht in die herbstgefärbte Landschaft hinaus. Der Arzt war gekommen und fortgegangen. Diese Nacht werde wohl die letzte sein, hatte er unten zu Thomas gesagt und eben schob dieser die schweren Riegel hinter dem Fortgehenden zu. Da schlich seine Mutter sacht aus dem Krankenzimmer zu ihm herab, um den letzten Ausspruch des Arztes zu vernehmen. Oben bei der Sterbenden blieb nur ein halberwachsenes Kind, eine arme Waise, welche Thomas zu sich genommen, um der Mutter in der Pflege der Kranken beizustehen.

Es war ein eingeschüchtertes, scheues Wesen, das in der unheimlichen Stille des Hauses kaum eine Bewegung zu machen oder ein lautes Wort zu sprechen wagte. Denn die alte Frau hatte die Gemüthlichkeit, die sie zu Anfang mitgebracht, in ihrem Wächteramte längst verloren, und Thomas war mürrischer als je. Selbst für ihn war es ein trauriges Schauspiel, die gequälte, noch immer schöne Frau so Zoll für Zoll absterben zu sehen, und es ist kein Wunder, wenn die Zeit ihm lange währte, bis sie die letzte Erlösung fand.

An jenem Kinde nun hatte die Frau in aller Stille sich eine Bundesgenossin gemacht. Wort für Wort, ohne das Jemand darum wusste, hatte sie von ihr so viel von der deutschen Sprache gelernt, als sie bedurfte, um sich verständlich zu machen, um zu hören, was um sie her gesprochen wurde, obgleich niemals eine Miene in ihrem Gesichte verrieth, das sie den Inhalt der Gespäche verstand.

Geräuschlos war die Thüre in das Schloss gefallen, und der schleppende Gang der alten Frau war auf der Treppe verhallt. Die Lampe brannte auf dem Tische; in der Ecke saß das Mädchen mit rothgeweinten Augen angstvoll zusammengedruckt und rührte sich nicht. Da erhob sich die Sterbende langsam aus ihrer liegenden Stellung, und mit einer gebieterischen Gebärde winkte sie die Kleine herbei.

Jetzt geh! jetzt ist es Zeit! sagte sie.

Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.

Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.

Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst Ich darf nicht! Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue!

Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? und ich habe Niemand zu schicken, als dich und ich sterbe ich sterbe! Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt!

Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich aufgesprungen.

Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will.

Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus.

Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Bertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Akkorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! Otto liebt das Landleben ja freilich er ist immer in der Stadt! Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! Trab trab ein Tag wie der andere. Das ewige Einerlei bringt mich noch um. Der Vater und Fräulein Bertold Fräulein Bertold und der Vater die Bertold ist langweilig sie sagt, ich sei schon das weiß ich ohne sie, aber was nutzt es mir hier? Mit dem Vater kann ich einmal nichts machen ich habe die Hoffnung aufgegeben. O diese ewige Verstellung und wozu? Er glaubt mir doch nicht! Die Bertold schau 'ich durch und durch, die hab' ich auswendig gelernt, sie wartet auf eine Pension. O hätte sie sie doch und ließe mich in Ruhe! Dann die Frau Pastorin die ist gut wenigstens ich glaube auch, sie hat mich lieb das ist aber Alles alt, und was geht's mich an? Es ist doch nicht, was ich will und was ich will, das ist nicht hier in diesem alten Loche von der Bertold kann ich nichts mehr lernen was sie weiß, weiß ich jetzt auch sie sagt, ich sei eine ganze Dame O Welt wann öffnest du dich mir?

Hier sanken die Hände wie erschöpft von den Tasten herunter, und Leonie's Kopf senkte sich auf das Klavier. In demselben Augenblicke klopfte, es an die Thüre. Leonie erhob sich rasch, Langeweile und Abspannung waren aus ihren Zügen verschwunden, ein Lächeln spielte um den Mund. Herein! rief sie; die Thüre öffnete sich, und athemlos und weinend erschien Tine auf der Schwelle.

Des Fräuleins Gesicht überflog ein Ausdruck von Überraschung und leichtem Missvergnügen, aber Tine war zu aufgeregt, um es zu bemerken.

Ach, Fräulein, rief sie hastig und zog die Thüre vorsichtig hinter sich zu, verrathen Sie mich nicht, um Gottes willen! Die wahnsinnige Frau bei meinem Onkel Thomas liegt im Sterben und will Sie durchaus sehen.

Ueber Leonie's bewegliche Zuge flog ein neuer Wechsel, reine Verwunderung war das Erste, dann blitzten ihre Augen auf, und ihre erste Bewegung war ein Schritt nach der Thüre. Doch plötzlich hielt sie inne und überlegte einen Augenblick. Freilich war sie der Lösung des Räthsels nahe, die sie einst mit so leidenschaftlicher Gier gesucht aber würde ihr Vater nicht erfahren, wo sie gewesen? würde er selbst vielleicht in dieser letzten Minute die Frau nicht sehen wollen, für welche er ein so reges, wenn auch feindseliges Interesse an den Tag gelegt? Sie schwankte und wandte sich unschlüssig wieder ab.

Mit einem angstvollen Blick folgte Tine jeder ihrer Bewegungen. O Fräulein! bat sie wieder; doch Leonie hörte sie nicht, ihre Gedanken schlugen eine andere Wendung ein. Und sollte sie einer einfachen Möglichkeit wegen, die vielleicht nicht in Erfüllung gehen wurde, die Gelegenheit aufgeben, die einzige, die sich nie mehr bieten wurde, dieses Räthsel endlich aufgeklärt zu sehen? O dieses Räthsel, mit dem das Leben ihres Vaters vielleicht so eng verflochten war, dieses Vaters, der nie einen freundlichen Blick für sie gehabt und sie sollte nicht erfahren, was er so heimlich vor der Welt verbarg? Sie sollte nicht wissen, aus welchem dunklen Grunde die Wurzel dieses Thuns entsprang? Und warum? Wegen einer Möglichkeit, die vielleicht nicht in Erfüllung ging; und wenn auch! dachte sie; die flüchtige Erregtheit wich einer leichten Blässe, und ihre Züge sammelten sich nach und nach in einen Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit wenn auch ist es mir erlaubt, die Bitte einer Sterbenden abzuschlagen? Was ist es mehr? Und tödten kann er mich doch nicht.

Rasch warf sie ein Tuch um Kopf und Schulter, und den nächsten Augenblick schon eilten sie Beide dem Waldhofe zu. Um dieselbe Stunde schlug Thomas bedächtigen Schrittes den Weg nach dem Schlosse ein.

Seine alte Mutter indessen, nachdem sie seinen Bericht mit manchem Seufzer und bedeutsamem Achselzucken entgegengenommen und, sich auf Tine's Treue verlassend, außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Raumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich auf die Jugend doch gar nicht verlassen. Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.

Das Mädel muss wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war; wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen.

War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Überraschung an ihr nieder auf die Knie glitt.

Unterdessen hatte sich die alte Bäuerin allmählich von ihrem Staunen erholt; der strenge Befehl des Grafen fiel ihr ein und zugleich die Angst für ihren Sohn. Ach, Fräulein Leonie, wo kommen Sie her? jammerte sie und faßte des Fräuleins Arm mit ihren zitternden Händen, sie wo möglich von der Kranken wegzuziehen. Herr Gott! was wird der Herr Graf sagen! Ach, gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir und meinem Sohne, der nicht zu Hause ist! Aber mit einer ungeduldigen Gebärde machte Leonie sich von ihr los, und rathlos sank die alte Frau auf ihren Stuhl zurück.

Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Knie gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küsste sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt.

O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen.

Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. Er war es auch. O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Überfluss, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! Sei es aber vergiss deine Mutter nicht!

Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloss die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden.

Düstere Gedanken schienen bei dieser die Auswallung der ersten Freude nach und nach zu verdrängen; die dunklen, geisterhaften Augen öffneten sich von Neuem und hefteten sich mit verzehrendem Feuer auf die bebende Leonie. Fürchte dich nicht, sagte sie endlich, und ihre Stimme klang hohl, sieh mich an die Minuten sind mir gezählt sieh deine Mutter an, bevor du sie auf ewig verlierst. Deine Mutter, die der langen Marter endlich erliegt. Ja, auch ich war einst schön und jung wie du, aber es war Einer da, der stärker war als ich und der mich zertrat, bis ich das geworden bin, was du jetzt an mir siehst. Aber du wirst mich rächen; Jahrelang habe ich nach diesem Augenblicke gelechzt, daß ich nicht sterben konnte ohne ihn. Und du bist mein eigen Kind ich habe mich nicht getäuscht, und dein soll die Rache sein, das ich mich noch im Grabe freuen kann! Schwöre deiner Mutter, daß du sie rächen willst! Schwöre! wiederholte sie fast tonlos und mit drohend erhobenem Finger, als das junge Mädchen sprachlos und bleich mit großen, schreckenvollen Augen zu ihr aufsah! Da wurde die Thüre aufgerissen. Leonie! rief es laut, und ein gleichzeitiger Schrei der drei Frauen gab Antwort auf den Ruf. Es war der Graf, der eingetreten. war. Leonie! wiederholte er, und in seinem Tone rangen Zorn und Schrecken um die Oberhand. Rasch ging er auf sie zu, aber mit einem wüthenden, Blicke warf sich die Kranke in die Höhe und schlug beide Arme über das junge Mädchen zusammen. Was willst du? rief sie, Diese ist mein, du hast keinen Theil an ihr.

Dein Platz ist nicht hier, Leonie, sagte jetzt der Graf mit wiedergewonnener Ruhe; entferne dich.

Mechanisch erhob sie sich, um zu gehorchen; aber es war nur ein flüchtiger Augenblick, und wenn der Graf die düstere Leidenschaftlichkeit dieser verschlossenen Natur nicht in ihrem richtigen Maß schon früher erkannt, so bot sich ihm jetzt die Gelegenheit dazu. Regungslos stand sie vor ihm und sah ihm zum ersten Male furcht - los in die Augen in einem starren, finsteren Trotze, in dem ihre zarte Gestalt weit über natürliche Größe emporzuwachsen schien. Ich bleibe! sagte sie leise, aber fest. Ein heiseres Lachen klang durch das Zimmer; es war die Kranke, die triumphirend zu dem Grafen hinübersah.

Seine Augen blitzten, und eine dunkle Rathe bedeckte seine Stirne. Doch noch einmal bezwang er sich, er trat dem Lehnstuhle näher, in welchem die Kranke lag, und legte seine Hand auf Leonies Haupt.

Ich werde sie beschützen, selbst gegen dich, sagte er. Was du ihr sagen willst, passt nicht für ein so junges Ohr. Er sah nur den Blick der Kranken, es war ihre einzige Antwort, aber dieser Blick war eben so lauernd, entschlossen und kalt, als er ihn nur je in der vollen Kraft des Lebens an ihr gesehen. Einen Augenblick dachte er daran, das Mädchen mit Gewalt fortbringen zu lassen, aber eben so schnell gab er den Gedanken wieder auf. Seine Gestalt hob sich hoher, sein zürnender Blick begegnete fest dem ihrigen.

Gut, so werde ich reden, fuhr er mit langsamer Betonung fort, und dann wähle zwischen mir und dir. Da ging eine merkwürdige Veränderung mit der Kranken vor; ihr Auge schien vor dem des gehassten Mannes zurückzuweichen, das stechende Feuer, das ihn daraus angeglüht, erlosch nach und nach, sie schlug die bleichen Hände zitternd vor das Gesicht. Geh, hauchte sie fast tonlos, geh, Leonie, es ist besser so! und sie zog sich immer tiefer in den Lehnstuhl zurück, als schauere sie vor einem entsetzlichen Gebilde ihrer Phantasie.

Zögernd blickte das junge Mädchen zu ihr auf. Da trat der Graf hinzu, hob sie fast mit Heftigkeit von der Erde, zog sie zurück und hielt sie an seiner Seite fest. Die Augen der Sterbenden folgten ihm mit einem furchtbar angstvollen Blicke. Jetzt wendete er sich wieder zu ihr.

Du hast keinen Priester sehen wollen, daß er die Qualen deiner Seele zur Ruhe spreche, obgleich ich dich wiederholt darum bitten ließ. Nun bin ich selbst gekommen, dir ein Wort der Versöhnung mitzugeben in die letzte Heimath, zu welcher du nun gehst. Möge der Himmel dir ein milder Richter sein! Du weißt, ich habe dir längst verziehen.

Da blitzten die Augen der Unglücklichen zornglühend aus. Ich will keine Verzeihung, schrie sie laut, daß es in dem Zimmer widerhallte und Jeder entsetzt von ihr zurückwich, was habe ich mit dem Himmel zu thun? Was brauche ich deine Verzeihung? Ich fühle keine Reue was ich that, ich thäte es wieder. O, daß es nicht gelungen ist! Jede Freude hast du mir genommen, jede Lust des Lebens hast du mir zerstört. Fluch dir! Fluch Allen, die in meinem Wege standen! Weg mit deiner Verzeihung! Dem Schicksal fluche ich, das mich zertrat und Rache Rache ja, Rache Die Kräfte versagten ihr, und sie sank bewusstlos zurück. Auf ein Zeichen des Grafen wurde Leonie halb ohnmächtig hinausgebracht.

Er ließ einen Wagen kommen und fuhr mit ihr nach dem Schlosse zurück. Noch bevor er das Haus verließ, war Alles beendet, und die unglückliche Frau hatte die Ruhe gefunden, die ihr auf dieser Erde so lange Zeit gefehlt.

Gleich nach ihrer Rückkehr auf das Schloss zog sich Leonie in ihr Zimmer zurück. Kein Wort war seit dem furchtbaren Vorgang über ihre Lippen gekommen; sie schüttelte verneinend den Kopf, als der Graf ihr rieth, die Kammerfrau bei sich wachen zu lassen, und er kam selbst ein paar Mal während der Nacht, nach ihr zu sehen. Aber sie lag, ohne sich zu rühren, und er erhielt weder Blick noch Wort. Die Einsamkeit und Stille der Nacht thaten ihr wohl. Alles brannte und tobte in ihr, und der Schritt ihres Vaters ging wie ein scharfer Messerstich durch ihr Gehirn. Dennoch saß sie am folgenden Morgen angekleidet und äußerlich gesammelt, als wäre Nichts geschehen, an ihrem Platze bei dem Frühstücktisch. Der Graf machte keine Bemerkung, nur sagte er nach dem kurzen Mahle: Ich habe mit dir zu sprechen, und schweigend folgte sie ihm auf sein Zimmer. Setze dich! sagte er, und sie gehorchte seinem Befehl. Ihr gegenüber nahm er Platz.

Es sind diese Nacht Dinge vorgefallen, sagte er mit einem tiefen Ausdruck von Ernst, Trauer und Besorgnis, wie Leonie nie an ihm gesehen, es sind Dinge vorgefallen, die zu verhindern seit Jahren mein stetes Bemühen war. Welchen Eindruck sie auf dich gemacht, ist mir nicht möglich zu ermessen, und ich kenne dich genug, um zu wissen, daß es nutzlos, wäre, dich darüber zu befragen. Dir die Gründe meines Betragens auseinander zu setzen, ist mir nicht möglich, und für dich konnte es nur schädlich sein. Ich mußte so handeln, wie ich handelte, und das schreckliche Ende der unglücklichen Frau, die dir das Leben gab, sagt dir deutlich genug, das die Schuld nicht auf meiner Seite ist.

Leonie antwortete nicht.

Der Graf fuhr nach einer Pause fort: Da der Aufenthalt auf diesem einsamen Schlosse mir jetzt nicht rathsam für dich erscheint und deine Ausbildung überdies einer größeren Vollendung bedarf, als Fräulein Bertold allein sie dir mittheilen kann, so ist es meine Absicht, schon morgen mit dir nach B. abzureisen. Halte dich also zu früher Morgenstunde bereit. Fräulein Bertold wird uns begleiten. Du kannst gehen.

Leonie erhob sich, und nach einer Verbeugung, die der Graf nur kalt erwiderte, entfernte sie sich aus dem Gemach.

So war also ihr sehnlichster Wunsch erfüllt, bevor sie dessen Erfüllung nur möglich geglaubt. Sie sollte in die Welt, diese zauberhafte Welt, von deren Wundern Fräulein Bertold zu erzählen pflegte, den Eifer ihrer Schülerin anzufachen, auf jener glänzenden Bühne die eigene Rolle einst mit Ehre zu bestehen. Was ging in Leonie vor, während sie da, auf ihrem Bett sitzend, unter dem Wortschwall der entzückten Gouvernante die träumerischen Augen durch das Zimmer gleiten ließ, das sie durch so viele Jahre mit ihren heißblütigen Träumen und Plänen in verschwiegener Treue beschirmt? War es die Trauer des Scheidens, die sich nun im letzten Augenblicke über ihre Seele stahl? Nein, Trauer war es nicht. Auch Freude konnte man es nicht nennen, wenigstens nicht jene Freude, die sie sich so oft vorgespiegelt empfinden zu müssen, brache dieser Tag des Scheidens jemals für sie an. Zu viel bittere Gefühle mischten sich darein. Die Entdeckung dieser Nacht, das Bewusstsein, daß der Riss zwischen ihr und ihrem Vater dadurch unheilbar geworden und keine Verstellung von ihrer Seite jemals genügen könne, ihn auszufüllen; die Empfindung trotzigen Hasses, welche aus diesem Bewusstsein und dem Schicksal ihrer Mutter entsprang und, nur von Angst und Grauen gedämpft, sich scheu unter einen anderen Namen verkroch, und zu welchem die frühere Entfremdung nur zu sehr den Weg gebahnt, das Alles lag dumpf auf ihrem Herzen und übertönte die lockende Stimme in ihr, die so leidenschaftlich nach Glanz und Vergnügen schrie.

Und doch mischte sich darin kein Schmerz um jene Mutter, die, kaum gefunden, ihr fast in demselben Augenblick unwiederbringlich durch den Tod entrissen war. Leonie bedurfte einer Mutter nicht. Die Weichheit, die in der Brust fast jeden Weibes nach einer festeren Stütze begehrt, fehlte in ihrem Charakter, oder war wenigstens längst in ihr erfüllt. Fast schneller noch als die kleinen Füße, die sie so leicht und stark über jedes Hindernis trugen, das ihr im Wege lag, hatte ihr Geist allein gehen gelernt, und keine Hand der Liebe hatte ihn dazu geführt. Und nach der ersten Aufwallung war nichts in ihr geblieben, als ein düsteres dritten, ein staunendes Entsetzen über das, was ihr Vater gethan. Was konnte er nicht Alles noch thun, wenn er das im Stande gewesen! Und hatte auch, wie sie es aus den halben Äußerungen Beider zu entnehmen glaubte, ihre Mutter die größte Sunde begangen, die ein Weib, dem Manne gegenüber, begehen kann; hatte dieser Mann darum das Recht, sie zu einem solchen Leben zu verdammen? Ein Leben, das nur ein langsames Sterben war! O lieber, viel lieber ein schneller Tod! Und Leonie, die den Werth der Freiheit kannte, weil sie ihrem inneren, zügellosen Wesen höchstes Bedürfnis war, schauderte, tief in sich zusammengeschmiegt.

Sie stand auf, ließ sich ankleiden, ging auf und ab und setzte sich wieder, bald hier, bald dort. Die Unruhe ihres Herzens ließ sich nicht beschwichtigen. Fräulein Bertold erzählte; die Kammerfrau weinte, die Heimat zu verlassen, und lächelte zwischen ihren Thränen, denn sie dachte doch auch an die mancherlei Zerstreuungen, die das Stadtleben bieten würde, und für welches sie durchaus nicht unempfindlich war. Dazwischen gingen die Vorbereitungen zur Abreise ruhig vor sich, und Leonies Gedanken schwärmten weit von Allem weg, was um sie her sich begab. Aus dem Wagen blickte sie noch einmal nach dem Waldsaum zurück, wo ein vor Kurzem so heißes Herz jetzt so ruhig schlief, so ruhig und so kalt! Sie warf sich in die Wagenecke zurück; ihr Vater saß ihr gegenüber und schien für nichts Sinn zu haben, als für Pferde, Wege, Wagen und alle Bedürfnisse einer raschen Fahrt.

Ein Jahr ist vorübergegangen, unter dessen Einfluss das frühreife Mädchen schnell zur vollendeten Jungfrau heran geblüht. Leonies Traum war erfüllt; sie war in die Welt eingetreten und an hohen und höchsten Orten vorgestellt worden, wo das Vorstellen gebräuchlich ist, und selbst ihr ehrgeiziges Herz war mit dem Aufsehen zufrieden, das ihre Erscheinung überall hervorgebracht. Der Graf hatte sein Haus geöffnet, dem seine Tochter, unter Fräulein Bertold Leitung, mit aller Anmuth ihres Wesens verschönernd Vorstand. Er machte kein Hehl daraus, das er sie jung zu verheirathen wünsche, und er hatte ihr ein Heirathsgut ausgesetzt, das sie zu einer der glänzendsten Pachten des Landes machte und sie über die Nothwendigkeit heben sollte, nach Glücksgütern oder ihrem Äquivalent, einträglichen Ämtern, zu sehen. Freilich wachte er mit großer Sorgfalt darüber, daß nur solche Männer in sein Haus kamen, deren Ruf und Charakter ihm das Glück seiner Tochter zu verbürgen schienen, unter diesen aber ließ er ihr vollkommen freie Wahl.

Gegen die Hauptsache hatte Leonie nichts einzuwenden; auch sie wollte sich verheirathen, und zwar so schnell als möglich, und darin stimmte ihr Wille einmal mit dem ihres Vaters überein. Doch auf die Stimme des Herzens legte sie weit weniger Gewicht, als er, und der Graf hatte den Kreis, der sie umschloss, immerhin etwas weiter ziehen können; Leonie hatte praktische Ansichten, weggeworfen hatte sie sich nicht. Sie hatte sich ein eigenes Bild von dem Manne gemacht, den sie mit ihrer Hand beglücken wollte. Auf Rang und Geburt hielt sie wie ihr Vater, vielleicht noch etwas mehr; Frauen sind von Natur konservativ; in allem Andern wich sie vollkommen von ihm ab.

Vor allen Dingen mußte sie durch ihre Vermählung so gestellt werden, das jeder fernere Einfluss, den ihr Vater auf ihr Leben nehmen konnte, dadurch abgeschnitten war, und Reichthum schien ihr dazu eine unerlässliche Bedingung zu sein. Ihre Mitgift aber, so bedeutend sie war, schien in Leonies Augen nur eine goldene Nuss, knapp hinreichend, drei Wünsche zu erfüllen, und sie war keineswegs gesonnen, Haus und Hof damit zu erhalten. Reich, sehr reich mußte also der Erwählte sein, und nicht nur reich, auch hochgestellt. Das war das Zweite, was ihr zu ihrem Zwecke nöthig schien. Außerdem sichert der Ehrgeiz des Mannes der Frau manchen Vortheil, der in diesem bunten Schauspiel der Gesellschaft, wo der Schein eine so wichtige Rolle spielt, nicht zu übersehen ist. Darauf beschränkten sich denn auch ihre Forderungen. Alles Andere war von untergeordneter Bedeutung, nur an diesen zwei Punkten hielt sie fest. Nun drängte sich zwar eine bedeutende Schaar von Bewerbern um die schöne, reiche Erbin, aber bei, der strengen Sichtung, die ihr Vater mit ihnen vornahm, blieben nicht immer die Reichsten und Angesehensten zurück, und bis jetzt war Keiner erschienen, welcher die von Beiden gewünschten Eigenschaften vereint in genügendem Grade besaß.

Aber Leonie konnte warten. Sie kannte ihre Macht zu gut, um über den Erfolg im Geringsten zweifelhaft zu sein. Der Spiegel hatte ihr es oft genug gezeigt, was sie so gerne sah; und hätte er es auch nicht gethan, die stumme und laute Bewunderung, die sie überall, wo sie sich zeigte, wie ein berauschender Duft umgab, hatte sie hinreichend darüber aufgeklärt. Zwar war ihre Schönheit gerade nicht von der Art, welche man mit dem Worte glänzend bezeichnet; sie war zu sein und ästhetisch, um auf irgend eine Weise in die Augen fallend zu sein; doch riss der Blick, der ihr einmal folgte, sich nur mit Mühe von ihr los. Und wem hatte diese weiche, kindlich zarte Gestalt, mit dem schwebenden, elastischen und doch schüchternen Schritt, die dunklen Augen, unter deren langen Wimpern der Blick wie eine scheue Bitte sich nur furchtsam hervorzustehlen schien, das wundersame, süß geheimnisvolle Lächeln, das die feinen Lippen umschwebte und Jeden unwillkürlich aufzufordern schien, zu erforschen, was sich dahinter verbarg; das Licht mit Schatten zu wechseln, das über die feinen, beweglichen Züge ging und kam, in ewig neuem, wechselnden Reiz; wem hätte. Alles dies nicht wenigstens ein Gefühl lebhaften Interesses eingeflößt, das sehr geeignet war in eine tiefere Huldigung überzugehen? Wer konnte es ihr nachmachen mit der schweren Diplomatie der Toilette, die mit dem französischen Blut ihrer Mutter auf sie übergegangen war? Welch tiefes Verständnis lag in der anspruchslosen Kleidung, die selbst des einfachsten Schmuckes zu entbehren schien und doch durch ein unerreichbares Etwas allen Schmuck der Andern verdunkelte!

Genie ist unmittelbare Offenbarung der verklärten Natur, und zu jeder höheren Vollkommenheit, wäre es auch nur Koketterie, gehört Genie. Und wenn die noch nicht siebzehnjährige Kokette nachlässig hingegossen, mit dem Fächer spielend, an banger Scheu und Sittsamkeit es der Sprödesten zuvorthat, so wußte sie dabei ganz genau, das an jeder Locke ihres blonden Haares, an jedem süß verstohlenen Blick mehr Augen und Herzen hängen blieben, als die blendendste, offen zur Schau getragene Schönheit zu erobern vermochte.

Das war Etwas, und für den Augenblick war es genug. Ohne mit Bestimmtheit Hoffnungen zu erwecken, die sie zu erfüllen nicht gesonnen war, und doch ohne Einen ihrer zahlreichen Bewerber zu entmuthigen, ging sie ruhig ihren Weg. Einer zieht den Andern an, dachte sie, und der Beste von diesen ist noch immer besser als gar keiner, wenn ich doch endlich zu einer schlechten Wahl schreiten soll.

Sie hatte tausend kleine Mittel bei der Hand, den Schüchternen die Hoffnung zu erhalten und den Zudringlichen zu beweisen, das Geduld die Wurzel alles Gelingens sei, und ihre Sittsamkeit leistete ihr treffliche Dienste dabei. Dennoch erfasste sie manchmal ein Missbehagen, ein Zorn gegen sich selbst und die Welt aber es war der Zorn über die weite Ferne des Zieles, das sie sich gesetzt, und das trotz alles Bemühens noch immer von ihr zu weichen schien.

Endlich ging ein glänzender Stern an dem Horizonte ihrer Hoffnungen auf, und sogleich wurden alle Mittel in Bewegung gesetzt, damit diese Erscheinung keine vorübergehende sei. Niemand sah den Weg, den sie ging, kein Blick, kein Lächeln wurde aufgefangen, das sie nicht jedem Andern eben so süß und hold und verschämt gegönnt, und doch fühlte Derjenige, den es anging, sich mit jedem Tage fester von einem unsichtbaren Zaubernetze umspannt. Er ging und kam zuerst zufällig, dann nach und nach die Häuser suchend, wo er denken konnte sie vielleicht zu sehen; und immer enger fühlte er sich von den unzerreißbaren Faden umstrickt, und immer häufiger nach einander folgten sich ihre Begegnungen mit ihm, bis sie eines Morgens seine Karte auf dem Schreibtische ihres Vaters fand. Und noch immer hatte kein Mensch, selbst ihr Vater nicht, eine Ahnung von dem großen Werke, das sie so still und heimlich und sicher angelegt.

Wenn sein Blick so prüfend an ihr hing, da es einem so reizenden Geschöpfe galt, erregte es weiter keine Aufmerksamkeit; der Ernst, der ihm eigen war, schien sogar tiefer geworden in der letzten Zeit, und wenn sie mit so reizendem Erröthen die strahlenden Augen in schüchterner Frage zu ihm aufschlug, und mit so tiefer Ehrerbietung den meist kurzen Antworten lauschte, was war es weiter als die Befangenheit, die einem jungen Gemühte, dem Übergewicht an Jahren und Erfahrung, gegenüber, so natürlich ist? Weiter dachte man nicht, und kein Mensch sah oder errieth, das dieser Mann Alles besaß, was für Leonie die Panacee des Lebens war. Was ein jüngeres Gemüht denn Leonie, obgleich jung an Jahren, war alt im Geiste, älter vielleicht als mancher vielgelebte Greis was also ein jüngeres Gemüth abgeschreckt hätte, das waren für sie nur Stäubchen aus einem Gemälde, die ihr befriedigtes Auge leicht übersah. Was wollte sie auch mehr? Freilich war er nicht jung, aber wie dankbar würde er in diesem Bewusstsein für jede kleine Aufmerksamkeit sein! Freilich war er nicht schön, aber häßlich im Grunde auch nicht, und eine Frau konnte sich immerhin an seinem Arme sehen lassen und noch den Neid ihrer Gefährtinnen erregen. Von seinem fabelhaften Reichthums hatte Leonie oft genug gehört, und wie viel er beim Könige galt, wußte alle Welt. Selbst ihr Vater mußte sich im Ganzen als befriedigt erkennen; Graf Hoheneck war ein Ehrenmann, und wenn auch nicht von der romantischen Sorte, wie die Phantasie eines jungen Mädchens sie so gerne träumt, in den Augen ihres Vaters konnte das kein großer Fehler sein, und wir wissen es, Leonie hatte nicht viele jugendliche Träume gehabt.

O wenn der Vater ihm nur den Zutritt gestattet! sagte sie sich, das kleine Blättchen in ihrer Hand um und um besehend, als suche sie darauf die Spur zu finden, welche die mögliche Zukunft ihm vielleicht eingedruckt, und wenn er es auch nicht gestattet, fuhr sie in ihren Gedanken fort, es ließen sich wohl Mittel und Wege finden wenn nur an diesem wenn nur blieben ihre Gedanken haften, während sie die Treppe hinunterging und in den Wagen stieg, der ihrer wartete, und alle gewagten Möglichkeiten, welche die verzweifelnde Liebe ersinnt, um zu dem ersehnten Ziele zu gelangen, zogen während der Fahrt nach einander durch Leonies liebeleeren Sinn.

Aber zu solchen Maßregeln sollte sie nicht getrieben werden. Schon bei der Rückkehr von der Spazierfahrt trat ihr Graf Hoheneck aus dem Hause entgegen. Er verbeugte sich tief und folgte mit den Augen dem feinen, anmuthigen Wesen, das, fast wie ein Hauch, mit kaum merklichem, schüchternem Gruße an ihm vorbeischwebte und, ohne ihn anzusehen, um die Biegung der Treppe verschwand.

Also hat der Vater ihn angenommen, dachte sie nun wohl, desto leichter ist der Sieg. Und sie irrte sich nicht, der Sieg war leichter, als sie es geglaubt, denn schon nach einigen Tagen hielt Graf Hoheneck um sie an, und die junge Rechnerin hatte ihr langerstrebtes Ziel erreicht.

Du bist also seinem Antrage nicht abgeneigt? sagte ihr Vater mit besorgter Miene zu ihr, als sie, ihm gegenüber sitzend, mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen ihn anhörte.

Durchaus nicht, Papa, was kann ich Besseres erwarten?

Den Einklang der Jahre. Bedenke, der Graf könnte dein Vater sein!

Wirklich? mir scheint er nicht so alt.

Wenn dein Herz trotzdem für ihn spricht, fuhr der Graf mit einem Seufzer fort, so kann ich nichts dagegen haben. Du scheinst ihm große Hoffnungen gegeben zu haben, wenigstens ließ er es mich verstehen. Uebrigens ist er ein Ehrenmann.

Sein Vermögen soll bedeutend sein, sagte Leonie, mit ihrem Armbande spielend.

Ich wollte, du hättest andere Gründe, ihm den Vorzug zu geben, versetzte der Graf. Indessen er ist reich. Aber vergiss nicht, das der Reichthum des Mannes ebenso wenig das Glück der Frau sichert, als die Schönheit der Frau jenes des Mannes, wenn nicht ein tieferes Verständnis sie aneinander knüpft.

O, das weiß ich, sagte Leonie, in ihrem Spiele fortfahrend, aber Sie sagten ja selbst, er sei ein Ehrenmann.

Ich glaube wenigstens, daß er es ist. Doch das allein ist noch nicht genug, das du ihn von Herzen lieben kannst, und dazu scheint mir der Graf nicht der Mann zu sein. Ich wollte, du gingest ernstlich mit dir zu Rathe, bevor du ein Bündnis schließest, worauf die ganze Zukunft deines Lebens beruht.

Der Graf scheint mir alle Eigenschaften zu besitzen, die ich in dem Manne wünsche, den ich heirathen soll. Ich achte ihn und ziehe keinen Anderen vor. Ist das für den Ansang nicht genug? fuhr Leonie mit einer so unschuldigen Miene, daß ihr Vater, der Leser verzeihe uns, sich stark versucht fühlte, ihr eine Ohrfeige zu geben.

Für den Anfang vielleicht, sagte er ärgerlich, aber wird es immer so bleiben? Der Friede die Heiligkeit der Ehe, die Bande der Familie beruhen alle auf der Treue der Frau

Habe ich in meinem Benehmen eine Spur von Leichtsinn gezeigt, Papa, so bitte ich, es mir zu sagen, damit ich mich ändere, versetzte Leonie auf das Ehrerbietigste.

Nein, das hast du nicht, sagte der Graf mit einem Seufzer der Entmuthigung; ich wollte fast, du hättest es dann könnte ich doch wenigstens hoffen das Er hielt inne Leonie schwieg. So kann ich dem Grafen also sagen, daß du seinen Antrag annimmst? frug er dann.

Wenn Sie die Güte haben wollen, Papa, sagte Leonie, sich erhebend; kann ich mich jetzt entfernen?

Du kannst gehen! und mit einer leichten Handbewegung entließ er sie.

Endlich! sagte Leonie, als sie den Augenblick danach im Gefühle ihres Triumphes in ihrem Zimmer stand, nun endlich ist das Leben mein, und ich kann es gestalten, wie ich will. Ihre Brust hob sich, ihr Auge leuchtete sie blieb stehen und versank allmählich in Gedanken.

Und hatte dieses junge Mädchen, daß so ruhig in der ersten Blute ihres Leben sich zu einer Convenienz-Heirath entschloß, hatte sie denn gar keine Ahnung von dem Opfer, das sie dem Moloch ihres Ehrgeizes brachte? Hatte denn nie eine Stimme in ihrem Herzen von höheren Freuden gesprochen, als denen, welche die Eitelkeit gewährt?

O doch! so gar trocken war die Seele doch nicht, die in diesem blütenfrischen jungen Busen schlug. Auch an ihr Herz hatte der Frühling geklopft, und das sie ihm nicht aufgethan, das war freilich ihre Schuld, aber er war darum nicht minder da gewesen, sie hatte ihn gesehen, und gerade jetzt überlief sie ein warmer Schauer bei der glänzenden Erinnerung. Man sagt von der Liebe, das sie ein Funke sei, der einschlage und zünde, man wisse nicht wie und woher. Fast so war es Leonie gegangen, und das war eben der eigenthümliche Widerspruch in ihrem Wesen, der, ihr fast über Jeden, welcher mit ihr in Berührung kam, eine so schrankenlose Macht verlieh: die tiefe Leidenschaftlichkeit, die jeden Augenblick aufbrausen konnte, über alle Hindernisse und Gesetze hinaus, und die kalte Berechnung, welche diese Leidenschaftlichkeit unter ein eisernes Joch zwang. Zwang? wenigstens für jetzt.

Es war an einem Abend in der Oper. War es die weiche Schwingung der Musik, welche ihre Seele gefangen nahm? Sie saß in der Loge zurückgelehnt, einer schwankenden Träumerei hingegeben, die ihr sonst nicht gewöhnlich war, und ohne sich Rechenschaft davon abzulegen, hingen ihre Augen an dem Kopf eines jungen Mannes, der nicht weit von ihr, in dem halbverfinsterten Hintergrund einer anderen Loge saß. Er selbst war ihr unbekannt, und ebenso die Gesellschaft, in welcher er sich befand. In dem schwebenden Spiele ihrer Phantasie, von den Tönen der Musik gehoben und begleitet, suchte sie die Linien dieser Stirn zu entziffern, von welcher das dunkle, glänzende Haar in reichen Wogen zurückgeworfen war.

Plötzlich sah er auf, sein Blick begegnete dem ihrigen. Es war ein Blitz. Leonie fuhr auf, durch alle Fibern schoss der elektrische Funken, und das Blut wallte heiß in ihr auf. Es war nur ein Augenblick, eine sonderbare Betäubung folgte nach, sie senkte die Augen und lehnte sich zurück. Die leuchtenden Blicke des Unbekannten ruhten noch immer in offenbarer Bewunderung auf ihr. Leonie wandte fast unmerklich den anmuthigen Kopf von ihm weg. Ihr Vater hatte sie nicht begleitet, nur Fräulein Bertold saß in der Loge neben ihr, und zu dieser neigte sie sich: Wer ist der junge Mann dort in der Loge? fragte sie. Aber die Gouvernante wusste es nicht.

Der junge Mann dort links mit den schwarzen Augen, der soeben nach uns gesehen hat? sagte ein Bekannter ihres Vaters, der vor einigen Minuten in ihre Loge getreten war, indem er das Opernglas von den Augen nahm.

Derselbe, versetzte Leonie, scheinbar mit der tiefsten Ruhe. Er kommt mir so bekannt vor, doch weiß ich nicht, wo ich ihn hinthun soll.

Das kann ich Ihnen sagen: er ist ein Emigrirter von sehr vornehmer französischer Familie, der sich für den Augenblick hier aufhält.

Ah so, meinte Leonie, so habe ich mich doch getäuscht. Derjenige, den ich meine, ist freilich auch ein Ausländer, aber ein armer junger Mann.

Was das betrifft, so könnte es immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er große Schätze aus Frankreich mitgebracht hat.

Ich habe mich doch geirrt, er kann es nicht sein, sagte Leonie und wandte den ganzen Abend das Gesicht nicht mehr nach der Loge hin.

Aber in ihrem Herzen war es nicht so still, und mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Musik war es vorbei. Schon vor dem Ende des Stückes entfernte sie sich. Als sie durch den Gang hinter den Logen schritt, streifte ihr Kleid an den Fremden an; ein heißer Stich fuhr durch ihr Herz, doch sie ging vorüber, ohne auszusehen, und zu Hause angekommen, schloß sie sich gleich in ihr Zimmer ein.

Sie suchte den Eindruck los zu werden, der ihr so ungelegen gekommen war. Sie beschäftigte sich, räumte, kramte, Alles umsonst. Sie versuchte einen Brief fertig zu schreiben, der angefangen auf ihrem Tische lag, und mitten im Schreiben entfiel die Feder ihrer Hand, der Kopf sank auf das Papier; sie war im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich? Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder.

Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn nicht gehen soll? Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt.

Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von Haß.

Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf vorbereitet war.

Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Bertold's tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem Tanze auszuruhen, neben eine sogenannte Freundin gesetzt. Wir sagen sogenannt , denn Leonie war weit über das Bedürfnis nach einer Freundin hinaus.

Von allen süßen Kleinigkeiten, die ein Mädchenherz ausfüllen, und die Eine der Anderen als wichtige Geheimnisse anzuvertrauen pflegt, hatte sie nie eine Ahnung gehabt, und hörte sie ja einmal davon, so war ein mitleidiges Lächeln ihre einzige Antwort daraus. Das reine Aufdämmern des Gefühles, das ahnungsvoll vor dem Geheimnis des Lebens stehend, nur nach einer Schwester zu begehren glaubt, um in Liebe zu dieser aufzugehen, war Leonie fremd geblieben, wie so manche andere Blüte der Jungfräulichkeit. Und wie sie keines Vertrauens bedurfte, so flößte sie auch keines ein, und sie stand einsam unter den Mädchen ihres Alters, deren Kreis, wenn sie sich ihm nahte, scheu vor ihr auseinander wich. Aber Marie von Lobenstein war die Tochter eines Mannes, der mit ihrem Vater zugleich in Frankreich gewesen war. Von ihm hatte Leonie gehört, daß sie die strahlenden Augen ihrer Mutter geerbt, und mehr von dieser Mutter zu erfahren, war der Grund, warum sie sich näher an seine Tochter schloss. Aber sei es, das der Baron geheime Instructionen von Leonie's Vater erhalten, sei es, das er ihr vorsichtiges Ausforschen nicht verstand, der verpönte Name kam nicht mehr aus seinem Munde. Das junge Mädchen hatte er indessen zu seinem besonderen Lieblinge gemacht. All ihre kleinen Liebenswürdigkeiten, Schmeicheleien (chatteries, wie die Franzosen sagen), die so sehr dem unwiderstehlich reizenden Getändel eines lieblichen Kindes gleichen, gewannen ihm ihr Herz im Siegesschritt. Das ist ein Wettermädel, pflegte er zu sagen; die konnte ein Regiment um den Finger drehen, und ihren Mann wird sie unter dem Pantoffel haben, das er nicht wissen wird, wie ihm geschieht.

Dieses Urtheil, das so gründlich zutraf, wie er es gar nicht dachte, störte ihn in seiner Vorliebe keines - wegs, und es schmeichelte ihm, das Leonie seine Tochter all ihren anderen Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches, natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben Leonie's duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich schüchtern wie die Trägerin aus dem unmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie schon, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre hinaussahen.

Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war.

O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonie's Augen nach dem fernen Winkel des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand: das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muss wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger Mensch.

So? sagte Leonie.

Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur sie gehabt, denn er war noch ein Kind, als sein Vater sich erschoß. O, es ist romantisch! Soll ich ihn rufen, damit du dir ihn ansehen kannst?

Ich? rief Leonie mit einem Tone so wahren Entsetzens, das Marie sie überrascht ansah.

Worüber erschrickst du denn so? frug sie dann.

O, du weißt, er wird glauben, daß es auf eine Einladung abgesehen ist, und ich bin so müde, das ich gar nicht mehr tanzen mag.

Marie brach in ein unterdrücktes Lachen ans. O, darüber brauchst du nicht zu erschrecken, sagte sie dann. Er tanzt nie, und es ist viel, daß er überhaupt gekommen ist; das habe ich ihm angethan. Einen Ball hält er, glaube ich, für eine Ausgeburt des Bösen, der die armen Menschen damit zur Sünde zu verlocken sucht. Ich bin überzeugt, er steht dort wie auf Nadeln du glaubst nicht, was für ein Sonderling er ist.

Er wird sich ändern, versetzte Leonie.

Die wird viel zu thun haben, die ihn kuriren will.

Unternimm du die Kur.

Ich habe schon angefangen, sagte Marie ganz unbefangen, aber ich glaube nicht, das es viel helfen wird, und ich bedauere die Frau, die er einmal kriegt.

Jetzt wurde Marie weggeholt, und Leonie lehnte sich auf ihren Sitz zurück. Sie schloß die Augen und suchte sich so viel als möglich von Allem abzuschließen, was um sie her vorging. Schwer wäre es, den Zustand zu schildern, in welchem ihre Seele während des leichten Gespräches mit ihrer Freundin sich befand. Das er ihr plötzlich so nahe war, das mit jedem Augenblick der kleinste Zufall ihn an ihre Seite führen konnte, ohne daß ihr Macht, es zu verhindern, gegeben war; daß sie seine Stimme hören würde, die sie nur ahnen konnte, wie süß sie war in ihrer allbezwingenden Gegenwart, das überfiel sie mit einem lähmenden Schrecken, in dessen tiefstem Grunde eine wilde Freude sich wider ihren Willen dämonenartig kund that. Wie eine Deu - tung der Zukunft erschien es ihr. Sie hatte ihn nicht gesucht, und nun stand er doch vor ihr, und wo sollte sie die Möglichkeit finden, ihm immer wieder zu entgehen? Und fände sich auch diese Möglichkeit, hätte sie wohl den Willen und die Kraft dazu? Nein, er war ihr bestimmt, ihr verfallen mit Leib und Seele, das fühlte sie, das wusste sie so gewiss, als habe eine Prophetenstimme es ihr ins Ohr gesagt.

Sie erschrak über sich selbst; was war das? sie drückte die heißen Hände krampfhaft in einander, während die zarten Brauen sich fast drohend in Falten zogen. O es darf nicht sein, sagte sie mit erstickter, zürnender Stimme jetzt nicht so nicht setzte sie dann mit düsterem Sinnen hinzu erst mußte Alles anders sein aber die Zukunft war ja da, die lange schöne Zukunft, die nur ihr gehören wurde, und was die bringen konnte wer wußte es denn?

Du bist so blaß, sagte plötzlich eine freundliche Stimme neben ihr. Es war Marie, die zurückgekommen war und sie aufgesucht hatte in dem schattigen Winkel, wo Leonie sich so zu sagen vor sich selbst verkroch. Ist dir nicht wohl? setzte sie besorgt hinzu.

Aber Leonie hatte den Zügel über ihr gährendes Innere wieder erfasst und allen Entschluß darin gefunden, mit dem sie sich gewaffnet, seit sie den gefährlichen Fremden zum ersten Male gesehen. Du weißt, erwiderte sie, es ist mein erster Ballwinter, und ich fürchte, ich habe des Guten ein wenig zu viel gethan. Es ist mir wirklich nicht recht wohl.

Sie sah sich nach Fräulein Bertold um, und diese, welche ihre Jugend schon längst hinter sich hatte, noch bevor sie die moralische und geistige Ausbildung ihres jetzigen bewunderten Zöglings unternahm, und das wenige Kindliche, das trotz aller widerstrebenden Verhältnisse doch noch ankleben mochte, mit solcher Mühe und so großem Erfolg aus ihrem Charakter weggewischt, verstand sehr gerne den Wink, der sie von dem glänzenden Feste erlöste, an dem ihr eigener Freudentheil ein so geringer war. Erst im Wagen, als sie im raschen Schritte der väterlichen Wohnung zufuhr, fühlte Leonie sich sicher vor der eigenen gähnenden Jugendkraft.

Von da an war ihre Verlobung ein hinreichender Grund, Marie sehr selten und nur auf flüchtige Augenblicke zu sehen. Graf Hoheneck zeigte alle natürliche Ungeduld eines sehr verliebten Mannes, das reizende Geschöpf, das sein eigen werden sollte, nun auch recht bald sein eigen zu sehen, und Leonie verstand die Kunst, sich den eigenen Wunsch durch Vorstellungen, Bitten und Schwüre abringen zu lassen, als das größte Opfer der Liebe und Hingebung. Der dankbare Mann vergalt denn auch diese Opfer mit Zugeständnissen und Aufmerksamkeiten jeder Art, und sie nahm diese Zugeständnisse und Aufmerksamkeiten mit einer so demüthigen Freude hin, so ganz als Beweise seiner Liebe, deren sie sich unwürdig fühlte und die doch ihr ganzes Leben war, daß es eine unwiderstehliche Verlockung war, diese Freude immer wieder zu erneuern. Sie war überhaupt das Muster einer Braut, ihr schüchternes Lächeln, ihre süßen Blicke waren so voll verborgener Bedeutung; in ihrem zurückhaltenden, scheuen Benehmen sprach so wohl die Schamhaftigkeit der Jungfrau, die sich ein heiseres Gefühl kaum selbst zu gestehen wagt, daß es kein Wunder ist, wenn der arme Graf mehr und mehr den Kopf verlor. Genug, er heirathete sie und war der glücklichste Mann der Welt.

An ihrem Hochzeitstage war ihr Vater düsterer als je. Als Leonie vor der Trauung auf sein Zimmer kam, nahm er sie bei beiden Händen und zog sie nahe an sich heran. Lange schaute er in das junge, schöne, von einer ihm unbekannten Regung bleiche Gesicht. Endlich legte er die Hand auf ihren Kopf: Du bist schön, sagte er, aber auch eine Andere war schön, schöner vielleicht als du, und doch hat es uns Beiden weder Glück noch Segen gebracht. Vergiss nicht, das die Schönheit des Weibes nur für den Mann blühen soll, der Schmuck seines Hauses und die Freude seines Herzens, und das sie darüber nicht hinausgehen darf. Du gehst heute von mir gehe zum Glücke du kannst es, wenn du es nur ernstlich willst. Ich war manchmal hart gegen dich habe ich dir Unrecht gethan, so verzeihe mir. Dein Herz war mir ein verschlossenes Buch. Laß es einem Andern nicht also sein! Denke ohne Groll an deine Kinderjahre zurück. Gerührt beugte er sich zu ihr herab, es war das erste Mal in ihrem Leben, das Leonie sich erinnern konnte, seine Lippen auf ihrer Stirn gefühlt zu haben, und es durchschauerte sie fast, als mit dem Kusse eine warme Thräne darauf lag. Aber die Erinnerung an ihre Mutter war nicht geeignet, ihr das Herz zu erweichen. Schweigend führte sie seine Hand an ihre Lippen und nahm ruhig den kostbaren Schmuck entgegen, den er ihr bot.

Als er von dem Portal der Kirche einsam dem wegrollenden Wagen nachblickte, der sie einer ungewissen Zukunft entgegen trug, da zog eine seltsame Wehmuth durch sein Herz. Er hatte sie aufwachsen sehen, er hatte die köstliche Blüte ihrer Schönheit sich langsam unter seinen Augen entfalten sehen, in all dem mystischen Zauber, der ihr so eigen war, und der sie so sehr von anderen Frauen unterschied; sie war so lange die Zierde seines Hauses gewesen, und sie vor jedem Unglück zu bewahren, hatte so lang einen Theil seines Lebens ausgemacht, das, was auch immer zwischen ihnen stand, wie fremd auch ihre Herzen für einander geblieben, ihr Scheiden dennoch eine Lücke in sein Dasein riß. So fällt das Alte allmählich von uns weg, dachte er, als er allein in seinem Wagen langsamen Schrittes dem vereinsamten Hause zufuhr. Auch das letzte Glied der Kette, die mich so lange gedrückt, ist gebrochen, und kaum weiß ich, soll ich mich darüber freuen? Was nutzt die Ungeduld? Es kommt die Zeit die Zeit kommt gewiß und lös't es mild und schonend von uns ab. Vergänglichkeit ist eben Alles Alles auch Schmerz und Zorn und Hass, und Nichts ist und war, als Vergänglichkeit, die uns, wie Alles, mit Allem was wir sind in die Vergessenheit treibt. Ja, setzte er nach einer Pause kaum hörbar hinzu, Alles vergeht, nur nicht die Erinnerung an das Blut, das man vergoß.

Er war angekommen und stieg aus. Otto kam ihm bald nach. Auch er war traurig. Der gute Junge hatte, was man übereingekommen ist ein deutsches Gemüth zu nennen. Es zeigte sich aber heute auf eine Art, die sonst in Deutschland nicht sehr gebräuchlich ist. Er hatte nämlich die Schwäche, seine Schwester, die ihn auch stets als einen sehr unwichtigen Gegenstand behandelt hatte, weit zärtlicher zu lieben, als deutsche Brüder, im gewöhnlichen Lauf der Welt, ihre Schwestern zu lieben für nöthig erachten, und er kam jetzt zum Vater, um an ihm ein theilnehmendes Herz zu finden für die Trauer der Trennung, die auf seiner Seele lag, und die er seinen Altersgenossen gegenüber einzugestehen aus einer gewissen falschen Scham und angeborenen Schüchternheit Anstand nahm. Aber zu einem empfindsamen Seelenerguß war der Gruß doch nicht aufgelegt, und beim Anblick seines Sohnes gingen seine Gedanken auf einen Pfad über, der ihm weit natürlicher und anziehender war: nämlich auf diesen Sohn selbst, den einzigen Gegenstand, um den sein von menschlichen Banden früh losgerissenes Herz noch tief die lebendigen Fasern der Liebe schlug.

Daß er dennoch das geliebtere Kind Jahre lang von sich entfernte und das ungeliebte unter seinen Augen behielt, ist eines jener Räthsel, deren Schlüssel tief in der Brust des Menschen verborgen sind. Vielleicht war es das Bewusstsein dieser Lieblosigkeit selbst, was ihn bewog ein Opfer zu bringen, das er für eine Art Sühne dieser Lieblosigkeit ansah und eine Ergän - zung der Pflicht, die er sich auferlegt. Vielleicht dachte er auch, Leonie's besondere geistige Richtung verlange eine sorgfältigere Überwachung, als der gutmüthige Knabe, dessen reine Seele unverhüllt in dem offenen Spiegel seiner Worte lag, und diese Eigenschaft des Kindes war es auch vielleicht, warum er ihn lieber aus dem Bereiche jedes unlauteren Eindruckes ferne hielt. Jetzt aber, wo die letzte Pflicht erfüllt war, konnte er endlich seinem Sohne leben und diesem Sohn Alles sein und ihn Alles für sich sein lassen, was er nur je für ihn und von ihm geträumt. Und unter dem Wortschwalle Otto's, der mit dem treuen und doch so nachsichtigen Gedächtnis der Liebe alle Vorzüge und reizenden Liebenswürdigkeiten der ihm so unähnlichen Schwester in das glänzendste Licht zu stellen sich befliß, hing des Vaters Blick an seinen Zügen und verfolgte in ihnen mit sonderbarer Rührung eine schwache Ähnlichkeit mit einem früh verstorbenen Bruder, der ihn aus seinen Kinderjahren durch Otto's klare Augen wieder anzulächeln schien. Es war eine Aehnlichkeit, die, süß in sich, doch sein Herz in wehmüthiger Ahnung zusammenzog; denn er konnte sich nicht verhehlen, das aus dem kräftigen Knaben der Jüngling sich körperlich nicht in dem Grade entwickelt hatte, wie es für des Vaters Stolz und Freude zu wünschen war. Otto hatte vor Kurzem erst seine Studien absolvirt, und obgleich er eben keinen feurigen Geist besaß und das Studiren auch nicht gerade seine Neigung war, hatte er doch rasche und sogar glänzende Fortschritte darin gemacht. Das freie Leben als Jäger und Ökonom wäre weit mehr nach seiner Neigung gewesen, und er seufzte auch manchmal über die schweren Folianten, wenn er im Geist zu der reinen Lust, die seine Schwester unterdessen einsog, und zu den Wäldern und Feldern des väterlichen Gutes zurückging. Aber Studiren war für jetzt seine Pflicht, und so studirte er denn. Bei der angestrengten Arbeit aber hatte sein Gesicht sich ge - bleicht, er sah mager und verkommen aus, was bei der Traurigkeit, die jetzt auf seinen Zügen lag, noch austrat.

Was soll ich thun? dachte der Graf. Luftveränderung? Reisen allein? nein, das geht nicht an auch ich bin einmal gereist, allein, in seinem Alter und was hat es mir gebracht? Otto, unterbrach er plötzlich seines Sohnes unerschöpfliche Lobrede auf die geschiedene Schwester, du hast deine Studien hinter dir, auf das Gut mag ich nicht zurück, das Haus ist öde hier, die Luft bekommt uns Beiden nicht, und Zeit ist es jetzt, daß du dir die Welt ein wenig ansiehst. Was sagtest du, mein Sohn, wenn wir auf Reisen gingen, damit uns die Grillen schneller vergehen? Otto's Augen leuchteten auf, sein Kummer war verflogen, und so reisten sie denn ab.

Frühjahr, Sommer und Herbst waren vergangen und sogar ein guter Theil des Winters war ihnen nachgeeilt, und weder das neue Ehepaar, noch der Graf und Otto waren nach der Hauptstadt zurückgekehrt. Sie sitzen bis über die Ohren im Glücke, sagte man, wenn von Leonie und ihrem Manne die Rede war, und was man von ihnen hörte, bestätigte allerdings das freundliche Gerücht. Manches hatte sich unterdessen verändert. Marie war Braut geworden, in aller Stille freilich, und die Leute wunderten sich, das sich keine bessere Partie für das schöne und wohlhabende Mädchen gefunden; aber sie war glücklich, obgleich es bei ihr nicht gerade zum Dache hinaus schlug, und was wollten ihre Eltern mehr?

Ich wollte doch, Leonie ließe etwas von sich hören, sagte sie eines Tages, von ihrer Arbeit aufsehend. Sie wird sich gewiß mit uns freuen.

Da ging die Thüre auf, und die Besprochene trat in das Gemach. Wie sonderbar! rief Marie, nachdem der erste Sturm der Überraschung vorüber war, wir sprachen so eben von dir.

Du hast meinen ersten Besuch, sagte Leonie mit ihrer sanften, stillen Stimme. Es war noch immer dieselbe Leonie; etwas frischer sah sie freilich aus, auch mochte sie ein wenig gewachsen sein, sonst war keine Veränderung an ihr zu sehen. Es war derselbe Blick, dasselbe Lächeln, dieselbe unmüthige, bescheidene Schmiegsamkeit, mit der sie als Mädchen so viele Augen und Herzen berückt.

Seit wann sind Sie hier? frug die Baronin.

O, seit gestern Morgen erst, und ich wäre gleich gekommen, aber meinem Manne war es nicht auszureden, daß ich von der Reise zu müde sei.

Und du bist eine gehorsame Frau, setzte Marie lächelnd hinzu.

Wie soll man anders? sagte Leonie, indem sie sich niederließ und die ganze Familie sie in lächelnder Betrachtung umstand. Die Männer sind solche Tyrannen!

Und Sie sind das Muster einer guten Frau, unterbrach sie der Baron. Nun, meine Marie wird diese Weisheit auch bald in Übung bringen können. Wir sprachen eben davon, das Sie sich gewiß mit uns freuen wurden: meine Marie ist Braut.

Ei was! sagte Leonie verbindlich, und mit wem?

Du wirst es nicht glauben, fiel jetzt Marie lachend ein, mit dem jungen Manne, den du auf dem Balle mit meinem Vater sprechen sahest. Nun habe ich mich damals, ohne es zu ahnen, selbst bedauert, denn ich werde seine Frau.

Leonie's Augen öffneten sich weit.

Wir hätten Besseres finden können, nahm die Baronin, die Leonie's Bewegung dem Erstaunen über die mittelmäßige Partie zuschrieb und eine gewisse Kränkung darüber empfand, jetzt das Wort. Das heißt, Reichere hätten wir finden können, aber schwerlich einen Bessern; ich glaube nicht, das es einen besseren Menschen giebt. Und Marie soll vor allen Dingen glücklich sein. Was ist Ihnen? Warum werden Sie so blaß? ries sie plötzlich und näherte sich erschrocken der jungen Frau.

Doch Leonie hatte sich schon gefaßt. O nur eine flüchtige Anwandlung! sagte sie ruhig. Mein Mann hat doch Recht gehabt, und die Reise hat mich mehr angegriffen, als ich geglaubt. Und mit dem anmuthigsten Lächeln sich erhebend, umarmte sie Marie und wünschte ihr einfach und herzlich alles nur erdenkliche Glück. Ich muß nun gehen, sagte sie dann, mein Mann hat mir nur auf einige Minuten Urlaub gegeben, und jetzt habe ich Sie ja gesehen.

Ein lächelnder Abschied, das Versprechen, sich bald zu besuchen, wurden scherzend ausgetauscht; Leonie beugte sich noch einmal aus dem Schlage, sanft rollte der Wagen zum Thore hinaus, und sie sank bleich und mit entstelltem Gesicht in den Hintergrund desselben zurück.

Also doch zu spät! sagte sie mit geballten Händen und vor Schmerz und Zorn zusammengebissenen Zahnen. O, ich Närrin! Meinem Manne nachzugeben, als er darauf bestand, länger auf dem Lande zu bleiben! Zu glauben, Wochen, Monate schadeten nichts, wo ein einziger Tag vielleicht von solcher Wichtigkeit war! Ein Wort von mir hatte Alles anders gemacht, und nun ist es zu spät! Und doch warum zu spät? Hier versank sie in Gedanken, und der Schlangenbiss der Eifersucht in ihrem Herzen ließ allmählich nach. Kannte sie denn nicht mehr ihre eigene Macht? Freilich war er verlobt aber war Marie Diejenige, die eine blinde Leidenschaft einzulösen verstand? (und Leonie's Glaubensbekenntnis in der Liebe erkannte eben nichts Anderes an als blinde Leidenschaft.) Mariens Bild zog jetzt an ihrem Geiste vorüber, die keines Hilfsmittels bedurfte, um schön zu sein. Ja, sie war schön: Leonie athmete schwer, als sie es sich gestand, aber war sie nicht auch offen wie der Tag? Kein Geheimnis breitete sein magisches Dunkel über sie, keine Überraschung weckte die abgespannte Seele zu immer neuer Erwartung auf, wer sie zu kennen suchte, der kannte sie auch, und die Phantasie schlief an ihrer Seite ein. Nicht so Leonie. Artig hatte sie die schwere Kunst gelernt, den Geist ewig wach zu erhalten, indem sie ihn fortwährend an die Grenze eines räthselhaften Unbekannten führte, von welchem er zwar nie den Schleier lüftete, das sich aber in immer neuen, verlockenden Gestalten dem ahnenden Auge darzubieten schien. O seltene Gabe, immer neu zu sein! Die Frau, die dich besitzt, und wäre sie häßlich und alt, trägt den Ring Salomonis an dem Finger, mit dem sie allen Geistern der Tiefe gebieten kann.

Was hatte Leonie also zu fürchten? Der Kampf würde etwas schwerer sein, aber an spannendem Interesse würde er dadurch nur gewinnen. An Marie selbst, an das Glück der Freundin, die ihr stets nur liebend begegnet war, an solche Kleinigkeiten dachte die junge Gräfin nicht. Aufathmend blickte sie um sich, und eben fuhr sie in den Hof ihres eigenen Hauses ein. Ihr Manu kam ihr entgegen, er hob sie aus dem Wagen und fast in seine Arme wie ein Kind. Du siehst blaß aus, sagte er, ihr besorgt in die dunklen, wundervollen Augen sehend, Du hättest nicht ausgehen sollen, ungehorsames Kind!

Leonie sah lächelnd zu ihm auf und hing sich schmeichelnd an seinen Arm. Er trug sie mehr die Treppe hinaus, als er sie gehen ließ. Oben mußte sie sich niederlegen; sie war wirklich angegriffen, und geduldig ließ sie Alles mit sich geschehen. Er rückte ihrem Kopf die Polster zurecht, legte sie warm und hüllte sie ein, wie eine Mutter ihr Kind, und mit einem Aufglühen inneren Glückes fing er dabei das sanfte, dankbare Lächeln auf, das ihm für seine Mühe die süßeste Belohnung war. Dem alternden Ehemanne war die junge Frau in Wahrheit das Kleinod seines Herzens, eine Welt von Seligkeit, in der Alles zusammenschmolz, was seine Seele an Liebe zu empfinden fähig war. Er wurde förmlich wieder jung mit ihr und wusste gar nicht, was er thun sollte, um ihr zu zeigen, das sie sein Glück und sein Alles sei.

Du strengst dich immer zu sehr an, sagte er jetzt, nachdem er sie vorsichtig auf die Stirn geküsst, und es war keine Ironie, er glaubte wirklich, was er sprach. Leonie lächelte wieder. Es war eine so bequeme Antwort, dieses Lächeln, es kostete keine Mühe des Nachdenkens oder der Verstellung, und sagte doch so viel. Auch that es ihr wirklich wohl, sich so wie ein Kind um hegt und gepflegt zu sehen. Diese Liebe, die keine Fessel war, und doch eine so sichere Stütze, eine so warme Umhüllung war, entsprach für den Augenblick der subarktischen Weichlichkeit, die in ihrem Blute lag und in ruhigen Momenten den Hauptzug ihres Charakters bildete.

Ja, er hat mich lieb, sagte sie sich, und ihr Blick weilte durch die halb geschlossenen Lider sinnend auf ihm, als er, um sie nicht zu stören, sich an ein Fenster niedergelassen hatte und dort ruhig seine Zeitung las. Er hat mich sehr lieb! Ein Lächeln von mir wiegt ihm allen Sonnenschein des Weltalls auf. Wenn ich wie eine Andere wäre, ich glaube, dies allein wäre zu meinem Glücke genug so aber was kann ich dafür, daß ich nicht tote Andere bin? Es ist Alles so herzlich langweilig, und die Narren beneiden mich noch. Sie schloß die Augen vollends und schien zu schlafen, und ihr Mann trat leise auf, als er das Zimmer verließ.

Ein paar Tage danach in einer Soirée, in welcher Leonie, mit ihrem gewohnten Fächerspiel beschäftigt, den Mittelpunkt eines Gespräches bildete, zu dem sie von Zeit zu Zeit ein paar nachlässige Worte und träume - rische Blicke hergab, trat ihr zum ersten Male an Mariens Seite der junge Mann mit Absicht entgegen, der, ohne es zu ahnen, ihre Phantasie so brennend beschäftigte.

Der Herr Marquis Louis de Chanteloup, sagte Marie mit scherzendem Pathos, in dem vielleicht ein kleiner, natürlicher Stolz über die ausgezeichnete Erscheinung ihres Bräutigams sich kund that. Leonie war vorbereitet und verbeugte sich mit der Sittsamkeit eines vierzehnjährigen Kindes.

Es ist nicht das erste Mal, daß ich die Frau Gräfin sehe, sagte der Marquis in ziemlich gutem Deutsch.

Ja, in der That ich glaube ich besinne mich, erwiderte Leonie, während ihn unter den langen Wimpern einer ihrer verführerisch unschuldigen Blicke traf; war es nicht an einem Abend in der Oper?

Der junge Mann erröthete und verbeugte sich so hatte sie ihn also doch bemerkt!

Nun, das freut mich, rief Marie ahnungslos, dann sind Sie ja schon alte Bekannte.

Das Recht der alten Bekanntschaft kann ich um so eher in Anspruch nehmen, sagte er dann, als ich die Frau Gräfin nach jenem Abend noch einige Mal wiedersah.

Leonie lächelte was lag nicht Alles in diesem Lächeln!

Welch eine interessante Frau! sagte er zu Marie, als er auf dem Heimwege ihr gegenüber in dem Wagen saß.

Nicht wahr? rief das Mädchen, o sie ist ein Engel!

In dieses Lob stimmten der Baron und seine Frau von ganzem Herzen ein, und wir wissen nicht, warum sich gerade in dem Marquis etwas regte, das diesem Vergleich widersprach. Er lehnte schweigend in seiner Ecke und suchte sich den Eindruck zu erklären, den die Erscheinung der Gräfin auf ihn gemacht.

Wir würden der strengen Wahrheit untreu sein, wenn wir sagten, das Leonie's Anblick das Herz des jungen Mannes schon lang in stürmische Liebesflammen versetzt, die nun, da er sie wieder gesehen und sogar gesprochen, jeden Damm zu durchbrechen drohten. Leonie's hohe Schönheit hatte allerdings schon im ersten Augenblicke ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlt; sie gefiel ihm sehr, unsäglich gefiel sie ihm; sie war so ganz der Typus des Weibes, wie er es sich in seiner Vollendung dachte, dieses durch Liebe herrschenden, durch seine Schwäche allmächtigen Geschöpfes. Aber der Luxus, der die reiche Erbin umgab, hatte ihm ebenfalls im ersten Augenblicke gezeigt, daß diese Blume nicht für den mittellosen Ausländer gewachsen war. Sie war ihm erschienen und wieder verschwunden, wie ein Bild aus einem lichten Traum, das uns gefällt, das aber in keiner Beziehung zu unserem eigentlichen Leben steht, und andere Verhältnisse hatten den flüchtigen Eindruck schnell verwischt. Auch lag damals der Tod seiner Mutter noch frisch auf seiner Seele und dampfte jede heftige Wallung des Geblütes mit einem Tränenschleier ab. Er hatte, wie Marie es Leonie erzählte, diese Mutter unaussprechlich geliebt, mit all der chevaleresken Hingebung, die uns ans den nationalen Dichterwerken seines Volkes so oft, den Banden der Familie gegenüber, und so lebendig entgegentritt. Sie war bis jetzt die einzige Dame seines Herzens gewesen, und sie hatte sich diese Herrschaft durch die Aufopferung ihres ganzen Lebens, das in Liebe zu ihrem einzigen Sohne aufging, theuer genug erkauft.

So weit er zurückdenken konnte, hatte er sie neben sich gesehen, still und duldend, und die einzige Veränderung, deren er sich erinnerte, war, daß sie nach dem Tode seines Vaters die bunten Kleider der Welt gegen die schwarzen der Trauer vertauscht, die sie auch von da an nicht mehr abgelegt. Dieses Vaters aber erinnerte er sich kaum und gab sich auch, wir müssen es gestehen, wenig Mühe, sich seiner zu erinnern. Bete für deinen Vater, daß er zu uns zurückkehre und glücklich sei! hatte seine Mutter jeden Abend seiner Kinderzeit ihm gesagt, wenn er, schlaftrunken zu ihren Füssen kniend, mit stammelnden Lippen gedankenlos ihr das kleine Abendgebet nachsprach. Aber die kindliche Bitte, der solche Allmacht zugeschrieben wird, und hinter welcher ein heiseres Gefühl sich bergen sollte, war unerhört verhallt, denn der Vater kehrte nicht zurück, und doch forderte einmal seine Mutter das Gebet nicht mehr von ihm. Bis dahin hatte er wenig aufgemerkt, doch ihr plötzliches Schweigen war wie ein Ruck, und heimlich faßte ihn ein Wundern an. Warum soll ich nicht mehr beten, daß der Vater kommen soll? frug er eines Abends die bleiche Frau, die, über ihn gebeugt, seine gefalteten Händchen in den ihrigen hielt.

Er ist zur Ruhe stören wir ihn nicht, war ihre Antwort gewesen, und oft nachher, wenn ihm das Wort einfiel, trat er plötzlich leiser auf, den Vater nicht in der Ruhe zu stören, von der ihm seine Mutter gesagt.

Darauf beschränkte sich aber auch Alles, was er von ihm wußte, und er hätte gar keinen Vater haben können, so wenig ließ dessen Verschwinden eine Lücke in seinem Herzen zurück. Ein froher, sorgloser Knabe wuchs er auf und füllte die öden Raume des väterlichen Schlosses mit aller lärmenden Freude einer gesunden Kinderzeit. Wenn er dann, vom Spiele erhitzt und müde, Ruhe und Erholung an der Seite der Mutter suchte, stieg wohl manchmal ein wehmüthiges Lächeln über ihr rührendes, früh verwelktes Gesicht.

Ja, sagte sie dann wohl, mit den feinen, weißen Händen in der dunklen Fülle seiner Locken wühlend, während sie ihm dabei lang und gedankenvoll in die hellen Augen sah, zu dem greisen Pfarrer des Dorfes, der des Knaben Lehrer war und Abends öfter eine Stunde bei ihr einsprach, ja, er ist ein gutes ein sehr gutes Kind! Aber das Leben ist eine schwere Aufgabe ich wünschte, er hätte die rechte Kraft.

Einmal auch, nachdem sie lange geweint, hatte sie fast mit Heftigkeit seinen Kopf mit beiden Händen an sich gezogen. Brich nie ein Menschenherz es thut zu weh! hatte sie zu dem erstaunt aufschauenden Kinde gesagt, das sie nicht verstand. Sie sah ihn lange an und ließ ihn dann langsam und wie mit einem inneren Widerstreben los.

Alles das hatte auf das empfängliche Gemüth ihres Sohnes einen tiefen Eindruck gemacht, und schon früh entwickelte sich bei ihm der dunkle Begriff, seine Mutter leide unter irgend einem schweren, geheimnisvollen Schmerz, der ihm um so erhabener vorkam, als er sich vergebens dessen Ursache zu enträthseln suchte; und wenn der alte Pfarrer von Heiligen sprach, die mit Geduld ein Kreuz getragen, das doch gewöhnlichen Menschen unerträglich scheine, oder die ihr Leben einer hohen Pflicht der Menschlichkeit gewidmet, dann dachte er, daß seine Mutter wohl auch eine solche Heilige sei, nur wußten die Menschen nichts davon, weil es ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Schöpfer sei. So wurde still unter dem befruchtenden Einflusse einer glühenden Phantasie der Keim zu jenem Ascetismus in ihm gelegt, denn die katholische Kirche als die höchste Blüte menschlicher Vollkommenheit zu betrachten lehrt.

Seine Mutter sah es gern. Sie hatte sich jener religiösen Frömmigkeit ergeben, in welcher weiche Herzen so gern Heilung suchen, und die bei ihrem Charakter nie in unduldsame Härte übergehen konnte. Ihr heißester Wunsch war, ihren Sohn denselben Pfad wandeln zu sehen, der ihn vor den Schlingen der Welt bewahren sollte, an welchen ihr eigenes Glück gescheitert, und der so sicher zum Heil zu fuhren schien. Was ihr Balsam gewesen, warum sollte es nicht dem Unerfahrenen die sichere Rettung sein? Und sie überlegte nicht, ob nicht vielleicht diese Neigung die rasche Thatkraft in ihm untergrub, die der eigentliche Nerv alles sittlichen Lebens ist.

Ihn vor jedem Einflüsse zu bewahren, der diese Neigung beeinträchtigen konnte, riß sie sich, als er die hohen Schulen besuchen mußte, los aus der ihr zum Bedürfnis gewordenen Ruhe und begleitete ihn nach Paris. Und sie hatte sich nicht in ihm getäuscht. Zwar erröthete er wohl ein wenig, wenn seine Gefährten ihren Spott an dem empfindsamen Muttersöhnchen übten, und sein Herz schlug auch wohl hier und da in verhaltener Sehnsucht nach den verbotenen Freuden der Jugend, die in seinem Wörterbuche nur Kinder der Sünde waren, und denen er die Anderen mit so unverhohlenem Lebensgenus sich hingeben sah; aber die Liebe zur Mutter war stärker, als falsche Scham und Verführung und der Gedanke, daß diese erste Entsagung auch der erste Schritt zu jener großen des ganzen Lebens sei, die ihn einst den Heiligen, von denen er träumte, zur Seite stellen sollte, erhöhte noch den Durst nach Aufopferung in ihm, der jungen Gemüthern so natürlich ist.

Dennoch konnte es nicht fehlen, das trotz der rettenden Insel, die der Einfluss seiner Mutter für ihn war, das frische Leben von außen, das ihn hier von so vielen Seiten mächtig umströmte, manche Bresche riß in die frommen Überzeugungen, die man mit solcher Sorgfalt um ihn aufgebaut, und deren Grundfesten mehr auf dem beweglichen Boden seiner Phantasie ruhten, als auf dem festen Grunde einer gesunden Kraft. Seine Mutter hatte nicht allein Theil an ihm gehabt, er war auch seines Vaters Sohn und sah ihm nicht umsonst so ähnlich, daß ihr Herz manchmal darüber erschrak.

Aus dem schönen Knaben war mit der Zeit ein schöner, schlanker Jüngling geworden, der dem thätigen Leben des Mannes mit raschen Schritten entgegenging. Die mächtige Stimme der Leidenschaften fing an seine Sinne zu verwirren, und es kam die Zeit, wo der sündig zierliche Fuß einer hübschen Grisette mehr Interesse für ihn gewann, als die gelehrteste Abhandlung über die Nothwendigkeit der Kasteiung des Fleisches. Und wenn er auch, eingedenk des Teufels, der darin verborgen lag, manchen koketten Blick, der ihn im Vorbeigehen traf, an seinen gesenkten Lidern abprallen ließ, sie drangen ihm nur um so sicherer durch alle Adern in das unruhig klopfende Herz. Ja, er bedurfte eigentlich auch seiner Augen nicht, um zu sehen; es war, als sei ihm ein sechster Sinn geworden, der für ihn mit zehnfacher Schärfe hörte und sah, und wenn er Augen und Ohren noch so fest verschloss. Erschrocken über sich selbst, suchte er des Versuchers los zu werden, der mit so starken Banden ihn gefangen zu nehmen drohte. Buße und Beichte waren die natürliche Zuflucht, die sich ihm bot; aber Buße und Beichte, die sein Herz ob so manchen kleinen Fehlers leicht gemacht, halfen ihm nicht gegen die Stimme der Natur. Adams Sünde war ihm nicht so unverzeihlich mehr, er begriff, daß er den Apfel , da ja Eva ihn reichte, und der heilige Antonius in der Wüste verlor viel von der Glorie, die er für seine unerfahrenen Augen gehabt.

Allein, vor dem schmählichen Umsturze aller seiner Grundsätze sollte der zukünftige Heilige durch ein kräftigeres Mittel bewahrt werden, als Buße oder Beichte es war. Seine Mutter, welche die Veränderung ihrer Lebensweise und so manche Entbehrung, die ihr das kostspielige Leben in der Stadt auferlegte, bis jetzt schweigend ertragen, fing an, sichtlich zusammenzubrechen, und für Louis sanken alle neueren Wünsche in Vergessenheit vor dem Einen herrschenden Wunsche, sie am Leben zu erhalten um jeden Preis. Und es war fast, als besäße seine Liebe diese Wunderkraft.

Sie schien sich zu erholen und athmete neu belebt die Lust der Heimath ein, zu welcher er sie zurückge - führt; aber es war nur das Aufflackern der Flamme, bevor sie erlischt. Der nahende Herbst warf sie schnell auf das Lager zurück, und von da an schien nur Eine Sorge noch ihr einen Rest von Kraft zu verleihen. Sorgsam ordnete sie alle Papiere, die sich auf das Vermögen ihres Sohnes bezogen, dann ließ sie sich ein Packet Briefe geben, das in einem verborgenen Fache ihres Schreibtisches aufgehoben war; sie befahl, ein Feuer in dem Kamin anzuzünden, und warf selbst Brief um Brief in die lodernde Flamme hinein. Aufmerksam sah sie die Flammen über sie aufschlagen, züngeln und sie verzehren.

Siehe, mein Sohn, sagte sie dann, so vergeht Alles! Denke daran, wenn Schmerz oder Unglück dich verfolgt. Was auch geschehen möge, thue deine Pflicht; es ist das Einzige, was uns bleibt und noch Eines! fügte sie hinzu, indem sie die Augen wie verklärt gen Himmel hob. Von da an sprach sie nur noch wenig; eine sanfte Träumerei schien über ihr zu ruhen, aber sie war heiterer, als Louis sie je gesehen. Der Tod nahte ihr ohne Kampf, wie ein geliebter Freund, dessen Nähe man lange ersehnt. Ihre Kräfte nahmen mehr und mehr, doch leise ab, und die zurückkehrenden Schwalben fanden nur noch ihr Grab. Brich nie ein Menschenherz! waren ihre letzten Worte zu ihrem Sohn gewesen, als das Bewusstsein schon halb entflohen war.

Diesen Sohn aber traf ihr Verlust mit einer Schwere, wie nur der Tod einer solchen Mutter unter solchen Verhältnissen treffen kann. Dazu kam, das er erst nach ihrem Tode den ganzen Umfang der Liebe kennen lernte, die bis jetzt über ihn gewacht. Er erfuhr, daß das Haus der Chanteloup eines der ersten im Lande gewesen, daß es sich mit den reichsten und mächtigsten an Glanz und Reichthum messen konnte, bis sein Vater das glänzende Erbe in rücksichtsloser Vergnügungssucht verpraßt und seinem Sohne nichts hinterlassen, als was dessen Mutter durch Entbehrung jedes Lebensgenusses im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart. Unter einem Haufen alter Papiere, die vergessen in einem Fache lagen und die der junge Erbe durchstöberte, fand sich ein wahrscheinlich verlegter Brief, mit der Adresse an seine Mutter.

Das Papier war alt und gelb, aber die Spur der Thränen noch sichtbar, welche viele Worte fast unkenntlich gemacht.

Madame, lautete dieses Schreiben, ich habe Ihren Brief richtig erhalten und auch gelesen, so wenig unterhaltend, verzeihen Sie die eheliche Ungalanterie, sein Inhalt auch war. Sie hätten in dieser langen Zeit lernen können, daß Klagen nicht das Mittel sind, abtrünnige Herzen zur Treue zurückzuführen. Die Liebe ist ein verzogenes Kind, sie nährt sich von Duft und Rosen und sticht vor den Dornen, und waren sie noch so gut versteckt, davon. Tu dieu! Ergeben Sie sich in Ihr Schicksal! Sind Sie die einzige Frau, die in der Ehe nicht das gefunden, was sie in romantischen Mädchenträumen darin gesucht? Noch keine ist an Enttäuschung gestorben ich rede leider aus Erfahrung, liebe Madame. Was Sie mir von meinem Jungen schreiben, freut mich sehr. Es ist mir lieb, daß er Ihnen Freude macht, und ich hoffe, daß er einst ein wahrer Chanteloup sein wird. Was aber den väterlichen Schutz betrifft, so bin ich überzeugt, daß mein Sohn unter Ihrer Aufsicht dessen nicht bedarf. Ich achte Sie viel zu sehr, um das geringste Mißtrauen in Ihre mütterliche Liebe zu setzen, und lasse Ihnen in Allem, was seine Erziehung betrifft, vollkommen freie Hand. Für seine Zukunft, liebe Madame, werden wir sorgen, wenn es an der Zeit sein wird. Sie ist noch sehr weit von uns entfernt, diese Zukunft, Gott sei Dank! Und ein böses Schicksal könnte vielleicht Alles, was wir jetzt dafür thun wurden, bis dahin vereiteln. Jeder für sich und Gott für Alle, liebe Madame. Das ist mein Grundsatz, den ich Ihnen ebenfalls zur Befolgung empfehle. Ce qu’attendant, verbleibe ich

Ihr ergebener
Leon de Chanteloup.

Und das war mein Vater! rief Louis mit grimmigem Zähneknirschen, indem er den Brief zusammenballte und zornig zur Erde warf. Er hob den Fuß, ihn zu zertreten, als ihm einfiel, das die Thränen seiner Mutter darauf gefallen. Gerührt hob er ihn auf, glättete ihn sorgfältig und schloss ihn andächtig in seine Brieftasche ein. Jetzt wusste er endlich, warum das Leben ihr gar so schwer zu tragen gewesen. Sein Kind ergebet und ihr nachheriges vollständiges Schweigen, Alles war ihm verständlich jetzt; denn sein Vater war eines Tages todt gefunden worden in der Nähe von Paris, und ein Gerücht wollte wissen, er habe sich, um seinen zerrütteten Vermögensverhältnissen zu entfliehen, selbst entleibt. Daß er an der Verzeihung verzweifelt, die ihr liebendes Herz ihm so gern ertheilt hatte, das er gestorben war, ohne Weib und Kind wiederzusehen, ja ohne ein letztes Zeichen der Reue oder der Erinnerung an sie, das war es, was sie ihm vielleicht nie ganz verzieh.

An sein zerstörtes Vermögen dachte Louis nicht. Die unwürdige Behandlung, die seine Mutter erfahren, war es, was allein seine Seele füllte und seinem Schmerz um sie neue Kräfte lieh. Was ihr Leben nicht hatte erreichen können, das bewirkte nun ihr Tod. Er rief sich alle ihre Handlungen zurück, die abgebrochenen Worte, mit denen sie einen lieben, aber geheimen Wunsch nicht auszusprechen wagte, fielen ihm wieder ein; diesen Wunsch nun zu erfüllen und dadurch das Band, das der Tod zerrissen, im Grabe selbst, so zu sagen, wieder anzuknüpfen, wurde bei ihm zur fixen Idee. Er ergab sich religiösen Schwärmereien, schloß sich in seine vier Wände ein, und der Augenblick war vielleicht nicht fern, wo der letzte Sprosse des berühm - ten Hauses der Welt entsagen wollte, um in der Einsamkeit eines Klosters sein fleckenloses Leben dem Dienste des Herrn zu weihen. Doch so weit sollte es nicht kommen.

Die französische Revolution, dieser Samum, der die Welt verheerend daherzog und eine Generation unter seinem heißen Hauche vergrub, drang auch in die ferne Abgeschiedenheit, wo der junge Edelmann sinnend an dem Scheidewege seines Lebens stand. Zu aufgäklart, um der neuernden Wendung ihre Berechtigung abzusprechen, zu human, um an den Gräuelscenen des Volkes Theil zu nehmen, zu stolz, um seinen alten Namen durch irgend einen Verrath zu entweihen, zog Louis die Verbannung vor. Er rettete von dem Reste seines Vermögens, was er konnte, und wandte sich nach Deutschland, wo in B. ein alter Freund seiner Mutter lebte, den er zwar nicht kannte, der ihn aber um der lieben Verstorbenen willen mächtig zu sich zog. B. war wie fast alle Städte Deutschlands mit einer Flut von Emigranten überschwemmt, unter denen sich manche befanden, die mit seinem Vater befreundet gewesen, und da tönte ihm denn, unangenehm genug, die Erinnerung der Ausschweifungen entgegen, durch welche dieser sich bekannt gemacht.

Aber auch ohne jene zweifelhaften Freunde war er, seines hohen Namens wegen, wohin er sich in den Kreisen der Emigranten wandte, überall gern gesehen, und dennoch stand er bald sehr einsam und verlassen da. Sein stiller Ernst sagte bei genauerer Bekanntschaft nur Wenigen zu, und seine gemäßigten politischen Ansichten, die das Neue zwar nicht lobten, das Alte aber als die unverkennbare Wurzel dieser Neuzeit ansahen, kühlten selbst diese Wenigen ab. Seine Bescheidenheit söhnte Niemand mit seinen Meinungen aus, und alle diese meist jungen Leute, die mit den geretteten Trümmern ihres einstigen Vermögens fröhlich lebten, in der gewissen Erwartung einer nahen glück - lichen Rückkehr zu den Verhältnissen jener alten Zeit, trennten sich in fast feindseliger Entfremdung von ihm. Und Louis war im Grunde froh, wieder allein zu sein.

Diese lockere, demoralisirte Gesellschaft, die in Samt und Seide gekleidet, unter leichtfertigen Gesprächen an dem Rand eines Abgrundes hinschritt, der sie Alle im nächsten Augenblicke verschlingen konnte, hatte keinen wohlthuenden Eindruck auf ihn gemacht.

Was sollte er auch unter ihnen, er, dem nur die Erinnerung an die Vergangenheit die Freude des Lebens war? Die Verirrungen seines Vaters freilich, die hatte er dort wieder und wieder gehört, aber den stillen, kleinen Kreis, in dem seine Mutter sich mit ihm geschlossen hielt, den hatte Keiner gekannt. Und doch hielt ihn eine unbezwingbare Scheu ab, den einzigen Mann aufzusuchen, zu dem diese Erinnerung ihn zog. Er wußte, das ihm nur wenig von dem Glanze seines Hauses übrig blieb, und er war stolz, wie nur je einer seiner Vorfahren es vor ihm gewesen war. Mitleid zu erregen schien ihm daher eine neue Beschimpfung zu sein.

Da suchte ihn der Baron selber auf. Ihm gefiel der junge Mann, dessen Benehmen so freundlich und doch so zurückhaltend war, und ganz entzückt kehrte er von ihm zu den Seinigen zurück.

Er ist wie seine Mutter, sagte er vergnügt, so voll und freundlich wüßte die auch zu thun, was Recht war. Ja, ja, die deutschen Frauen haben nicht allein die Tugend mit Löffeln gegessen, auch über dem Rhein giebt es solche, an denen ein Heiliger sich erbauen konnte.

Die Baronin lächelte; sie wußte recht gut, was sie von den Reden ihres Mannes zu halten hatte, und vergab ihm gern eine Schwärmerei, die ihn, von den losen Sitten seines Zeitalters unangesteckt, zu ihr zurückgeführt. Marie war neugierig, den jungen Mann zu sehen, der eine so vortreffliche Mutter gehabt, das dies allein ihm ein Anrecht an ihre Theilnahme gab.

Auf den jungen Marquis indessen übte das Haus des Barons bald einen eigenthümlichen Zauber aus. Es war ein Hauch der Heimath, der ihm daraus entgegenwehte; nicht der großen, die so viele Kinder zahlt, denn das Haus war ganz deutsch, aber der kleinen, wo sein Herz die Wurzeln schlug, und die nur er gekannt. Er kam, um von seiner Mutter zu sprechen, und fühlte sich zu Hause, wo man so gerne von ihr sprach. So geschah es, das sie sich nach und nach daran gewöhnten, ihn sagst täglich bei sich zu sehen. Er liebte es, seine Wende da zuzubringen, und begleitete sie wohl auch, gingen sie aus. Zwischen Marie und ihm bildete sich schnell eine Art geschwisterlicher Vertraulichkeit, an der Niemand im Hause Anstoß nahm und die für Beide gleich angenehm war.

Tausend kleine Beschäftigungen brachten sie fortwährend zusammen. Zeichnen, Musik und Lectüre, Alles war von gleichem Interesse für sie, und sie war schön, ihre Ruhe that ihm wohl, und mit jedem Tage zog sie ihn fester an. Dßs aus dieser harmlosen Zuneigung ein tieferes Gefühl sich entwickeln konnte, daran dachte er selber nicht! Marie war ja protestantisch! Zudem hatte sie nichts von der fortwährenden Hilfsbedürftigkeit und sanften Abhängigkeit, an die ihn der Zustand seiner Mutter gewohnt und die ihm darum an Frauen so lieb geworden war.

Marie war ganz das Gegentheil von alle dem. Sie trug die blühende Frische ihrer Jahre mit einer Unbefangenheit, welche bewies, daß sie nicht glaubte gegen irgend Jemandes Geschmack damit zu verstoßen. Ihr Vater rühmte von ihr, das sie nie krank gewesen, und sie sah nicht danach aus, als wurde sie es jemals sein. Sie war, trotz ihrer dunklen Haare und Augen, vom Wirbel bis zur Sohle eine echte Deutsche, häuslich und wirthschaftlich, von jener Gemüthsart, welche über die allernächsten Interessen des Hauses wenig hinausgeht. Und darin auch wich sie von Louis 'Mutter ab, die bei aller Häuslichkeit den Sinn für das Allgemeine doch nicht verlor. Uebrigens war sie heiter, von jener wohlthuenden Heiterkeit, die nie in Ausgelassenheit übergeht, und vielleicht ein wenig sentimental. Sie schonte den Stock, wenn sie eine Blume brach. Ohne Neigung hatte sie keine Ehe geschlossen, sie glaubte an Treue, und die Liebe war ihr eine Religion. An das Thema der blinden Leidenschaft hatte sie freilich noch nicht gedacht, hatte wohl auch schwerlich daran geglaubt. Sie neckte Louis mit seiner übertriebenen Empfindsamkeit in Sachen der Religion, und was er von keinem Andern hinnahm, duldete er ruhig von ihr.

Ihr frisches, gesundes Wesen, das bei aller strengen Sittlichkeit den Eindrucken und Neigungen der Jugend doch so offen und zuganglich war, brach wie die Sonne durch die Nebel seiner früheren Ansichten und zerstreute sie. Der Gedanke an das junge Mädchen verflocht sich nach und nach in seinem Kopfe mit Allem, was er hoffte und unternahm. Er dachte weniger an den Unterschied der Religion und überließs sich gern der wohlthuenden Wärme, die von ihr ausströmte und die so sanft an das schlummernde Leben seines Menschenthums trat und seine Sinne unmerklich mehr öffnete für das Treiben der äußeren Welt.

Eines Morgens erwachte er mit dem Gedanken, seine Mutter hätte mit Freuden eine solche Schwiegertochter begrüßt, und der Mann, dem Marie vom Schicksal bestimmt sei, wäre gewiss ein glücklicher Mann, und nun der Gedanke in seinem Kopfe entstanden, ging er auch so leicht nicht mehr heraus. Mariens Benehmen gegen ihn blieb indessen frei und unbefangen wie im ersten Augenblick; sie fühlte nicht, das etwas zu verbergen sei, und so verbarg sie auch nichts, und ihre Eltern merkten endlich, das sich ein tieferes Gefühl sehr gut mit solcher Unbefangenheit verträgt. Es ist natürlich, wenn diese Entdeckung weder der Baronin noch ihrem Manne eine erwünschte war.

Eine einnehmende Persönlichkeit und gewinnende Liebenswürdigkeit sind große Gaben, aber sie machen den Menschen, nicht satt, und mit dem Sattwerden allein ist es für ein weich gewohntes Mädchen, wie Marie es war, auch noch nicht abgethan. So dachten Beide, als die Wahrheit ihnen nach und nach sehr wider ihren Willen aufging, und Louis dachte es auch.

Die erste Folge davon war, das er sich eine feste Stellung zu gründen suchte, die ihm die Möglichkeit sichern sollte, sich auch einen eigenen Herd zu bauen. Seine religiösen Vortheile, denen er in der Heimath mit solchem Eifer nachgehangen, hatten ihn wenigstens, da er sie ernst nahm, vor den gesellschaftlichen bewahrt. Louis wollte gerne arbeiten, und so viele seiner Landsleute, weit höher noch geboren, als er, gingen ihm darin mit gutem Beispiel voran, das es ihm nicht einmal hoch anzurechnen war.

Er wollte also arbeiten, aber wie? Er hatte in Paris die Rechte studirt, doch eben wie junge Leute studiren, denen, es mehr um die Vollendung ihrer Erziehung zu thun ist, als um einen ernstlichen Lebenszweck.

Mit seinen übrigen Talenten sah es nicht viel beruhigender aus; er zeichnete hübsch, spielte mittelmäßig ein Paar Instrumente: das Alles reichte wohl gegebenenfalls hin, für sich selbst das knappe Brod zu erschwingen, aber mit den bescheidensten Ansprüchen ließ sich das Glück einer Familie nicht daraus bauen.

Muthlos sah Louis vor sich nieder. Was sollte er thun? Sein Elend allein tragen, die Antwort war leicht genug. Durfte er Marie wiedersehen und eine Neigung in ihrer Brust Wurzel schlagen lassen, die von ihren Eltern nie genehmigt werden konnte? Sollte er ihnen die Tochter, sozusagen, stehlen und sie für das Vertrauen belohnen, das sie ihm bewiesen, indem er ihr einziges Kind durch Kampf und Qual einer Ehe entgegenführte, in welcher er ihr nichts zu bieten ver - mochte, als Entbehrungen jeder Art? Nein, das sollte nicht geschehen! Wenn auch unglücklich und arm, war er noch immer der Vertreter eines alten Namens, und eine unwürdige Handlung schien ihm eine Unmöglichkeit zu sein. Abreisen also, den Ort verlassen, der ihm zu einer halben Heimath geworden, war das Einzige, was ihm zu thun übrig blieb. Er seufzte, als er es dachte, aber mit diesem Seufzer hatte er aus dem Traum häuslicher Ruhe und Glückseligkeit für immer Lebewohl gesagt.

Beim Baron war man ein wenig überrascht, als ein ganzer Tag verging, ohne das der Marquis etwas von sich hören ließ. Am zweiten flogen Mariens offene Blicke bei jedem nahenden Schritt erwartungsvoll nach der Thüre. Am dritten sah sie offenbar bleich und angegriffen aus. Sollten wir nicht zum Marquis schicken und fragen lassen, was ihm fehlt? frug sie ihren Vater, als dieser sich zum Ausgehen anschickte.

Ich gehe schon selbst, war seine Antwort, und er entfernte sich.

Er fand Louis mit Packen beschäftigt, ebenfalls blaß, aber sonst ruhig und entschlossen genug. Ei was, rief der Baron, wohin die Reise?

Louis erröthete. Ein plötzliches Geschäft, das sich nicht aufschieben läßt, stammelte er.

Davon haben Sie uns ja nichts gesagt?

Es kam so plötzlich, versetzte der junge Mann mit wachsender Verlegenheit.

Und darf man wissen, worin es besteht?

Louis hatte seine Fassung wiedergewonnen. Es betrifft nicht mich allein, sagte er, aber ich werde Ihnen schreiben, sobald es mir möglich ist.

Das scheint ja eine ernste Sache; und bleiben Sie lange weg?

Wahrscheinlich.

Hm, sagte der Baron ärgerlich, wie das sich so verkehrt treffen muss, und ich hatte Sie um etwas zu bitten, eine große Gefälligkeit, die mir nicht so leicht ein Anderer leisten kann. Aber nun reisen Sie der Teufel auch! ob man sich auf Jemand verlassen kann!

O, wenn ich Ihnen einen Gefallen erweisen kann! rief Louis mit aufwallender Wärme, indem er dem vortrefflichen Mann unwillkürlich naher trat.

Sie reisen ja.

O, das hat am Ende keine solche Eile! Erfordert denn das Geschäft eine lange Zeit?

Ein paar Tage nichts als ein paar Tage aber freilich, wenn Sie reisen müssen

O, rief Louis, das hat nichts zu sagen, durchaus nichts! Ein paar Tage mehr, wenn Sie wollen! befehlen Sie über mich was ist es, womit ich Ihnen dienen kann?

Die Sache war bald abgemacht, und Louis versprach zu bleiben, bis die Angelegenheit des Barons geordnet sei.

Aber schon den folgenden Morgen, gerade als er sich zu enträthseln suchte, was der Baron denn von ihm wünschen konnte, wurde ihm ein mächtiges Schreiben mit gewichtigem Siegel in die Hand gelegt, worin ihm höhern Orts eine ziemlich einträgliche Stelle angewiesen wurde, um die er in seinem ganzen Leben nicht nachgesucht. Kaum wagte er seinen Augen zu trauen, da schoß es ihm wie ein Blitz durch die Seele, und er eilte zum Baron.

Nun, sagte dieser, ich mußte Ihnen wohl helfen, denn das Sprechen wurde Ihnen gar so schwer; und als Louis gebrochene Worte stammelte es ist besser Sie gehen gleich vor die rechte Schmiede, sagte er lachend.

Er ging zur Thüre und rief seine Tochter herein, die halb bewußt und darum wohl so verzagt, als gelte es ein Unglück, in die Stube trat. Ihre Mutter folgte ihr.

Du bist so lange zu keinem Entschluß gekommen, sagte der Baron zu ihr, das ich das Wählen für dich übernommen habe. Was sagst du zu dem Manne, den ich dir ausgesucht?

Sie war unfähig zu antworten. Louis warf sich fast vor Freude weinend seinem väterlichen Freunde an die Brust.

Das war die ganze Verlobungsfeier, der Baron verbat sich selbst von seinen besten Freunden jede besondere Aufmerksamkeit; Karten wurden ausgegeben, und Marie erschien öffentlich als Braut. Die Leute schüttelten wohl ein wenig die Köpfe über die sonderbare Wahl eines Ausländers, der, wie sie sagten, nicht viel reicher sei, als eine Kirchenmaus, aber die Baronin war die Einzige, die es bemerkte und der es nahe ging. Sie hatte doch selbst aus Neigung geheirathet und stets den Grundsatz ausgesprochen, mit ihrer Tochter solle es dasselbe sein. Nun aber der Würfel so unvortheilhaft gefallen, hatte sie gar Manches anders dabei gewünscht, und sogar ein gelinder Zwang wäre ihr nicht als ein unverantwortlicher Eingriff in Mariens freie Wahl vorgekommen. Vielleicht barg sich darin eine kleine unausgesprochene Eifersucht, doch sie war klug und nahm mit scheinbarer Zufriedenheit hin, was sich einmal nicht ändern ließ, und bis jetzt hatten sie mit einander weiter gelebt in ungestörter Harmonie.

Da tauchte Loni zum zweiten Male an dem Horizont des jungen Mannes auf. Wie gesagt, er war früher nicht in sie verliebt gewesen, und ebenso wenig war er es jetzt. Ihre Stimme, ihr Wesen hatte nur den angenehmen Eindruck bestätigt, ja wohl auch verstärkt, den ihre erste Erscheinung auf ihn gemacht. Sie stimmte die Seele zu einer so lieblichen Träumerei! Und was hatte sie wohl mit dem Blicke gemeint, den sie ihm so rätselhaft verlockend unter den langen Wimpern zugesandt? Ja, sie war sehr interessant und man konnte nicht an ihr vorübergehen, ohne sie zu bemerken, das sagte er sich, und für heute war es damit abgemacht.

Und Leonie? Leonie hatte den ersten Schritt an den Rand des Abgrundes gethan, dessen Tiefe ihr scharfer Blick wohl ermaß, über den aber mit der Sicherheit der geübtesten Seiltänzerin hinwegzuschreiten ihr ein Kinderspiel erschien. Heute empfand sie keine Langeweile mehr; sie hatte ihn gesehen und gehört, so nahe gesehen und gehört, das mit dem heißen Magnetismus der Liebe ihr Wesen fast in das seinige hinüber zu schmelzen schien. O die gewaltige Empfindung dieser ersten Minute allmächtiger Gegenwart! Leonie hatte sie nicht vorausgesehen; ihre Sinne waren in Aufruhr, sie warf sich in die Wagenecke und überließ sich zügellos ihrer aufgeregten Phantasie. Seine Stimme tönte noch immer in ihr Ohr, sein Blick, und er wußte selbst nicht, wie er sie angesehen, brannte noch immer und umstrickte sie, und durch Alles dämmerte die Zukunft, die sie noch nicht kannte, die aber an unerschöpflicher Wonne die arme Gegenwart bei Weitem überbot. Zu Hause brach sie in eine Lustigkeit aus, wie ihr Mann sie nie an ihr gesehen. Sie klatschte in die kleinen Hände, sie jubelte, sie lachte, daß ihr silberhelles Lachen von den hohen Wänden ihrer fürstlichen Wohnung wiederklang. Sie hätte Flügel haben mögen, die Erde schien sie nicht mehr zu tragen. Sie lief ihrem Mann davon und schloss sich in ihr Zimmer ein. Erst durch unendliches Bitten erzwang er sich den Zutritt zu ihr, und wer kann es dem sonst so klugen, kalten Manne verdenken, wenn er allen Verstand in diesem teuflisch hinreisenden Meer von Liebenswürdigkeit verlor, das, durch eine ihm unbekannte Ursache in Bewegung gesetzt, seine blauen, losgerissenen Wellen im Spiele über ihn zusammenschlug.

Mit großem Eclat eröffnete nun Leonie ihr Haus. Sie empfing alle Welt, und alle Welt schätzte es sich zur Ehre, sie wieder bei sich zu sehen. Uebrigens war, trotz des Glanzes, den der Reichthum ihres Mannes über sie ergo, und der Stellung, die er bekleidete, wenig von der Sicherheit auf sie übergegangen, welche die Ehe gewöhnlich für junge Frauen mit sich bringt. Sie ging noch ebenso still und sanft wie früher einher; ihr Lachen, ihr Blick waren noch eben so schüchtern befangen, wie in früherer Zeit, und wie in früherer Zeit schien sie noch immer schützend hilfsbedürftig sich zu fühlen, wie ein wehrloses Kind. So war sie die Alte geblieben, und doch war ein neues Element hinzugetreten und schillerte sozusagen aus ihr heraus in tausendfaltigem Farbenspiel. Man scherzte mit ihrem Manne, die Ehe habe seine Frau verschönert und ihr doch den vollen Mädchenreiz bewahrt. Der Graf lächelte wohl, aber er sagte nichts dazu. Auch ihre alte Einfachheit, sich zu kleiden, hatte sie noch. Ihr Mann hätte freilich wissen können (denn Leonie hatte die lobenswerteste Vorsicht gehabt, sich neuerdings aufzuopfern, indem sie ihr eigenes Vermögen sogleich in Sicherheit, bringen ließ), er hätte also wissen können, was diese kostbare Einfachheit seinem Beutel kostete, wäre er überhaupt im Stande gewesen, von seiner reizenden Frau etwas Anderes zu wissen, als das sie eben reizend war.

Und überall, wo sie sich zeigte, ertönte ihr dasselbe Lob. Sogar die Frauen, von ihrer scheinbaren Anspruchslosigkeit entwaffnet, beugten sich offen ihrem Übergewicht. Und für Leonie war auch der kleinste Triumph nicht ohne Wichtigkeit; sie wollte gefallen, sie wollte angebetet sein, damit der Eine sie anbetungswürdig fände: wo Louis sie selbst nicht sah, sollte er sie erkennen und lieben lernen in der Huldigung, die sie überall hinter sich lißs. Und man glaube nicht, das diese neue Entwicklung ihres Charakters dem Grunde kalter Berechnung, der in ihr lag, widersprach; Leonie hatte das Geschäft ihres Lebens glücklich vollendet, seine Blüten zu gemessen, war nun ihr einziger Zweck. Ihre wahre Jugend war jetzt erst angebrochen. Es ist das Glück, was sie so verschönert, sagte man, und eigentlich hatte man damit auch Recht. Es war das Glück, das Glück, aus dem langweiligen täglichen Einerlei heimlich hinauszuschlüpfen in die freie Welt der Leidenschaft, und das es heimlich geschehen mußte, das eine solche Gefahr damit verbunden war, das konnte für Leonie dieses Glück nur erhöhen.

Bis jetzt bestand es indessen mehr in den kühnen Sprüngen ihrer Phantasie; nichts war vorgefallen, was ihre Voraussetzungen zu einer solchen Sicherheit berechtigte. Aber Leonie war mit dem unfehlbaren Instinct begabt, der dem Genie zugetheilt ist. Mit der still zuwartenden Geduld einer Spinne in ihrem sicheren Versteck sah sie ihn kommen, erst oft, stets in Begleitung seiner Braut, dann seltener, dann wieder öfter, und wenn auch nur auf Minuten, doch allein. Sie sah ihn düsterer werden, wie die Zeit verging. Manchmal blieb er Wochen aus, dann kam er wieder, trüber und unglücklicher als zuvor.

Und waren das nicht sichere Anzeichen von dem allmählichen Wachsen ihrer Gewalt über ihn? Sie wäre nicht so sicher gewesen, hatte er sich weniger widersetzt. Und wie ruhig sah sie dabei aus! Mit welcher Sicherheit vollkommener Unschuld ging sie den Weg, der sie immer wieder zu ihm zurückführte, wie der Zufall des gesellschaftlichen Lebens sie zusammenwarf. Was that sie denn so Verwerfliches? Sie ließ ihn freilich kommen, aber konnte sie denn verhindern, daß er kam? Wer hätte ihr nur das Geringste vorwerfen können? Der Faden, durch den sie ihn nach und nach, aber sicher, an sich zog, den sah kein Mensch, den sah er selber nicht. Und wie deutlich waren nicht die Spuren des Kampfes auf seiner Stirne zu sehen! Wie finster saß er oft ihr gegenüber, wenn sie in ihrer nachlässig lächelnden Trägheit den Weihrauch einsog, den ihr die Männer, die sich um sie drängten, so gern und reichlich spendeten! Unwille sei es über die junge Frau, die alle Gaben, womit der Himmel sie überschüttet, durch schnöden Dienst der Welt entweihte, sagte er sich, und er schalt Marie, daß sie ein Haus besuche, das ihm für eine wahrhaft züchtige Hausfrau viel zu frei erschien.

Marie wunderte sich über seine übertriebenen Ansprüche an die Moral der Frauen. Der strengste Sittenrichter hatte in Leonie's Benehmen nichts gefunden, als jene allgemeine Liebenswürdigkeit, welche jede tugendhafte Frau, sobald sie in der Welt mitleben will, gegen die Personen, die ihr Haus besuchen, mit vollkommen ruhigem Gewissen an den Tag legen kann. Freilich war Leonie jung und schön, und diese Liebenswürdigkeit stand ihr wie keiner Anderen so gut; aber konnte man ihr daraus ein Verbrechen machen, daß es nicht anders war? Und hatte sie es Marien nicht hundertmal geklagt, wie sehr sie darunter leide, ein solches Haus machen zu müssen; wie sie die Stille ihres Mädchenlebens all diesem glänzenden Trubel vorzöge? Aber ihr Mann wünsche, daß sie Gesellschaft bei sich sehe, seine Stellung verlange es nun einmal von ihm, und sie könne nicht anders, als den Wünschen ihres Mannes gehorsam sein.

Das Alles sagte Marie und pries Leonie's Selbstverleugnung und suchte sie zu entschuldigen auf jede Art. Aber Louis wurde nur eigensinniger durch den Widerspruch, und so gab sie endlich nach und zog sich allmählich von der Gräfin zurück. Doch Louis wurde um nichts zufriedener durch ihre Nachgiebigkeit. Nun es ihm so leicht war, Leonie ganz zu vermeiden, zog es ihn mit unwiderstehlicher Macht zu ihr hin. Mit jedem Tage lernte er klarer in sein eigenes Innere sehen: nicht die Gräfin bedurfte einer Entschuldigung; hätte er eine für sich selbst finden können, es hätte ihm wohler gethan.

Alles, was seine Mutter gelitten, fiel ihm von Neuem mit der Lebendigkeit der Gegenwart ein, und wieder und wieder gelobte er sich, stark zu sein. Armes Herz, das da glaubte rechten zu können mit dem blinden Zuge der Leidenschaft! Leonie nicht mehr sehen, war eine ganz andere Aufgabe, als da er Marien zu entsagen versuchte!

So tief hatte das reine Mädchen nicht in sein innerstes Wesen gegriffen, so gewaltig hatte sich nicht Alles aufgewühlt, was von dem Sauerteig der Sünde in ihm verborgen lag, wie die blonde, scheinbar so zerbrechliche Zauberin, von der er nicht einmal mit Bestimmtheit wußte, ob sie ihn je genau angesehen. Mit dem scharfen Seherblick der Liebe hatte er die Corruption richtig erkannt, die unter dem glänzenden Firnis der Liebenswürdigkeit die Seelenadern der jungen Frau durchzog, und ach! noch verstand er es selber nicht, aber es war eben diese Corruption, die ihn am mächtigsten zu ihr zog. Vergebens war sein Sträuben; zum ersten Male in seinem Leben fühlte er deutlich, das Können und Wollen zwei von einander ganz verschiedene Dinge sind. Was er für Liebe gehalten, war nicht Liebe gewesen, und was er jetzt als Liebe empfand, stimmte mit seiner inneren Erkenntnis derselben nicht überein. Ein tiefes Elend bemächtigte sich seiner; was ihm bis jetzt die Quelle alles zukünftigen Glückes gewesen war, das fühlte er sich plötzlich versucht als die seines Unglückes anzusehen, und was sollte aus ihm werden, wenn er erst unwiederbringlich gebunden war.

Und doch schätzte er Marie. Sie war ihm lieb und Werth; ja, sie stand ihm jetzt, wo ihre klare Ruhe so sehr gegen die Gährung in seiner eigenen Seele abstach, näher, als sie ihm je gestanden war. Konnte Achtung Liebe sein, wie hatte er sie nicht geliebt! Manchmal dachte er sich, den Kopf in ihrem Schoße ruhend, unter ihren kühlen Händen, von ihrem reinen Blicke beschützt, mußten die heißen Pulsschlage stocken, die er von seinem Vater geerbt, und die zur Ruhe zu zwingen sein Wille allein nicht vermögend war. In solchen Augenblicken schwur er ihr Liebe, Treue, Anbetung bis in den Tod, das sie über seine Aufregung erschrak. Er klammerte sich an sie an, wie der Ertrinkende an die Planke, von welcher er allein noch Rettung hoffen kann. Aber um Leonie wehte eine Atmosphäre üppig glühender Leidenschaft, die alle seine Sinne dahin riß, in der er Himmel und Erde und alle geleisteten Schwure vergaß, und die doch keine Labung mit sich brachte. Denn wie sollte er sie finden in einer Liebe, die wider alle seine Begriffe von Recht und Unrecht stritt. Wehe aber dem Menschen, der mit offenen Augen einem Abgrund zugetrieben wird. Die völlige Blindheit wäre besser, als diese Sehkraft, die ihm doch nicht helfen kann!

Da war es ein kleiner unbedeutender Vorfall, der Allem plötzlich eine andere Wendung gab.

Louis hatte die Gräfin seit Wochen nicht gesehen. Da überfiel ihn eine unendliche Sehnsucht, wenigstens von Weitem eine Spur ihres Lebens zu erspähen. Es war Abends, und er wollte zu Marie, die ihn wie gewöhnlich erwartete, aber er konnte den kleinen Umweg machen ohne sich besonders zu verspäten, und so bog er, von dem unwiderstehlichen Zuge seines Herzens geführt, halb unbewusst von seinem Wege ab und blieb nach wenigen Minuten vor dem Hause der Gräfin stehen. Er blickte hinauf; die Fenster waren hell beleuchtet; eine zahlreiche Gesellschaft schien sich in den Raumen zu bewegen, er konnte die Gestalten unterscheiden, die wechselnd an den Scheiben vorüber schwebten, Leonie aber sah er nicht. Bevor er es bedacht, hatte er den Fuß auf die Treppe gesetzt; nur einen Augenblick wollte er sie sehen, sagte er sich, und von so Vielen umgeben, wo war da eine Gefahr? In dem letzten Salon wurde getanzt. Es war ein improvisirter Ball bei Klavierbegleitung, dessen Beweglichkeit und Freude lebhaft gegen Louis 'düstere Stimmung abstach. Unter den Thüren des mittleren Salons standen alle die zusammengedrängt, die durch Alter oder Laune von dem jugendlichen Vergnügen ausgeschlossen waren, und sahen, mehr oder minder erheitert, dem lachenden Schauspiele zu. Louis trat unter diese. Die Gräfin tanzt! hieß es um ihn her; er blickte über die Schultern seiner Umgebung, und mitten im Saale unter den tanzenden Paaren stand auch Leonie und zeichnete mit den kinderkleinen Füssen, welche die Mode der Zeit dem Auge frei ließ, die anmuthigen Figuren einer Menuett, dieses amnuthigsten aller Tänze, die sich zum Dienste geselliger Freude herabgelassen haben. Aber ein Ausdruck von Trauer beschattete die lieblichen Zuge, und die zarten Füschen folgten dem Tacte der Musik mit einer ganz ungewohnten Lässigkeit.

Louis Abwesenheit hatte ihr diesmal denn doch zu lange gedauert, und da zugleich mit ihm auch Marie sich nicht sehen ließ, so hatte sie den besten Vorwand, sich nach der Ursache dieser Verlassenheit zu erkundigen. Sie war also denselben Vormittag zum Baron gefahren und lud selbst die ganze Familie, Louis natürlich mit inbegriffen, für den heutigen Abend ein, der ein sehr stiller sein sollte, sagte sie, wie in schüchterner Entschuldigung gegen Marie hingewendet. Mit offenbarer Befangenheit und zugleich mit einer kleinen Übereilung, die auf mehr zu deuten schien, als auf eine zufällige Verhinderung, lehnte diese die so freundlich gemachte Einladung für sich und ihren Bräutigam ab, und nur der Baron, dem die junge Frau ungerecht behandelt schien, versprach zu kommen und auch mit Louis zu sprechen, der ein Narr sei und öfter ärger als ein unvernünftiges Kind. So mit einer kleinen Sorge über Mariens Entfremdung und einer größeren, in wie weit Louis dabei betheiligt sei, war Leonie nach Hause zurückgekehrt. Da, wie sie sich senkte und hob in den immer graziösen Wendungen des Tanzes, gewahrte sie den stolzen, dunklen Kopf des Marquis, der über die hinteren Reihen ihrer Gäste in den Saal hineinsah. Trotz seines ernsten, bleichen Gesichtes, das mit solcher Strenge auf sie herabzublicken schien, blitzte ein freudig verführerisches Lächeln plötzlich über das Gesicht der reizenden Frau, und ihr Herz, das heute beklommener geschlagen, als seit langer Zeit, hob sich plötzlich frei und leicht.

Die Menuett war aus, des jungen Mannes Augen folgten dem Tanze nicht mehr. Er stand an den Thorpfosten gelehnt und blickte in finsterem Sinnen vor sich hin. Doch Leonie konnte nicht zu ihm; von allen Seiten wurde sie in Anspruch genommen, und schon erklangen die ersten Accorde zu dem nächsten Tanz. Erst gegen Ende desselben brachte eine rasche Wendung sie ihm näher, sie trat zurück, und in dem nächsten Augenblicke stand sie vor ihm.

Das Wehen der Luft verrieth ihm ihre Nähe, er sah auf und erschrak sichtlich, als er sie vor sich sah. Ein halb Spöttisches, halb mitleidiges Lächeln theilte ihre Lippen.

Sie sind lange nicht hier gewesen, sagte sie. Wo ist Marie?

Wie ein Stich ging der Name durch sein Gewissen seine eigene Unwürdigkeit und Mariens heiliges Vertrauen. Wie schön war Leonie! Wie glänzten die kleinen Zähne zwischen den feuchten Lippen! Wie verführerisch, noch in der halben Auflösung des Tanzes schmiegte sich das verrätherische Gewand an die zarten Glieder! Das Licht fiel von oben auf ihre Stirn, wie flüssiges Feuer strömte ihr Haar auf die blendenden Schultern herab. Auch ihre Blicke brannten, er schlug seine Augen nieder vor der Glut, die in den ihrigen lag, und sein Gedächtnis ging unter in einem Taumel der Leidenschaft. Da erscholl wieder die Musik.

Sie tanzen nicht? sagte Leonie, und schon stand er mit ihr unter den Tanzenden. So hatte noch Keiner mit ihr getanzt. Den Arm um die schmiegsame Gestalt gelegt, die so feenhaft zart erschien und doch mit so elastischer Widerstandskraft ausgestattet war, sah er das Wogen ihrer Brust, fühlte er ihren etwas bedrängten Athem kommen und gehen, und er vergaß, daß es noch Menschen außer ihnen gab. Man blieb stehen und drängte sich aus den anderen Zimmern zu, sie zu sehen; ihr Mann verließ den Spieltisch, um sich an dem Triumphe seiner jungen Frau zu erfreuen. Aber Louis hatte nur Augen und Gefühl für den wunderbaren Schatz lieblichster Weiblichkeit, den er mit seinen Armen umschlossen hielt. Es lag soviel kokette Herausforderung in ihrem Wesen, so viel wollüstige Hingebung zugleich. War es die Bewegung des Tanzes, die sie ihm näher brachte? Ihr Athem schlug wie Flammen an seine Brust. Das Blut kochte heiser in seinen Adern auf, und ein Rausch lag in allen seinen Sinnen. Jetzt blickte sie mit spöttischem Lächeln zu ihm auf und er schloß unwillkürlich sie fester an sich. Da wurde sie blaß, und mit ihrem Erblassen kehrte seine Besinnung zurück. Er erschrak über seine eigene Heftigkeit und hielt inne. Ich fürchte mich nicht! flüsterte sie leise mit gesenkten Augen zu ihm empor. Aber ihm war es zu viel. Er ließ sie los, taumelte und hielt sich nur mit Mühe von einer Ohnmacht zurück.

Du tanzest doch zu wild, sagte jetzt ihr Manu zu der Gruppe tretend, um welche die übrige Gesellschaft sich drängte. Leonie wandte ihm ihr erglühendes Gesicht zu und hing sich zutraulich wie ein reuiges Kind an seinen Arm.

Ich tanze so gern, sagte sie, aber wenn du es wünschest

Nein, mein Herzchen! erwiderte er, du sollst dich unterhalten, so viel du willst, nur schaden sollst du dir nicht, nur das nicht, liebes Kind! Er strich ihr liebkosend die Haare aus dem Gesicht, und sie schmiegte sich innig und lächelnd an ihn an. Zornig wandte sich Louis ab und ging hinaus. Unter der Thüre des Nebenzimmers blieb er versteinert stehen. Vor ihm stand der Baron.

Ich hätte Sie nicht hier gesucht, sagte dieser kalt. Beschämt stammelte der junge Mann eine Entschuldigung, das Lügen war ihm noch fremd, und er fing an, sich, zu ernüchtern unter diesem kalten Hauch der Wirklichkeit.

Ich werde Sie nach Hause begleiten, sagte er zum Baron, der sich zum Gehen anschickte.

Wie Sie wollen, versetzte dieser. Sie machten sich auf den Weg, aber keiner sprach. Louis ging mit bedrängtem Herzen, unter der Last seines Schuldbewußtseins und mit einer scheuen Ahnung, dessen, was da kommen konnte, neben ihm her. Der Baron hatte den Abend auf ihn gewartet und war deshalb so spät erst bei Leonie erschienen. Er hatte beschlossen gehabt, den jungen Mann mit Gewalt von dem Vorurtheil abzubringen, daß er so ungerechter Weise gegen die Gräfin gefaßt. Nun hatte er ihn freilich nur da gefunden, wo er ihn selbst hinführen wollte, aber seiner väterlichen Liebe hatte ein Blick genügt, um ihm Alles zu lösen, was ihm bis jetzt ein Räthsel gewesen war. Es ging ihm dabei, wie vielen Anderen; daß er selbst einmal der Sünde nahe gewesen, hatte zwar seinen Blick für Anderer Sündhaftigkeit geschärft, ihn aber durchaus nicht nachsichtiger gegen dieselbe gemacht, besonders in diesem Falle, wo das Glück seiner Tochter so nahe betheiligt war. Zudem schien ihm Louis 'Schuld noch vergrößert durch alle kleinen Nebensachen, die sie begleiteten, und die es so leicht war als berechnete Falschheit auszulegen.

Nein! brummte der Baron in sich hinein, eine verheirathete Frau! und dazu noch mit meiner Tochter verlobt! Der Teufel soll die Romantik holen! Wäre ich nicht in seine Mutter verliebt gewesen, nie wäre mir die Dummheit eingefallen! Wahr ist es, sie war eine kreuzbrave Frau, aber Millionenelement, das ist kein Grund, warum ich mein einziges Kind unglücklich machen soll. Er lachte einmal ingrimmig auf, als ihm einfiel, wie er Marie fast zornig befehlen mußte, ihn zu der Gräfin zu begleiten, und wie sie sich widersetzt, weil es Louis unangenehm sei. Ich glaube es wohl! setzte er zornig hinzu.

Von diesem stummen, aber inwendig desto lauteren Selbstgespräche vernahm der junge Mann natürlich nichts, die Übersetzung aber, die ihm sein Gemüt machte, war keineswegs in einem gelinderen Tone abgefaßt. Der ganze Weg war ihm eine Folter, durch welche dennoch hier und da, mit einem Wolkenschauer der Erinnerung, die Töne einer Tanzmelodie erbebten und verklangen.

Gute Nacht, Herr Marquis! sagte der Baron, der nun vor seinem Hause angelangt war, und er schlug dem jungen Manne so schnell die Thüre vor dem Gesichte zu, daß er dessen dargereichte Hand ganz übersah. In stummer Verzweiflung wandte sich Louis seiner Wohnung zu. Er hatte Marie den ganzen Tag nicht gesehen. Er empfand es als einen Mangel, als das Vermissen einer lieben Gewohnheit, die ein Theil unseres Lebens geworden ist. Er dachte, wie lange Zeit jetzt vielleicht vergehen wurde, bevor er sie wiedersah, und es fiel ihm schwer auf das Herz. Alles Gute in ihm bäumte sich auf und trieb ihn an, die Verstimmung wieder gut zu machen zwischen dem Baron und ihm. Er wollte zurück, noch diese Nacht, mit ihm reden, Alles gestehen, seine und Mariens Hilfe anrufen gegen sich selbst und Alles geloben, was man von ihm gelobt haben wollte. Doch nein es war heute zu spät eine eigene Scheu hielt ihn zurück sie schliefen vielleicht Alle schon, wie konnte er sie wecken, und schreiben ließe sich so etwas ja immer besser, als es sich sagen ließ. Er setzte sich hin, nahm Feder und Papier; aber nach den ersten Worten schon hielt er an. Was sollte er schreiben? Welches Versprechen würde man von ihm fordern? Louise nicht mehr zu sehen? Und stand denn das in seiner Gewalt? In wildem Schmerze stöhnte er auf. Nein, das konnte er nicht. Weinend warf er sich auf sein Bett. Er weinte wie ein Kind über das stille, friedenreiche Glück, das er geträumt, das ihm so nahe gewesen, und das er jetzt mit sehenden Augen und doch wie in blindem Wahnsinn von sich stieß. Und so schlief er endlich angekleidet auf seinem Bette ein.

Beim Baron aber verging die Nacht viel unruhiger, als Louis es sich gedacht. Marie war aufgeblieben mit ihrer Mutter, um den Vater zu erwarten. Sie war unruhig über Louis 'Abwesenheit und dachte, der Vater bringe ihn doch vielleicht noch mit auf einen Augenblick. Als der Baron so finster eintrat, überlief sie ein großer Schrecken.

Haben Sie Louis gesehen? frug sie und trat angstvoll auf den Vater zu.

Das war das unangenehmste Wort, das der Baron jetzt hören konnte. Den Taugenichts? rief er, zornig aufbrausend, ja, den habe ich freilich gesehen! Und höre, aus ist es, aus mit euch, merke dir's. Für den sauberen Herrn ist mein Kind nicht gewachsen.

Sein Gesicht war hoch geröthet, und Mariens erste Bewegung war ein furchtsamer Schritt von ihm zurück nach ihrer Mutter hin. Es war ihr zu verzeihen, wenn es ihr mit ihrem Vater nicht ganz geheuer schien. Auch die Baron war erschrocken.

Was ist denn geschehen? frug sie jetzt und sah fragend auf ihren Mann.

Es ist geschehen, daß ich dem Heuchler hinter die Schliche gekommen bin, und daß es aus ist mit der Verlobung, und daß ich kein Wort mehr davon hören will. Du giebst ihm den Laufpass und übrigens hat er ihn schon.

Dann sei Gott mir gnädig! rief Marie, in Thränen ausbrechend, und. sank auf einen Stuhl. Aber der Baron wurde nur zorniger, je mehr er fühlte, wie weh er seinem Kinde gethan. Die Baronin merkte nun wohl, etwas Besonderes müsse vorgefallen sein, und alle Einwendungen, die sie früher in der Verschwiegenheit ihres Herzens gegen die Heirath mit dem Ausländer gehabt, waren sonderbarer Weise im Nu aus ihrem Gedächtnis weggewischt; in diesem Augenblicke dachte sie nur an ihre Tochter.

O Mutter! rief Marie, ihr in heisen Thränen um den Hals fallend, reden Sie mit dem Vater. Aber die Baronin kannte ihren Mann und schwieg. Sachte nahm sie Mariens Hände in die ihrigen und zog sie still mit sich hinaus.

Weine nicht so! sagte sie draußen zu ihr, die Leute sollen nicht merken, was zwischen uns vorgefallen ist. Geh nur jetzt, ich kann besser mit dem Vater reden, wenn du nicht dabei bist. Es ist gewiß nur ein Missverständnis und wird sich beilegen lassen. Du weißt ja, wie aufbrausend der Vater ist.

Aber Marie schüttelte heftig verneinend den Kopf: so hatte sie ihn nie gesehen.

Lege dich nieder, sagte die Mutter, die sie unterdessen zu ihrem Zimmer geführt, aber warte auf mich, ich komme noch einmal zu dir.

Gehorsam suchte Marie ihre Thränen zu bezwingen, allein es wollte nicht gelingen. Auch niederlegen konnte sie sich nicht, dazu war ihre Unruhe zu groß.

Sie war zu vernünftig, um sich einer Täuschung hingeben zu können. Ihr Vater mußte guten Grund haben, um so aufzutreten gegen sein einziges Kind, und wenn er im Rechte war, was konnte sie thun? Wie die Zukunft für sie werden sollte ohne Louis, das wußte sie nicht, aber sich gegen den Willen ihres Vaters aufzulehnen, daran dachte Marie nicht! Ihre Mutter kam lange nicht, das Zimmer war kühl, ihre Aufregung ließ es ihr noch kälter erscheinen, und sie hüllte sich fröstelnd in einen Mantel. Solche Nachtwachen vergißt man in seinem Leben nicht.

Die Baronin that indessen auch ihre Schuldigkeit. Sie war die Ruhigste von Allen und hatte einen harten Stand gegen ihren Mann, dem Alles in dem schwärzesten Lichte erschien. Mit kluger Vorsicht, fast wie unbewußt, wußte sie ihres Mannes Geist darauf zurückzuleiten, auch sie habe zu verzeihen gehabt, und eine vernünftige Frau mache sich wenig aus solchen kleinen Verirrungen der Phantasie, wenn nur der Mann übrigens brav und ihr ergeben sei. Damit nahm sie den halben Zorn oder wenigstens dessen Berechtigung leise weg aus seiner aufgeregten Brust. Sie erinnerte ihn daran, welche endliche Anhänglichkeit der junge Marquis für ihn stets an den Tag gelegt, wie rein und offen sein Gemüth, und wußte alle Widersprüche seines Benehmens aus dem harten Kampf zu erklären, den er in der letzten Zeit mit sich gekämpft. Sie hatte eigentlich nie so recht ihres Mannes Begeisterung für die Gräfin getheilt, nun aber war sie es, die eine Entschuldigung um die andere für sie fand.

Selbst im schlimmsten Falle, setzte sie hinzu, mußt du bedenken, daß er keine Hoffnung hat, und das Mariens Glück nun einmal an ihn gebunden ist. Und dann, wie redet man nicht von einem Mädchen, dessen Verlobung zurückgegangen ist! Das war das rechte Wort.

Als der Baron eingeschlafen war, schlich sie sich hinaus. Es wird wohl Alles gut werden, sagte sie zu ihrer Tochter, die sie noch wach und angekleidet fand. Morgen wird der Vater gewiß zu Louis gehen. Sie küsste mit einer unbezwinglichen Rührung des Mädchens bleiche Stirn und wollte fort, aber ein bittender Händedruck Mariens hielt sie zurück. Sie blieb stehen, schien einen Augenblick zu schwanken und sah das Mädchen mit einem unschlüssigen Blicke an.

Wir wissen eigentlich gar nichts, sagte sie dann. Der Vater bildet sich ein, Louis habe eine andere Neigung gefaßt. Ich denke, du kannst verzeihen? setzte sie rasch hinzu, als sie ihre Tochter erbleichen sah.

Ja ich ich wohl! aber ich bin nicht allein, sagte Marie, und sie stützte die Stirn in die zitternde Hand.

Laß das! versetzte die Baronin. Sie drückte ihr die Hand und entfernte sich rasch.

Den folgenden Morgen, noch vor dem Frühstück, begab sich der Baron denn wirklich zu dem Marquis. Über Nacht hatte die Weisheit seiner Frau Wurzel geschlagen in ihm, und die erste Aufwallung hatte ruhigeren Gedanken Platz gemacht. Es schickt sich nicht, daß wir ihn so ohne Umstände von uns stoßen, da wir ihn doch einmal gewählt. Wir sind hier seine ganze Familie, hatte sie zu ihrem Manne gesagt, und mit seiner gewohnten Gutherzigkeit hatte er das denn auch eingesehen. Dennoch war er keineswegs versöhnt; auch schämte er sich ein wenig des Schrittes, den er zu thun im Begriffe stand. Aber Niemand sollte sagen, es habe ihm an Gerechtigkeit und Mäßigung gefehlt. Damit beruhigte er sich. Ungehindert ließ man ihn zu dem Marquis hinein, und er fand den jungen Mann noch in festem Schlaf. Das jagte alle Versöhnungsgedanken des gereizten Vaters in den Wind.

Ja, Der kann schlafen! sagte er bitter und stieß mit dem Stocke unsanft auf den Boden. Der Schläfer fuhr erwachend in die Höhe, an alles Andere hatte er eher gedacht, als den Baron vor sich zu sehen. Wollte er denn doch eine Versöhnung? Louis hatte den vergangenen Abend mit so tiefem Schmerz auf sein Verhältnis zu Marie zurückgeblickt, er hatte dessen Lösung mit solcher Überzeugung als das gewisse Unglück seines Lebens beweint! Und nun es anders zu kommen schien, als er es erwartet, legte sich diese Möglichkeit wie ein Alp auf seine Brust.

Der Baron indessen sah nicht sehr versöhnlich aus. Er hatte sich niedergelassen, und sein Blick ruhte fest und scharf auf dem jungen Manne, der die Augen befangen niederschlug.

Sie lieben die Gräfin? frug jetzt der Baron langsam und kalt.

Woran hängen des Menschen wichtigste Entschlüsse? Eine andere Einleitung, ja nur ein anderer Ton der Stimme, und dieser Schritt des verehrten, wahrhaft edlen Mannes, der für ihn ein Vater gewesen, hätte vielleicht Alles über den jungen Mann vermocht. So aber entstand in ihm ein Trotz ob dieser Verfolgung eines Gefühles, für das er nicht konnte, das er selbst nicht anerkannte, und das ihm bis jetzt so wenig Glück gebracht. Er wandte das Gesicht hinweg und schwieg.

Der Baron stand auf, stellte seinen Stuhl weg und machte einen Schritt nach der Thüre. Jetzt erschrak Louis.

Die Gräfin ist schuldlos! rief er aus und machte eine heftige Bewegung mit der Hand nach dem Baron.

Ich bin kein Sittenrichter, sagte dieser mit zornigem Hohne, ich sorge nur für mein eigenes Haus! Er verneigte sich noch und öffnete die Thüre.

Jetzt aber übermannte Louis die Weichheit, die er von seiner Mutter geerbt.

Verzeihen Sie mir! rief er laut und streckte dem Baron die Hände bittend nach.

Noch einmal wandte sich dieser um. Seine Augen stammten in furchtbarem Zorn, und seine Stirne runzelte sich; aber er wollte ruhig sein, und so blieb er es auch. Das sind leere Worte! sagte er. Entweder meine Tochter überlebt diese Erfahrung, und dann habe ich Ihnen nichts zu verzeihen, denn sie wird dadurch um eine kostbare Erfahrung reicher, oder sie überlebt sie nicht (hier schwankte seine Stimme) und dann verzeihen Sie sich selbst ich kann es nicht! Er schlug die Thüre hinter sich zu, daß sie krachte, und Louis sank vernichtet auf das Bett zurück.

O meine Mutter! stöhnte er, und ihre letzten Worte hallten ewig durch seine Seele nach. War es nicht, als stünde sie selbst neben ihm, den kummervollen Blick auf ihn geheftet, wie damals, als sie so sorgenvoll gewünscht: Ich möchte, er hätte die rechte Kraft!

Marie saß an ihrem gewöhnlichen Platz, mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihre Blässe ausgenommen, war es, als sei gar nichts geschehen. Die Baronin sah von Zeit zu Zeit mit einem bekümmerten Blicke zu ihr hin, doch auch sie sagte nichts, sie dachte, manche Dinge kämpften sich am besten unausgesprochen durch. Jetzt läutete die Hausglocke, und Marie stand auf, um hinauszugehen. Sie wollte bei der ersten Begegnung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter nicht zugegen sein, aber dem starken Mädchen versagte auf einmal die Kraft. Sie konnte die Stelle, wo sie stand, nicht verlassen, ihre Füße schienen mit dem Boden fest verwachsen zu sein, und alle Anstrengungen reichten kaum hin, den Krampf zu bezwingen, der ihr nach dem Halse stieg. Der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn, aber sie schämte sich ihrer Bewegung. Wie ein muthiges Pferd, das den Stachel fühlt, warf sie den schönen, für den Augenblick so stolzen Kopf in die Höhe, und mit fast übermenschlicher Anstrengung riß sie sich los. Sie schien gewachsen zu sein, so aufrecht hielt sie sich, und ging mit festen, ruhigen Schritten hinaus. Die Baronin sah ihr seufzend nach. Kurz darauf trat ihr Mann zu ihr ein.

Auch er sah blaß aus, es war ganz anders, als seine gestrige Aufregung. Nun? sagte die Baronin, als er still eingetreten, sich schweigend mit der Hand auf ihren Stuhl stützte und wie gedankenlos vor sich in die Weite sah.

Nun? wiederholte sie und legte sanft ihre Hand auf die seinige, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Es ist so, wie ich dachte, erwiderte er dumpf und noch immer vor sich hinstarrend. Die Baronin faltete die Hände in stummem Schmerz. Sie muß ihn vergessen, setzte er nach einer Pause hinzu. Er ist ihrer nicht werth.

Die Baronin erhob sich, um hinauszugehen. Unter der Thüre stand sie still und sah sich nach ihrem Manne um. Sein sprachloser Gram schnitt ihr fast tiefer ins Herz, als selbst die Sorge um ihre Tochter, und sie kehrte zu ihm zurück. Härme dich nicht so, sagte sie, liebevoll ihre Hand aus seine Schulter legend; Marie ist stark, sie wird's ertragen.

Ein dumpfes Stöhnen war seine Antwort. Ja, sagte er dann, mit der geballten Faust zornig auf die Lehne des Stuhles schlagend, das sie unter dem Schlage zerbrach, so sind wir Alle! Ein hübsches Gesicht, und Wir sind verloren. Blind blind blind! Er warf sich auf den Sessel und verbarg das Gesicht in die Hände, dann sah er auf. Geh zu ihr, sagte er, geh du zu ihr, ich vermag es nicht.

Die Baronin ging hinaus.

In dem anstoßenden Zimmer stand Marie, so weit als möglich von der Thüre entfernt und das Gesicht dem Fenster zugekehrt. Als ihre Mutter eintrat, wandte sie sich nach ihr um. Sie wollte sprechen, und konnte nicht; sie war bleich bis in die Lippen hinein, aber mit Gewalt bezwang sie die furchtbare Aufregung.

Es ist Alles aus? hauchte sie endlich so leise, daß es kaum hörbar an das Ohr der Baronin schlug. Diese nickte nur.

Du mußt dich fügen, sagte sie dann; er liebt die Gräfin, er hat es selbst gesagt.

Marie senkte den Kopf, ohne zu antworten; auch die Baronin schwieg. Bei gewissen Dingen ist aller Trost nur leerer Schall. Aber sie wußte, welche Erziehung sie ihrer Tochter gegeben, und daß diese Erziehung in Blut und Seele eingedrungen war.

Dein Vater ist sehr bekümmert um dich, hub sie endlich wieder zu reden an.

Es ist nicht nöthig, sagte Marie und warf das bleiche Antlitz stolz zurück. Noch eine Weile betrachtete die Baronin sie mit einem prüfenden Blicke, dann strich sie mit sanfter Hand die Haare aus des Mädchens bleicher, schweißbenetzter Stirn.

Ihr Mutterherz hob sich schwer in ihrer Brust, allein was konnte sie thun? Komm bald nach, sagte sie still und kehrte zu ihrem Manne zurück.

Marie blieb unbeweglich stehen; erst als die Thüre ins Schloß fiel, griff sie mit beiden Händen nach ihrem Kopfe; ihr war, als müßte er zerspringen. Ein Schauer rieselte über ihren Körper, die Kniee brachen unter ihr, sie glaubte zu fallen und streckte die Hand nach einer Stütze aus. Doch bald raffte sie sich wieder empor, setzte ihre Füße fest auf, machte zwei oder drei Schritte, wie um der wiedergekehrten Kraft gewiß zu sein, und folgte dann ruhig ihrer Mutter nach. Der Baron sah, seine Frau habe Recht gehabt: Mariens Seelenstärke war keineswegs auf dem schwachen Grunde der Gefühle gebaut.

In den Kreisen, die der Baron besuchte, wurde die Lösung des Verhältnisses sehr bald bekannt, und wie man sich früher über die Verlobung selbst gewundert, so wunderte man sich jetzt über deren Auflösung. Aber der Baron war als ein Ehrenmann bekannt, er war gut gestellt und einflußreich, und die allgemeine Stimme sprach sich natürlich zu seinen Gunsten aus. Louis stand allein und war ohne Einfluß, man konnte also gegen ihn ohne Gefahr streng sein. Zudem war das Interesse, das die Emigrirten bei ihrem ersten Erscheinen im Lande erregt, seither um ein Merkliches abgekühlt, und gar manche trugen nur zu sehr durch ihren Wandel zu dieser Veränderung bei.

Der Marquis hatte denn auch bald Gelegenheit, zu fühlen, wie seine gesellschaftliche Stellung eine ganz andere geworden war. Häuser, wo man ihn sonst gern gesehen, es aber jetzt mit dem Baron nicht verderben wollte, hatten nur mehr eine kalte Aufnahme für den jungen Mann, und Mütter heirathsfähiger Töchter, denen er bisher als Mariens Verlobter keine Sorge erregt, sprachen von der Nothwendigkeit, ihm ihre Thüre zu schließen. Louis ersparte ihnen die Verlegenheit, indem er sich von selbst zurückzog. Daß auch Marie, wie die Baronin gefürchtet, dabei manchen kleinen Seitenhieb bekam, versteht sich wohl von selbst; doch sie war schön und reich, und die Mutter hoffte, es wurde bald vergessen sein. Die Baronin, nun die Trennung entschieden war, und sie sah, mit welcher Kraft ihre Tochter jede Äußerung des Schmerzes niederzuhalten verstand, hatte sich damit ausgesöhnt. Die Einwürfe, die sie früher gegen die Partie gehabt, lebten wieder aus in ihrem Herzen. Marie konnte auf weit mehr Anspruch machen, und die nächste Wahl mußte eine sehr schlechte sein, wenn sie nicht in jeder Hinsicht die übertreffen sollte, die eben so schimpflich zunichte geworden.

Unterdessen zog sich Louis vor der äußeren Welt, die ihm plötzlich so rauh geworden warf, mehr und mehr in sich selbst zurück. Vielleicht wird man es ungerecht finden, das die Folgen einer unwillkürlichen und im Grunde redlich bekämpften Leidenschaft so schwer auf ihn zurückfiel; man wird sagen, das eine liebevolle Behandlung wohl mehr geeignet gewesen wäre, sein verirrtes Herz in die rechte Bahn zurückzulenken; man wird es sagen, und vielleicht hat man Recht. Aber erstens war Niemand verpflichtet, ihn liebevoll zu behandeln, und zweitens kann kein Mensch fürchten, was ans einen Anderen wirken mag. Für jetzt wenigstens brachte die Katastrophe, die seinem Leben eine andere Richtung gegeben, eine heilsame Erschütterung in seinem Gemüthe hervor. Der Schmerz, den er einem reinen, edlen Wesen zugefügt, weckte den Ernst in seiner eigenen Brust. Mariens Thränen fielen löschend in die Flammen seines Blutes, und alle Plackereien, welche die Trennung von ihr ihm gebracht, schienen ihm eine nur zu leichte Sühne seiner Schuld. Aber darein mischte sich noch eine andere Sorge es war die Angst um Leonie. Der Gedanke, daß eine Gefahr ihr drohen könne und zwar durch ihn, machte oft in plötzlichem Krampfe das Blut in seinen Adern erstarren und hielt ihn sicherer als alle Scrupel seines Gewissens von ihr zurück. Er übersah freilich, das Andere mit seinem Wesen weniger vertraut waren und ein ganz anderes Interesse an seinen Gefühlen nahmen, als der Vater seiner Braut.

Von ihrem Manne erfuhr Leonie zuerst die Nachricht, bei welcher, ohne das Jemand es ahnte, sie so nahe betheiligt war. Sie erschrak, ihre Hände zitterten so sehr, daß sie das Album, in dem sie gerade blätterte, weglegen mußte, um die Aufmerksamkeit des Grafen nicht auf sich zu ziehen.

Und weiß man den Grund? frug sie jetzt mit einem leisen Beben in der Stimme, das sie vergebens zu bewältigen suchte.

Der Baron meint, ihre Charaktere hatten nicht harmonirt.

Leonie athmete erleichtert auf: Marie klagte mir auch, er mache übertriebene Ansprüche an sie. Zum Beispiel wollte er ihr nicht erlauben zu tanzen.

Aber er tanzt doch selbst sehr gern, meinte der arglose Graf.

Die hübsche Gräfin biß sich die vorlaute Zunge, aber ihre kleine Verwirrung verduftete schnell.

Vielleicht war es Eifersucht, sagte sie; findest du Marie nicht schön?

Sehr schön.

Nun, siehst du! Und dann wer weiß, was er außerdem noch gefordert. Er ist ein Sonderling, und seine Mutter soll auch eine halbe Heilige gewesen fein.

Das Zerschlagen dieser Partie wird ihm schaden.

Freilich, war Leonie's scheinbar nachlässige Antwort.

Der Baron hat großen Einfluß. An eine Carrière für den armen Burschen ist nicht mehr zu denken.

Ja wohl, du müßtest dich denn seiner annehmen, sagte die kleine Gräfin mit einem schalkhaften Blick. Sie sprang auf, fiel ihrem Manne um den Hals und zog ihn mit sich zu einer neuen Jardinière, die er ihr denselben Morgen erst geschickt, und deren tausend besondere Schönheiten sie ihn tändelnd wieder und wieder zu bewundern zwang.

Zwei Tage darauf begegnete sie dem Marquis auf der Promenade, wo sehr viele seiner früheren Bekannten es vergessen zu haben schienen, daß der junge Mann vor Kurzem noch zu ihren liebsten Gästen gehört. Er sah bleich und niedergeschlagen ans. Offenbar waren seine Gedanken fern von dem Orte, vielleicht mit der alten Zeit und der alten Heimath beschäftigt. Leonie sah ihn zuerst, der Graf hatte seine Augen anderswo. Als er an ihnen vorüberging, blieb sie stehen. Er sah auf und erröthete, sie lachte. Wie geht es? Warum kommen Sie nicht? fragte sie.

Der Graf verneigte sich, schwieg aber. Leonie's Freundlichkeit war ihm in soweit nicht ganz angenehm, als er den Baron, den er sehr schätzte, und der ein besonderer Freund seines Schwiegervaters war, nicht vor den Kopf stoßen wollte.

Doch Louis bemerkte von diesem kleinen Nebenspiele nichts. Er hatte mehr Augen für Leonie, mehr Ohren für ihre süße, leise Stimme. Ihr Blick drang durch alle Poren bis in sein Herz. Verlegen stotterte er eine Antwort, von der er selbst nichts verstand. Ihr holdes Lächeln löste seine ganze Seele in glückliche Vergessenheit auf.

Sie müssen kommen, und bald, sagte sie, sich anmuthig verneigend, und schritt am Arme ihres Mannes ruhig weiter, während eine gefährliche Freude ihr Herz zu höherem Schlage trieb.

Du hättest das nicht thun sollen, sagte jetzt der Graf, und eine leichte Unzufriedenheit klang aus seinem Tone heraus. Der Baron kann es übelnehmen, und du weißt, wie viel dein Vater auf seine Freundschaft hält.

Der arme Junge dauerte mich, er sah so unglücklich aus, versetzte Leonie.

Freilich scheint er es zu fühlen, und es ist auch ganz natürlich; aber warum hat er seine Karten nicht besser gespielt?

Du hast gut reden, meinte Leonie mit einem bezaubernden Blick und einem leichten Druck ihrer Hand auf den Arm, der sie stützte; was hättest du aber gethan, wenn ich dir einen Korb gegeben hatte und ich wenn du setzte die reizende Hexe wie zögernd und halb gegen ihren Willen hinzu.

Der Graf erröthete und lachte und drückte zärtlich die kleine Hand, die so zutraulich auf seinem Arme lag. Leonie hatte die Stelle in seinem Herzen getroffen, wo für den wenig sentimentalen Mann Alles verständlich war.

Aber man muß sich von seiner Gutmütigkeit nicht zu weit hinreißen lassen, sagte er, in aller Liebe und Freude zu ihr niederschauend.

Du weißt, versetzte sie, er ist beinahe mein Landsmann und so alleine hier. Jetzt besonders. Ich dachte auch, du hattest eine Vorliebe für ihn indessen, wenn ich mich geirrt habe, wenn du nicht wünschest, ihn bei uns zu sehen

Nein, nein, Herzenskind! rief der Graf, gänzlich gewonnen für den Willen seiner Frau. Thue was du willst, was du für gut hältst. Es ist ja auch das Beste. Der arme, junge Mann! Ja, du hast Recht! es ist wirklich sehr hart. Der entzückte Graf drückte nochmals ihre Hand und dankte Gott im Herzen für den unvergleichlichen Schatz an Güte und Harmlosigkeit, den er ihm in ihr beschert.

Louis war unterdessen mit leichten Schritten seiner Wohnung zugeeilt. Alles, was ihn noch vor kaum einer Stunde belastet und beengt, hatte ein einziger Augenblick hin weggeweht. Leonie hatte ihn gesprochen, Leonie hatte ihn angesehen, so freundlich, ja, noch freundlicher fast, als in früherer Zeit, wo noch keine Schuld aus seinem Gewissen lag. Und doch mußte sie erfahren haben, was vorgefallen war; sie mußte wissen, und hier drängte sich Mariens blasses Bild seiner Seele unwiderstehlich auf ja, sie mußte wissen, daß er ein edles, treues Herz auf die grausamste Weise gekränkt, und sie hatte ihn dennoch so angesprochen, so angelächelt, so zu ihm aufgeblickt! Theilte sie denn nicht das allgemeine Vorurtheil gegen ihn? Oder und hier schlug sein Herz in lauten, vollen, angsterfüllten Schlägen oder wußte sie vielleicht, warum, und sprach ihr Herz frei von Schuld? Das Blut brauste in Adern, mit eiligen Schritten durchmaß er sein Zimmer; aber er erstickte in dem engen Raume; er mußte hinaus in Gottes freie Welt. Hastig ergriff er seinen Hut und stürmte fort. Unter dem Thore der Stadt streifte er an dem Baron vorbei, der stehen blieb und ihm lange nachsah. Louis hatte ihn nicht bemerkt. Für ihn gab es in diesem Augenblick nur noch Einen Gegenstand in der Welt.

Leonie, ein winziges Häubchen auf die schimmernden, überquellenden Locken gedrückt, in eine Wolke von blauer Seide und Spitzen gehüllt, aus welcher die weißen Arme und der feine Kopf mit dem träumerisch schmachtenden Ausdruck wie weiße Blüten hervor sahen, stand eben vor ihren Blumen, die sie nicht ohne Grazie hier von einem welken Blatt, dort von einer geknickten Knospe säuberte, und streute dazwischen liebliche, seltene Worte in ein Gespräch, das ihr Manu im Hintergrunde des Zimmers mit einem seiner Freunde führte. Sie hob sich so hoch sie konnte auf den zierlichen Füßchen und streckte mit nachlässiger Anstrengung die feinen Arme zu einer Seerose empor, die das duftige Gebäude als Krone überragte, als der Bediente eintrat und mit stark deutscher Beimischung den echt aristokratisch französischen Namen des Herrn Marquis de Chanteloup anmeldete.

Die Gräfin stieß einen kleinen Schrei der Überraschung aus, und die niedliche Scheere entsank ihrer Hand. Der Marquis trat ein, und erst, nachdem er sich vor den Männern verbeugt, suchte sein scheuer Blick die Frau des Hauses, die mit erneuertem Eifer über ihre Blumen gebückt, seinen Eintritt nicht zu gewahren schien. Mit einer gewissen Unschlüssigkeit trat er ihr einen Schritt naher, da wandte sie ihm den rosig angehauchten Kopf mit einem so holdseligen, frohen, halb verschämten Lächeln zu, das ihm das Herz vor tief überraschter Wonne stille stand.

Mit den besten Vorsätzen war er gekommen, diese wahnsinnige, wider alle Vernunft und alles Recht streitende Liebe zu besiegen um jeden Preis.

Der Todtestag seiner Mutter war wiedergekehrt, und diese für ihn so heilige Erinnerung an sie hob sich wie eine reine Leuchte über die wilde Flut seiner Leidenschaft. Was seine Mutter von ihm verlangen würde, konnte darüber wohl ein Zweifel ihn ihm sein? Je tiefer er sich in ihr Andenken versenkte, desto klarer und unwidersprechlicher erschien ihm seine Pflicht, desto mehr regte sich auch in ihm der Wille, dieser Pflicht gewachsen zu sein. Er wollte die Stadt verlassen, seine Stelle aufgeben und in irgend einem unbekannten Winkel fern von Allem, was ihn hier so lockend umgab, sein Brod, wenn es sein mußte, mit seiner Hände Arbeit verdienen und auf diese Weise für die unwillkürliche Verirrung Buse thun. Das diese schönen Vorsatze ihm gekommen, nachdem er sich durch reifliches Nachdenken überzeugt, Leonie habe ihm gegenüber ganz unbefangen nur die Pflicht eines guten Herzens erfüllt und von seinen eigenen sündigen Gefühlen eben so wenig eine Ahnung, wie ein unschuldiges Kind, das machte diese Entschlüsse um nichts schlechter und war zugleich ein Beweis von seiner eigenen Arglosigkeit.

Er war also entschlossen, sich loszureißen, und wollte nur noch Abschied nehmen; denn Abschied nehmen mußte er jedenfalls. Das hatte die großmüthige Güte, womit sie, die Einzige fast, sich nicht von ihm gewandt, gewiß von ihm verdient. Mit den grellsten Farben malte er sich die Undankbarkeit aus, die er begehen würde, wenn er fortginge, ohne sie vorher zu sehen, und den Genuß dieser wenigen Minuten in ihrer Nähe konnte er sich wohl erlauben, nun es so unwiderruflich beschlossen, daß es die letzten seien. Er wiederholte sich, daß er seinem Herzen nicht schmeicheln wolle durch dieses Wiedersehen, nur den Zauber wollte er ergründen, den sie so unerklärbar auf ihn ausgeübt; könne er ihn nur ergründen, sagte etwas in ihm, so höre der Zauber auf, ein Zauber zu sein, und an Leib und Seele wäre er von Neuem frei. Heute, an dem Sterbetage seiner Mutter, wo mit jeder vorüber fliehenden Minute sein Herz unter der Last einer schmerzlich süßen Erinnerung erbebte, wollte er zu ihr gehen, heute hatte die gefährliche Circe keine Gewalt über ihn.

Aber als er nun vor der reizenden Gräfin stand, fühlte er sich seines so leicht gedachten Sieges bei weitem nicht mehr so gewiß.

Sie haben mich fast erschreckt, sagte sie mit einem süßen Blicke, der sich, halb verschleiert nur, zu ihm stahl. Kommen Sie näher, sehen Sie meine Blumen an, fügte sie mit lieblicher Vertraulichkeit hinzu und reichte ihm die Hand. Von dieser kleinen, feinen, wunderbar zart gebildeten Hand, die er jetzt in der seinigen hielt, schien ein berauschendes Gift auszugehen, das in süßer Lähmung seine Seele betäubte. Er drückte seine Lippen darauf, und alle seine guten Entschlüsse flogen in den Wind. Eine lange Minute verging; ihre Hand lag noch immer in der seinigen, und er wußte es nicht. Sie stand neben ihm mit gesenkten Augen, verwirrt, betäubt, wie er, doch nur für einen Augenblick. Ihr Mann und sein Freund traten jetzt auch heran.

Meine Scheere liegt, glaube ich, vor Ihren Füßen, sagte sie schnell, wie in einem Anfluge von Ungeduld, und mechanisch bückte er sich danach. Sie nahm ihren Mann bei der Hand und führte ihn auf die andere Seite des Blumentisches, der Fremde folgte, und das Gespräch wurde nun allgemein.

Wir haben einen Brief von meinem Vater, sagte die Gräfin. Sie kennen meinen Vater nicht? fügte sie, zu Louis gewendet, hinzu.

Er verneinte stumm.

Nun, Sie werden ihn kennen lernen. Fragen Sie meinen Mann. Der schwärmt für ihn. Ich darf nichts sagen, da ich die Tochter bin.

Mein Schwiegervater ist ein Mann, wie es deren wenige giebt, betheuerte der Graf.

Und mit meinem Bruder müssen Sie sich befreunden, unterbrach ihn Leonie. Er ist viel zu ernst für sein Alter und geräth darin ganz meinem Vater nach. Sie müssen mir ihn aufheitern helfen, Herr Marquis.

Louis verneigte sich. Als er das Haus verließ, nahm er einen ganzen Himmel von Hoffnungen mit sich fort.

Du machst ihn ja ganz zum Hausgenossen, sagte der Graf zu seiner Frau, als später die Rede auf den Besuch zurückkam.

Er hat Niemand, versetzte sie, und dann bin ich froh, für Otto zu sorgen, der nie für sich selbst sorgen kann.

Der Marquis scheint mir eben auch nicht die personifizierte Heiterkeit zu sein, bemerkte der Graf, nicht ohne einen Anflug von Spott.

Desto besser passen sie vielleicht zusammen, scherzte Leonie.

A propos es ist ja schon lange, das Niemand vom Baron Lohenstein hier war, nicht wahr?

Ja wohl, ich begreife es nicht.

Das letzte Mal war der Baron hier an dem Abend, wo du so wüthend tanzest. Erinnerst du dich? Es muß schon damals mit der Verlobung nicht ganz richtig gewesen sein, denn gleich darauf soll der definitive Bruch stattgefunden haben.

Du meinst? sagte Leonie mit aller Ruhe der Unbefangenheit.

Es wäre doch unangenehm, wenn Marie oder sonst Jemand von der Familie den jungen Mann bei uns treffen sollte.

Dafür laß mich sorgen, ich habe meinen Plan, erwiderte Leonie mit einem vielsagenden Lächeln.

Wo ihr Frauen nur eine Herzensgeschichte wittert! sagte ihr Mann, und hob mit lächelnder Drohung den Finger gegen seine kindlich junge, reizende Frau. Nimm dich in Acht, fuhr er ernster fort, dein guter Wille bringt dir schwerlich etwas Anderes als Verdruss.

Leonie schüttelte schmollend das reichgelockte Köpfchen, dann mit einer plötzlichen Bewegung streifte sie leicht mit der Wange die Haare ihres Mannes, neben dessen Stuhl sie stand. Die kleine Liebkosung brach all seinen wohlarrangirten Vernunftgründen die Spitze ab und endete für heute das Gespräch.

Den folgenden Morgen fuhr sie zum Hause ihres Vaters hinüber, dort selbst nachzusehen, ob Alles für seine Rückkehr in der gewünschten Ordnung sei. Sie fand die Dienerschaft voll Freude, den jungen Herrn bald wiederzusehen, der unter den Augen der meist alten Leute groß geworden, und die Gräfin war am Nachmittage kaum von ihrer Spazierfahrt zurückgekehrt, so stürzte schon Otto in das Gemach. Leonie's Gesicht leuchtete hell auf. Selbst in ihrem dürren Herzen bebte eine kleine Saite der Liebe dem einzigen Bruder entgegen, der ihrem Willen nie das Geringste in den Weg gelegt.

Zerdrücke mich nicht so, sagte sie, als sie sich aus seiner rücksichtslosen brüderlichen Umarmung erhob. Du bist fast noch ärger, als mein Herr Gemahl!

Kaum angekommen, hatte er sich mit Gewalt von Allen losgemacht, die sich nicht satt an ihm sehen konnten, und war zu seiner Schwester geeilt, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sie setzte ihn in einen Stuhl und strich ihm mehrmals mit der einen Hand über die schon gebräunte Stirn, und wirklich, ihr Anblick mußte eine Freude für ihn sein. Sie war heute ganz in Rosa, trotz ihres röthlichen Haares; aber sie liebte den Wechsel, und im Grunde stand ihr Alles gut. Sie sah allerliebst aus, wie sie so in scherzender Heiterkeit vor ihm stand.

Du bist hübscher geworden, sagte sie, den reizenden Kopf in verführerisch unschuldiger Altklugheit wiegend. Man kann dich jetzt ohne Beschämung als Bruder aufführen. Er lachte und wollte sie auf seinen Schooß ziehen. Aber leicht wie eine Feder wich sie ihm ans. Solche Vertraulichkeiten schicken sich nicht mehr für mich, sagte sie, ihm mit dem Fächer auf die Finger klopfend, ich bin jetzt eine verheirathete Frau.

Ei, du zierliche Katz! antwortete er lachend.

Warte, ich werde dir zeigen, daß ich auch kratzen kann! rief sie, hoch erröthend.

Du bist ja gar nicht mehr so schläfrig, sagte er, über ihre Lebendigkeit erstaunt.

Ja, die Ehe hat sie etwas aufgeweckt, meinte der Graf, aber doch gehört sie noch immer zu den Stillen.

Otto richtete sich mit scheinbarem Entsetzen in seinem Stuhle auf. Dann behüte Sie Gott, Herr Bruder! rief er pathetisch, das Sprichwort ist zu grauenhaft.

Leonie stampfte den weichen Teppich mit dem kleinen Füße, wandte den Rücken und ging zornig hinaus.

Was hat sie? frug Otto überrascht.

Kinderei! sagte der Graf. Sie ist wirklich wie ein Kätzchen, und man weiß nicht, welche Laune ihr reizender steht.

Der Graf schien seine Frau zu kennen, denn gleich darauf schlug ein perlender Triller an sein Ohr, und bald folgte ihre Stimme, voll, klar und hell wie jubelnder Übermuth den geflügelten Tönen nach.

Den Grafen zog es unwiderstehlich an die Seite seiner Frau, und er nahm seinen Schwager mit sich hinaus.

Zu Hause entwarf Otto seinem Vater ein glänzendes Bild von dem Glück und der Liebenswürdigkeit der jungen Frau und ärgerte sich, als dieser ihn dabei nur mit einem ungläubigen Blicke ansah, der selbst nicht von seinem Gesichte wich, als sein Schwiegersohn, der bald nachkam, Alles, was Otto gesagt, mehr als bestätigte. Erst als er von dem Fenster aus seine Tochter, selbst kurz darauf aus dem Wagen hüpfen sah, leicht und blühend, wie die jüngste der Grazien, die noch kein Hauch des Kummers berührt, athmete er erleichtert auf. Er hatte nicht den Muth gehabt, selbst nach einer Überzeugung zu gehen.

In Gegenwart ihres Vaters indessen überkam die junge Gräfin die alte Beklommenheit, die sie als Mädchen stets vor ihm gefühlt, heute noch bedeutend verstärkt durch die Stimme ihres Gewissens. Sie sagte sich vergebens, sie habe nichts Strafwürdiges gethan; das Bild der Mutter wich nicht aus ihrem Geiste und durchbebte sie mit einem kalten Schauer der Angst. Aber um so inniger schloß sie sich an ihren Mann. Es war, als suche sie Schutz unter seiner warmen Liebe gegen die furchtbare Gefahr, die sie gespensterhaft in der Ferne aufdämmern sah. Ihrem ganzen Wesen hauchte es einen rührenden Ausdruck demütiger Abhängigkeit ein. Sie war so still, so unterthänig, so voll tief geheimer und ahnungsvoller Hingebung, daß selbst den alten Grafen etwas wie Rührung beschlich. Aber zu Hause gab die Spannung ihrer Nerven nach, und sie brach plötzlich in ein krampfhaftes Weinen und Zittern aus.

Was fehlt dir? fragte ihr Mann und zog sie in großer Besorgnis an sein Herz.

Ich will nicht sterben, sagte sie, und schlang ihre Arme fester um seinen Hals. Sie sah mit den thränenfeuchten Augen zu ihm empor, ein neuer Schauer überlief sie, und sie schmiegte sich dichter an seine Brust, in welche sie ihr Gesicht verbarg. O versprich mir, flüsterte sie, was auch geschehen möge, wie sehr du mir auch zürnen magst, laß mich nicht sterben nicht vor Gram und Elend untergehen!

Was fällt dir ein? rief er erschrocken, du bist krank! Aber sie ließ sich nicht beschwichtigen. Er hob sie in seine Arme wie ein Kind. Sie war so leicht und zart, so weich und schmiegsam wie ein Kind. Er küßte sie wieder und wieder und schloß sie fester an sich. Nun lachte sie unter Thränen zu ihm nieder; es war wie ein Mairegen, der über Blüten fallt.

Liebst du mich? flüsterte sie, seinen Kopf in ihre beiden Hände nehmend. Er sah betheuernd zu ihr auf, aber sie schüttelte verneinend den Kopf. Du sollst reden! sagte sie, und ein wehmüthiger Zug machte die seinen Lippen erbeben.

Wie kannst du zweifeln? erwiderte er, sonderbar von dem Auftritt bewegt. Sie antwortete nicht und lehnte ihre hochgeröthete Wange an die seinige, als wiege dieses Bekenntnis sie beruhigt ein.

Ja, er liebt mich, dachte sie, er liebt mich! Er gäbe sein Herzblut für mich hin. Er ist blind, wenn ich nur vorsichtig bin, und wenn nur der Vater blind bleibt. O Louis Louis, ich kann dich nicht aufgeben! wie süß der Name klingt! Wäre nur der Vater nicht hier O ich muß vorsichtig sein.

Und sie war es. Als der Marquis nach einigen Tagen wieder kam, war ihr Mann ganz erstaunt, daß sie sich verleugnet ließ.

Man muß auch ein wenig für sich leben, erwiderte sie mit einem müden Lächeln auf seine Bemerkung; man kann nicht immer gutherzig sein. Wenn du willst, lade ich ihn nächstens einmal ein vielleicht zu einer Soirée.

Wie du willst, mein Kind, thue was du willst! und er nahm seinen Hut, um zu gehen.

Aber ich will thun, was du willst, schmollte Leonie.

Nun gut, so lade ihn ein. Du weißt, mir ist der junge Mann ganz angenehm; und damit ging er fort. Noch in derselben Stunde setzte sich die Gräfin nieder und schrieb ihre Einladung an den Marquis.

Du weißt nicht, was ich für dich thue, dachte sie, nachdem sie ihr Billet überlesen und es nun träumerisch einen Augenblick vor sich niederhielt. Nein, du wirst niemals wissen, was ich für dich wage, gewagt habe und vielleicht noch wagen werde, um nur einige Augenblicke in deiner Nähe mich des Bewußtseins eines Glückes zu erfreuen, das ich doch nie von deinen Lippen hören darf sie erschrak über ihr eigenes Wort wenigstens jetzt nicht, setzte sie rasch hinzu. O jetzt nicht es wäre der Tod! Sie verhüllte schaudernd das Gesicht mit ihren Händen. Und wirst du ausharren? frug sie nach einer Pause fort, wirst du geduldig warten können, bis das Ferne nahe kommt und uns in seine berauschenden Wellen schließt? O Louis, ich habe zu viel auf dich gebaut! wenn der Faden reißt, der uns an einander knüpft, wer bewahrt mich da vor dem Untergang?

Sie kreuzte die Arme über die Brust, als wollte sie damit das drängende Wogen des Lebens zusammenhalten, von dem der junge Busen überquoll. Ihre erwachte Seele schlug die bunten Schmetterlingsflügel um sich und wollte sich nicht mehr einzwängen lassen in die alte, kalte, berechnete Vergangenheit. Wie war Alles so ganz anders geworden, als sie es sich gedacht! Sie öffnete die Lippen und athmete schwer. Der Boden wankte unter ihren Füssen, die Leidenschaft riß sie fort, und es war eine letzte Kraftanstrengung, mit der sie sich fest an das früher Gewollte hielt. Ich werde die Gelegenheit vermeiden, sagte sie, nachdem sie lange in Gedanken gestanden, über diese herrsche ich noch. Sie zog die Klingelschnur, schloß das Billet und schickte es ab. Ja, dachte sie, es ist besser so, ihn bei dieser Gelegenheit meinem Vater vorzustellen, und ist erst Otto mit ihm befreundet, so kann auch ich freier mit ihm umgehen, ohne daß es auffallend wäre. An demselben Tage begegnete sie dem Marquis und schien ihn nicht zu sehen.

Louis war nicht rosig gestimmt. In einer großen Stadt begegnet man oft Jahre lang den Leuten nicht, denen man am liebsten begegnen möchte, und um jede Ecke rennt man an einen Feind. Als er aus seiner Wohnung ging, sah er plötzlich Marie vor sich stehen. Zum ersten Mal nach langer Zeit, wenn auch nur auf einen Augenblick, hatte er in die ruhigen, braunen Augen gesehen, in die er früher so unaussprechlich gerne geschaut. Er dachte nicht daran, zu forschen, ob sie sich seit ihrer Trennung geändert oder nicht, er fühlte nur die Wohlthat der Nähe, die sich früher so oft wie Balsam über seine aufgeregten Nerven gelegt, und als sie nach stillem Gruße um die nächste Ecke verschwand, schien es ihm, als ziehe sein besseres Ich mit ihr fort. Die ganze letzte Zeit stand anklagend wider ihn auf. Wonach strebte er? was war es, das er wollte? wie weit stand es von den Idealen seiner Jugend ab und wofür? Was blieb ihm, wenn es ihm nicht gelang? und wenn es ihm gelang? O wenn es ihm gelang, unterbrach sein trunkenes Herz die mahnende Stimme der Vernunft, war nicht ein Augenblick solcher Seligkeit eine ganze Zukunft zahmen Glückes Werth, das von keiner Leonie getheilt und beseligt war?

Da begegnete er ihr, und ihr gleichgültiges Vorübergehen gab allen seinen Hoffnungen den Todesstoß. Die Liebe, oder vielmehr die Leidenschaft ist ein sonderbares Wesen, ein tolles Pferd, das seinen Reiter bald hier, bald dorthin reißt und die goldene Mittelstraße stets überspringt. Marie und Alles war vergessen in diesem neuen, unerwarteten Schmerz, und als er nach Hause kam und ihre Einladung auf seinem Tische fand, dankte er Gott, wie für das größte, sehnlichst erwartetes Glück. Er las das Billet und las es wieder, legte es weg und nahm es abermals und versenkte sich endlich ganz in das Studium dieser kurzen, niedlichen Zeilen, deren zierlich gezogene Buchstaben in ihrer flüchtigen Leichtigkeit wie tanzende Amoretten sich unter seinen Augen zu bewegen schienen. Auf dem Siegel stand ein Stiefmütterchen, das dunkle und helle Blümchen, von den Franzosen so sinnig genannt. Hatte sie es nur aus Zufall gewählt? Er druckte das Papier an die Lippen, ein feiner Dunst drang daraus hervor, und wie mit einem Zauberschlag stand die ganze reizende Gestalt vor seinem Geist; es war fast, als wehe ihr warmer Athem über seine Stirne; er fühlte ihren Blick, er sah das Lächeln, das, räthselhaft und liebkosend wie ein Kus, seine ganze Seele gefangen nahm. An Marie dachte er heute und auch den andern Tag nicht mehr; der Abend, der ihm bevorstand, schloß alle seine Gedanken ein.

Der Graf hatte einen Trupp entfernter Bekannten zu dem heutigen Feste eingeladen, das auch eigentlich wie eine Art Abzugskanal nur für sie gegeben war. Die lange Reihe der Gesellschaftszimmer stand geöffnet, ein Meer von Licht wogte darin, prallte an den hohen Spiegeln ab und umspielte in blendendem Widerschein die frischen Kelche der Blumen, deren farbige Fülle bis in jeden Winkel verbreitet war. Leonie, von zwei goldbesetzten Lakaien gefolgt, wanderte von Zimmer zu Zimmer besichtigend umher, weiß, in schweren Gewän - dern, mit Perlen um Arme, Hals und Haar, unmuthig, wie die lieblichste Fee. Plötzlich flog ein Schimmer der Freude über ihr Gesicht: Louis stand unter der Thüre und betrachtete sie bewundernd und verzagt. Er war zuerst von ihren Gästen gekommen und fand sie noch allein; freilich nur einen Augenblick, aber doch allein. Sie ging ihm entgegen, mit dem elastischen und etwas wiegenden Schritt, der ihr gewöhnlich war.

Ich muß Sie loben, sagte sie freundlich, mein Vater und mein Bruder werden gleich hier sein, und es liegt mir sehr viel daran, daß Ihnen Otto gefalle.

Sie entließ ihre Trabanten und setzte sich. Kommen Sie, fuhr sie fort, und wies ihm mit den Augen einen Stuhl an, der neben ihrem Sofa stand.

Nun, sagte sie, wollen Sie nicht der Freund meines Bruders sein?

Louis war in dem Anschauen des verlockend schönen Weibes versunken; ein wahrer Berg von Blumen war hinter ihrem Sitze aufgerichtet, und gerade über ihre Stirne wiegte sich die rötheste Rose und funkelte wie ein blutiger Stern.

Sie sind zerstreut, sagte sie, woran denken Sie denn?

Sie sollten immer unter Blumen sein, versetzte Louis, er wußte nicht wie.

Sie dürfen mir keine Complimente machen, wenn mein Mann nicht dabei ist, erwiderte die Gräfin mit einem Blick, der ganz andere Dinge sagte, als der reizende Mund. Ach, da ist er ja schon, rief sie aufstehend, und wahrhaftig, mein Bruder auch! und wirklich waren es Otto und der Graf. Wo ist mein Vater? frug sie jetzt.

Der Vater kommt erst später, versetzte Otto.

Sie schlug ihren Mann mit dem Fächer auf den Arm. Wo bist du so lang geblieben? schmollte sie, ich mußte den Herrn Marquis allein empfangen, und er hat mir gar ein Compliment gemacht.

Louis erröthete in peinlicher Verlegenheit.

Ich dachte, Sie wären kein Freund der Galanterie, sagte lächelnd der Graf.

Ich bitte dich, laß ihn geben, unterbrach ihn Leonie; du nöthigst ihm sonst noch das zweite ab, und das erste fiel ihm schwer genug.

Sie nahm den Arm ihres Mannes, und mit dem Fächer auf Otto weisend, fuhr sie fort: Herr Marquis, der blonde Jüngling, der Ihnen scheinbar so bescheiden gegenübersteht, hat die von ihm gar nicht hinreichend gewürdigte Ehre, mein Bruder zu sein, Otto Graf Thorstein, künftiger Majoratsherr, den ich Ihrem Wohlwollen empfehle. Otto, der Herr Marquis von Chanteloup, mein Landsmann, mit dem ich schon oft von dir sprach.

Sie ließ die jungen Männer bei einander und entfernte sich rasch, denn das Gedröhn auffahrender Wagen scholl mächtig von der Straße herauf, und bald war Alles rund umher Leben und Bewegung, in deren glänzendem Gewoge sich der Einzelne verlor.

Sprachlos blickte ihr Louis nach. Ihre scherzende Erwähnung einiger zwecklosen Worte hatte ihn tief verletzt. Sie ist falsch, durchzuckte es ihn zum ersten Male wie ein Blitz. Er beachtete die Vorstellung weiter nicht, und hatte sich halb von Otto weggewandt; da schob dieser, der, selbst schüchtern, fremde Schüchternheit instinctiv verstand, den Arm zutraulich unter den des Marquis und zog ihn mit sich in eine Fenstervertiefung fort.

Sie werden heute wahrscheinlich das schönste Mädchen der Stadt hier sehen, es ist eine Freundin meiner Schwester, ein Fräulein von Lohenstein. Der Mann ist glücklich, der sie als Frau heimführen wird, sagte Otto, der schon vor seiner Reise eine stille, schüchterne Verehrung für Mariens blühende Schönheit genährt.

Der Marquis antwortete nur mit einer Bewegung des Kopfes.

Sie kennen das Fräulein wohl nicht? frug Otto, von solcher Kälte überrascht.

O doch! versetzte der Marquis. Aber Otto sah, daß hier an keine Theilnahme für seine jugendlichen Gefühlsergüsse zu denken war, und sein neuer Bekannter verlor alles Interesse für ihn.

Mit unendlicher Liebenswürdigkeit, die sich für jeden Neuangekommenen immer neu zu verjüngen schien, machte Leonie indessen die Honneurs ihres Hauses. Ihr Vater war eingetroffen, und sie war froh sich ihm in einem neuen, vortheilhaften Lichte zu zeigen. Der Gedanke, das Louis durch seine Bekanntschaft mit Otto nun festeren Fuß in ihrem Hause gefaßt, machte ihr Herz glücklich und leicht. Einmal flogen ihre Augen nach der Stelle hin, wo Louis neben ihrem Bruder stand. Seine Stirn war umwölkt. Was mag er haben? dachte sie, aber sie konnte jetzt nicht zu ihm hin, und sie wagte es auch nicht; ihr Vater stand nur einige Schritte von ihr entfernt. Durch Otto sollte er ihm vorgestellt werden und nicht durch sie. Plötzlich legte sich eine heiße Hand auf ihre nackte Schulter. Ueberrascht drehte sie sich um; es war der alte Graf, der neben ihr stand, aber so bleich und finster, das die schuldbewußte Frau bis in den tiefsten Grund ihrer Seele erschrak.

Wer ist der junge Mann? frug er mit erstickter Stimme, auf Louis weisend.

Leonie zerdrückte fast den Fächer in ihrer Hand. Welcher? frug sie so ruhig als sie nur konnte.

Derjenige, der mit Otto spricht, sagte ihr Vater mit mühsamer Anstrengung.

Sie fühlte sich erblassen, aber sie faßte all ihren Muth zusammen und antwortete: Es ist ein Emigrirter, ein Marquis de Chanteloup.

Ein Seufzer hob des Grafen Brust; Leonie blickte zitternd auf, seine Stirn war von Schweiß bedeckt. Sie spielte mit dem Fächer, sie fühlte ihr Haar sich sträuben vor Entsetzen. Ihr Mann kam jetzt heran, nach ihr zu sehen. Sie lächelte ihm zu, sie nickte, sie sprach mit ihrer Nachbarin rechts, mit der, die ihr gegenüber saß, sie war witzig, heiter, glänzend, Alles aus furchtbarer Todesangst. Ihr Vater stand noch immer neben ihr, den starren Blick auf den Marquis geheftet, selbst zu aufgeregt, um die Aufregung seiner Tochter zu sehen: Er sieht seinem Vater sehr ähnlich, sagte er endlich, als spräche er mit sich selbst.

Leonie athmete auf, aber die Angst machte sogleich einer lebhaften Neugierde Platz: Sie haben seinen Vater gekannt? frug sie lebhaft.

Der Graf fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um eine unangenehme Erinnerung zu verwischen. Ja, sagte er dann kurz.

Und ist es wahr, das er auf eine so schreckliche Weise umkam?

Wer hat dir das gesagt?

O man hat es mir erzählt er erschoß sich, sagt man.

Ja, versetzte er dumpf, es war eine grässliche Geschichte.

Leonie wagte nicht weiter zu fragen, aus Furcht, ein zu großes Interesse an den Tag zu legen, und biß sich schier die geschwätzige Zunge ab.

Louis trat jetzt selbst heran, das Gespräch nahm eine andere Wendung, und sie lehnte sich in das Sofa zurück. Sie hatte das Gesicht fast ganz mit dem aufgespannten Fächer bedeckt und ließ die Unterhaltung gehen wie sie wollte. Das Unmögliche hätte sie gegeben, daß ihr Vater sich nur entfernt hätte, aber er entfernte sich nicht. Die Erscheinung des Marquis rief in ausfallendem Grade seine Theilnahme wach. Und damit war ihre Folter für heute noch nicht aus.

Was macht denn deine Freundin, Fräulein von Lohenstein? sagte plötzlich Otto, über den Tisch gebeugt, zu seiner Schwester.

Leonie zuckte ein wenig, aber Aller Augen richteten sich auf Louis, der mit einer etwas heftigen Gebärde aufstand und sich entfernte.

Was ist das? frug jetzt der Graf.

Otto hat eine frische Wunde berührt, Papa, erwiderte die Gräfin lächelnd. Der Marquis war mit Marie verlobt, aber das Verlöbniß hat sich gelöst.

Ei was! Und aus welchem Grunde?

Wer weis das? erwiderte Leone nachlässig.

Also darum? rief Otto, ganz betreten über seine Ungeschicklichkeit.

Leonie lächelte wieder. Der junge Herr ist eine von den sentimentalen Naturen, sagte sie, er trägt die Wunde noch immer mit sich herum.

Es thut mir leid, das ich es erwähnte, sagte Otto ganz reumüthig.

Verschiedene Bemerkungen flogen hin und her, Leonie litt es nicht mehr an ihrem Platz. Sie stand auf und begab sich in den nächsten Saal. Ihre Augen suchten nach Louis, aber hier war er nirgends zu sehen; so sich hie und da aufhaltend, mit dem Einen sprechend, dem Andern zulächelnd, ging sie durch die ganze Reihe der Zimmer und kam endlich in den letzten Salon. Hier saß Louis einsam an einem Fenster, durch die Draperie des Vorhanges ein wenig von der Gesellschaft getrennt. Leonie hatte ihn gleich entdeckt. Sie blickte um sich, ihr Vater war ihr nicht gefolgt, nur ihr Mann stand nicht weit vom Eingange und unterhielt sich mit einigen alten besternten Herrn. So, geschickt lavierend, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hielt sie sich einige Augenblicke bei ihnen auf und trat erst dann an Louis heran.

Er hatte ihre Nähe nicht bemerkt. Sein Blick war tief in sein Inneres gesenkt. Die zweifache Erwähnung Mariens hatte allen Widerstreit in ihm neu angefacht. Von ihr sprechen zu hören, die er vor kurzem so ganz als sein eigen angesehen, als von einer Fremden, ja, als der möglichen Frau eines Anderen, hatte auf ihn einen wunderbar störenden Eindruck gemacht. Deutlich wie nie zuvor fühlte er plötzlich, wie so ganz er von ihr getrennt sei; er rief sich alle ihre Eigenschaften vor die Seele; er sah sie in ihrem stillen, heiteren Wirken, in ihrer muthigen Treue, die von keinem Zweifel beeinträchtigt war, und er sagte sich mit Otto, der Mann sei beneidenswerth, bei dem ein solches Weib an dem heimatlichen Herde sitzte. Und dieses Glück hatte sein werden können, wenn er es nur gewollt! Nun es für ihn verloren, es für einen Anderen erblühen sollte, erfüllte ihn der Gedanke mit einem eifersüchtigen Widerstreben, dessen Thorheit er einsah, das er aber doch nicht gänzlich zu bannen vermochte. Fast Haß war es zu nennen, was er in diesem Augenblicke für Leonie empfand. Ihr Benehmen war so ganz anders, als er sich das Rechte stets gedacht. Aus unserer Kindheit nehmen wir den Maßstab mit, nach dem wir später die Menschen beurtheilen, und an alle Frauen legte Louis unbewußt und unwillkürlich den Maßstab seiner Mutter an. Aber für Leonie paßte dieser Maßstab nicht. Verstimmt und traurig wog er die drei Frauen, die solchen Einfluß auf ihn gehabt in seinem Kopfe hin und her: Marie, seine Mutter und Leonie, und die Letzte paßte nirgend zu den Anderen, wohin er sie auch that. Da stand sie in allem Zauber ihrer Anmuth vor ihm, und er beachtete sie nicht. Sie betrachtete ihn eine Weile und wehte ihm dann mit dem geöffneten Fächer lächelnd über das Gesicht. Er blickte auf, sein Herz schlug, aber er ärgerte sich über die Bewegung, die darin entstand; wie ein Gefangener bäumte er sich gegen die Kette, die um seine Seele geschlossen war.

Woran dachten Sie? frug jetzt Leonie, süß in Wort, Blick und Gebärde, einem Engel des Lichtes den Kopf zu verdrehen.

Louis sah ihr gerade ins Gesicht: An Marie, erwiderte er langsam. Sie war gut und wahr, und ich habe sie nicht nach ihrem Werthe geschätzt.

Die kleine Gräfin biß die feine Unterlippe mit den Perlenzähnen. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet, und, auf den Grund seiner Gedanken konnte sie nicht sehen; aber das jedes Zeichen von Laune hier unklug und nicht am Platze sei, das fühlte sie.

Gut und wahr, sagte sie leise; ja, Sie haben Recht, ihren Verlust zu beklagen, denn sie war wirklich gut und wahr. Die Hand mit dem Fächer sank herab, und Leonie sah nachdenkend vor sich nieder.

Das Herz des jungen Mannes war bewegt, auch er hatte eine solche Antwort nicht erwartet, und zu gleicher Zeit fühlte er sich enttäuscht. War er ihr denn so gleichgültig, das das Lob einer Anderen von seinen Lippen ihr so wenig nahe ging?

Ja, hub Leonie wieder an, diese leidenschaftslosen Charaktere haben in ihrer Ruhe einen eigenen Zauber, den ihnen weder Glück noch Unglück rauben kann. Beides streift über sie hinweg, der Grund ihrer Seele wird davon nicht berührt. O wie oft habe ich Marie um diese glückliche Ruhe beneidet, die sie jede Wendung des Lebens mit Gleichmuth hinnehmen last.

Louis errötete. Wieder siegte das Bessere in ihm. Marie ist nicht gefühllos, sagte er leise und befangen.

O nein, Marie ist ein gutes, vortreffliches Kind. Aber bleibt Ihnen wirklich keine Hoffnung?

Louis blickte nieder, ohne zu antworten.

Sonderbar! sagte Leonie, und sie hat Sie wirklich geliebt?

Ich glaube es, versetzte der junge Mann leise. Leonie wiegte ungläubig den Kopf; er sah sie fragend an. Sie zweifeln? sagte er dann.

Ich will Sie nicht kränken, antwortete sie, aber ich zweifle, ob Marie je wahre, aufopfernde Liebe empfinden kann. Jemand, der sie sprach, versicherte mir, sie sei heiter, und man sehe ihr keine Veränderung an. Ich möchte nicht, daß Sie sich Täuschungen hingäben. Marie ist in Allem dem Willen ihrer Eltern unterthan. Sie ist glücklich wenn sie auch die höchsten Freuden des Lebens nie kennen wird, sein bitterster Schmerz bleibt ihr ebenso fremd. sie ist glücklich, setzte sie nach einer Pause hinzu, und dann leise wie ein entfliehender Hauch, ich wollte, ich wäre wie sie. Sie wandte das Gesicht hinweg, und Louis glaubte eine Thräne an den langen, dunklen Wimpern zittern zu sehen. Er war so betroffen, so beklommen, so entzückt, und doch voll so unnennbarer Angst, daß er keine Worte für seine Gefühle fand.

Sie, rief er endlich. Sie, die trotzt Allen Angebetete, die Bewunderte, die Glückliche, Sie reden so?

Sie warf ihm einen Blick zu voll wehmüthiger Ironie, ein schwaches Lächeln öffnete den reizenden Mund: Es ist nicht Alles Gold was glänzt, sagte sie leise, und sich flüchtig verneigend entfernte sie sich. Louis dachte an keine Falschheit mehr.

Wie gefällt dir der französische Marquis? frug der Graf seinen Sohn auf der Heimfahrt von der Soirée.

Mein Gott! sagte Otto, er ist ja fast wie ein Mädchen.

Der Graf antwortete nicht, er hatte viel zu denken, und Otto hing ebenfalls seinen eigenen Gedanken nach.

Trotz Leonie's Bemühen, bildete sich kein besonders freundschaftliches Verhältnis zwischen den jungen Leuten aus. Bei Otto mochte eine kleine Eifersucht mit im Spiele sein, bei Louis war es die unüberwindliche Abneigung, eine Freundschaft zu suchen, die für ihn doch nur ein Mittel zum Verrathe war. Selbst dem alten Grafen wich er aus, der eine ungewöhnliche Theilnahme für den jungen, allein stehenden Mann bewies. Der unangenehme Eindruck, den sein erster Anblick offenbar auf ihn gemacht, schien vollkommen verwischt. Er vermittelte mit großem Eifer seine Beförderung; als aber diese eintraf, wies Louis sie aus den obengenannten Gründen entschieden zurück, freilich hätte sie ihn auch nach einer anderen Stadt versetzt und somit von Leonie getrennt. Der alte Graf war überrascht, doch schreckte ihn dieses Fehlschlagen seines guten Willens nicht ab; und mit Wort und That trat er wirksam gegen das Vorurtheil auf, das sich gegen Louis geltend gemacht.

Leonie war sehr erfreut über diese unerwartete Wendung der Dinge; es bewies, ihr Vater sei, wenigstens jetzt, zu keinem Argwohn geneigt, und das beruhigte sie sehr. Auch hatte sie dadurch den Zweck mehr als erreicht, den sie erst durch Otto's Bekanntwerden mit Louis zu erstreben gesucht. Ihr Vater hatte den Vater des Marquis gekannt, es war fast eine Verwandtschaft, welche in diesem Begriffe lag. Selbst auf ihren Mann übte es einen gewissen Einfluß aus. Er wurde herzlicher gegen den jungen Mann, und seine Zuneigung für ihn war nicht mehr bloß eine Erdichtung Leonie's. Das Alles war gut, und doch schärfte es merkwürdig die Gedanken der jungen Frau, etwas Anderes als nur das Gute darin zu sehen. Warum war ihr Vater erblaßt bei der Erinnerung an eine Bekanntschaft, die schon so lange vergangen war? Welche Erinnerung war es, welche die Ähnlichkeit Louis 'mit seinem Vater so furchtbar in ihm geweckt? Leonie dachte an einen Racheschrei, den sie einmal gehört, war es möglich, das dieser Racheschrei mit der längst Verstorbenen in Verbindung stand? Sonderbare Verkettung der Umstände, die hier auf fremdem Boden den Faden wieder anknüpfte, den der Tod seit so langer Zeit zerrissen zu haben schien. Aber was war es dann, was ihren Vater, der gegen alle Welt so verschlossen und fast abstoßend war, zu solcher Freundschaft für den Sohn eines so wenig geliebten Mannes trieb? Wußte sie es nur! Sie sah keinen Weg, und doch hatte sie es so gerne gewußt! Der unsichere Boden, auf dem sie ging, und der, ihrem Vater gegenüber, ihr noch einmal so unsicher erschien, mußte fester werden, so dünkte es ihr, sobald sie nur wüßte, in welcher Beziehung Louis zu ihrem Vater stand.

Dazu trat ein anderes Element, von dem sie nicht wußte, sollte sie es als einen glücklichen Zufall oder eine drohende Mahnung ansehen. Otto's Interesse für Marie trat mit jedem Tage deutlicher hervor, und das ruhige Mädchen nahm seine Aufmerksamkeit, doch ohne sie zu ermuthigen, aber doch immerhin nicht unfreundlich auf.

Sage mir, sagte ihr Vater eines Tages zu ihr, hat der Marquis noch Ansprüche an Marie?

Wie soll ich das wissen? frug sie dagegen mit einer eigenthümlichen Beklommenheit.

Du am besten.

Ich? rief sie mit einer Überraschung, die gar nicht in ihrer Rolle lag.

Nun ja, du bist ihre Freundin, du warst es wenigstens warum siehst du sie denn nicht mehr?

O, seitdem ich verheiratet bin sagte Leonie nicht ohne einige Verlegenheit.

Hm, meinte ihr Vater, es wäre mir lieb, darüber im Klaren zu sein. Ich will dem Marquis nicht in den Weg treten, wenn er noch Hoffnung hat; aber Otto interessirt sich lebhaft für das Mädchen, und es wäre mein Wunsch, ihn bald verheirathet zu sehen.

Und da wäre Marie eine gute Partie? forschte lächelnd Leonie.

Das Mädchen scheint mir eine Perle zu sein, ich wußte für Otto kein besseres Glück.

Da gibt es Conflict der Interessen, sachte lachend Graf Hoheneck, meine Frau hat bereits für den Marquis Partei ergriffen.

So? sagte ihr Vater.

Mein Gott, fiel Leonie ein, was thut man nicht, wenn man nichts zu thun hat! Und der arme Junge sah so sentimental aus! Indessen, wenn die Bande des Blutes sprechen, so werde ich wohl für Otto sein.

Von nun an kam sie wieder öfter mit der Familie des Barons zusammen. Niemand im Hause hielt die Gräfin für schuldig, deren eheliches Glück in der ganzen Stadt zum Sprichwort geworden war; ihre Schuld war es nicht, wenn auch außer dem Wege der Pflicht, ein schwaches Herz von dem Zauber ihrer Anmuth sich bethören ließ; aber mit oder ohne ihre Schuld war durch sie auf Mariens Leben eine Wolke gefallen, die sich nicht so leicht bannen ließ, und trotz dem beiderseitigen Bemühen stellte sich die alte Herzlichkeit nicht wieder her. Auch war jetzt Etwas in Marie, was jede zu nahe Vertraulichkeit verbot. Der Schmerz, der sie berührt, hatte sie nicht gebrochen, aber er hatte sie reifer, frauenhafter gemacht und ihr eine unbewußte Würde mitgetheilt, die sie weit über die Intimität Leonie's erhob, und vor welcher diese instinktiv zurückwich.

Da mit Marie nichts anzufangen war, so wandte sich die Gräfin, gegen alle Instructionen, mit ihrer Diplomatie an die Baronin selbst, die Otto's Annäherung sehr wohl verstand und seiner Schwester auf halbem Wege entgegenkam.

Marie hat an meinem Bruder eine entschiedene Eroberung gemacht, sagte sie eines Tages zu der klugen Frau. Er schwärmt für sie aus die ritterlichste Weise, denn er schwärmt nur für sie. Ich könnte eifersüchtig sein, wäre es nicht Marie.

Der junge Graf ist ein sehr liebenswürdiger Cavalier, erwiderte die Baronin, die sich nicht vorwagen wollte und Compliment mit Compliment vergalt.

Der arme Marquis! sagte Leonie leicht, während sie mit dem Fächer spielte und nach einer anderen Seite sah. Wissen Sie, daß er mir leid thut? Ist wirklich keine Hoffnung mehr für ihn. Davon kann gar nicht mehr die Rede sein! fiel die Baronin lebhaft ein. Wäre es nach meinem Sinne gegangen, wir hatten nie an eine solche Partie gedacht.

Aber Marie?

Marie ist viel zu vernünftig, um einem Traum nachzuhängen, der sich mit unserer Einwilligung nie erfüllen kann.

Sie glauben also, das, wenn ein Anderer es versuchte ?

O, unterbrach die entzückte Baronin, was das betrifft, so haben sie noch nicht daran gedacht. Marie wird freilich nicht unverheirathet bleiben, weil zufällig der erste Mann, den wir ihr bestimmt, nicht für sie gepaßt, denn im Grunde waren wir es mehr, das heißt, mein Mann, der ihn gewählt, als sie, das arme Kind, die nun die Folgen trägt. Sie wissen, setzte sie vertraulich hinzu und rückte der Gräfin näher, mein Mann hat seine Mutter, die Marquise de Chanteloup, in Paris gekannt es ist nun sehr lange her ich war damals Braut, und nach seiner Rückkehr sollte unsere Hochzeit sein. Die Marquise war sehr schön, glaube ich, und sehr unglücklich, und es entstand da so eine kleine Schwärmerei. Wenn eine Frau glücklich sein will, so forscht sie nicht zu viel nach solchen Vergangenheiten und begnügt sich mit der Gegenwart. Aber wie gesagt, es war eine romantische Idee meines Mannes, der Marquis müsse wie seine Mutter sein, und da hatte er denn nahezu unser armes Kind recht unglücklich gemacht. Jetzt freilich wird sie es überwinden, meine Marie ist zu gut und verständig, es nicht zu thun, sie weiß, was sie uns schuldig ist. Und sehen Sie, liebe Gräfin hier rückte sie noch näher, ich glaube, die wahre Liebe wird für sie erst anfangen, wenn sie einmal verheirathet ist. Nun aber, natürlich, er war doch ihr Bräutigam, und so gehört Zeit dazu, bis sie diese erste Täuschung überwunden hat. Ihr Herz muß ausruhen von der Erschütterung, bevor er wieder Vertrauen fassen kann, und selbst die glänzendsten Aussichten, hier nahm sie Leonie's Hand, ja die ehrenvollsten, denen wir uns am liebsten zuwenden möchten, müßten wir jetzt verschieben, bis Mariens Stimmung sich besser damit vertragt. Das liebe Kind soll nicht unsertwegen ein Glück annehmen, das sie nicht als ein Glück empfinden würde. Sie verstehen, liebe Gräfin, Marie soll frei wählen, das heißt, setzte die gute Mutter bedachtsam hinzu, so frei, als es sich mit ihrem Glücke verträgt.

Leonie nickte ihr verstehend zu. Es wird meinen Bruder sehr glücklich machen, sagte sie mit einem zauberhaft freundlichen Lächeln, zu hören, das Mariens Herz nicht unheilbar verwundet ist. Das seinige ist wenigstens sehr krank. Mein Vater glaubt es mit mir. Sie erlauben mir doch, aus der Schule zu plaudern?

O, es soll durchaus kein Geheimnis sein, erwiderte die Baronin verbindlich. Leonie erschien ihr als die liebenswürdigste Frau von der Welt, und sie übernahm von nun an die Schwärmerei, die früher ihr Mann für die hübsche Gräfin gehabt.

Und unterdessen ging Leonie's Roman mit Louis seinen stillen, geheimen Gang ungestört und unaufhaltsam fort. Seit jenem Abend, wo er die vielsagende Thräne an ihrer Wimper zittern gesehen, war der junge Mann mehr als je gefangen.

Noch hatte er mit Leonie kein Wort von Liebe gesprochen, und doch, wie weit mit einander waren sie schon! Wie brannte sein Blut, wenn ihr Kleid ihn streifte, welche heiße Wollust lag in ihrem Blicke! Die gewaltige Sprache der Leidenschaft flog zündend zwischen ihnen hin und her, während die Welt nur gleichgültige, inhaltleere Worte vernahm. Da war an kein Halten mehr zu denken, was sie noch trennte, war nur die kalte Macht der Nothwendigkeit. Ein einziger Funke, und an allen Ecken schlugen die Flammen hervor.

Thun wir denn etwas Unrechtes? beschwichtigte er sein Gewissen, wenn es dann und wann noch die Stimme in ihm erhob. Was haben wir von dem Allen, als das wir Beide unglücklich sind?

Und er war es wirklich. Aber es war nicht der Drang nach dem Besseren, der, wie früher, seine Seele in zwei streitende Hälften riß; der nicht zu sättigende Durst der Leidenschaft hatte, für jetzt wenigstens, jede andere Stimme in ihm erstickt. Leonie sah, daß er litt, und sie litt mit ihm; aber mit der Härte, die in ihr lag, kümmerte sie sich nicht darum. Sie frug ihr Herz nicht, sie ging ihren Weg und blickte nur auf das Ziel.

Er muß warten lernen, dachte sie, er wird noch oft warten müssen, denn meine Stellung setze ich nicht aufs Spiel. Und doch, was litt sie nicht! Ich will glücklich sein, sagte sie, tief aufathmend, ich muß es sein, aber jetzt nicht jetzt ist noch nicht die Zeit! Wäre nur mein Vater fort! wüßte ich wenigstens, daß alle seine Freundlichkeit nicht bloß eine Mine ist, die mit mir auffliegen wird, wenn ich am wenigsten daran denke! O diese dumme Liebe, die Otto hier zurückhalten muß! Hat uns diese Marie nicht schon weh genug gethan?

Sie zog das Weltleben um sich wie eine Mauer und lebte in einem Strudel von Zerstreuungen, der ihr fast keinen Augenblick des Nachdenkens und der Einsamkeit ließ. Und doch kam die Stunde, die sie mit solcher Gewalt von sich fern zu halten suchte, und als sie kam, fehlte ihr die Kraft, ihr aus dem Wege zu gehen.

Eines Tages war Otto bei ihr und überließ sich seiner Begeisterung für die noch ahnungslose Braut, die er erwählt, da trat der Marquis sonderbarer Weise unangemeldet herein.

Wo ist mein Schwager? frug Otto, um einen Grund zu haben, dem unliebsamen Störer auszuweichen.

Mein Mann ist auf seinem Zimmer ich will mit dir gehen, sagte sie rasch, als er sich nach der Thüre wandte, und sie wollte ihm nach.

Da legte Louis mit einer flehenden Gebärde seine Hand auf die ihrige, und sie sank wie gelähmt auf den Sessel zurück.

Einen Augenblick dulden Sie mich allein bei sich! sagte er leise und zitternd zu der ebenfalls zitternden Frau.

Sie sah zu ihm auf mit einem träumerischen Lächeln voll unaussprechlicher Süßigkeit. Sie saß vor dem Klaviere.

Spielen Sie, bat er.

Gehorsam glitten ihre Finger über die Tasten.

Er stand hinter ihrem Stuhl. Sie spielte, sie wußte nicht was; sie fühlte, sah, hörte, empfand nur ihn; er war in der Luft, die sie einathmete, ihr ganzes Wesen schien in fühlendem Empfinden aufzugehen und seine Gegenwart in sich zu saugen. Ihre Finger wurden schwerer, ihr Kopf neigte sich unmerklich zurück, fast bis an seine Brust. Er küsste die gekräuselten Locken, die seinem Munde so nahe waren, berauschende Schwüle umwogte ihn, umfloß sie wie ein glühendes Meer und machte alles weitere Denken unmöglich. Sie spielte immer langsamer, nun sanken ihre Hände herab, sie blickte aus zu ihm, er beugte sich ein Kuß ein langer Blick dann noch ein Kuß

Die Sonne schien in das Zimmer herein, der Vogel sang in seinem vergoldeten Käfig, die Blumen dufteten. Alles umher war Glanz, Reichthum und Harmonie, und mitten, darin standen zwei selige schuldige Menschen Hand in Hand und vergaßen Erde und Himmel um sich her.

Otto's nahende Schritte schreckten die Beiden aus ihrer Trunkenheit auf. Er hatte seinen Schwager zu einem Gespräche nicht gelaunt gefunden und kehrte mißmuthig zu seiner Schwester zurück.

Was habt ihr denn? frug er erstaunt, als er sie so verwirrt neben einander stehen sah.

Leonie faßte sich zuerst. Der Herr Marquis war so traurig, daß es mich ergriff, sagte sie.

Otto schüttelte ungläubig den Kopf. Was erzählten Sie meiner Schwester? frug er den Marquis, als er gleich darauf mit ihm das Haus verließ.

Louis senkte den Kopf in der größten Verlegenheit. Es gibt so Vieles, sagte er dann, was mich traurig machen kann. Sie wissen, mein Vater erschoß sich, als ich noch ein Knabe war, und meine Mutter hier pochte sein Herz unter einem stechenden Vorwürfe starb an gebrochenem Herzen.

Hm, sagte Otto, ich habe keinen Grund, Ihnen nicht zu glauben, künftig werden Sie aber besser thun, meiner Schwester keine solchen Geschichten zu erzählen, es mochte ihrem Manne doch nicht angenehm sein.

Der Marquis biß sich auf die Lippen, aber vor dem Zauber der Sünde hat noch keine Warnung geschützt.

Sie sehen, welcher Gefahr Sie mich aussetzen, sagte Leonie zu ihm, als er schon den folgenden Tag wieder kam, denn die Erinnerung an die genossene kurze Seligkeit ließ ihm keine Ruhe fern von ihr. Sie sehen, daß ich der Stimme meines Herzens nicht folgen kann. Denken Sie daran, daß ich nicht mehr frei bin. Mein Mann und mein Vater sind beide unerbittlich mein Vater besonders. Schonen Sie mich! Sie wissen nicht, was er schon gethan mein Leben selbst ist nicht sicher vor ihm.

Ja, erwiderte er, Sie haben Recht! ich sehe wohl, daß meine Liebe zu Ihnen ein Verbrechen ist, aber was soll ich dagegen thun? Ich kann nicht leben, ohne Sie zu lieben, ich habe es vergeblich versucht, und meine Liebe bringt Ihr Leben in Gefahr. Das Beste ist, ich thue, wie mein Vater, und jage mir eine Kugel durch den Kopf, dann haben wir Beide Ruhe.

Doch nicht, ohne mich zu fragen? rief sie, seinen Arm mit beiden Händen fassend. O Louis, wissen Sie denn nicht, daß ich Sie unaussprechlich liebe? Ist Ihnen meine Liebe allein nicht genug?

Ihre Augen standen voll Thränen, ihre Lippen zitterten, sie war schon wie ein Engel des Lichts in ihrer rührenden Liebesangst.

Leonie! rief er laut; er sank ihr zu Füßen und umschlang sie mit beiden Armen.

Louis, süßer Louis! flüsterte sie, über ihn gebeugt, zwischen einer Thräne und einem Kuß: Mein Louis! all mein Glück bist nur du allein!

Er küßte ihre Hände, ihre Kleider, ihre Füße, ihre thauigen Lippen, er schloß sie an sich und drückte den heißen Kopf in ihren Schooß.

Da erschallten Schritte, das Nebenzimmer entlang. Steh auf! rief Leonie hastig und todtenbleich.

Louis sprang in die Höhe. O diese Marter! rief er aus.

Leonie's Antwort war ein Lachen, so hell, so frisch, so kinderrein lacht denn nicht mehr allein die Unschuld so?

Es war ihr Mann, der hereintrat. Fröhlich lief sie ihm entgegen.

Der Herr Marquis ist verdrießlich, wenn nicht Alles nach seinem Kopfe geht, scherzte sie. Sie hing sich an des Grafen Arm und lachte wieder, als er sich zu ihr beugte, sie zu küssen, und sie mit einer spielenden Bewegung der ehelichen Liebkosung glücklich entwich.

Sage dem Marquis, er solle Geduld haben, sagte sie. Schon eine gute Viertelstunde predige ich ihm Weltweisheit, aber von mir nimmt er sie nicht an. Er ist ein rechter Trotzkopf! setzte sie mit einer kindlich naiven Gebärde beleidigter Würde hinzu.

Ich weiß zwar nicht, um was es sich handelt, wandte sich jetzt der Graf an den Marquis, der finster dareinsah bei der spielenden Tändelei, aber Geduld ist immer gut, und so folgen Sie nur immerhin dem Rathe meiner kleinen Frau.

Ja, sagte Leonie, er soll nur daran denken: Geduld bringt Rosen, und die Zeit kommt auch, wo wir sie pflücken können. Das Aufbrausen nutzt gar nichts, schadet aber oft sehr viel. Und nun muß ich Sie verabschieden, Herr Marquis, mein Mann ist nur nach Hause gekommen, um mit mir wieder auszugehen.

Sie reichte ihm die Hand, die er stumm an seine Lippen führte, und er fühlte deren vielsagenden Druck; aber weder dieser Druck noch der Blick, der ihn begleitete, stellte in ihm die gestörte Harmonie wieder her.

Sonderbar! geliebt von dem Weibe, das er liebte mit einer Glut, in der jede andere Bedenklichkeit, wie Wachs in der Sonne, zerschmolz; ihre Tränen und Küsse noch warm auf seinen Lippen: dem höchsten Glück so nahe, das vielleicht schon der nächste Tag es ihm bringen konnte, war die erste Empfindung, die sich in dem durch die Gewißheit der Gegenliebe etwas beruhigten Gemüthe regte, eine Erbitterung gegen das einzige Mittel, wodurch dieses Glück ihm ermöglicht war.

Der Ehebruch mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Selbsterniedrigung und Heuchelei trat ihm schon jetzt in seiner hässlichsten Gestalt entgegen.

Und ans dem Allen rang sich zum ersten Male wieder nach langer Zeit der Gedanke an Marie in seiner Seele empor. Wie war sie still, wie war sie ruhig, wie war sie heilig in ihrer unantastbaren, edlen Weiblichkeit!

Doch kein Gedanke, Leonie zu entsagen, mischte sich in die kurze Erinnerung; nur ein tiefes Mitleiden kam über ihn.

Ja, Marie ist wahr sagte er sich und seufzte sie kann es sein, setzte er hinzu. Nie hätte Marie für mich gewagt, was Leonie wagt; es ist nicht ihre Schuld, wenn ihre Liebe für mich sie nun zu dem zwingt, was ihrer unwürdig ist. Nein, Marie kann nicht lieben hätte sie Leonie's Herz für mich gehabt, es stünde jetzt wohl anders zwischen uns!

Er ging mit sich zu Rathe. Er fühlte den Druck der Verhältnisse, und das dieser unleidlich war. Er war jung und hoffnungsreich, war es ein Wunder, das er daran dachte, ihn zu durchbrechen? O dieser Zwang! rief er laut, und Leonie muß ja noch schwerer darunter leiden als ich! Und wozu das Alles? liegt nicht die ganze Welt offen vor uns? Kann ich nicht arbeiten? und was brauchen wir mehr, wenn wir nur beisammen sind? O immerwährend beisammen sein, ohne Verstellung einander angehören, ungetheilt und ganz allein! O was ist Rang und Reichthum gegen eine solche Seligkeit? Ja, ich will arbeiten, was ist es mehr? Marie hätte gearbeitet für mich und wäre noch glücklich gewesen, es zu thun aber Leonie soll es nicht, meine Leonie! meine holde Blume! giebt es etwas Lieblicheres als du? Auf den Händen will ich dich tragen, kein Kummer soll dir nahen O giebt es eine Mühe, die noch Mühe ist, wenn sie uns ein solches Glück erkauft?

Er setzte sich hin, ihr zu schreiben, sein Herz floß über in stolzer, freudiger Zuversicht. Daß die Gräfin, neben der Liebe, noch verschiedene andere Dinge zum Lebensglück nötig finden könne, fiel ihn gar nicht ein.

Nein, sagte er plötzlich, ich will es ihr nicht schreiben. Von Mund zu Mund geht die Überzeugung leichter, und ich mus ihr Alles genau sagen, was ich will. Sie opfert ja mehr als ich, das liebes, herrliches Herz!

Er konnte den Tag kaum erwarten, und als der Morgen endlich kam, war es damit auch noch nicht abgemacht. Der Aufschub steigerte nur seine Sehnsucht nach jener seligen Zukunft ewiger Vereinigung, wo solche Rücksichten nicht mehr nöthig waren. Endlich schlug die ersehnte Stunde und er eilte fort zu ihr.

Die Gräfin sei bei ihrem Vater, sagte man ihm. Er ging zum alten Grasen, sie wenigstens dort zu sehen. Doch auch den fand er nicht zu Hause.

Der Herr Graf, hieß es hier, ist mit der Frau Gräfin nach dem Thiergarten gefahren. Zum Thier - garten also begab er sich, und hier endlich, am Arme ihres Mannes, den zarten Leib weich und warm in kostbare Pelze gehüllt, gewährte er Leonie unter einem nickenden Federhut, der ihm schon von Weitem zuzuwinken schien. Sie waren alle beisammen und hatten einige Bekannte getroffen, mit denen sie plaudernd die Promenade fortsetzten, so das, wenigstens für den Augenblick, an ein besonderes Gespräch gar nicht zu denken war. Aber Leonie's Augen sagten genug, und der warme Freudenstrahl, der ihm entflog, traf den jungen Mann mitten in das Herz.

Was sagen Sie zu meinem Anzuge? sagte sie, als er an ihrer Seite weiter ging.

In der That, ein wenig schwer für diese Jahreszeit.

Denken Sie, ich habe zufällig ein wenig gehustet, und mein Mann hat eine solche Angst, seine kleine, schlimme Frau zu verlieren, daß er mich mit einer vollkommenen Wintergarderobe behängt hat. Solche Dinge muß man mit sich geschehen lassen, wenn man verheirathet ist.

Wenn ich nicht sorgfältiger wäre als du, du wärest mir längst zu einem kleinen Eiszapfen eingefroren, sagte ihr Mann.

Und das ist allerdings ein Glück. Als Mädchen wäre ich nach meinem Geschmack erfroren, als Frau steht mir das hohe Privilegium zu, einmal nach deinem Geschmack zu ersticken.

Er lachte Louis verdroß, wie immer, ihre unbefangene Vertraulichkeit mit ihrem Manne.

Dort sehe ich Jemand, mit dem ich durchaus sprechen muß, rief plötzlich der Graf. Herr Marquis, darf ich Ihnen meine Frau auf einen Augenblick anvertrauen? Und er entfernte sich rasch.

Wir werden dich erwarten, rief Leonie ihm nach. Sie gingen etwas langsamer, und die übrige Gesellschaft kam ihnen unmerklich voraus. Aber sie wollte es nicht zu einem besonderen Gespräch kommen lassen, sie fürchtete ihres Vaters scharfen Blick, der nur wenige Schritte vor ihnen ging, und sie fürchtete mehr noch Louis eigene Ungeschicklichleit, jene Ungeschicklichkeit, die ihr so lieb war, und die doch eine solche Gefahr in sich schloß.

Kommen Sie, sagte sie, ihren Schritt etwas beeilend. Doch er kam ihr zuvor.

Ich muß Sie sprechen, Leonie, sagte er leise, aber so bestimmt, das sie nicht zu widersprechen wagte. Sie trat an ein eisernes Geländer, das den Zwinger eines Barons umfing, und sah hinab.

Sehen Sie den Bären an, ist das nicht ein prächtiges Thier? antwortete sie, nach unten deutend.

Aber ich muß Sie sprechen, wiederholte Louis, mit einem Anfluge von Ungeduld. Heute nicht, sagte sie, mit noch immer abgewendetem Gesicht.

Also wann denn?

Morgen nicht und übermorgen auch nicht. Ihr Ton war offenbar neckend; es verdroß ihn, daß sie die Dringlichkeit seiner Bitte nicht begriff.

Aber ich muß Sie sprechen, wiederholte er noch einmal.

Es wird so wichtig nicht sein, versetzte sie, über das Gitter gelehnt. Sehen Sie doch den Meister Petz an!

O Leonie, sagte er traurig, Sie treiben wahrhaftig Ihren Scherz mit mir!

Glauben Sie? sagte sie, legte den Finger der kleinen beschuhten Hand an die reizenden Lippen und sah dabei den jungen Mann mit einem so schalkhaft lächelnden Blicke an, daß ihm das Blut in die Wangen stieg. Sie spielte so gern mit ihrer Macht, das sie fortwährend ihre eigene Vorsicht darüber vergaß.

Um Gottes willen! rief sie plötzlich erschrocken, denn sie sah Otto nicht zwanzig Schritte weit, der auf sie zukam, sehen Sie mich nicht so an! Mein Vater bringt mich um, wenn er einen solchen Blick gewahrt.

Sagen Sie, wann ich Sie sprechen kann, war Louis eigensinnige Antwort.

Ich werde sehen, sagte sie, schnell von ihm weggehend. Bleiben Sie stehen, und sehen Sie um Gottes willen noch den Bären an.

Er blieb stehen, und sie ging auf ihren Bruder zu. Otto war allein, und sie athmete beruhigt auf, während sie seinen Arm ergriff: vor Otto fürchtete sie sich nicht. Ihr Vater war schon ziemlich weit und ganz vertieft in ein lebhaftes Gespräch, er hatte also nichts bemerkt von ihrem Manne war noch immer nichts zu sehen.

Otto war den ganzen Weg auffallend verstimmt. Leonie kümmerte sich wenig darum, sie hatte desto mehr Zeit, ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Er begleitete sie nach Hause, und sie zuckte ungeduldig die Achseln, als er ihr in ihr Zimmer folgte, während ihr Vater sich mit seinem Schwiegersohn auf dessen Studierzimmer begab.

Was willst du? sagte sie mürrisch, denn sie war seiner so gewiß, das sie bei ihm die Liebenswürdigkeit nicht für nöthig hielt.

Ich will dir sagen, rief er ziemlich unvorsichtig, daß mir dein Benehmen gegen diesen französischen Marquis und das seinige gegen dich nicht gefällt.

Es thut mir leid, sagte sie spöttisch, du hättest sollen meine Gouvernante sein.

Leonie! fuhr er heftig auf.

Wenn du dich unangenehm machen willst, so suche dir einen anderen Ort, als das Haus deiner Schwester, wo du dann mit deinen Hirngespinsten um dich werfen magst, wie du willst.

Leonie, rief Otto, mache mich nicht zorniger, als ich es schon bin! Deine Art und Weise, mit dem Marquis unter vier Augen umzugehen, schickt sich nicht. Du mußt ihm dein Haus verschließen und ihn nicht mehr wiedersehen. Ich dulde es nicht, daß dein Name zum Stadtgespött werde.

Sie lachte gereizt auf. Ruf es lauter, sagte sie. Es wäre Schade, wenn nicht ein Dritter und Vierter erführe, welche Meinung du von deiner Schwester hast. Geh doch zu meinem Mann, oder lieber gleich zu meinem Vater; er wird sich freuen, wenn du ihm eine Gelegenheit giebst, seine alten Verfolgungen zu erneuern. Du hast es doch nur auf die Störung meiner Ruhe abgesehen.

Wenn ich zu deinem Mann oder zum Vater gehen wollte, käme ich nicht zu dir. Versprich mir, den Marquis nicht mehr zu sehen, und es soll nicht mehr die Rede davon sein.

Ich bin Herrin in meinem Hause, versetzte sie stolz. Nur meinem Manne brauche ich zu gehorchen, und weder du noch der Vater habt mir etwas vorzuschreiben, wenn nur er zufrieden ist. Denkst du unwürdig von mir, so mache es mit dir selber ab, bloß deiner Narrheiten wegen werde ich keinen Menschen beleidigen. Nein, unterbrach sie sich plötzlich und schlug mit einer wilden Gebärde des Jammers die Hände über den Kopf zusammen, nie hätte ich geglaubt, das mich so etwas von meinem eigenen Bruder treffen könne.

Sie warf sich auf das Sofa, verbarg das Gesicht in die Kissen und brach in lautes Weinen aus.

Otto war bewegt; ein junger Mann bleibt selten ungerührt von den Thränen einer Frau, und wäre diese Frau auch zehnmal seine Schwester, und wir wissen es, Otto hatte für die seinige ein besonders weiches Herz. Er fing an, seine Hitze zu bereuen, und fürchtete den Eintritt seines Schwagers oder gar den seines Vaters, der, wie er wohl wußte, Leonie nie gewogen war. Sie hatte auch recht gut gewußt, was sie that, als sie diesen Schatten ihrer Kinderzeit wieder vor seine Seele rief. Sein Zorn fing an in Mitleid und Sorge überzugehen; er trat zu ihr und faßte ihre Hand.

Ich habe ja nicht gesagt, daß du dir wirklich etwas vorzuwerfen hast, aber selbst der Schein schadet einer jungen Frau, und besonders in einer Stellung, wo sie die Augen so Vieler auf sich zieht. Wird Marie jemals meine Frau, so weiß ich, daß ich unglücklich wäre, haftete der geringste Schein einer unrechten Handlung an ihr. Darum sei mein gut lieb Schwesterchen und versprich es mir, das du den Marquis wenigstens nicht mehr allein unter vier Augen sehen willst.

Kann ich das? versetzte sie. Mir selbst ist der Marquis weiter nichts; mein Mann hat den jungen Mann gern, das ist die ganze Beziehung zwischen uns. Ich habe für sein Unglück Theilnahme gefühlt, das ist wahr; er kann es noch immer nicht vergessen, daß Marie ihn verworfen hat, und ich hatte ihm versprochen, mein Möglichstes für ihn zu thun. Zufällig hast du jetzt Absichten auf sie, du bist mein Bruder, und ich bin zu deiner Partei übergegangen. Er hat eine Ahnung davon und sieht ein, daß er Marie nicht das bieten kann, was sie in einer Ehe mit dir finden wird. Du sprichst von Schein, aber wenn ich von allen Männern, die mein Haus besuchen, nur ihn allein so ängstlich vermeide, welchen Schein lade ich dann auf mich, und was soll ich meinem Mann antworten, wenn er mich über den Grund einer so auffallenden Abneigung fragt, gegen einen Menschen, den er besonders schätzt und der ja Keinem von uns etwas zu Leide gethan? Frage ihn selbst; denkst du denn, ich habe es nicht schon versucht?

Katze! sagte Otto, der nichts zu erwidern fand und doch nicht überzeugt war, und sonderbarer Weise in seinem Kopfe immer dasselbe Bild für seine Schwester fand, mochte es nun in Zorn oder Freude sein.

Sie erhob sich in aller Würde gekränkter Weiblichkeit. Du beleidigst mich fort und fort, sagte sie. Wenn ich auch deine Schwester bin, ich bin, selbst für dich, noch immer eine Frau und habe Anspruch als solche, von dir mit Achtung behandelt zu werden. Du stehst, was du nicht verstehst, und weil du es nicht verstehst, scheint es dir schlecht zu sein. Thue was du willst, ich rede kein Wort mehr mit dir. Das Glück meiner Ehe sollte genügende Antwort sein auf jeden Verdacht. Du kannst mir manchen Verdruß bereiten, du kannst den Frieden meines Mannes stören und dadurch auch den meinigen, aber thue was du willst ich fürchte dich nicht. Sie ging zur Thüre, auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um. Ich muß dich verlassen, sagte sie. Du bist in einem Zustande, der kein vernünftiges Gespräch erlaubt; wenn du ruhiger bist, so wird es mich freuen, dich wieder zu sehen bis dahin lebe wohl.

Da ging die Thüre auf, und ihr Vater trat ein, von ihrem Mann gefolgt.

Was giebt es? frug der alte Graf ganz überrascht.

O, rief Leonie zornig und schonungslos, denn sie fühlte, der Sieg sei in ihrer Hand, es ist nur mein Herr Bruder, der es liebenswürdig findet, einmal ungezogen zu sein.

Habt ihr euch gezankt? frug er seinen Sohn.

O, dieser Eigensinn! seufzte Otto und schlug die Augen zur Decke auf, als rufe er den Himmel an zum Zeugen seiner mißhandelten Geduld.

Graf Hoheneck lachte über sein jämmerliches Gesicht und, auch sein Vater hielt Alles für eine harmlose geschwisterliche Zankerei.

Wie Louis, ging nun auch Leonie mit sich zu Rathe über die möglichen Eventualitäten, welchen sie durch ihre Liebe ausgesetzt war. Mit Otto hatte sie so ziemlich ihren Zweck erreicht. Der gute Junge fühlte, daß er ihr nicht gewachsen sei, aber wenn auch nicht jeder Zweifel in ihm erloschen war, konnte er an solche Verstellung glauben, in einem so jungen Geschöpf? Sein offenes unerfahrenes Herz erkannte es als eine Unmöglichkeit, und dennoch war er nicht überzeugt. Aber Otto war, wie wir wissen, in ihren Befürchtungen bei weitem nicht die Hauptperson, ihr Vater nahm darin die wichtigste Stelle ein. Was sollte sie thun, wenn sein Argwohn geweckt wurde? Und wie leicht konnte das nicht geschehen! Was würde er thun, der Alles zu thun im Stande war, der kein Erbarmen kannte, wäre sie in seiner Gewalt? Ja, freilich, wäre aber sie war es nicht!

Der Gedanke, ihrem Vater die Stirn zu bieten und im offenen Kampfe gegen ihn aufzutreten, wenn es nicht anders sein konnte, stand zum ersten Male deutlich, klar, und entschlossen vor ihrem Geist. Hatte sie darum von allen Freuden der Jugend und der Liebe abgesehen, einen Mann geheirathet, der ihrer Jugend gegenüber fast ein Greis erschien, und diesem Manne ein Glück bereitet, wie weit und breit es in keiner anderen Ehe zu finden war, bloß darum, daß sie noch zittern sollte vor einer außer ihm stehenden Gewalt?

Sie sann hin und her und ging dabei im Zimmer auf und ab, bald stehen bleibend, bald schneller gehend, wie der Lauf ihrer Gedanken sie trieb. Vor offenbarer Gewalt war sie wohl geschützt, was sie treffen sollte, mußte von ihrem Manne ausgehen. wurde also ihr Vater thun? sie anklagen bei ihrem Manne?

Ja, wenn er Beweise hatte, sagte sie mit seinem spöttischen Züge um den Mund, aber wo findet er die? Und selbst wenn er Beweise hatte, würde er so weit gehen, das Glück meines Mannes zu zerstören? schwerlich aber wenn auch mein Mann muß mir glauben! setzte sie laut hinzu.

Sie wurde immer heimischer auf dieser entschieden höheren Stufe, die sie so plötzlich erstiegen, und sah sich nun die Welt von dort oben mit einem freieren Blicke an. Ihr Mann hielt gar viel auf ihren Vater, hundertmal hatte er ihn Leonie gepriesen als das Muster eines Edelmannes in jeder Beziehung. Sie hatte geschwiegen dazu oder sogar geschienen auf sein Lob einzugehen. Das mußte anders werden, das war klar. Jene erste Achtung nach und nach in Mißtraunen zu verwandeln ja in Abneigung, wie es sich gerade fügen würde, war denn das gar so schwer? Nur die Gelegenheit dazu und würde die Gelegenheit nicht sehr leicht zu finden sein? Beruhigt spann sie den Faden der Möglichkeit weiter mit. Was würde ihr Vater thun, wenn auf diese Weise ihr nicht beizukommen war? Ein Duell? Mit einem Grafe schlüge sich Louis nicht! und Otto? der war ja ihres Vaters Schooskind. Ein verächtliches Lächeln zog hier um den süßen, kindlichen Mund den wurde ihr Vater selbst hüten vor Gefahr.

Einige Tage vergingen, Otto war zu einer Jagdpartie gefahren. Graf Hoheneck sollte bei einer Cabinetsberathung sein, die ihn wahrscheinlich den ganzen Vormittag festhalten würde; da erschien er schon am frühen Morgen unerlaubt bei dem Marquis.

Es ist eine eigene Sache, die sich immer wiederholt, daß eine schuldbeladene Seele stets glaubt, was ihr selbst so viel Unruhe mache, könne unmöglich für Andere ein Geheimnis sein. Louis erblaßte, als er seinen für ihn so unheimlichen Besuch in das Zimmer treten sah. Aber Niemand konnte ruhiger und gelassener sein, als der Graf.

Meine Frau behauptet, sagte er, Sie hätten ihr schon vor langer Zeit einige Lieder versprochen, hätten aber aus ungalanter Zerstreutheit Ihr Versprechen bis jetzt nicht erfüllt; da hat sie mir aufgetragen Ihr Gedächtnis aufzufrischen, und weil ich so des Weges gehe, habe ich es für besser gefunden, zu einer Stunde zu kommen, wo Sie noch nicht ausgeflogen sind. Sie wissen, Damen muß man den Willen thun, und so werden Sie gewiß die frühe Störung verzeihen.

Der junge Mann war in den letzten Tagen hundertmal auf dem Sprunge gewesen, Leonie's Verbot zu brechen und dennoch zu ihr zu gehen. Nun ihm die Gelegenheit so leicht gegeben war, versagte ihm plötzlich aller Muth. Es war ihm so unbegreiflich, daß Der, welcher doch zunächst davon betroffen wurde, von Leonie's Erkalten so gar nichts zu bemerken schien.

Die Gräfin soll mir verzeihen, erwiderte er, ich schicke die Lieder ganz gewiß heute noch.

Haben Sie die Güte, erwiderte verbindlich der Graf; vielleicht können Sie selbst auf einen Augenblick hinaufgehen? Die Gräfin war neulich etwas unartig gegen Sie man muß ihr das verzeihen sie ist noch so jung! Uebrigens bereut sie es auch gleich und fürchtet nun, Sie konnten beleidigt sein.

O das hat nichts zu sagen, stammelte Louis in wachsender Verlegenheit.

Also, sans rancune! wie Ihre Landsleute sagen, schloß der Graf, und der Marques begleitete ihn hinaus.

Gott, ist es möglich? rief Louis, als er zurückkam. Wäre ich Leonie's Mann, von welcher Wichtigkeit würde jede Regung ihres Herzens für mich sein!

Sonderbar! aus dem Vertrauen des Grafen in seine Frau, zog er den kühnen Schluß, wie unwerth einer solchen Frau dieser Mann sei.

Er sammelte seine Notenhefte und stieg bald daraus mit ungeduldiger Freude die Treppe zu Leonie's Wohnung hinauf. Die Falschheit, die ihn zu ihr führte, schien ihm weit weniger verwerflich zu sein, als jene, die ihn von ihr entfernt hielt. Sie stand am Fenster und erwartete ihn. Ihre erste Bewegung war, ihm entgegen zu springen, doch mitten im Zimmer blieb sie durch eine plötzliche Eingebung stehen: sie hatte sich nicht umsonst so reizend gemacht! Der helle Sonnenschein spielte um sie und malte hinter ihr einen warmen, goldigen Grund, wie zu einem byzantinischen Gemälde. Da war kein Fältchen an ihrer Kleidung, keine Locke ihres herrlichen Haares, die nicht dazu diente, ihre unbeschreibliche Anmuth noch zu erhöhen. Glückselig und hold lächelte sie ihm entgegen, als er endlich über die Schwelle trat.

Sind Sie zufrieden? Habe ich es diesmal recht gemacht?

Er schloß sie an sich; es war unmöglich, ihr zu widerstehen. Sie lächelte und wollte sich losmachen, doch er hielt sie fest und zog sie zu sich nieder, indem er sich setzte.

Habe ich es recht gemacht? wiederholte sie mit der lieblichen Einfachheit eines Kindes.

Er sah sie mit leuchtenden Augen an.

Es sollte immer so sein, sagte er.

Doch ist es süß, wann immer es auch ist!

Er schwieg, sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah unter den langen Wimpern zärtlich und neckisch zu ihm auf.

Undankbarer! sagte sie, mit dem Finger drohend.

Du weißt nicht, was es für einen Mann heißt, das Weib, das er liebt, im Besitz eines Andern zu sehen, versetzte er fast düster und strich ihr die goldig glänzenden Haare aus der Stirn, während er tief in die dunklen, strahlenden Augen sah.

Aber ein Ehemann ist ja doch eine Person, der man einige Rücksicht schuldig ist, sagte sie mit angenommener Gravität.

Wäre das Liebe, die sich solcher Rücksicht fügte?

Ihr Lächeln war bezaubernd, und sie legte den Kopf, den sie so eben erhoben, von Neuem an seine Brust.

Aber nur dich lieb ich ja, und du weißt es wohl, sagte sie.

Er fing die Worte auf ihren Lippen auf.

O, sag es wieder, flehte er.

Mein Louis, mein Glück, meine einzige, erste, letzte, süße, selige Liebe! flüsterte sie.

Und dein Mann?

Sei still; ich liebe ja den Grafen nicht.

Du hast ihn doch geliebt?

Sie schüttelte in lächelnder Verneinung den Kopf.

Nur dich habe ich geliebt, vom ersten Augenblicke, wo ich dich sah.

Aber Louis stieß sie fast mit Heftigkeit zurück.

O, warum hast du ihn dann geheirathet? frug er in zornigem Schmerz. Leonie! das hatte Marie nicht gethan!

Sie schnellte in die Höhe, als habe eine Schlange sie gestochen.

Louis! rief sie laut. Sie war blaß, ihre Augen blitzten im wilden Feuer, ihre Lippen zuckten, und die kleinen Hände ballten sich krampfhaft zusammen. Louis! wiederholte sie mit erstickter Stimme. Ihr ganzer Körper bebte, sie wandte sich ab und brach in Thränen aus.

Er sprang auf und eilte zu ihr. Ihre Heftigkeit hatte ihn erschreckt, ihr Schmerz verscheuchte jedes andere Bedenken. Leonie! bat er flehend, er zog die Widerstrebende an sich und lös'te fast mit Gewalt ihre Hände von dem abgewendeten Gesicht. Meine Leonie, sieh mich an verzeihe mir! Er küßte mit bebenden Lippen die Wimpern, an denen noch die warmen Thränen hingen. Meine Leonie! flüsterte er dazwischen, mein einziges, liebstes, theuerstes Gut!

Warum reden Sie denn so, Herr Marquis? frug sie und sah mit mattem Lächeln zu ihm auf, während sie sich müde in seine Arme sinken ließ.

Er faßte ihren Kopf mit beiden Händen, hob ihr Gesicht empor und sah ihr tief in die feuchten, für ihn so himmlisch schönen Augen.

Warum ich frage? erwiderte er, und die Adern auf seiner Stirne schwollen hoch an in dem Schmerz und Ernst seiner Empfindung, o, Leonie, du liebes, sündiges, herrliches, schwaches Weib! Fühlst du denn nicht, daß du mein Glück, dein Glück, unser Beider Glück unrettbar zerstört hast? Fühlst du denn nicht die Qual, die mich befällt, wenn ich sehen muß, wie jedes heilige Recht an dich schon vor mir von einem Anderen hingenommen ist? Kann ich die Theilung ertragen, die dich herabwürdigt und meinen Durst nach dir doch nicht löschen kann? Diese wonnigen Lippen, diese Augen, die einen Engel berücken könnten, sind sie nicht mein, und mein allein, da du mich liebst? was hast du aus dir, was hast du aus mir gemacht? Fühlst du denn gar nicht, was du mir bist? Kannst du diese Verstellung ertragen, wenn ich dabei zu Grunde gehe? O diese Verstellung! Fühlst du denn nicht, das sie die Schande unserer Liebe ist?

Sie sah nieder und erbleichte sie fürchtete sich vor ihm!

Wir haben ja bis jetzt kein so großes Unrecht begangen, sagte sie sehr still.

Nicht? rief er in wildem Hohne. Er ließ sie los und ging mit stürmischen Schritten auf und ab. Nun ja, rief er endlich sich bezähmend und vor ihr stehen bleibend, aber wird es denn immer so bleiben?

Ich denke ja vielleicht wenn Sie vernünftig sind, sagte sie leise mit noch immer niedergeschlagenen Augen.

Er lachte zornig und nahm seinen heftigen Gang wieder auf.

Was fange ich an? dachte Leonie; wenn mein Mann kommt, sind wir Beide verloren. Sie sann hin und her, was sie thun könne, ihn zu zerstreuen; aber sie hatte nicht den Muth, nur von der Stelle zu gehen. Der Löwe, denn sie gezähmt zu haben glaubte, wandte sich plötzlich gegen sie und drohte sie bei dem geringsten Zeichen von Widerstand, zu zerreißen.

Endlich legte sich der Sturm in seinem Innern von selbst. Er blieb von Neuem stehen und faßte ihre Hand. Nein, Leonie, sagte er, es kann nicht immer so bleiben. Ich bin ein Mensch und werde mich nicht immer mit dem begnügen, was höchstens für einen Heiligen vielleicht genug sein mag. Die letzten Worte betonte er mit bitterer Ironie. Aber höre, fuhr er fort und legte den Arm innig um ihren Leib, wir sind noch nicht verloren, wenn du nur Muth und Aufopferung genug hast.

Sie blickte fragend zu ihm auf.

Liebst du mich? frug er, über sie gebeugt.

O Louis! flüsterte sie vorwurfsvoll.

Wie ich dich liebe mehr als die ganze übrige Welt?

Wärest du sonst hier?

Nun gut, so laß uns fliehen! Er fühlte, wie sie in seinen Armen zusammenschrak. Du sollst an nichts Mangel leiden, fuhr er leidenschaftlich fort. Was ich von meinem väterlichen Vermögen gerettet habe, ist nicht viel, aber für das Nöthigste ist es doch genug. Und ich werde arbeiten, rief er heftig, als er sah, daß sie den Mund öffnete zum Widerspruch. Arbeiten für dich, ist das nicht eine Seligkeit? Das Unmögliche kann ich thun, wenn du bei mir bist. Drüben in einem fremden Welttheile herrschen die thörichten Vorurtheile nicht, die uns hier von allen Seiten umklammern. Den Namen meines Vaters lasse ich hier zurück nur ein glücklicher Mensch will ich sein, der dort in dir seine ganze Seligkeit in die Arme schließt. Leonie, mein Leben, meine Seele, mein süßes, liebes Weib! Sage, ist das nicht mehr werth, als all der Tand und Flitter, den man mit dem Namen Glück benennt?

Aber die Welt deine Stellung deine Ehre stammelte sie, während der glühende Hauch seiner Leidenschaft sie unwiderstehlich gefangen nahm.

Du bist meine Welt, meine Ehre, mein Glück, sagte er, Alles bist du mir! Meiner Seele Seligkeit gäbe ich hin für dich! O sage, daß du mich liebst, das du mir folgen willst, wohin es auch sei!

Wie du willst, was du willst, sagte sie halb bewustlos, seinen Liebkosungen fast erliegend.

Engel! Meine Mutter mag es mir verzeihen, wenn ich eine Sünde begehe; aber ich verzichte gern auf den Himmel, der ihr Wohnsitz ist, wenn ich nur dich ganz und allein besitzen kann!

Sie schwieg. Seine Seele stieg in einem stummen Gebete des Dankes zu demselben Himmel auf, dem er so eben entsagt, denn die höchste Freude hat überall nur Eine Sprache.

O, dachte Leonie, die Liebe ist süß! Louis, mein Louis, ja, ich liebe dich! Sterben wäre besser, als dir zu entsagen aber warum alles Andere opfern? Können wir nicht auch ohne das glücklich sein?

Die Hausglocke ertönte. Leonie fuhr horchend aus Louis Armen auf.

Es ist ein Besuch, sagte sie, gleich wird man hier sein. Und sie setzte sich an das Klavier.

Laß dich verleugnen, erwiderte er, ungehalten über die Störung.

Das kann ich nicht, was würden meine Leute sagen? versetzte sie, im Grunde froh, das gefährliche Gespräch beendet zu sehen.

Wie wäre es, Herr Marquis, wenn Sie Ihre Stirn zu einiger Freundlichkeit zwingen wollten, die Leute laufen mir sonst davon? sagte sie scherzend zu Louis, der in mürrischer Verstimmung mitten im Zimmer stand.

Der rasche Wechsel ihrer Laune hatte ihn außerordentlich peinlich berührt. Ich werde gehen, erwiderte er. Sie wandte sich schmollend um. Als er auf der Schwelle war, blickten Beide nach einander um. Meine Leonie, verzeihe mir! rief er ihr zu.

Mein Louis! war Alles, was sie sagte, aber ihre ganze Liebe klang voll in dem Tone. Sie warf ihm einen Kuß nach, als er unter der Thüre verschwand.

O, sagte sie, Otto hat Recht, ich darf ihn nicht wieder unter vier Augen sehen. Wo käme ich hin bei solcher Leidenschaft!

Und doch war sie glücklich, wie sie es noch nie gewesen war. Wie von einem Glorienschein umflossen, strahlte ihr ganzes Wesen von Lieblichkeit, und ihr Besuch, ein, alter General, fühlte sein erkaltetes Herz neu aufleben unter dem erwärmenden Hauche dieser unwiderstehlichen Anmuth.

Fast unmittelbar darauf trat ihr Vater ein und blieb betroffen vor ihr stehen.

Ich mache eben die Bemerkung, daß ich die Gräfin noch nie so reizend gesehen! sagte der General. Der alte Graf nickte zustimmend, doch sprach er nicht. Er setzte sich, sein Blick streifte noch einmal seine Tochter und irrte dann wie suchend im Zimmer umher.

Eine Blume, welche die Gräfin im Haare oder an der Brust gehabt, lag welk und zerknickt auf dem Teppich. Bei dieser Blume blieben seine Gedanken stehen. Er bückte sich danach, hob sie auf, zog die zerdrückten Blätter auseinander und blickte in den verwüsteten Kelch, als wolle er darin das Geheimnis lesen, dessen leise Spur ihm mehr in einem Traume zu schweben, als in der Wirklichkeit zu bestehen schien.

Was hatte ihn heute an seiner Tochter überrascht? Ein scheinbares Nichts, ein Etwas, unbestimmt und unfaßbar wie die Lust, dem er vergebens durch Worte eine bestimmte Gestalt zu geben rang, und das doch wie ein dunkler Schatten über dem schimmernden Haupte stand. Es war Etwas, das ihn an ihre Mutter erinnerte. Und wie er jetzt den kleinen, verwelkten Kelch dieser Blume sah, war es das Bild dieser Mutter, welches ihm zu entsteigen schien, schön und blühend, wie er sie in früheren Jahren gesehen, als sie noch die Freude seines Herzens war, aber mit einem spöttischen Zuge um den Mund. Kleine Eigenthümlichkeiten an ihr, wie deren jeder Mensch hat, suchte jetzt sein Gedächtniß aus der Vergangenheit her - vor. Auch sie hatte Blumen geliebt, zwar nie mit der sybaritischen Weichlichkeit, welche Leonie in ihre Neigungen brachte, wie denn jede Neigung sich je nach den Menschen verschieden äußert, aber mit Blumen sich zu umgeben war doch eine Gewohnheit ihres Lebens gewesen, und der Graf erinnerte sich, wie vor und nach Leonie's Geburt diese Neigung auffallend zugenommen, und wie man ihm das Kind, über das er damals Thränen der Freude geweint, auf ihren Befehl und gegen das Verbot der Wärterin, zuerst in einem mit Blumen bekränzten Bettchen gezeigt.

Hier verließen seine Gedanken die Mutter, um auf etwas Anderes überzugehen.

Hast du den Marquis lange nicht gesehen? frug er und blickte zu der Gräfin auf.

Der General hatte sich entfernt, Leonie stand am Kamine, den schönen Arm auf die kostbare Marmorplatte gelegt, den Blick auf die züngelnde Flamme gesenkt. Die Hand, die den Fächer hielt, hing nachlässig an ihrer Seite herab. Die feinen Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, die zarten Lippen fest auf einander gepresst, und das Blut, das vor wenigen Minuten die durchsichtigen Wangen lebhafter als sonst gefärbt, war einer leichten Blässe gewichen. Er konnte die langen Wimpern sehen, die sich ein wenig senkten vor der Glut, die sie traf, die aber niemals den festen Blick ganz verschleierten. Muth, Überlegung, vielleicht ein gewisser Grad von Tücke war in den feinen, beweglichen Zügen ausgedrückt. Sie sah ihrer Mutter nicht mehr ähnlich, doch fühlte der Graf sich beunruhigt, er wußte nicht warum.

Was war es, worüber die junge Gräfin in solches Grübeln versank, daß sie darüber sogar vergaß, ihre Züge wie gewöhnlich zu beherrschen? Auch sie gedachte ihrer Mutter. Es mußte eine eigenthümliche, magnetische Beziehung zwischen diesen zwei Menschen bestehen, die von der Natur einander so nahegestellt, sich nun gegenüberstanden wie zwei Feinde, von denen jeder mißtrauisch eine Blöße in des Anderen Rüstung zu entdecken sucht.

Die Stunde des Kampfes muß wohl nahe sein, dachte sie, während sie so regungslos unter seiner Beobachtung stand. Aber nicht mit der Sicherheit, die sie vor einigen Tagen erfüllte, überzählte sie die Kräfte, die ihr gegen die eiserne Macht zur Verfügung standen, die sie von Kindheit an fürchten gelernt, und über welche sie jetzt siegen mußte, wollte sie dann ungefährdet zu ihrem Ziele gelangen. Die nahende Gefahr hatte ihr gewöhnliches Gefolge von Unschlüssigkeit mit sich gebracht, die erst, wenn diese Gefahr unausweichlich vor ihr stünde, vor dem festen Willen zerrieben wurde, der noch schlummernd darunter verborgen lag. Scheu und befangen hatte sie ihren Vater eintreten sehen; wie ein böses Vorzeichen traf es sie, das er so schnell nach Louis Weggehen wie durch eine Ahnung zu ihr gezogen ward, und ihre Befangenheit nahm zu, je tiefer der Graf in seine Gedanken versank. Ein Theil ihres Lebens schien sich verräterisch jener Blume mitzutheilen, die er in den Händen hielt, die sie nicht wegzunehmen wagte, aus Furcht, das Gewitter, das über ihrem Haupte schwebte, mit dieser kleinen Bewegung herabzuziehen. Auch bei ihr zog sich das Leben, das erst so glänzend nach außen gestrahlt, unwiderstehlich in das Innere zurück und beleuchtete dort einen Punkt, von dem ein dunkler, riesenhafter Schatten von Tod und Gefahr trotz aller Willenskraft sich nicht verscheuchen ließ.

O, dachte sie, verließe er nur die Stadt, dann wäre Alles gut.

Bei der Frage ihres Vaters schreckte sie auf.

Nicht doch sagte sie, unfähig zu erwähnen, das Louis denselben Morgen dagewesen sei.

Er scheint ein lieber Mensch zu sein.

Mein Mann hat ihn sehr gern.

Du bist eine aufmerksame Frau.

Sie schwieg.

Und bist du glücklich? frug er jetzt, sie voll und scharf ansehend.

Da sollten Sie meinen Mann fragen, lieber Papa, erwiderte sie lächelnd.

Nein, ich frage dich.

Ich hoffe, daß ich nicht aussehe, wie eine unglückliche Frau; es wäre eine große Ungerechtigkeit. Sie lächelte noch immer, doch schlug sie mit einer nervösen Bewegung den Fächer auf und zu.

Er thut Alles für dich?

Sie sehen ja selbst, Papa.

Ja, sagte er, ich sehe möge es immer so sein!

Da ging die Thür auf, und ihr Mann trat ein. Für Leonie war es keine Erleichterung. Sie zwang sich, ihm zuzulächeln, und er trat zu ihr und küsste sie.

Du bist lang ausgeblieben, sagte sie zu ihm mit freundlichem Vorwurf.

Es ging nichts anders, erwiderte er sehr heiter. Uebrigens habe ich deinen Auftrag nicht vergessen, und so bist du in deinem Gewissen beruhigt.

Sie lächelt sanft und berührte mit den Lippen eine Hand, die liebkosend ihre samtweiche Wange streichelte.

Da, sagte er, zum Clavier tretend und die Notenhefte besehend, war er vielleicht schon da?

Sie antwortete nicht. Sie war zu ihren Blumen getreten, mit denen sie sich beschäftigte.

Wer? frug ihr Vater jetzt.

Nun, der kleine Marquis, versetzte Hoheneck. Ich war heute bei ihm, ihn an einige Lieder zu mahnen, die er meiner Frau versprochen hatte, und da liegen sie schon. Sie wissen nicht, Papa, wie gern Leonie jetzt singt.

Mit einem unbeschreiblichen Blick streifte der Graf seine Tochter; sie stand tief über ihre Blumen gebeugt, allein die Natur war starker, als ihr Wille, und er sah, wie sie erröthete.

So? versetzte er gedankenvoll. Es war eine Kleinigkeit, und doch beschäftigte sie ihn.

Sollte der Marquis von Canteloup herkommen, sagte er zu dem Bedienten, der ihm in der Vorhalle den Pelz anzog, so sagen Sie ihm doch, es würde mich freuen, ihn einmal bei mir zu sehen.

Der Herr Marquis waren heute schon da, erwiderte der Diener, doch wenn Euer Gnaden wünschen, gehe ich zu ihm hin.

Es ist nicht nöthig, sagte der Graf, indem er in den Wagen stieg.

Schon den folgenden Tag kehrte er zu seiner Tochter zurück. Er fand sie mit ihrem Manne, der vertraulich seine Zeitung neben ihr las.

Nun raucht er mir noch mein Zimmer voll, sagte sie lächend. Alles muß ich mir gefallen lassen, und ich habe nicht einmal den Dank davon, daß er mich unterhält. Sie zupfte ihn neckend am Ohr. Ich bin eifersüchtig auf deine Politik, sagte sie mit schalkhaftem Schmollen.

Hoheneck sah lächelnd zu ihr empor, legte den Arm um sie und zog sie näher an sich. Was für Nachrichten? frug er seinen Schwiegervater.

Der alte Graf hatte sich zu ihnen gesetzt. Eine sonderbare wenigstens, antwortete er, der Marquis hat auf meine Verwendung seine Beförderung erhalten, und er schlägt sie aus.

Ei was! meinte Hoheneck. Leonie's Herz pochte laut.

Die Sache ist mir aus vielen Gründen unangenehm vielleicht will er die Stadt nicht verlassen, fuhr ihr Vater fort, und sein Blick haftete fest auf Leonie. Sie spielte unbefangen mit ihren Armbändern und nahm an dem Gespräche keinen Theil.

Wegen Marie? versetzte Hoheneck. O, da ist Alles aus.

Sind Sie dessen so gewiß?

Man hat es mir versichert. Übrigens fragen Sie meine Frau, sie hat es übernommen, seine Trösterin zu sein.

Wirklich? bedarf er denn des Trostes so sehr?

Fast scheint es so.

Der beste Trost wäre abreisen. Uebrigens ist das Trösten ein sonderbares Amt für eine junge, lebenslustige Frau. Der Trost muß von innen kommen, da hilft alles Reden von außen nichts.

Das habe ich Leonie auch gesagt, aber sie glaubt mir nicht. Ich weiß nicht, wo sie die Geduld hernimmt. Mit ihrem guten Herzen kommt sie immer ein wenig der Vernunft in den Weg. Eigentlich fällt dabei das Beste für mich ab. Sie bilden Beide ein musikalisches Duo, das ganz rührend ist. Er versorgt sie mit französischen Liedern, von denen er einen ganzen Vorrath zu haben scheint, und mir singt sie dann die Grillen weg.

Trösten? wiederholte ihr Vater, Unsinn! Was ist Trost? Kannst du ihm für das Glück, das er verloren, ein anderes geben, oder ihm beweisen, daß es kein Verlust sei, was er als solchen empfindet?

Leonie war aufgestanden. Sie fühlte, der Kampf sei da, und sie sammelte ihre Kraft.

Das hieße Entschädigung, erwiderte sie. Trösten heist nur, einem Menschen das Unglück, das er trägt, weniger fühlbar machen.

Ei was! Mit der Noth kommt auch die Kraft. Es giebt größeres Unglück im Leben, als auf den Besitz des Weibes, das man liebt, verzichten zu müssen und man stirbt doch nicht daran, setzte er düster hinzu oder stirbt etwa der Marquis?

Das nicht aber Theilnahme

Ein rechter Mann soll auf eigenen Füssen stehen; der ist keiner Theilnahme werth, der ihrer so viel bedarf.

Freilich, warf hier Hoheneck ein; der Marquis ist ein ganz lieber Mensch; wenn ich ihn aber so herumschleichen sehe, wie das böse Gewissen, so fühle ich, daß meine Achtung für ihn auf schwachem Grunde ruht.

Was geht das mich an? sagte Leonie. Ich gebe zu, das seine Laune nicht die heiterste ist, soll man ihm darum aus dem Wege gehen? Deinetwegen ziehe ich ihn ins Haus ohne deine Vorliebe für ihn

Nun, du hast dir diese Vorliebe wohl ein wenig eingeredet indessen, er ist dein Landsmann, und so mag er in Gottes Namen dir zur Last fallen, so lange und so viel es dir gefallt. Du weißt, liebes Kind, in solchen Dingen ist dein Wille mir Gesetz.

Wie du dir doch selbst widersprichst! rief sie fast mit Heftigkeit. Hast du mir nicht hundertmal gesagt

Mein Gott, mein Gott! Ja, ich habe gesagt! Du wolltest mir so gern eine Freude machen, und wie sollte ich da widerstehen? Uebrigens ist er ja ein ganz angenehmer Mensch. Nur lohnt er mir diese Vorliebe schlecht, setzte er lächend hinzu. Sie müssen wissen, Papa, sagte er erläuternd zu diesem, gestern schickt mich die kleine Hexe zu ihrem sentimentalen Schützling hinauf, angeblich, um ihn an einige Lieder zu erinnern, die er ihr versprochen hatte, eigentlich aber, weil dem guten Ding das Gewissen schlug, das sie ihn neulich etwas kurz abgefertigt, und ich, als Ehemann, machte den Vermittler. Nun, wenn ein Löwe oder Tiger aus dem Thiergarten zu ihm eingetreten wäre, er hatte ihm kaum ein anderes Gesicht machen können, als mir. Überhaupt sieht er mich manchmal so sonderbar an, das, wenn nicht Leonie meine Frau wäre, man glauben könnte, ich hatte ihm die Braut weggefischt.

So? meinte der alte Graf.

O, dachte Leonie, das ist nicht zu ertragen! Und mein Vater, der jedem Worte wie einer Offenbarung lauscht! Das muß anders werden zwischen uns. Es ist die höchste Zeit, das ich auf das sehe, was mich retten kann.

Ich gebe dir den Rath, sagte ihr Vater, bevor er ging, dir einen Zeitvertreib zu suchen, der besser für dein Alter und deine Stellung paßt.

Warum? frug Leonie, deren Kräfte mit der Gefahr wuchsen.

Ich denke, daß du mich verstehst, und ist es nicht der Fall, nun, so habe ich mich eben geirrt. Wenn der Marquis aber wirklich deine Theilnahme erregt, so rathe ihm, die Stadt so bald als möglich zu verlassen; die Luft hier ist sehr gefährlich und sie könnte es auch für ihn leicht werden, wenn sie es nicht schon ist.

Der Graf begleitete seinen Schwiegervater hinaus. Als er zurückkehrte, war seine Frau nicht mehr im Salon. Leonie dachte, nun sei es Zeit, die Krallen ein wenig zu zeigen, die sie bis jetzt so sorgfältig verborgen gehalten. Sie hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, und dort suchte ihr Mann sie auf. Er war nicht wenig überrascht, als er sie hier in Thränen fand.

Was hast du? frug er rasch, was ist geschehen?

Ich habe dir's nie geklagt, antwortete sie unter Thränen, ich sah, wie du dich an meinen Vater schloßest, und ich wollte dir das Vergnügen nicht stören, das sein Umgang dir gewährt. Ich habe dir nie gesagt, wie er mir immer abgeneigt war. Ein Stiefkind wird nicht so schlimm gehalten, als ich es bei meinem eigenen Vater war. Otto war sein Söhnchen, sein Liebling für mich hat er nie ein freundliches Wort gehabt, und doch habe ich ihm gehorcht wie eine Sclavin. Ich habe gedacht, wenn er sehen würde, wie glücklich wir mit einander sind, würde er auch gerechter gegen mich sein aber nein und nun du dich mit ihm gegen mich wendest, was soll ich thun, als weinen? Ihr seid die Männer es ist euch leicht, Recht zu be - halten, gegen mich, denn ich bin nur ein schwaches Weib.

Des Grafen Erstaunen stieg immer höher. Es war seine erste Ehestandsscene, und er wußte nicht recht, wie er dazu kam. Was hast du nur? wiederholte er.

Wenn ich Alles thue, was ich dir in den Augen absehen kann, rief sie lauter weinend, wenn ich ganz aufgehe in dem Bestreben, dir dein Haus angenehm zu machen, dann kommst du mir mit solchen Dingen, als dachte ich nur an mich. Für wen lade ich ein, als nur für dich? Deine Freunde sind es, die ich sehe; habe ich jemals verlangt, du sollest irgend Jemand meinetwegen sehen? Die du wähltest, waren mir lieb, weil du sie gewählt. Gieb mir heute die Liste Jener, die du sehen willst, in die Hand, und kein Anderer soll mehr über die Schwelle treten. Was geht mich der Marquis an? Weil du ihn lieb hattest, lud ich ihn ein und nahm Theil an ihm. Nun wird es mir zum Verbrechen gemacht! Schließe ihm morgen deine Thür, du wirst sehen, ob ich mich beklage. Schließe dein Herz ganz, wenn du willst; du wirst sehen, ob ich unzufrieden bin. Alles habe ich für dich ertragen, ich habe nie gewusst über all die Last und Mühe, die mir das ewige Empfangen macht. Bin ich an ein solches Leben gewöhnt? Gehört nicht mein Haus aller Welt? Wo habe ich eine Häuslichkeit? Aber weil du es wünschtest, war mir Alles recht. Das Unmögliche hatte ich gethan, nur um dich glücklich und froh zu sehen, und was ist mein Lohn? Das du nun mit meinem Vater gemeine Sache gegen mich machst, damit ich als Frau ebenso unterdrückt werde, wie ich es als junges Mädchen gewesen bin.

Der Graf konnte sich nicht verbergen, das eine gewisse Animosität in dem Benehmen seines Schwiegervaters gegen die junge Frau gelegen, und er strengte sich vergebens an, ihr zu beweisen, daß dies mehr Scherz als Ernst gewesen sei.

Du hast es nur nicht verstanden, entgegnete sie und zog nun die Krallen vorsichtig wieder ein. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und weinte still fort. Du weißt nicht, wie mein Vater ist, sagte sie. Otto ist Alles für ihn, und Otto bildet sich ein, ich hätte bei Marie nicht mein Möglichstes für ihn gethan, weil ich früher den Marquis protegirt. Nun kann er den Marquis nicht leiden von jeher, und das hat seinen Haß noch gesteigert. Darum hat der Vater auch seine Versetzung so eifrig betrieben und kann's dem Marquis nicht verzeihen, daß er sie ausgeschlagen hat. Aber was kann ich dafür? Neulich schon gab es mit Otto einen Streit deswegen, kann ich den jungen Mann zwingen, meinem Bruder aus dem Wege zu gehen? Meinetwegen ginge er nur! was habe ich denn dabei? Mein ganzes Leben wird nur in Bitterkeit verkehrt!

Sie schlang die schönen Arme um den Hals ihres Mannes und fuhr in gebrochenen Worten leise zu klagen fort. Er küßte sie still und zog sie auf seinen Schooß. Bist du böse? sagte sie schüchtern und reuig wie ein verweintes Kind, dessen Trotz in Thränen gebrochen ist. Ich war nicht gut gegen dich, und du bist doch so gut! Daran ist nur die Ungerechtigkeit Schuld. Man fühlt sie doch, wenn man auch schweigt und ich hatte wohl immer schweigen sollen, es ist ja doch mein Vater! Was konnte ich nicht thun, um das Herz meines Vaters zu gewinnen du glaubst nicht, was ich Alles schon gethan, aber es nutzt nichts. Du bist Alles was ich habe willst du dich auch von mir wenden?

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und ihre Thränen drangen wieder heiser hervor, doch ohne Heftigkeit.

Er schloß sie inniger an sich, aber er schwieg. Er war zu gerührt, um Worte zu finden. Daß dieses junge, kindlich zarte Geschöpf, das nur geschaffen schien über Blumen zu gehen, den schweren Gram so lang in sich getragen, ohne Groll und Klage, war etwas, was seine Seele schmerzlich bewegte und seine Liebe zu ihr bis zur Ehrerbietung erhob.

Sage ihnen nichts, flehte sie mit einem lieblichen Blick und bittenden Lächeln, als er sich endlich zum Gehen anschickte. Es ist ja nicht ihre Schuld, daß sie so sind, es konnte ihnen doch wehe thun, und Otto ist so gut, wenn er seinem eigenen Herzen überlassen ist! Wenn du mir nur bleibst, entbehre ich alles Andere leicht. Aber du bleibst mir, nicht wahr? frug sie mit einem schüchternen Aufblick der müden Augen zu ihm.

Sein Herz überströmte von Zärtlichkeit. Er beugte das Gesicht einen Augenblick auf die wirren, glänzenden Haare der reizenden Zauberin. O Gott! dachte er, wodurch habe ich ein solches Glück verdient?

Sie schloß den Riegel ihrer Thür hinter ihm und horchte einen Augenblick auf seinen verhallenden Schritt, dann legte sie den Finger überlegend an die Lippen. Ja, sagte sie, er wird mich schützen, seine Liebe ist stärker als der Tod! Und thue ich denn nicht Alles für ihn? ist er nicht glücklich? und was will er mehr? Bin ich es? ist Louis glücklich? und doch liebe ich ihn. O ich liebe ihn! wiederholte sie nachsinnend und blickte vor sich nieder. Das war der erste Zug, dachte sie dann, aber noch bin ich um die Klippe nicht herum. Sie setzte sich nieder und schrieb folgenden Brief:

Louis, mein Louis, sei vorsichtig! Mein Vater ahnt unsere Liebe zu einander und beobachtet mich. Ein Wort, ein Blick nur, und wir sind rettungslos verloren! Du kennst meinen Vater nicht er ist schrecklich! Keine Beschreibung vermag dir zu sagen, wie er ist, was er im Stande ist zu thun! O Louis! was bleibt dir ohne mich, was bleibt mir ohne dich, als zu sterben? Geliebter, sei vorsichtig, zürne nicht, wenn ich mich in das Unabänderliche füge, habe Geduld mit mir. Mein Vater denke, er ist alt und wir sind Beide jung. Eine ganze Zukunft des Glückes liegt vor uns, wenn du nur warten willst. Muß ich nicht auch warten? Glaubst du, meine Liebe brenne weniger heiß als die deinige? Glaubst du, die Stunden schleichen mir weniger langsam, wenn ich dich nicht sehe, wenn keine mir die Hoffnung deiner Nähe bringt? Und jetzt, Louis, jetzt darf ich dich nicht sehen auf viele Tage nicht. Und nicht allein hörst du? nicht allein, so lange mein Vater noch in der Stadt ist. Dann, dann sind wir freier. Schreibe mir. O dieser Brief nimmt mein halbes Leben mit, und nur deine Antwort giebt mir es wieder.

Wer kann sagen, sie habe nicht gefühlt, was sie schrieb? Und doch, welch zwingendes Interesse lag für sie darin, ihren Kahn so durch Gefahren aller Art geschickt und glücklich hindurch zu steuern? Daß sie Alles verlieren konnte, war nothwendig, um dem Durst ihrer üppigen Seele nach stets wechselnden Genüssen Genüge zu thun. Es war die Würze des Lebens, die Allem, was sie besaß, erst den rechten Beigeschmack gab.

So wird Louis sich zügeln müssen, dachte sie, und dieser närrische Fluchtplan, der nur in einem närrisch leidenschaftlichen Gehirn ausgeheckt werden konnte, bleibt vor der Hand, was er ist, ein angenehmer Traum. Sie schickte ihm den Brief samt den Noten zu.

Einige Tage danach begegnete Graf Hoheneck seinem Schwiegervater. Der Auftritt mit seiner Frau lag ihm noch immer im Gedächtnis, es schien ihm unmöglich, das ein Wort nicht hinreichen sollte, Alles zum Besten zu lenken, und er beschloß gleich vor die rechte Schmiede zu gehen.

Hören Sie, lieber Papa, sagte er nach einem kurzen Gespräch und nahm den alten Grafen vertraulich unter den Arm, meine Frau hat mir anvertraut, daß Sie ihr nicht so zugeneigt seien, wie zum Beispiel ihrem Bruder. Es mag wohl nur Einbildung von ihr sein, aber Sie glauben nicht, wie der Gedanke, Ihrem Herzen fremder zu stehen, dem guten Kinde durch die Seele geht. So habe ich mir denn vorgenommen, Ihnen Ihr Unrecht vorzuhalten und Ihnen zu beweisen, daß meine Leonie ein wahrer Engel ist.

Ich versichere Ihnen, daß ich nichts gegen meine Tochter habe, versetzte der alte Graf, von dem Angriff etwas überrascht.

Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie läßt nun einmal nicht von dem Gedanken, und ich muß selbst gestehen, lieber Papa, daß Ihre Kälte ihr dazu manchmal einen Grund zu geben scheint. Und Leonie ist doch so sanft, so folgsam, so heiter, so liebenswürdig, so gut! Ich will Otto's Vorzügen nicht zu nahe treten, lieber Papa, aber an Ihrer Tochter haben Sie doch eigentlich Ihr Meisterwerk gemacht.

Der alte Graf machte eine Bewegung, als habe er unerwartet einen Stoß gegen die Brust erhalten. Er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und wurde plötzlich sehr bleich.

Was fehlt Ihnen? frug sein Schwiegersohn.

Nichts ein leichter Schwindel es wird gleich vorüber sein.

Singt die Gräfin noch immer so viel? frug er nach einer Pause.

Sie klagt, es greife ihr die Brust an. Aber Sie können ohne Sorgen sein, lieber Papa, ich habe gleich mein Verbot darauf gelegt. Freilich ist es ein Opfer, aber Leonie thut Alles, was ich will. Und im Grunde singt sie ja nur für mich.

Nun, es freut mich, daß Sie glücklich sind.

So glücklich, daß es für einen Ehemann fast lächerlich ist. Ich werde Fräulein Bertold eine Zulage zu ihrer Pension geben. Ich begreife nicht, daß es noch alte Jungfern giebt. Woran denken Sie, Papa?

Nur so ich dachte, wie ihre Mutter doch eben so war.

Wirklich? sieht ihr Leonie sehr ähnlich?

Das nicht die Augen ein wenig, aber auch die nur zuweilen Es kommt doch Alles auf Eins heraus! setzte er düster hinzu. Wir sprachen von Ihrer Frau, mein Verdienst dabei ist, fürchte ich, sehr gering. Nun, ich werde Ihnen beweisen, daß ich Ihre Worte zu Herzen nehme, und setzt öfter bei meiner Tochter anwesend sein.

Thun Sie das, Papa. Und das Beste wird wohl sein, Sie erwähnen nichts von unserem Gespräch. Sie könnte sonst leicht denken, daß Sie sich nur Zwang anthun.

Sie haben vollkommen Recht, erwiderte Leonie's Vater. Sie schüttelten einander die Hand und schieden.

Indessen war auch Otto herzugekommen, und an seinem Arm setzte der alte Graf seinen Weg weiter fort.

O sie ist weit, dachte er, und seine Gedanken waren bei Leonie, weiter noch, als ich gedacht. O Gott, habe ich noch nicht genug gethan?

Sie begegneten dem Marquis, der grüßend vorüberging. Otto hatte sich abgewandt und that, als sehe er ihn nicht.

Was hast du? frug sein Vater.

Ich mag ihn nicht! platzte Otto ärgerlich heraus.

Du bist eifersüchtig, meinte der Graf.

Wird Marie jemals meine Frau, so brauche ich auf keinen König eifersüchtig zu sein, und wären alle Frauen wie Marie, so könnten in Gottes Namen noch so viele französische Marquis in der Welt herumlaufen, kein Mann würde dadurch in seiner Ruhe gestört.

Der alte Graf antwortete nicht. Otto muß fort, dachte er, und es ist die höchste Zeit. Noch denselben Abend sprach er mit ihm. Leonie hatte Recht gehabt, ihr Vater würde ihn selbst hüten vor Gefahr.

Marie und ihre Eltern müssen nun wissen, begann der alte Graf, woran sie mit dir sind, und auch über seinen Charakter können sie schwerlich noch im Unsichern sein. Du hast also hier nichts mehr zu thun, und deine Gegenwart in S. ist durchaus nöthig. Mich halten andere Geschäfte hier zurück, und ich habe Klagen über den Verwalter gehört.

Nichts konnte Otto ungelegener kommen, als diese Trennung von dem Mädchen, das er liebte und das sich ihm in letzterer Zeit freundlicher zuzuneigen schien. Ich habe mit Marie eigentlich noch nicht gesprochen, stotterte er.

Ich werde mit dem Baron sprechen und dich die Antwort wissen lassen. Das wird hinreichend sein.

Aber die Reise war und blieb unangenehm. Der Marquis fiel ihm wieder ein. Wenn auch seine Liebe zu Marie die Beaufsichtigung, die er sich vorgenommen, in Atome zersplitterte, mit der leichten Überschätzung der Jugend dünkte ihm jetzt seine Gegenwart allein ein entschiedener Schutz für seine Schwester zu sein. Es ist nicht wegen Marie allein, versetzte er stockend und erröthend, denn er war es nicht gewohnt seinem Vater zu widersprechen, und fürchtete auch mehr zu sagen, als ihm für Leonie's Ruhe gerathen schien, aber ich kann nicht fort, lieber Papa, ich kann gewiß nicht fort.

Der Graf richtete sich auf. Was ist es, das dich festhält? frug er streng.

Otto schwieg.

Ich denke, fuhr sein Vater fort, das ich weiß, was es ist. Aber der Argwohn, den du auf deine Schwester wirfst, ist eine Beleidigung für mich. Ich kenne die ganze Geschichte und weiß, was ich davon zu halten habe. Du bist noch ein Kind und machst aus einem Ameisenhaufen einen Berg. Morgen reisest du unwiderruflich ab.

Dabei blieb es denn auch. Ja, ja, sagte sich der Graf, der dem sich entfernenden Sohne mit Wehmuth nachsah, ich werde einsam sein ohne dich, mein Junge, aber in einem ehrlosen Kampfe sollst du mir nicht untergehen. An mir ist es, zu wachen, und fürchte nicht, daß mich der Schlaf befalle, ich habe das Wachen lange genug geübt.

Leonie war nicht wenig überrascht, als Otto kam, Abschied von ihr zu nehmen. Ich werde bei Marie für dich sorgen, sagte sie zu ihm.

Sorge für dich selbst, es wird mir lieber sein, versetzte er mißmuthig.

Du hast Recht, sagte sein Schwager, Leonie singt mir noch immer zu viel.

O, versetzte sie mit einem leichten Schmollen, du bist nie zufrieden, und übrigens habe ich die Noten schon weggeschickt. Jetzt mag dir eine Andere die Grillen wegsingen.

Wirst du eifersüchtig sein? lachte er.

Ich thue Alles, was du willst, du weißt, ich thue es, und meine armen schönen Lieder, was mögen sie denken, nun sie so ganz verlassen sind? In dem Blick, in dem Lächeln, mit dem sie zu ihm aufsah, in dem Ton ihrer Stimme lag es wie eine halbe Thräne, und sie drückte den Kopf an ihres Mannes Arm.

Er beugte sich zärtlich zu ihr. Es ist mir doch lieber, du bleibst gesund und ich höre deine süße Stimme weniger oft, erwiderte er mit einer leichten Rührung, die halb Dank und halb Vorwurf war.

Sie sind doch recht glücklich mit einander, dachte Otto sehr beruhigt, indem er von ihnen ging.

Von nun an änderte sich Leonie's Leben auf eine für sie auffallende und befremdende Art. Ihr Vater brachte fast seine ganze Zeit bei ihr zu, und Ottos Abwesenheit gab ihm den besten Grund dazu. Warum war er überhaupt in der Stadt geblieben, für die er doch so wenig eingenommen war? Ich alter Mann gehe hier auf Freiersfüßen herum und muß für Otto werben, hatte er einmal gesagt. Das schien natürlich genug; warum mußte er aber beständig bei ihr sein? Wie oft hatte sie Otto's Abreise gewünscht, um ihren Vater dadurch los zu werden; nun war Otto abgereist, und der Druck, dem sie zu entgehen wünschte, lag doppelt schwer auf ihr. Ihres Vaters Benehmen gegen sie war aufmerksam, so aufmerksam hatte sie ihn nie gesehen. Hatte er damals nur aus allgemeiner Überzeugung gesprochen, oder war sein Verdacht wirklich geweckt? Sie konnte daraus nicht klug werden; weder in Wort noch in Blick hatte er auf das gehabte Gespräch angespielt. Der Marquis wurde fast nicht erwähnt.

Louis kam selten, an ein Gespräch unter vier Augen war nicht zu denken, er fand die Gräfin keinen Augenblick allein. So konnte nun freilich der Fluchtplan nicht weiter besprochen werden, aber es entstand eine andere Gefahr. Er schrieb, durch Noten und Bücher ging der Verkehr; Leonie hatte weder den Muth zu antworten, noch sie zurückzuweisen, und immer schwebte sie über dem Abgrunde der höchsten Gefahr. Ein Blick, ein Lächeln reichte nicht mehr hin, ihn zu beschwichtigen, er wurde dringender mit jedem verfließenden Tag, und selbst eine Thräne, die er dem verschleierten Auge wie eine verstohlene Bitte um Schonung entschlüpfen sah, machte ihn zwar verstummen, aber vermehrte nur seine innere Aufregung. Wo er sie sah, sah er ihren Mann oder ihren Vater neben ihr. Ein böser Argwohn belastete seine Seele, das Glück, das ihm so nahe geschienen, wich wie ein Schatten unter seiner Hand. Er dachte, Leonie ziehe sich vor ihm zurück, und sein Verstummen war nur die Ruhe, die dem Ausbruche vorhergeht. Alles war zwischen ihnen anders geworden. Das Senfkorn des Mißtrauens, von der Leidenschaft so lange erstickt, fing an zu keimen und langsam die ersten giftigen Blättchen zu treiben.

Er glaubte ihr nicht mehr, und jetzt sagte er es sich auch.

Sie hoffte von einem Tage auf den andern. Das Frühjahr war angebrochen, ihren Mann hielten Geschäfte in der Stadt zurück, aber auch ihr Vater traf keine Anstalten, auf das Land zu gehen.

Wie lange bleibt Otto in S.? frug sie ihn eines Tages, nach ihrer Gewohnheit die Frage, die sie eigentlich stellen wollte, umgehend.

Den ganzen Sommer, versetzte er ruhig.

Sie bleiben doch nicht den ganzen Sommer hier? frug jetzt ihr Mann.

Nein, nein, ich reise nach. Nur später, jetzt kann ich nicht. Was werden Sie thun?

Ich fürchte, ich werde reisen müssen, sagte ihr Mann ein wenig gepreßt.

Jedenfalls hoffe ich aber, Sie mit Ihrer Frau in S. zu sehen. Sie waren noch nicht auf dem Gute, und Leonie ist dort erzogen worden.

Das ist wahr, ich werde sehr gern dort sein. Was meinst du, Leonie?

O ich gewiß auch, versetzte sie ruhig. Gott bewahre mich! dachte sie.

Du hast mich verrathen, sagte sie später mit kindlichem Schmollen zu ihrem Manne, nun bringt der Vater aus Pflichtgefühl mir das Opfer seiner ganzen Zeit, und es thut mir weh.

Graf Hoheneck lachte. Er bildete sich nicht wenig auf die Versöhnung ein, die er zu Stande gebracht, und hielt seine Frau hochbeglückt; was Leonie empfand, ist leicht zu denken. Das Werkzeug, dessen sie sich bedient, hatte sich in ihrer Hand gewendet und sie selbst verletzt. Unmöglich konnte sie ihrem Manne sagen, die Gegenwart ihres Vaters sei ihr eine Qual.

Habe Geduld! flüsterte sie Louis eines Tages zu, siehst du denn nicht, was ich leide?

Sie wandte sich um, ihres Vaters Augen ruhten forschend auf ihr. Sie wurde sehr blaß, aber sie erwiederte scheinbar ruhig den Blick.

Ei, sagte er, spielst du noch immer so gern Hasardspiele?

Ich? versetzte sie; es kommt darauf an.

Und Sie, Herr Marquis? frug er jetzt.

Nein, versetzte dieser, und seine Stimme bebte leicht, das Ungewisse und Schwankende zieht mich nicht an, und mit der Zeit stößt es mich sogar ab.

Sie fühlte die Antwort in allen Fasern ihres Herzens und wagte es nicht, den bittenden Blick zu ihm zu erheben, denn ihres Vaters Augen lagen noch immer auf ihr.

Louis schickte sich zum Gehen an.

Ich werde Sie begleiten, sagte der alte Graf freundlich zu ihm. Auf der Treppe hing er sich, was er früher noch nie gethan, in seinen Arm.

Sie müssen Nachsicht haben mit einem alten Manne, der eben das Loos des Alters theilt, sagte er mit mehr als gewöhnlicher Freundlichkeit. Wissen Sie, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, daß Sie ihrem Vater sehr ähnlich sehen? Er möchte nicht viel älter sein, als Sie, da ich ihn kennen lernte. Aber auch Ihre Mutter hat die Natur bei Ihnen nicht vergessen. Sie war eine sehr edle Frau.

Sie haben auch meine Mutter gekannt? frug Louis, plötzlich sehr bewegt.

Ja, Herr Marquis. Niemand hat sie besser gekannt; aber ich war jung, und mein Auge war damals geschlossen für solchen Werth, sonst wäre Vieles anders gekommen. Ihre Mutter wenigstens hätte ein besseres Los verdient.

Louis schwieg. Sie waren an den Wagen gekommen. Machen Sie mir das Vergnügen, mich zu begleiten, sagte der Graf, ich setze Sie bei Ihrer Wohnung ab. Und mit tieferregtem Interesse, aber doch voll scheuer Zurückhaltung nahm der junge Mann an seiner Seite Platz.

Sehen Sie, Herr Marquis, fuhr der alte Graf zu reden fort, Ihr Vater war ein liebenswürdiger Mann; böse Beispiele haben ihn vielleicht mehr auf falsche Wege geführt, als sein eigenes Herz.

Es war das erste Mal, das Louis entschuldigende Worte über seinen Vater vernahm. Eine wunderbare Rührung kam über ihn, und sein Herz, das in der letzten Zeit so viel von der anerzogenen Strenge abgelegt, sog begierig diese neue Lehre ein.

Wüßten Sie, welche furchtbare Macht das böse Beispiel übt, die falsche Scham, die von der Rückkehr zurückhalt, wie sehr auch das Herz zum Bessern drangen mag! Das waren die Klippen, woran ihr Vater zu Grunde ging. Auch Sie habe ich damals gesehen, als ein ganz kleines Kind, bevor Ihre Mutter Paris mit Ihnen verließ. Ich weiß nicht, ob er Sie später jemals wieder gesehen, und doch weis ich gewiß, er hat Sie sehr geliebt!

Er schwieg, von seinen Erinnerungen überwältigt. Louis erschrak über die fahle Blässe, welche die Züge des alten Mannes fast bis zur Unkenntlichkeit entstellte, und ließ besorgt das Wagenfenster herab.

O, sagte der Graf mit dumpfer Stimme, es war fürchterlich! Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, dann, mit einer mächtigen Anstrengung, unterdrückte er seine Bewegung. Aber wo Schuld ist, fuhr er fort, folgt auch die Strafe nach. In Ihrer Mutter hatte der Himmel Ihrem Vater die höchste Gabe beschert, die ein Mensch auf Erden erlangen kann. Doch er erkannte sie nicht. Die Ehe aber ist heilig, und wer den Frieden einer Ehe stört, für den wäre besser, der Tod hätte ihn an der Brust seiner Mutter ereilt.

Louis erröthete und erblaßte so rasch nach einander, das der Graf Mitleid mit ihm empfand.

Sie sind gut, sagte er freundlich, und ich meine es auch gut mit Ihnen. Sie sehen, es ist nicht das erste Mal, das der Faden unseres Lebens zusammenläuft. Sie sind mir aus vielen Gründen werth um der Verstorbenen willen mehr als ich sagen kann. Ich sage nicht, sehen Sie mich als Ihren Vater an, das ist nicht möglich zwischen uns, aber wenigstens als einen Menschen, der Ihnen nach Kräften gern das ersetzte, was ihnen der Tod dieses Vaters geraubt: einen erfahrenen Rath und ein theilnehmendes Herz. Und sollten Sie jemals an der Grenze stehen, wo Recht und Unrecht sich scheiden, wo der nächste Schritt Sie und Andere in das Verderben stürzen kann, so kommen Sie zu mir, und ich werde ihnen eine traurige Geschichte erzählen, in der ich zu meinem eigenen Unglück eine Hauptrolle gespielt.

Aber nur dann, sagte er, als Louis eine bittende Bewegung machte, nur dann! Es ist ein Geheimnis, das mir nicht allein gehört, und nur für die Gewißheit gebe ich es hin.

Fast wie drohend sprach er die letzten Worte aus. Louis schwieg betreten. Sie waren angekommen. Der Graf drückte ihm theilnehmend die Hand: Denken Sie an meine Worte, sagte er, wo Schuld ist, kommt auch die Strafe nach! Der Wagen rollte davon, während Louis in unaussprechlicher Bestürzung vor der Thüre seines Hauses stehen blieb, bis er endlich wie betäubt die Treppe zu seiner Wohnung erstieg.

Bei der Gräfin erschien er lange nicht mehr. Über Leonie kam eine Angst, vor der alles Andere wie ein Schatten verschwand: sie dachte, Louis gehe für sie verloren. Aus dem Liebeskranz, den sie so bemüthig gewunden, ragten allgemach auch für sie die Dornen unter den Blumen hervor, aber wie das Kleid des Nessus war er mit ihrem Fleische verwachsen, und sie konnte ihn nicht losreißen, ohne das ihr eigenes Leben zugleich zerrissen wäre. O ich werde noch wahnsinnig! dachte sie, als Tag um Tag verging, ohne Nachricht von ihm. Seine Briefe, die sie so sehr gefürchtet, rief sie jetzt als das höchste Glück herbei, allein sie wartete vergebens darauf. Louis, hatte nicht den Muth, sie zu sehen, er hatte auch nicht mehr den Muth zu schreiben aber die verhaltene Leidenschaft schlug unter dem Druck der Verhältnisse nur tiefere Wurzeln in ihr.

Alles Andere blieb unverändert um sie her. Ihr Vater schien ihre Gesellschaft nicht mehr entbehren zu können. Dazu bekam er jetzt auf einmal die Laune, sie mit Kostbarkeiten zu überhäufen; es war, als kaufe er ihr jede Thräne, die sie innerlich weinte, durch einen Diamanten ab.

Bin ich nicht wie die Königin von Saba? sagte sie, als er eines Tages um ihren schönen Hals eine funkelnde Schnur von Brillanten schlang.

Ich denke, Salomo war nicht so glücklich, sagte ein junger Mann, der gerade zugegen war.

Sie lächelte vor den Andern und hütete sorgfältig jede Bewegung; aber ganz heimlich für sich rang sie oft die Hände und schrie innerlich um Rettung, während sie mit heiterer Miene ein gleichgültiges Gespräch fortspann. Sogar ihr Mann, der ihr früher eine so große Stütze gewesen, war ihr nur mehr ein Hindernis.

Du siehst, nun denkt der Vater, daß ich eigennützig bin! klagte sie ihm. Aber er nahm Alles für Beweise größter Liebe hin; und wie konnte es seiner reizenden Frau gegenüber wohl anders sein? Es war wie eine Mauer, die sich unsichtbar um sie baute und durch welche sie nicht dringen konnte, sie mochte thun was sie wollte.

Da nahm sie den ersten besten Vorwand zu Hilfe und schrieb an den Marquis: Ich muß Sie sehen, sagte sie, kommen Sie, ob ich nun allein bin oder nicht.

Sie eilte aus ihr Schlafzimmer und mit fieberhafter Aufregung erbrach sie die Antwort: Es kann nicht sein, schrieb er ihr ganz lakonisch, die Gefahr ist zu groß!

O, sagte sie und zerdrückte das Papier, was kümmere ich mich noch um Gefahr!

Wie schwer ihm das kalte Wort gewesen, wußte sie freilich nicht.

Abends hielt sie es nicht mehr aus. Sie schützte Unwohlsein vor und ließ ihren Vater allein. Einige Minuten darauf hörte man, das sein Wagen den Hof verließ.

O, dachte sie, ich vergehe bei diesem ewigen Zwang! Einmal muß ich Louis sehen, in seine lieben Augen blicken, seine Stimme hören! Mein Vater ist an Allem Schuld! Louis muß wissen, das ich ihn liebe, ich muß wissen, daß er mich liebt, um jeden Preis!

Sie warf einen Mantel um und entschlüpfte durch eine Hinterthüre. Einige Schritte vor ihrem Hause trat ihr Vater ihr in den Weg: Was thust du hier so allein? fragte er.

Sie war wie gelähmt.

Ich werde dich begleiten, fuhr er fort und zog ihren Arm in den seinigen. Er schien nicht überrascht, als habe er sie da erwartet.

Sie leistete keinen Widerstand. Er hat einen Bund mit dem Satan geschlossen, dachte sie; ich kann ihm nicht entgehen.

Ich bin müde, sagte sie nach einer kleinen Weile mit matter Stimme, und er führte sie schweigend in ihre Wohnung zurück.

Wann wird das enden? rief sie, als sie erschöpft zu Hause ins einen Sessel sank.

Doch ihr elastisches Wesen suchte schnell nach einem anderen Ausweg. Wenn mein Vater nicht geht, überlegte sie, so kann ich ja gehen, und ist nicht Louis eben so frei wie ich? Sie fing an, in ihren Mann zu dringen, seine Abreise aus der Stadt zu beschleunigen.

Mir thut die Luft nicht gut hier. Erinnerst du dich, wie glücklich wir im vergangenen Herbste in Rothwalde waren, so still, so ganz für uns allein? Sehnst du dich nicht dahin zurück?

Er streichelte ihr lächelnd die Wange und versprach die Abreise gar zu gern. Auch er sehnte sich in die ländliche Stille zurück, wo das höchste Glück seines Lebens ihm wie ein idyllischer Morgentraum der Seligkeit aufgegangen war. Aber von Woche zu Woche schob der erwünschte Tag sich hinaus, denn Wichtiges war im Werke, und der König ließ den erprobten Freund und Rathgeber nicht fort. Leonie's Gesundheit fing an, unter dem Kampfe mit dem zähen Widerstand, der sich hier von allen Seiten bot, und den sie weder künstlich zu umgehen, noch zu bewältigen vermochte, allgemach zu leiden. Ihre Wangen erbleichten, und um die dunklen, sonst so feurigen Augen begannen sich bläuliche Ringe zu ziehen.

Endlich wurde ihr Vater unwohl, die ununterbrochene Wachsamkeit hatte seine ohnedies abnehmende Kraft aufgezehrt. Er mußte das Bett hüten, und der Arzt befahl die größte Ruhe an. Leonie erwachte zu neuem Leben.

Komm, schrieb sie an Louis, endlich athme ich auf! Wenn du meinen Tod nicht willst, so komm heute zu mir. Mein Mann ist bei Hofe, komm, o komm! Sie schickte den Brief durch einen Diener; aber dieser fand den Marquis nicht zu Hause: Der alte Herr Graf habe ihn bitten lassen, ihn zu besuchen.

Leonie lief von Zimmer zu Zimmer in der rastlosen Ungeduld der Leidenschaft. O er muß kommen, dachte sie, sie schrie es fast, sie rang die Hände, sie war außer sich. Endlich fuhr ein Wagen in den Hof.

Sie läutete: Ich nehme keine Besuche an, sagte sie zu dem aufwartenden Diener, sollte der Herr Marquis kommen, so sagen Sie es mir.

Es ist nur Seine Gnaden der alte Herr Graf, versetzte der Mann, und gleich darauf wurde ihr Vater, bleich und in Pelze gehüllt, in das Zimmer geführt.

Du siehst, ich sterbe noch nicht, denn das Bett hält mich nicht, fügte er mit einem sonderbaren Lächeln. Der Marquis hat mich auch verlassen. Ein alter, kranker Mann flößt Niemand Interesse ein. So komme ich denn zu dir, denn ich langweile mich allein.

Wir wollen die Gedanken nicht verfolgen, welche bei diesen Worten durch die Seele seiner Tochter führen; aber sie half ihm sich niederzulegen, rückte ihm die Polster zurecht und setzte sich schweigend neben ihn.

Eine lange Stille trat jetzt ein. Stunde um Stunde verrann. Die fieberheißen Augen der Gräfin flogen nach der kostbaren Pendeluhr, die auf dem Gesimse des Kamines stand. Louis kam noch immer nicht. Was hätte es jetzt auch genutzt? sagte sie sich, und doch welche Antwort lag in diesem Fernbleiben nach einem solchen Ruf!

Der Graf hatte die Augen geschlossen und athmete leise, als schliefe er. Sie saß schweigend, und die feinen Hände zerdrückten krampfhaft einen Fächer, ein Meisterwerk der französischen Kunst, während sie in finsterem Sinnen grübelte und in dem Schwanken der Angst und Unentschlossenheit ihre Seele hin und her wogte, wie ein dunkler See, bevor sie Ruhe, das heißt, einen Entschluß fand. Wie die Flut, die scheinbar machtlos an dem steinernen Wall ihres Ufers zerschellt, immer übermüdet ihre Wellen wieder sammelt zu erneuertem Anprall, so lebte auch in diesem ätherisch zarten Geschöpfe eine Kraft, welche durch nichts zu brechen war, als durch den Tod. Der Tod aber, das fühlte sie, konnte nur Louis für sie sein.

O es kann nicht so bleiben, sagte sie sich, was habe ich denn gethan, daß ich auf solche Weise leiden muß? Sie stützte den Kopf in die heiße, vor Aufregung leicht zitternde Hand, und allmählich kehrte ihres Denkens ganze Kraft zurück.

Da fuhr abermals ein Wagen vor. Sie sah auf, es war ihr Mann, der nach Hause kam. Er sah verstimmt und bekümmert aus.

Was giebt es? fragte Leonie, die ihm entgegenging.

Er legte den Arm um sie: Ich habe schlechte Nachrichten, sagte er. Er setzte sich und zog sie auf seinen Schoos.

Sein Schwiegervater öffnete jetzt die Augen und sah ihn fragend an.

Ich muß verreisen, antwortete er auf diesen Blick. Der König schickt mich nach L. Es kommt mir sehr ungelegen.

Leonie's Herz pochte hoch auf vor Freude und stand im nächsten Augenblicke still vor Schrecken, als sie den Blick ihres Vaters auf sich geheftet sah. Was würde er jetzt thun? Sie lehnte den Kopf an ihres Mannes Schulter und schwieg. Auch ihr Vater sagte kein Wort. Ihr Mann sah in Gedanken vor sich nieder und streichelte dabei liebevoll die weichen, glänzenden Locken seiner Frau.

Leonie reist doch mit? frug endlich der alte Graf.

Nein, das ist es eben. Sie hat in der letzten Zeit leidend ausgesehen, und doch lasse ich sie ungern allein zurück.

Wenn es nur das ist, so konnte sie ja gleich mit mir nach S. Dort ist sie gut aufgehoben, und die Landluft wurde ihr wohltätig sein.

Es wäre mir eine wahre Beruhigung, sagte ihr Mann, sie zärtlich anblickend. Sie ist so jung und unerfahren ich hatte keinen ruhigen Augenblick, wüsste ich sie allein.

Der Herr Marquis von Canteloup, meldete der Bediente jetzt.

Leonie stand auf und setzte sich in einiger Entfernung von ihrem Manne und ihrem Vater.

Sieh, sagte Graf Hoheneck, indem er versuchte, die Wehmuth, welche ihn vor der so nahen Trennung beschlich, durch einen Scherz zu verbergen, der kommt wie gerufen. Er soll dich in S. besuchen. Dort hast du Zeit, seine Wunden zu verbinden, das ist ja ein Zeitvertreib, den du liebst.

Leonie stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Louis trat ein und bekam ihren ersten Blick, und es war ein Blick voll so unsäglichen Grames, das der junge Mann betroffen in der Thüre stehen blieb. Er war nicht nach Hause gegangen, nachdem er den alten Grafen verlassen, daher kam seine Verzögerung, denn er hatte keine Kraft mehr zu längerem Widerstand.

Treten Sie ein, rief ihm Gras Hoheneck entgegen. Wir sprachen soeben davon, daß Sie meine Frau in S. besuchen sollten. Sie wird ihren Vater dahin begleiten, weil ich verreisen muß.

Louis sah mit einem ungewissen Blick von dem Gatten auf den Vater und antwortete nicht.

Was sagen Sie zu deinem Plane? sagte der alte Graf, der ihn prüfend ansah.

Der Marquis schlug die Augen nieder und erröthete: Ich weiß nicht versetzte er mit unsicherer Stimme. Die Möglichkeit, nach so langer Entfremdung mit dem Weibe, das er liebte, unter Einem Dache zu sein, hatte etwas wahrhaft Berauschendes für ihn.

Leonie war hinter das Ruhebett getreten, auf welchem ihr Vater lag. Sie war ungewöhnlich bleich, der Gedanke an diese Reise stillte ihr Herz mit einem Entsetzen, für das sie weder Worte noch Namen fand. Sie traute sich nicht, die Augen aufzuschlagen, ein Spiegel hing ihr gegenüber und konnte sie verrathen, und doch mußte etwas zu ihrer Erlösung geschehen.

Der Herr Marquis sagte mir, daß er die Stadt diesen Sommer nicht verlassen will, sagte sie, während sie innerlich nach Fassung rang.

Louis schwieg.

Ist das ein so fester Entschluß? frug der alte Graf, und in seinem Tone klang es wie Ironie.

Ich weiß nicht, erwiderte Louis zögernd, es hängt nicht von mir ab Sie wissen, ich bin nicht frei.

Sie werden immer am besten thun das Beste zu thun und das Klügste ist es auch, sagte der alte Graf und betonte scharf ein jedes Wort.

Leonie stand wie auf Kohlen. Sie nahm ihres Mannes Arm und ging mit ihm im Zimmer auf und ab.

Ich hatte mich so sehr auf Rothwalde gefreut! sagte sie schmeichelnd zu ihm. Wir waren so glücklich dort! nun ist alle meine Freude zerstört!

Glaubst du, daß es mir leichter wird? erwiderte er.

Kann ich dich nicht wenigstens begleiten? bat sie jetzt.

Nein, Herzenskindchen. Du weißt ja, wie schwer mir eine Trennung von dir wird, aber es geht nicht anders.

So möchte ich lieber nach Rothwalde, als nach S. Des Vaters Schloß ist alt und finster, und ohne dich wird mir dort ganz unheimlich sein.

Ihr Mann lächelte. In Rothwalde, sagte er dann, bist du wirklich nicht ganz sicher. Die Bauern haben allerhand verrückte Ideen aus Frankreich herüber bekommen; wüßte ich dich allein auf dem Schlosse, ich hielte es keine Woche lang aus. Denke daran, liebes Kind, und nimm den Vorschlag deines Vaters an.

Aber wenn du mich durchaus nicht mitnehmen willst, so könnte ich zu deiner Cousine gehen. Sie hat mich so sehr gebeten, sie diesen Sommer zu besuchen, daß ich es versprochen habe. Freilich dachte ich dann mit dir hin zu gehen, aber du könntest mich dort abholen, und wir besuchen dann zusammen den Vater und gehen von S. nach Rothwalde zurück.

Meine Cousine ist kein passender Schutz für dich, liebes Herz, und du kannst ja auch später zu ihr gehen.

So schicke mich auf eines deiner anderen Güter.

Nein, nein, es ist nirgends sicher genug, und dann würde es deinen Vater verletzen und wozu? Du bist ja doch am besten bei ihm.

Was habt ihr? frug der alte Graf.

Leonie fürchtet sich ein wenig vor dem alten Schlosse in S., sagte ihr Mann.

Sie hat vielleicht besondere Gründe, meinte ihr Vater.

Nein, sagte sie halb erschrocken, ich ginge am liebsten mit meinem Manne.

Das geht aber nicht, unterbrach sie dieser, ich muß Tag und Nacht reisen, und du bist viel zu zart für eine solche Anstrengung.

Nun, so soll sie mit mir gehen, entschied ihr Vater. Ich hebe sie Ihnen am besten auf.

Freilich! sagte Hoheneck. Leonie schwieg entmuthigt.

Wann reisen Sie? frug Louis mit beklommener Stimme, denn Schmerz und Eifersucht schnürten ihm die Kehle zu.

Leonie wußte es, aber, sie konnte ihm keinen Trost geben. Sie stand zwischen zwei Feuern, wohin sie sich wandte, schlugen die Flammen auf und brannten sie. Erst in dem Augenblick, wo er Abschied nahm, übermannte sie das Gefühl.

O Herr Marquis, rief sie, ihm die Hand reichend, ich bin sehr unglücklich, glauben Sie es mir! Ihr Gesicht war plötzlich von Thränen überströmt.

Doch er verstand sie nicht. Vielleicht macht es sich doch noch, daß Sie Ihren Herrn Gemahl begleiten können, sagte er mit einem bitteren Vorwurf in Wort und Blick.

Sie drückte das Gesicht in ihr Tuch und wandte sich laut weinend mit einer heftigen Gebärde von ihm ab. Ihr Mann wollte sie tröstend an sich ziehen, aber sie machte sich ungeduldig von ihm los. Der Marquis entfernte sich. Ihr Vater sank in seine frühere Schläfrigkeit, und sie folgte ihrem Manne auf sein Zimmer, wo er Papiere ordnete. Er klagte über Kopfweh und legte sich endlich auf das Ruhebett.

O, dachte Leonie, ich kann mit meinem Vater nicht gehen, und Louis, der mich nicht verstehen will! O Louis, in S. sind wir Beide verloren!

Sie kniete nieder neben ihrem Manne, sie legte ihm kaltes Wasser auf die Stirn.

Nimm mich mit, bat sie weinend und ihm die Hände küssend, ich halte es nimmermehr aus ohne dich!

Quäle mich nicht! sagte er, ich kann es ja nicht thun. Wie willst du in dieser Jahreszeit Tag und Nacht ohne Aufenthalt reisen, und so zart wie du bist?

Ich fürchte mich nicht, sagte sie, ich will gern Alles ertragen, wenn ich nur bei dir bin.

Nein, nein. Der König selbst wünscht, das ich dich hier lasse, er fürchtet eine Verzögerung, wenn du mich begleitest.

Leonie weinte. Du siehst mich nicht wieder, sagte sie, ich sterbe in S., ich weiß es ganz gewis.

Denke an eine Überraschung für mich, sagte er lächelnd und mit ihren Haaren spielend, das wird dir die Zeit verkürzen.

Es wird eine Überraschung werden, meinte sie, aber nicht wie du sie wünschest.

Sie stand aus und setzte sich fern von ihm an das Fenster.

Du bist kindisch! rief er ärgerlich, und zum ersten Mal kam ihm ihr Benehmen unvernünftig und launisch vor. Sein Kopf schmerzte immer mehr, er wandte das Gesicht nach der Wand und schloß die Augen.

Ja, die Männer! dachte Leonie, sie gleichen sich alle.

Die Nacht war schon ziemlich vorgerückt. Keine Vorstellungen brachten sie dazu sich nieder zu legen. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, ordnete und sah zu, wie die Sachen ihres Mannes eingepackt wurden. Sie setzte sich auf die Koffer. Da geht mein Leben mit, sagte sie.

Als der Morgen kam, sah sie so verweint und eingefallen aus, daß Hoheneck erschrak und in seinem Entschlusse fast wankend wurde. Aber jetzt war es zu spät. Halb bewußtlos hing sie an seinem Halse, er suchte sich von ihr loszumachen, aber sie klammerte sich nur um so fester an ihn an. Er hatte den Fuß schon auf den Wagentritt gesetzt, da riß sie sich oben von Allen los, die sie zurückhalten wollten, eilte ihm nach und warf sich, alles vergessend, fast auf der Straße, noch einmal an seine Brust. Einen solchen Kampf hatte der ruhige Mann, bei all seiner Liebe für das angebetete Weib, doch nicht vorausgesehen. Die Adern auf seiner Stirn schwollen, und seine Augen, die keine Thränen fanden, unterliefen mit Blut. Endlich wichen Leonie's Kräfte, die Stunde drängte, er mußte fort, und er legte sie in ihres Vaters Arme. Aber dreimal noch kehrte er zu ihr zurück und schloß sie von Neuem in seine Arme.

Behüten Sie sie wohl, sagte er zu seinem Schwiegervater, der schweigend daneben stand, es ist mein Leben, mehr, viel mehr als mein Leben, das ich ihnen anvertraue. Jedes Haar auf ihrem Haupte soll Ihnen heilig sein!

Verlassen Sie sich auf mich, erwiderte dieser; mein Leben und meine Ehre sollen Bürgen für die ihrigen sein.

Mit abgewandtem Gesicht sprang endlich Hoheneck in den Wagen. Er wagte nicht zurückzublicken, und in raschem Trabe zogen ihn die vier rüstigen Pferde davon. Mit thränenleeren Augen blickte ihm Leonie nach und wurde halb ohnmächtig in das Haus zurückgebracht. Die ganze Dienerschaft zerfloß in Thränen über die große Liebe und den rührenden Schmerz der jungen, immer so sanften und nachsichtigen Gebieterin; denn Leonie wußte, daß im Falle der Noth solche Verbündeten manchmal die nützlichsten sind. Selbst ihr Vater wurde irre an ihr.

Habe ich ihr Unrecht gethan, dachte er, so mag mir Gott meine Härte gegen das arme Wesen verzeihen.

Er war sehr bewegt und ging sachte mit ihr um. Es lag so viel Wahrheit in dieser tiefen Versunkenheit des Grames, die wortlos so rührend um Theilnahme bat! Wie sollte das Alles Verstellung sein? Und daß es keine Verstellung war, das war gerade die höchste Verstellung bei dieser Frau. So weit konnte er nicht sehen, das sie mit ihrem Manne von der Sicherheit ihres eigenen Lebens zugleich Abschied nahm, daß die grenzenlose Liebe dieses Mannes, die jeden Frevel mit dem Wort der Verzeihung zu löschen im Stande gewesen wäre, ihre beste Stütze und vielleicht zu gleicher Zeit für sie auch der erste Antrieb zum Frevel war. Weniger geliebt, wäre sie vielleicht nicht so schnell der Verirrung erlegen.

Wann wünschest du abzureisen? frug der alte Graf, als sie etwas ruhiger geworden.

Wann Sie wollen, mein Vater, erwiderte sie.

Nun es doch geschehen mußte, war es ihr einerlei, wie bald.

Sie verließ ihn und schloß sich in ihr Zimmer ein; sie fühlte das Bedürfnis, sich zu sammeln und ihre Lage zu übersehen. Jetzt bereute sie es fast, das sie Louis 'Vorschlag, mit ihm zu fliehen, so ohne Weiteres verworfen; aber in Armuth und Elend gehen? Nein selbst an Louis' Seite vermochte sie das nicht! Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Vater zurück. Er war alt geworden, sehr alt, besonders in der letzten Zeit. Eine Schlacht hatte er freilich gegen sie gewonnen, aber konnte er sie denn immer bewachen? Die Zeit würde kommen, wo Krankheit oder ein anderer Grund sie frei machen würde von seiner Gewalt.

O käme doch diese Zeit! seufzte sie mit gerungenen Händen, hielte nur wenigstens Louis aus, dann würde ja noch Alles gut!

Freilich mußte der Argwohn, den ihr Vater gegen sie gefaßt, eingeschläfert, vernichtet werden, wenigstens bis ihr Mann zurückgekehrt war, und sollte das so unmöglich sein?

Ihre elastische Natur gewann nach und nach wieder die Oberhand, die Empfindung der Gefahr wich von ihrem Geiste, indem sie an die Mittel dachte, dieser Gefahr zu entgehen. Blinder Gehorsam schien ihr für den Augenblick am zweckmäßigsten zu sein. Louis noch vor ihrer Abreise zu sehen, war eine Unmöglichkeit; ihr Vater, das wußte sie, würde ohne sie nicht aus dem Hause gehen. Und doch mußte er wissen, wie es mit ihr stand, er mußte ihr beistehen, wenn irgend ein Beistand noch nöthig war. Sie konnte ihn nicht sehen, aber schreiben konnte sie.

Es giebt keine Rettung, schrieb sie ihm, ich muß mit meinem Vater nach S. Mit wie schwerem Herzen ich gehe, kann ich nicht sagen; ach, ich hatte so ganz anders geträumt! Unternehmen Sie nichts ich schreibe ihnen von S. aus, so bald es sich thun lässt. Zweifeln Sie nicht an mir. O Louis, wir haben uns nur gefunden, um uns wieder zu verlieren, wenn Sie nur nicht ganz vertrauen. Louis, Louis, Sie sind Alles für mich!

Sie läutete ihrer Kammerfrau und übergab ihr den Brief.

Niemand darf wissen, daß ich geschrieben, sagte sie. Die Dienerin sah sie überrascht an, aber vor diesen verweinten Augen, nach dem Auftritt, den sie eben mit angesehen, wie sollte da ein Verdacht möglich sein?

Wenn Louis mich wahrhaft liebt, dachte Leonie, so wird er sehen, das ich nicht anders handeln kann. Und er liebte sie, ebenso, mehr vielleicht, als er sie jemals geliebt. Bei aller Angst und Qual, war das nicht ein tiefer Trank der Seligkeit?

Der Marquis war zu Hause, als ihre Botschaft kam. Er hielt den Brief in den Händen und zauderte, ihn zu öffnen. Es war das Schicksal seines Lebens, daß an diesem leichten Blättchen hing. Alle Zweifel, die ihn in letzter Zeit gemartert, tauchten von Neuem in seiner Seele auf. Sein Herz schlug, sein Kopf schwindelte, und er mußte sich setzen. Erst nach langem Zögern erbrach er das Siegel.

O warum sind wir nicht gleich geflohen! war sein erster Gedanke, nachdem er gelesen; und doch mußte er sich gestehen, daß er glücklich, überglücklich gegen die vergangene Minute sei. Die Gräfin kann auf mich rechnen, sagte er der Dienerin, die im Vorzimmer wartete.

Denselben Abend reiste die Gräfin mit ihrem Vater ab.

Ich komme, dir Gesellschaft zu leisten, sagte sie zu Otto, als er sie ganz überrascht aus dem Wagen hob.

Sie war gefaßt und freundlich und scherzte in gedämpfter Heiterkeit über Otto, der des Fragens über Alles, was ihn in der Stadt interessierte, gar kein Ende fand. Ihr Mädchenzimmer wurde für sie bereitet; sie fand es unverändert, wie sie es vor noch nicht drei Jahren verlassen, und eben so unverändert, nur mehr entwickelt, war die Leonie, die es betrat.

Und ich werde doch mein Ziel erreichen, sagte sie sich, als sie Abends den müden, reichgelockten Kopf auf das langentwöhnte Polster legte. Und wie oft hatte sie dasselbe an derselben Stelle seit ihrer frühesten Kindheit gesagt!

Schon den folgenden Morgen schrieb sie an ihren Mann. Es schien ihr ein Band zu sein, das sie mit dem sicheren Grund verknüpfte, der unter ihr gewichen, und auch jetzt noch dünkte sie sich fester zu stehen, wenn sie erwog, wie innig seine Liebe war. Dann wollte sie sehen, ob ihre persönliche Freiheit eine Einschränkung erleiden würde, und gleich nach dem Frühstück machte sie sich zum Ausgehen bereit. Aber Niemand legte ihr etwas in den Weg; nur Otto begleitete sie plaudernd vor das Thor. Doch hier mußte er zurück, denn er hatte andere Dinge zu thun.

Ihr erster Gang war zur Pfarrerin, der sie mit aller Vertraulichkeit der Kinderjahre um den Hals fiel.

Die gute, sanfte Frau geriet fast außer sich vor Überraschung und Glück. Der Pfarrer eilte in Hemdärmeln vom Garten herein, das Kind, das er unterrichtet und eingesegnet, in allem Glanz der Jugend und vollendeten Weiblichkeit wiederzusehen. Seine Frau hielt Leonie's Hände und nannte sie bald mit dem altgewohnten Du, bald Fräulein oder Gräfin, bis sie wieder in das vertraute Du verfiel. Es war, wie wenn ein Kind, das man lange aus den Augen verloren, plötzlich und unerwartet zur alten Heimath wiederkehrt. Und Alles hier wehte Leonie so heimathlich, so vertraut an, so längst gewöhnt und gekannt, trotz alles Wechsels, den der Lauf der Zeit überall mit sich bringt. Das Herz ging ihr auf im neu erwachten Gefühle der Sicherheit, der Krampf löste sich in ihrer Brust bei all dieser Liebe, die man dem fernen Kinde so treu und lebendig aufbewahrt. Es war ein Gefühl der Unschuld, das zum ersten Male in ihrem Leben heute über sie kam. Sie küßte die alte Magd, die vor Ehrfurcht beinahe in die Knie sank, auf die Wange und lachte und weinte vor Rührung, als der Hund, der seit ihrer Entfernung unmäßig dick geworden, in das Zimmer stürzte und vor Freude winselnd sie am Kleide zupfte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

O, sagte sie, könnte ich doch immer hier sein! Das Schloss ist unheimlich wie ein Grab und der Vater finsterer als je.

Nun, Sie können ja recht oft zu uns kommen, sagte die Pfarrerin, und Leonie versprach es auch.

Gott sei Dank! dachte sie, als sie den Weg zum Schlosse wieder hinauf ging, das sind Freunde, und in ihrer Nähe kann mir so leicht nichts geschehen.

Aber auch auf dem Schlosse gab es durchaus nichts Verdächtiges. Ihr Vater, den sie so sehr gefürchtet, kümmerte sich wenig um sie und hielt sich meist auf seinem Zimmer auf; Otto beschäftigten die Angelegenheiten des Gutes, und Leonie blieb viel allein. Sie durchsuchte das alte Gebäude, das Kinderspiele gesehen, vom Boden bis zum Keller, jeder Winkel wurde von ihr in Augenschein genommen; auch die Umgebung, den Wald, jeden Ort, den sie gekannt und geliebt, suchte sie allein oder in Otto's Begleitung wieder auf.

Nach und nach trafen einige Familien aus der Nachbarschaft ein; ein kleiner Kreis sammelte sich um die reizende Gräfin, die in den dunklen Hallen wie eine feenhafte Erscheinung der Jugend und Anmuth aufgegangen war. Die alten Mauern wiederhallten von geräuschvollem Leben. Ausflüge zu Wasser, zu Wagen und zu Pferde wurden unternommen, und ihr Vater sorgte selbst für das sanfteste Thier und ritt es zur Probe, bevor er es seiner Tochter zum Gebrauch überwies.

Alle diese Veränderungen, die sie so wenig erwartet, wirkten offenbar wohlthätig auf die junge Gräfin ein. Sie führte mit bezaubernder Grazie und Gefälligkeit das Scepter der Freude in den nicht eben zahlreichen, aber gewählten Reihen, deren Mittelpunkt sie durch ihre Liebenswürdigkeit geworden, und wenn ja noch hier und da eine Wolke auf der blendenden Reinheit ihrer Stirn lag, so schrieben Jene, die sie bemerkten, es der verlängerten Abwesenheit ihres Mannes zu; denn von der Liebe, welche das Ehepaar mit einander verband, hatte man auch hier schon gar Manches gehört.

Unter dem erheiternden Einfluße dieser Umgebung wich die Blässe bald von Leonie's Wangen, ihre Augen strahlten in erneuertem Glanze, und sie hatte Anfälle ausgelassener Lustigkeit, bei denen alle Instinkte wieder auftauchten, die ihr als Kind ein solches Übergewicht über alle andern Kinder verliehen. Sie war die kühnste Reiterin, die unermüdlichste Fußgängerin, und kein Berg war ihrem schwanken Schritte zu steil oder zu hoch. Dann pflegte sie bei der Rückkehr von solchen Expeditionen, wenn sie die Zinnen des väterlichen Schlosses am Horizont auftauchen sah, wohl plötzlich laut aufzulachen über die Furcht, die es ihr von Ferne eingelöst.

Was war denn Unheimliches an diesen alten Mauern? Nichts als ihre eigene Phantasie, welche die dunklen Schatten ihrer Kindheit mit dem Gebäude selbst verwebt; und übermüthig sprach sie diesen Schatten Hohn und störte die Ruhe der Nacht durch Musik und Lichterglanz, und, die lauten Freuden des Tages wurden am Abend in den bunten Ringen des Tanzes fortgesetzt.

Du kehrst mir das ganze Haus um, sagte Otto, der ein Freund der Ordnung war, einmal mürrisch zu ihr. Aber sie lachte ihn nur aus, und selbst ihr Vater schien es gern zu sehen, wie toll sie es auch trieb, und legte ihr nichts in den Weg.

Aber wenn der ruhelose Wirbel sich endlich gelegt, wenn die beneidete Herrscherin dieses Treibens sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und entkleidet, ihre Kammerfrau von sich gelassen hat, ist es da noch dieselbe Leonie? Da sehen wir ein bleiches junges Weib, die Brauen zusammengezogen, wie in brütendem Denken, Abspannung, Zorn und Groll in allen Zügen und jenen bitteren Zug, welcher die Frucht unbefriedigter Erwartung ist.

Leonie ist weit gekommen in einer kurzen Zeit, weit in Gedanken wenigstens, und freilich noch immer in Gedanken nur drängt ihnen die That ungeduldig nah. Die von allen Seiten so sorgsam eingedämmte Leidenschaft hat nach und nach jedes andere Bedenken in ihr zerstört und steht nun allein auf den Trümmern, riesengroß und stark. Wie sie so da liegt auf der prachtvollen Ottomane, von deren dunklem Samt die schneeigen zarten Füße und Arme mit lockendem Glanze sich abheben, schwellen tiefe Seufzer ihre Brust, über welche das leichte Nachtgewand nur in leichter Verhüllung fällt.

O Wahn! murmelt sie mit geschlossenen Zähnen und gerungenen Händen. Wahn, Wahn, Wahn! Nicht den Schatten eines Argwohns hat er nur gehabt! Ließe er mich sonst so frei hier, wo Louis, mein Louis mir hinter jedem Busche, in jedem grünen Pfade, sobald er will, begegnen kann? Und mit diesen leeren Spielereien will er mich vertrösten, wenn ich das Glück so vieler Tage und Nächte hingeopfert habe für einen Wahn!

Sie war aufgestanden, das Licht der Ampel fiel auf ihren glänzenden Scheitel mit einem sanft gedämpften Schein.

Mit leeren Worten hat er mich geschreckt, fuhr sie düster fort, und wie ein Kind hat mich ein wesenloser Schatten zur Beratherin an meiner einzigen Seligkeit gemacht. Louis, du leidest, schreibst du mir. Zürne mir lieber! Ich habe dich nicht an mich gezogen und gehalten mit aller Kraft. Ein Wort von mir hätte uns den Himmel angethan, und mit lügnerischen Worten hat er mich davon zurückgeschreckt. Louis, verzeihe mir! auch ich leide, ich vergehe, ich kann nicht mehr leben ohne dich! O Wahn, in dem ich mein Glück von mir stieß! Was hätte selbst der Argwohn gegen mich vermocht? Mein Mann? er glaubt mir und er ist glücklich, was will er mehr? Aber auch ich will glücklich sein ich habe wohl das Recht dazu!

Sie warf den Kopf zurück, ihre Züge sänftigten sich in einem wunderbaren Ausdruck von Sehnsucht und Leidenschaft. Ja, Louis, denke an mich, flüsterte sie, die Zeit wird kommen, wo ich nicht mehr mit durstigen Lippen wünschen werde, die Nächte möchten kürzer sein!

Und, setzte sie überlegend hinzu, welche Gefahr laufe ich denn? Steht es mir nicht frei, zu gehen und zu wandeln, wo ich will? Das ganze Land ist mir offen, wo soll für mich der Berräther sein? Und wäre auch eine Gefahr, fuhr sie nach einer Pause fort, was wäre das für ein Weib, das nicht Mittel fände, sie zu umgehen?

Von da an wurde Reiten das Lieblingsvergnügen der jungen Gräfin. In Gesellschaft oder auch allein, nur von einem Reitknecht begleitet, strich sie oft halbe Tage lang in der Gegend herum, und in dem Gefühle schrankenloser Freiheit, das daraus entsprang, blühte sie rosiger auf als je. Zugleich wurde sie stiller, ihr Lachen klang nicht mehr so hell und oft durch die hohen Gemächer des Schlosses, und der Kreis der Besuchenden, an dessen Freuden sie nicht mehr denselben Antheil nahm, lichtete sich zusehends.

Nun ist dein Frieden nicht mehr gestört, sagte sie einmal spottend zu ihrem Bruder, ist es jetzt mehr nach deinem Geschmack?

Aber Otto hatte andere Gedanken im Kopfe. Er hatte den beseligenden Befehl erhalten, nach der Hauptstadt zurückzukehren und seine Bewerbung um Marie wo möglich zum Abschluß zu bringen.

So Gott will, möchte ich noch meine Enkel sehen, hatte sein Vater zu ihm gesagt, und diese frohe Aussicht hätte den jungen Mann für größere Unannehmlichkeiten unempfindlich gemacht.

Seine Abreise störte die Gräfin nicht in der neuen Richtung, die ihr Leben genommen, sie versenkte sich immer tiefer in die ihr plötzlich so lieb gewordene Einsamkeit. Es war, als habe die unruhige Kraft, die bis jetzt verschlossen in ihr gelebt, endlich den rechten Ausweg gefunden, durch welchen sie naturgemäß abfloß. Ihr Vater beobachtete sie, aber er sagte nichts. Nur gedankenvoller schien er zu werden, je stiller und in sich harmonischer offenbar Leonie ward.

Verschiedene Kleinigkeiten zu ihrem Gebrauch waren aus der Stadt gekommen, sie schloß sich ein und packte selbst die Gegenstände aus. Darunter war ein Briefchen, das sie heftig an die Lippen drückte. Doch auch ihr Vater hatte Briefe erhalten, die ihn sehr beschäftigten.

Du könntest auch einmal mit mir gehen, sagte er den Morgen darauf zu ihr, ich habe mehrere Ausbesserungen in der Kirche vor, die ich erst in Augenschein nehmen will.

Sie machte sich bereit und begleitete ihn. Es war kühl und düster in der Kirche, die ihnen der Küster öffnete, und als der Graf seine Besichtigungen beendet, trat er mit Leonie in den sonnenhellen Kirchhof hinaus und schickte den Küster fort. Langsam gingen sie nun die Reihen der Gräber hinab, unter welchen mancher Denkstein eines alten Dieners oder eines ländlichen Freundes aus des Grafen eigener Knabenzeit sich befand. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, las die Inschriften und machte eine kleine lobende oder gerührte Bemerkung dazu. Leonie nickte nur, der Anblick von Gräbern hatte für sie etwas Unheimliches, und der sonderbare Spaziergang dauerte ihr sehr lang. Endlich, vor einem einfachen weißen Steine, nur mit zwei Initialbuchstaben bezeichnet, blieb er wieder stehen. Er wandte sich nach seiner Tochter um und legte die Hand auf ihren Arm.

Das ist das Grab deiner Mutter, sagte er.

Leonie fuhr zusammen und starrte erblassend auf den Stein. Sie schauderte, aber zu ihrem Herzen drang die Stimme nicht, die aus diesem Grabe zu ihr rief. Die Erinnerung an die Mutter, die trotz aller Verirrungen sie doch so sehr geliebt, weckte in der Tochter kein weicheres Gefühl. Sie dachte an die Folter, an den Tod, vielleicht auch an die Schuld, aber sie betete nicht, sie hatte nichts zu bitten, nichts zu verzeihen, ihre Seele war hart, wie der Stein, auf den sie blickte, und sie wandte stumm das erblaßte Gesicht hinweg. Der Graf machte keine Bemerkung, schweigend verließen Beide den so stillen, ernsten Ort.

Doch aus dem Leben und Weben der freien Natur trieb es Leonie hinweg in das Treiben der Menschen, sie fuhr aus und kehrte erst am späten Abend zurück. Jetzt, in die weichen Kissen gelehnt, rief sie den Vorgang des Morgens wieder vor ihren Geist.

O ich kann nicht mehr zurück, sagte sie sich, und wozu? wie oft habe ich nicht schon solchen Warnungen gelauscht, und dann war es nichts gewesen als das Werk meiner eigenen aufgeregten Phantasie. Es ist noch immer Zeit, dachte sie, und wenn ich vorsichtig bin, was kann mir wohl geschehen?

Den Nachmittag des folgenden Tages war sie ausgeritten, frisch und heiter wie ein Maitag sprang sie vom Pferde und fiel ihrem Vater, der eben aus dem Thor trat, durch die rasche Bewegung fast an die Brust.

Du siehst gut aus, sagte er, dein Mann wird sich freuen, wenn er dich so kräftig wiedersieht.

Sie schlug die Augen nieder; ein leichter Ausdruck von spöttischem Triumph glitt flüchtig über ihr Antlitz: Ich hoffe es, erwiderte sie leise und ging leichten Schrittes an ihm vorüber die Schloßtreppe hinauf.

Es sind Briefe da von deinem Manne, rief er ihr nach; sie liegen auf meinem Zimmer. Sie nickte lächelnd zu ihm nieder und beeilte ihren Schritt.

Er blickte ihr nach; so leuchtend, so ätherisch umflossen von Jugend, Glück und Glanz hatte er sie noch nie gesehen. Dich werde ich zertreten müssen, murmelte er.

Abends meldete sich unser alter Bekannter Thomas bei ihm an. Er ist angekommen, sagte er zu dem Gebieter, der zusammengebeugt in seinem Lehnstuhle saß. Zwei Stunden hat er gewartet, bis die Gräfin vorüber ritt. Sie sprachen nur ein paar Worte mit einander, denn es waren Leute in der Nähe. Er trug Bauernkleider, doch ich kannte ihn gut.

Der Graf blickte nicht auf. Es ist gut, sagte er, und winkte den Diener hinweg.

Beim Nachtmahl klagte der Graf über Schmerz in den Gliedern, die kühle Kirchenluft nach dem heißen Gange habe ihm geschadet, und den andern Tag kam er aus seinem Zimmer nicht heraus.

Soll ich um Otto schicken? frug Leonie, nachdem der Arzt fortgegangen war.

Nein, nein! versetzte er, wir wollen den armen Jungen nicht stören, und so lange du bei mir bist, brauche ich ihn auch nicht.

Wer möchte Leonie's Gefühle beschreiben, während sie an dem Bette ihres Vaters stehend den wenigen Worten lauschte, die er in ärgerlicher Hast hervorstieß? Ohne ihr Zuthun war ein Stein aus ihrem Wege geräumt, der ihrem Willen so lange ein unüberwindliches Hindernis gewesen war. Ihre Hände zitterten, während sie die warmen Decken dichter um ihn hüllte, ihr Athem war heiß und beklommen. Jetzt war es Zeit jetzt! Nie würde sie wieder so günstig sein. Dieses Schmerzenslager ihres Vaters sollte ihrer gierigen Leidenschaft endlich üppige Sättigung und Sicherheit bieten.

Soll ich hier bleiben? sagte sie.

Es ist nicht nöthig. Mein Kammerdiener reicht für Alles aus.

Ich werde wenigstens nicht aus dem Hause gehen, erwiderte sie, während sie ihn verließ.

Und wieder ist es Abend. Leonie lag halb angekleidet in der geöffneten Balconthüre ihres Zimmers auf den Knien. Es war eine schwüle, duftige Sommernacht, der leichte Überwurf, welcher durchsichtig über ihre Unterkleider fiel, verhüllte kaum das unruhige Wogen ihrer Brust, die Haare fielen halb aufgelöst über die blendend weißen Schultern der jungen Frau. Es ist spät, aber sie hatte ihre Kammerfrau schon lange weggeschickt. Sie wartete, ihr Herz schlug. Neben ihr auf einem Tischchen brannte die Lampe und übergoss die schöne, zarte Gestalt mit ihrem hellen Licht.

O, flüsterte sie, er wird kommen und endlich werden wir glücklich sein! Und wenn Alles um uns zusammenbricht, diese Nacht gehört uns, diese einzige Nacht voll Seligkeit, die kein Mensch uns rauben kann!

Sie horchte ihr war, als habe sie einen Schritt gehört doch nein Alles war still.

Louis! rief sie mit sehnsüchtiger Ungeduld fast laut, o mein Louis, wo bleibst du denn? Jede verzögerte Minute ist ein Raub, den keine Zukunft uns ersetzen kann! Ja, ich liebe dich! In mir, außer mir ist alles Liebe, glühende Liebe zu dir. O komm! warum zögerst du?

Sie erhob sich, trat auf den Balcon, beugte sich über das Geländer und blickte ringsum. Ueberall im Schlosse herrschte die tiefste Ruhe, nur die Cikaden hörte man zirpen, in einem nahen Gebüsche sang eine Nachtigall ihr hohes Lied der Liebe! Leonie breitete die Arme aus, in verzehrender Sehnsucht ihres Herzens. Jetzt ja, es war kein Irrthum trat eine Gestalt aus dem schattigen Pfade, der dem Fenster gegenüber lag, und näherte sich der kleinen Pforte, die Leonie wußte es wohl an diesem Abend offen stand. Sie trat in das Zimmer zurück, ihr Herz schlug so laut, das seine heftigen Schlage deutlich vernehmbar waren. Auf dem Gange näherten sich Schritte, eine Hand legte sich auf das Schloß, die Thüre ging auf, und ihr Vater trat herein.

Mit einem unterdrückten Schrei wich Leonie vor ihm zurück. Sie schwankte und stützte sich auf das Tischchen, die Lampe fiel um und erlosch. Das Gemach war nur noch von der Kerze erhellt, die der Graf mitgebracht und die er jetzt ruhig auf den Tisch stellte, der in der Mitte des Zimmers stand. Ein reichverziertes Kästchen, das er unter dem Arme trug, stellte er ebenfalls auf den Tisch.

Du hast andern Besuch erwartet, sagte er; verzeihe, das ich störe.

Aber das Bewußtsein der Gefahr gab Leonie ihre ganze Geistesgegenwart zurück. Ich? ich erwarte Niemand, antwortete sie todtenbleich, doch eben so ruhig wie er.

Dann hättest du deine Lampe früher auslöschen sollen.

Sie scherzen, Papa, sagte sie.

Er hob den Finger ein leises Geräusch, wie von einer Thüre, die man vorsichtig öffnete und schloß, wurde vom Ende des Ganges gehört.

Schweige! befahl er.

Leonie sprang nach der Thüre, doch bevor sie dieselbe erreichen konnte, hatte er sie gefaßt und heftig an sich gezogen. Sie beugte sich zurück, ihr aufgelöstes Haar in üppiger Fülle lang und glänzend über seinen Arm hinab, doch er hatte keine Augen für die schimmernde Jugendpracht und drückte ihr fest die Hand auf den Mund.

Sie suchte sich loszureißen, aber sie war zu schwach dazu. Ihr Herz schlug hoch in Entsetzen und wilder Empörung, ihre Stirne runzelte sich; sie sah zu ihm auf mit einem Blicke des Hasses, den keine Sprache beschreiben kann, vor dem aber die Farbe aus seinen Wangen wich. Sie hätte gerne gebissen, doch sie vermochte es nicht; er hielt sie zu fest dazu.

Schlange! murmelte er, und es war, als wolle er sie zerdrücken, Brut einer Schlange! Bastard, den ich in der Wiege hätte erdrosseln sollen, und den ich vergebens zu einem Menschen zu machen gesucht!

Das Blut stockte in ihren Adern vor dem Ausdruck seines Gesichts. Da öffnete sich die Thüre ihres Zimmers, und sachte trat Louis herein! Betroffen blieb er stehen, Bestürzung und Schrecken malten sich auf seiner Stirne, von der die Rathe freudiger Erwartung plötzlich gewichen war.

Der Graf ließ seine Tochter los, die halb ohnmächtig auf ein Ruhebett sank. Er hatte seine Ruhe wieder gewonnen und wandte sich an den jungen Mann.

Treten Sie ein, Herr Marquis, sagte er höflich, aber sehr kalt; ich weiß, daß Sie nur meine Tochter zu finden erwarteten, aber ich hielt es für besser, bei der Zusammenkunft zugegen zu sein.

Louis schloß die Thüre hinter sich und trat schweigend vor. Er war sehr bleich und sah auf Leonie; sie hatte das Gesicht in die Hände gepreßt und rührte sich nicht.

Der Graf war an den Tisch zurückgetreten und hatte die Hand auf das Kästchen gelegt: Haben Sie die Güte sich zu setzen, Herr Marquis, sagte er und deutete auf einen Stuhl.

Der junge Mann ließ sich nieder, auch der Graf setzte sich.

Sie werden sich erinnern, fuhr er fort, daß ich Ihnen versprach, wenn gewisse Umstände in Ihrem Leben eintreten sollten, und Sie wollten dann um einen Rath zu mir kommen, Ihnen eine Geschichte zu erzählen, in die ich einst auf eine traurige Weise verwickelt war. Diese Umstände sind eingetreten, aber Sie sind nicht zu mir gekommen, Herr Marquis, und darum sehen Sie mich denn hier.

Louis sah vor sich nieder und erröthete in peinlichster Verlegenheit. Ich weiß nicht stotterte er, aber er schwieg, denn er wußte nur zu gut.

Mit einem fast mitleidigen Lächeln sah der Graf ihn an. Wenn Sie erlauben, werde ich nun mein Versprechen erfüllen, sagte er dann.

Louis verneigte sich stumm. Leonie ließ die Hände von dem bleichen Gesicht herabsinken und lehnte sich hinter dem Rücken ihres Vaters in gespanntem Horchen vor.

Die Mittheilung, die ich Ihnen zu machen habe, begann der Graf, ist von solcher Wichtigkeit, daß ich sie nicht leichtsinnig preisgeben konnte, auf eine bloße Vermuthung hin. Das sie Ihre eigene Person sehr nahe berührt, geht daraus hervor, weil sie den Tod Ihres Vaters betrifft, und wie sehr ich daran betheiligt war, können Sie daraus entnehmen, daß ich es gewesen bin, der ihn erschoß.

Leonie schloß schaudernd die Augen.

Louis fuhr in die Hohe. Mein Herr! rief er mit bebender Stimme todtenbleich, aber nicht vor Angst, denn er machte mit geballten Händen einen Schritt auf den Grafen zu.

Mit einer einfachen Handbewegung der Abwehr wies ihn dieser zurück. Sie sind ohne Waffen, sagte er, und Sie sehen, hier klopfte er leicht auf den Deckel des Kästchens, das neben ihm stand, ich habe für Alles gesorgt.

Sie wollen mich ermorden? frug der junge Mann bitter.

Und wenn ich es thue, wer wird es mir wehren? antwortete der Graf mit höhnischen Ton. Wie ein Dieb und Räuber sind Sie in mein Haus eingedrungen im Dunkel der Nacht, und wenn ich Sie wie einen Dieb und Räuber erschieße, wer wird sagen, daß Sie es nicht sind? Ist der Mann, der die Ehre meines Hauses suhlt, kein Dieb? Aber dazu ist es später auch noch Zeit.

Wie gesagt, ich kannte Ihren Herrn Vater in Paris, wo mich Baron Lohenstein ihm vorstellte. Es war kurze Zeit, bevor Ihre Mutter Paris mit Ihnen verließ. Ich selbst habe eine stürmische Jugend verlebt, Herr Marquis, und sah in den Sünden ihres Vaters nichts Anderes, als das gewöhnliche Vorrecht, welches Adel und Reichthum verleihen. Genug, wir wurden unzertrennliche Freunde. Aber der Strudel, in dem Ihr Vater lustig forttrieb, verlor sehr bald seine Reize für mich. Ich ermüdete in diesem Wettlauf jugendlicher Thorheiten und sehnte mich nach einem ruhigeren Glück. Da lernte ich ein Mädchen kennen, das alle meine Träume künftiger Seligkeit zu verwirklichen versprach.

Hier wandte der Graf sich nach Leonie um, die vor diesem Blick sich noch tiefer in die Kissen des Ruhebettes vergrub.

Die Schönheit der Tochter hat Eindruck auf Sie gemacht, Herr Marquis, sagte er dann; in meinen Augen übertraf die Mutter sie hundert Mal freilich, setzte er mit bitterer Ironie hinzu, bin ich in die Tochter nicht verliebt.

Das Mädchen war arm; eine solche Kleinigkeit übte indessen keinen Einfluß auf mich aus; ich bot ihr an, was ich hatte, und dankte Gott für mein Glück, als sie mich nicht zurückwies. Ihrem Herrn Vater muss ich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das er mich dringend vor einem Schritte warnte, der ihm mindestens in finanzieller Hinsicht unüberlegt erschien, denn er selbst hatte eine reiche Braut heimgeführt. Doch ich hörte nicht auf ihn, und wirklich verflossen die ersten Jahre meiner Ehe in einer Glückseligkeit, von welcher ich Ihnen ein Bild zu geben umsonst versuchen würde. Mein Otto mochte vier Jahre sein, und ein kleines Mädchen hatte soeben das Licht der Welt erblickt. Meine Frau bestand darauf, daß es Leonie heiße; Leonie ist ein hübscher Name, und ich hatte nichts dagegen, daß meine Tochter einen hübschen Namen trug. Zudem war es der Name Ihres Vaters, der das Mädchen aus der Taufe hob. Ihr Vater war noch immer ein fleißiger Besucher in unserm Hause, in der letzten Zeit eigentlich mehr als je. Wie gesagt, er war liebenswürdig, und es mochte wohl Jeder sich gern an seinem Umgange erfreuen. Mein Urtheil über seine Sitten war nicht strenger geworden, ich hielt mein Glück für eine Ausnahme und pries dankbar den Himmel dafür; aber auch mich band die Liebe weit mehr als die Pflicht. So gab ich mich denn sehr gern dem alten Zuge der Freundschaft hin.

Meine Frau erholte sich schwer. Sie hatte vom ersten Augenblicke an eine eifersüchtig leidenschaftliche Liebe für das kleine Wesen an den Tag gelegt; sie wollte daher auch keine Amme dulden und stillte es selbst. Da sie nicht stark war, so warnte der Arzt vor übermäßiger Anstrengung.

Eines Nachts weckte mich ein schwerer Traum. Ich sah sie sterben, und im Todeskampfe rief sie hilfeflehend nach mir. Kurz, der Traum weckte mich. Den Tag über war sie ungewöhnlich bleich und erregbar gewesen und hatte sich zeitlich zur Ruhe begeben. Eine drückende Angst erfaßte plötzlich mein Herz; ich stand auf; es ließ mir keine Ruhe, ich mußte sehen, wie es ihr ging. Das Unmöglichste schien mir möglich zu sein, sobald es meine Frau betraf.

So schlich ich zu ihrem Zimmer. Wie thöricht ist der Mensch! Der entsetzliche Traum hielt meine Sinne noch immer besangen, und mein Herz hörte thatsächlich auf zu schlagen, als ich die Hand auf das Schloß der Thüre legte. Meine Angst war jedoch nicht gerechtfertigt, meine Frau lag ruhig und schlief. Ein Licht brannte neben ihrem Bette, ich beugte mich über sie so sanft, so still athmet das Kind in seinem Schlafe kaum ich wagte es nicht, ihre Lippen zu berühren, aus Furcht, sie zu wecken, denn ich liebte sie, Herr Marquis o mein Gott, wie sehr liebte ich sie!

Seine Stimme stockte, Thränen liefen über seine Wangen, und einen Augenblick kämpfte er vergebens, seiner Bewegung wieder Herr zu werden.

So Gott will, junger Mann, fuhr er endlich fort, werden Sie einst ein geliebtes Weib an Ihrem eigenen Herde sitzen sehen, von Ihren eigenen Kindern umspielt, und dann, erst dann werden Sie wissen, was die Liebe eines Mannes ist, eine Liebe, die nach so langen Jahren, nach Allem, was darüber hingegangen ist, noch Thränen in meine Augen zu locken vermag!

Mein Blick mochte sie im Schlafe beängstigen, sie machte eine leichte Bewegung, und ich war schon im Begriffe mich zurückzuziehen, als ein Papier, das sich aus der halbverschobenen Umhüllung ihrer Brust kaum merklich hervorstahl, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Vorsichtig zog ich es hervor. Es war ein Brief, Herr Marquis ein Brief Ihres Vaters an meine Frau an seine Geliebte vielleicht und das ist das Entsetzlichste! an die Mutter seines Kindes an die Mutter Leonie's.

Die Gräfin fuhr auf, als habe ein elektrischer Schlag sie berührt, dann sank sie zurück, weißer als der Überwurf, der über ihre Schultern fiel, aber Niemand beachtete sie.

Der Graf hatte die letzten Worte fast tonlos gesprochen, seine Brauen zogen sich krampfhaft zusammen, und er legte den strengen, gramgebleichten Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne seines Sessels zurück. Louis sah starr vor sich nieder, er wagte kaum zu athmen, und auf seiner Stirne perlte kalter Schweiß.

Nach einer Pause fuhr der Graf fort, indem er sich mit Anstrengung aufrichtete:

Es ist nun Alles längst vorüber. Aber, junger Mann, Gott bewahre Sie davor, daß Sie je erfahren, was ich damals erfuhr. Sie wissen nicht, was es heißt, vor seinem liebsten, heiligsten Gut zu stehen und sich sagen zu müssen: es ist nicht dein, es war längst nicht mehr dein! Als du noch liebtest und glaubtest, standest du schon längst an dem Sarge deines Glücks.

Nun ich las den Brief ruhig sehr ruhig es war, als ginge er mich gar nicht an. Ich las ihn dreimal, bevor ich ihn verstand. Da erst packte mich die Verzweiflung und mit der Verzweiflung zugleich unnennbare Wuth. Aber tobten wollte ich sie nicht sie war noch immer die Mutter meines Otto das Weib, das ich so lang und innig geliebt! nein, tödten konnte ich sie nicht!

Ich legte den Brief wieder hin und verließ das Gemach. In dem Nebenzimmer schliefen die Kinder, und dorthin wandte ich mich. Otto war ja noch mein, und zu ihm trieb es mich jetzt in dieser qualvollen Stunde. An der Wiege seiner Schwester blieb ich stehen und betrachtete das Kind. Es war ein kleines, schwächliches Ding, welches der Erde gar nicht anzugehören schien. Eine kleine Bewegung, ein leichter Druck hatte wenigstens diesen Makel auf ewig aus meinem Leben gelöscht. Meine Hand hob sich es dunkelte vor meinen Augen, der Haß in mir schrie laut nach Blut einen Augenblick noch und die schreckliche That wäre geschehen gewesen.

Aber es war ein Kind ein hilfloses Kind! ich konnte kein Kind tödten, und vielleicht vielleicht war es ja doch das meinige! Ich floh auf mein Zimmer zurück. Furien verfolgten mich, ich fürchtete mich vor mir selbst. Ich schloß mich ein und warf den Schlüssel zum Fenster hinaus. Nun erst dachte ich daran, was ich beginnen sollte. Was sollte ich noch auf dieser Welt? Das Paradies, das ich in blühender Herrlichkeit um mich gesehen, war mit einem Hauch vernichtet. Alles war Nacht und Tod.

O Wahnsinn der Verzweiflung! der wirkliche Wahnsinn ist eine milde Schickung gegen dich.

Ich öffnete meinen Schreibtisch und zog ein Paar Pistolen heraus. Ihr Vater selbst hatte mir sie ausgesucht und Tags vorher erst gebracht. Es ist das nämliche Kästchen, welches Sie hier sehen. Diese nahm ich nun aus dem Fache, lud sie und legte sie auf den Tisch. Das die Erlösung so leicht war, so nahe, so ganz in meiner Hand, beruhigte mich. Ich trat an das Fenster und blickte zum Himmel auf, zum letzten Male, wie ich glaubte; allein mit diesem Blick kehrte meine Überlegung zurück. Ich hatte Pflichten, Herr Marquis. Zum ersten Male in meinem Leben fühlte ich, was das kleine Wort zu bedeuten hat und es stand mir nicht zu, freiwillig und feige ihnen zu entgehen: Pflichten als Vater und als Träger eines Namens, der, so lang ich lebte, frei bleiben sollte von jeglicher Schmach. Ich ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, schloß die Pistolen wieder ein und überlegte, was nun das Beste sei zu thun.

Das war klar genug. Ihr Vater mußte fallen, denn von der Laune seines Übermutes hing die Ehre meines Hauses ab, die, wenn er sie auch befleckt, doch wenigstens vor der Welt noch rein dastand. Fallen mußte er also, bevor er noch den letzten Verrath geübt, aber wie? Schlagen wollte ich mich nicht ich hatte Pflichten, wie ich Ihnen vorhin sagte, und mein Leben war zu kostbar, um es dem Zufall eines solchen Kampfes preiszugeben. Dann was hatte ein Duell dem Rufe meiner Frau genützt? Also auf diese Weise ging es nicht aber anders mußte es gehen.

Mein Plan war bald gemacht ich schwieg. Ich ging und kam wie früher, nur daß ich jetzt sah, wo ich früher blind war. Mit meinem Schweigen hielt ich die Schuldigen umgarnt. Kein Wort, kein Blick entging mir aber ich schwieg es war noch immer nicht genug. Kein Liebhaber hat je so nach der Stunde der Erhörung geschmachtet, wie ich nach der sichtbaren Offenbarung meiner Schmach. Und endlich es dauerte lange aber endlich kam der Augenblick.

Ueber diesen Auftritt lassen Sie mich schweigen. Ihr Vater stand beschämt vor mir. Er hatte manchmal gute Augenblicke, und ich glaube, daß er seine eigene Schändlichkeit empfand. Er bot mir Genugthuung er, der mir Alles genommen, indem er mich vor seine Klinge forderte! Welchen Ersatz aber hatte mir selbst sein Leben für das Glück geboten, das er mir auf ewig geraubt? Der augenscheinliche Gegensatz ergriff mich mit solcher Gewalt, daß er zur Satire ward und ich hell auflachte, fort und fort, bis ich selbst vor mir erschrak und doch immer wieder in neues Lachen ausbrach. Meine Frau floh entsetzt an das andere Ende des Zimmers; sie hielt mich für wahnsinnig.

Mein Freund, sagte ich endlich zu Ihrem Vater, der bald erröthend, bald erbleichend vor mir stand, so daß mich ein gewisses Mitleid gegen ihn überkam, Sie begreifen, daß ein Anerbieten wie das Ihrige zwar nicht gegen die Mode, aber doch gegen alle gesunde Vernunft verstößt. Sie nehmen mir meine Frau, gut. Es ist heutzutage etwas so Gewöhnliches, daß ein kluger Mann die Augen darüber schließt. Soll er aber noch sein Leben in die Schanze schlagen, so ist das wirklich zu viel verlangt.

Ihr Vater sah mich verblüfft an; er hatte mich schon öfter vor einer bloßen Klinge gesehen, denn Duelle waren damals ein täglicher Zeitvertreib, und ich pflegte sonst nicht mit meinem Blute sparsam zu sein.

Ich nahm ihn ruhig unter den Arm und schlenderte mit ihm in den Garten hinaus.

Es wäre mir unangenehm, wenn die Leute eine Ahnung hätten von dem, was hier vorgefallen ist, sagte ich. Man muß die Öffentlichkeit in solchen Sachenvermeiden. Ich trage nur mein ehemännisches Geschick, wie es schon so viele Andere gethan. Aber ich will keinen Scandal, und was die Zukunft Ihrer Beziehungen zu meiner Frau anbelangt nun, ich werde dafür sorgen, daß sie zu Ende seien.

Ihr Vater war noch immer wortlos. Von Zeit zu Zeit sah er mich scheu von der Seite an. Es war, als erkenne er mich nicht mehr. Eben meine Ruhe war ihm, glaube ich, das Schrecklichste. Wir gingen noch einige Male im Garten auf und ab.

Wie wäre es, wenn wir zusammen ausritten? sagte ich; draußen ließe sich das Übrige doch besser abmachen als hier.

Er sah mich mit wahrem Entsetzen an. Sie fürchten sich doch nicht? spottete ich.

Das war der Stachel, dem er nicht widerstand. Wir stiegen zu Pferde und ritten davon. Eine wilde Lustigkeit erfüllte mich. Ihr Vater war still und bleich und sah sich von Zeit zu Zeit auf dem Wege um, wohl um einen Bekannten zu entdecken, der ihn erlösen sollte von dem Alleinsein mit mir. Jedesmal lachte ich auf. Er biß sich in die Lippen und ritt dann ruhig weiter neben mir. Vor dem Stadtthor hielt er an.

Fürchten Sie sich? frug ich wiederum.

Nein, sagte er, aber wozu sollen wir weiter?

Ich weiß nicht, wie ich ihn anblickte, aber er senkte den Kopf und folgte mir wie willenlos.

In einem kleinen Gehölze war es die Land - straße schimmerte zwischen den Bäumen durch, und wie es unentdeckt blieb, was jetzt folgte, ist mir ein Räthsel bis auf den heutigen Tag. Dort hielt ich an und legte die Hand auf die Zügel von ihres Vaters Pferd. Er suchte sich loszureißen, aber ich hatte ihn zu fest gefaßt.

Steigen wir ab, sagte ich.

Er stieg ab, und ich folgte ihm. Und nun, Herr Marquis, sagte ich, und faßte seinen Arm, wollen wir das Übrige abmachen, und ich werde dafür sorgen, daß die Geschichte wenigstens nie über Ihre Lippen kommen kann.

Ich werde schweigen, stammelte er.

Und wer bürgt mir dafür?

Ich schwöre es bei meinem Ehrenwort!

Der Schwur eines Ehrlosen! das Sie meine Ehre so wenig achteten, giebt mir schlechte Bürgschaft für die Ihrige.

Mein Herr! fuhr er zornig auf.

O lassen wir die Redensarten, sagte ich und zog eine Pistole hervor.

Sie wollen mich ermorden? rief er mit bebenden Lippen.

Wie Sie es nennen wollen. Als Sie sich die Mühe gaben, meine Frau zu verführen, kannten Sie mich genug, um zu wissen, daß Sie mit dem Leben nicht davonkommen würden. Sie nahmen die That auf sich, wundern Sie sich also nicht, wenn die Folgen Sie treffen.

Ich bot Ihnen Genugthuung, brachte er mühsam hervor.

Ich lachte höhnisch auf: Welchen armseligen Einfall haben Sie da, Herr Marquis? Glauben Sie denn aufrichtig, was Sie belieben Genugthuung zu nennen, sei dies wirklich für mich? Nein, mein Leben ist zu kostbar gegen das Ihrige. Ich habe Pflichten zu erfüllen, ich bin Vater, und diese Last zu vermehren, trugen Sie ja das Ihrige bei. Aber die Kinder, die meinen Namen führen, sollen ihn vor der Welt mit Ehren führen, das können sie nur nach, Ihrem Tode, Herr Marquis, und darum erschieße ich Sie.

Ich spannte den Hahn. Ihr Vater wandte das aschfarbige Gesicht hinweg.

Schonen Sich mich! stammelte er mit ausgestreckter Hand.

Haben Sie mich geschont? höhnte ich wieder. Ich hatte Ihnen mehr Muth zugetraut.

Da faßte ihn die Wuth. Er riß sich los, zog den Degen und drang verzweiflungsvoll auf mich ein. Doch meine Hand war sicher ich schoß, und er fiel. Mit seinem letzten Worte rief er Sie und Ihre Mutter um Verzeihung an. Für das unglückliche Weib, das ihm Alles geopfert, hatte er keinen Laut.

Ich ließ ihn in dem weichen Grase, auf welches durch das dichte Laub der Bäume die Sonne nur spärliche Strahlen zu senden vermochte. Ich habe seitdem nie mehr ohne Grauen in den heiligen Frieden einer Waldeseinsamkeit gesehen. Aber damals, an seiner Leiche, schwur ich, Leonie in Wahrheit ein Vater zu sein.

Er schwieg, offenbar versagte ihm die Kraft. Er kreuzte die Arme und versenkte sich in die furchtbare Erinnerung. Louis Augen zuckten, ein Wort bebte aus seinen Lippen; doch er brachte es nicht hervor, und mit Verzweiflung rang er nach Fassung. Leonie athmete kaum.

Sehen Sie junger Mann, hub der Graf endlich wieder zu reden an, das ist eine Erinnerung, die nie vergeht, und vor der jede andere in den Hintergrund tritt eigenmächtig ein Menschenleben ausgelöscht zu haben Und sich mit vollem Bewußtsein zu sagen: alle Opfer der Welt, wenn wir sie bringen wollten, wecken es nicht wieder auf.

Ich schlug einen andern Weg ein und ritt langsam in die Stadt zurück. Als meine Frau mich erblickte, floh sie vor mir in den entferntesten Winkel des Ge - maches und hielt ihre Kinder fest an sich gedrückt. Ihr Entsetzen rührte mich. Es war das Mitleid, welches uns die Todesangst jedes, selbst des fremdesten Wesens einzuflößen vermag. Mein Zorn war gewichen, aber mit ihm zugleich meine Liebe erloschen, das Blut, das ich vergossen, hatte Beides erstickt.

Madame, sagte ich zu ihr, Sie haben nichts zu fürchten. Es ist mir lieb, das wenigstens aller Scandal vermieden ist. Mit dem Marquis habe ich Abrechnung gepflogen, er wird Sie nicht mehr belästigen. Vor der Welt bleibt Alles, wie es war; zwischen uns, die wir wissen, woran wir sind, ist natürlich Alles aus.

Sie erhob sich langsam, und ich ließ sie allein.

Die Abwesenheit Ihres Vaters fiel in den ersten Tagen nicht sehr auf. Es war nicht das erste Mal, das ein galantes Abenteuer ihn auf mehrere Tage unsichtbar hielt. Man kannte seine zerrütteten Vermögensumstände, und als man ihn endlich gefunden, suchte man keinen anderen Grund für die That, und es hieß, um dem Drängen seiner Gläubiger zu entgehen, habe er sich selbst entleibt.

Meiner Frau, die ihr Zimmer nicht verließ, wurde auf meinen strengen Befehl, kein Wort von dem Vorfalle hinterbracht. Ich hatte sie mehrere Tage hindurch nur auf Augenblicke gesehen, da kam sie eines Morgens mit ihren Kindern auf mein Zimmer, kniete nieder vor mir und legte Leonie auf meinen Schooß. Aber des Kindes weiße Gewänder schimmerten in meinen Augen roth, wie in Blut getaucht, und mit Abscheu stieß ich es zurück. Sie schloß es heftig an die Brust und sah mich forschend an; dann erhob sie sich schweigend und ging hinaus.

Seitdem machte sie keinen Versuch mehr zu einer Annäherung. Was hatte es auch genutzt? Es lag Blut zwischen uns Blut und das Kind, das ich nicht ansehen konnte, dessen Name schon eine immer - währende Erinnerung an den Verrath und die Schande seiner Mutter war.

Mich duldete es nicht mehr in Paris. Die Luft dort schien mir mit giftigen Dünsten geschwängert und erstickte mich. So reis'ten wir denn nach kurzer Vorbereitung ab. Von da an versank meine Frau in ein finsteres Brüten, dem sie nichts zu entreißen vermochte. Ihre Kinder, besonders Leonie, hütete sie mit einer ruhelosen Aufmerksamkeit, welche der wilden Wachsamkeit einer aufgescheuchten Löwin gleichkam. War es die Furcht sich von ihnen getrennt zu sehen? war es die Sehnsucht nach Ihrem Vater, dem einzigen Manne, den sie wirklich geliebt? oder hatte sie dennoch seinen Tod erfahren und war es Rachedurst, der sie verzehrte und sie endlich zum Äußersten trieb? Genug ich erkrankte und sie pflegte mich. Der tückisch lauernde Blick, mit dem ich, aus halber Bewußtlosigkeit erwachend, sie eines Nachts an meinem Bette stehen sah, gab mir den ersten Verdacht ihrer Schuld. Die Unglückselige hatte mir Gift eingegeben und zählte die Minuten, die sie des verhaßten Joches entledigen sollten. Den furchtbaren Austritt, der die Folge der Entdeckung war, kann ich nur andeuten. Genug, sie war schuldig ich hatte den Beweis in der Hand, und sie leugnete nicht.

Doch auf dem Schaffotte sollte sie nicht sterben. Aus ihrem Blute hatten meine Kinder ihr schuldloses Leben getrunken, und mein Haus sollte verschont bleiben von dem Brandmal einer öffentlichen Hinrichtung. Aber verschwinden mußte sie, und sie verschwand. In Einsamkeit und Gefangenschaft floßen ihre Tage hin. Für die Welt war sie todt und nun ist sie es auch für mich. Der ungestillte Haß zehrte an ihrem Leben, die Sehnsucht nach ihren Kindern brach ihr langsam das Herz. Allein der Tod brachte keine Versöhnung für sie, sie starb, wie sie gelebt, und mit einer Lästerung auf den Lippen athmete sie ihre Seele aus.

Und nun bin ich zu Ende, Herr Marquis. Darf ich fragen, welchen Eindruck meine Mittheilung auf Sie gemacht?

Louis stand auf, er war sehr bleich, aber aus seinem Blicke sprach keine Furcht. Tödten Sie mich, sagte er, Sie können es ja. Vater und Sohn, es ist am besten so!

Der Graf schwieg einen Augenblick. Leonie erhob sich geräuschlos und glitt leise hinter seinen Stuhl. Aber er schien ihre Bewegung zu ahnen, denn, ohne das Gesicht nach ihr zu wenden, schloßen sich seine Finger enger um das Kästchen.

Wenn ich Sie tödten wollte, sagte er dann, sich ebenfalls erhebend, so hätte ich es gleich gethan, bevor ich Ihnen das Geheimnis meines Lebens anvertraut. Aber es ist etwas in Ihnen, das ich achten und schonen muß: das ist das Blut Ihrer Mutter, und an dieses wende ich mich. Sie wissen nun, zu welchen Verbrechen eine That führen kann, die Sie bis jetzt nur im Lichte der Leidenschaft gesehen. Sie wissen, daß Sie ein Weib lieben, das vielleicht Ihre Schwester ist. Dieses Weib habe ich als meine Tochter erzogen und seine zweifelhafte Geburt mit meinem Namen und mit meiner Ehre gedeckt. Als meine Tochter hat ein Ehrenmann Leonie aus meinen Händen erhalten und das Glück seines Lebens auf sie gebaut. Sie ist zu ihrer Wahl nicht gezwungen worden. Armuth und Sorge, welche ihre Mutter drängen mochten, hat die Tochter nie gekannt, und in vollkommener Freiheit hat sie unter allen Männern, die um sie warben, allen meinen Warnungen entgegen, sich ihrem Gatten zugewandt. Für ihr Glück habe ich somit gethan, was ich vermochte, und ihr gegenüber ist meine Rechnung geschlossen aber gegen ihren Mann habe ich eine Verpflichtung: er hat mir geglaubt, und sein Glaube soll nicht getäuscht werden.

Dann habe ich noch einen andern Grund: Otto hat Sie schon einmal in Verdacht gehabt, und ich habe keinen zweiten Sohn. Und darum, Herr Marquis, so wahr ein Gott im Himmel lebt, werde ich Sie erschießen, wie ich Ihren Vater erschoß, wenn Sie mir nicht schwören, das jede Beziehung zwischen Ihnen und der Gräfin von diesem Augenblicke an für immer abgebrochen ist.

Die Gräfin ist frei, ich werde sie nicht mehr sehen, sagte Louis mit erstickter Stimme und abgewandtem Gesicht.

Leonie sank mit einem Seufzer auf ihren Sitz zurück.

Schwören Sie! befahl der Graf.

Ich schwöre bei meiner Mutter schwöre ich! spracht der Marquis mit tonloser Stimme.

Ich glaube Ihnen, sagte der Graf feierlich, denn Sie scheinen mir doch besser, als Ihr Vater zu sein. Die Zeit wird kommen, wo Sie diese Prüfung als ein Glück betrachten werden. Und nun werde ich Ihnen hinaus leuchten, Herr Marquis, setzte er nach einer Pause hinzu.

Er öffnete die Thüre. Mit einer raschen Bewegung wandte Louis sich nach Leonie und breitete unwillkürlich die Arme nach ihr aus. Aber sie schien ihn nicht zu sehen, und der Graf wartete auf ihn. Erst als die Thüre sich hinter ihm und ihrem Vater geschlossen hatte, sprang sie auf und wollte ihm nacheilen; sie rang die schönen Hände, sie sank in die Knie und schlug den Boden mit der Stirne.

O warum bin ich nicht gleich geflohen? jammerte sie laut. Doch plötzlich erhob sie sich, sie blickte düster vor sich nieder, ein kurzer Kampf glitt über ihre Züge und dann sammelten sie sich in einem eisernem Entschluß. Und er ist doch nicht mein Bruder, sagte sie dumpf. Was wissen wir Beide von dem, was unsere Eltern gethan? Louis, du kannst nicht von mir lassen o Louis! es wäre unser Beider Tod!

Sie warf ein Tuch um die Schultern und eilte hinaus. Sie hörte, wie ihr Vater das Thor verschloß, aber sie wußte, welcher Weg für Louis offen stand, sie schloß ihr Zimmer und zog den Schlüssel ab, flog den Gang hinab und über die Seitentreppe in den Park. Es war, als habe ihr Wille ihr Flügel verliehen, und unten im Park neben der Mauer, die ihn umschloß, begegnete sie dem Marquis.

Der Graf war auf sein Zimmer zurückgekehrt, er stellte das Licht auf den Tisch. Ich habe meine Schuldigkeit gethan, dachte er, aber ich bin müde sehr müde. O stille Ruhe, wann kommst du denn?

Er fuhr auf: ein Schrei ein entsetzlicher Schrei schlug aus dem Parke an sein Ohr. Er horchte, Alles war still. Er öffnete das Fenster und hörte nichts mehr. Ich muß mich getäuscht haben, dachte er. Doch ließ es ihm keine Ruhe, er ging zu Leonie's Zimmer und horchte an der Thüre, aber auch hier regte sich nichts. Er wollte öffnen, die Thüre war geschlossen. Sie wird allein sein wollen, sagte er sich und kehrte in sein Zimmer zurück.

Den folgenden Morgen in aller Frühe wurde laut und heftig an das Hauptthor des Schlosses gepocht. Ein Arbeiter hatte die Gräfin scheinbar leblos im Garten liegen gesehen. Die ganze Dienerschaft gerieth in Aufruhr. Man hob sie auf, ihre Kleider waren vom Thau der Nacht ganz durchnässt. Indessen war sie nicht todt, nicht einmal bewußtlos schien sie zu sein, denn sie stöhnte laut und unausgesetzt; aber gehen konnte sie nicht, und man trug sie in das Schloß. Die Thüre ihres Zimmers wurde erbrochen, sie mußte den Schlüssel von sich geschleudert haben, als sie dem Marquis begegnete, denn später fand man ihn an der Mauer des Parkes, und Niemand konnte sich erklären, wie er dahin gekommen war.

Der Graf eilte in großer Bestürzung herbei; ein Arzt wurde geholt; aber alle angewendeten Mittel blieben wirkungslos. Sie weinte nicht, es war ein inneres Stöhnen, dem keine Klage sich vergleichen ließ. Der Arzt schüttelte den Kopf und erklärte es für eine Nerven - erschütterung. Zeit und vollkommene Ruhe seien das einzige Mittel, meinte er. Sie sträubte sich auch gegen nichts, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag mit geschlossenen Augen und schien Niemand zu erkennen.

Ihr Mann riß sich von allen Geschäften los und eilte herbei als er die Nachricht von ihrer Krankheit erhielt. An dem Tage, da seine Ankunft erwartet wurde, verlangte sie zum ersten Male aufzustehen und ließ sich ankleiden, dann setzte sie sich und wartete.

Er kam, böser Ahnungen voll, denn alle ihre Befürchtungen vor seiner Abreise waren ihm eingefallen, aber dennoch übertraf das, was er fand, seine schlimmsten Voraussetzungen bei weitem, und er schlug die Hände schmerzvoll zusammen vor dem bleichen, schattengleichen Abbild seiner jungen, vor Kurzem so blühend frischen Frau.

Bei seinem Eintritt hatte sie sich erhoben; sie ging ihm entgegen und sank schweigend an seine Brust. Das schöne Haar, mit dem er so gerne gespielt, hatte man ihr abschneiden müssen, sie sah jünger aus, und fast ganz wie ein Kind.

Leonie! rief er in tiefen Schmerz, sie innig an seine Brust schließend und ihr in die Augen sehend.

O, was haben sie aus dir gemacht! fuhr er fort und blickte vorwurfsvoll seinen Schwiegervater an.

Ich hatte es dir vorausgesagt erwiderte sie.

Er hob sie auf, trug sie auf das Ruhebett zurück und sank neben ihr auf die Kniee. Sie sah zu ihm nieder und legte die kleine abgemagerte Hand auf seinen Kopf.

Du kommst eben recht, mich sterben zu sehen, sagte sie. Die alte Härte war noch immer in ihr.

Er schloß sie in die Arme und schluchzte laut. Der ruhige, kluge Mann war nicht zu erkennen, so brachte ihn die Verzweiflung außer sich.

Wir gehen fort von hier, war sein erstes Wort, als er der Rede wieder mächtig war.

Ein Schatten ihres ehemaligen Lächelns glitt über ihre Züge, verschwand aber sogleich wieder.

Nun ist es zu spät, sagte sie.

Dennoch schien die versprochene Veränderung sie ein wenig zu beleben, und sie ordnete selbst Manches zu ihrer Abreise an. Sie frug nicht, wohin er sie bringen wurde, und er führte sie nach Rothwalde, wohin sie sich vor ihrer Trennung von ihm so sehr zu sehnen schien. An seinem Arme durchwanderte sie wieder die Alleen, die sie zuerst blühend in allem Glanze ihrer Jugend und ihres Glückes gesehen. Aber es war nicht mehr dieselbe Leonie! Das feine Gewebe ihrer Nerven, dieses Meisterwerk der Natur, war zerrissen wie durch einen rohen Griff, und alle Versuche, sie zu neuem Leben zu wecken, scheiterten an der Apathie, in welche sie sich wie in ein Leichentuch hüllte.

Putz und Kostbarkeiten und tausend Kleinigkeiten, die sie sonst so sehr geliebt, wurden um sie gehäuft. Sie nahm sie in die Hand, lächelte und legte sie theilnahmslos wieder weg. Was früher Mark und Saft ihres Lebensbaumes gewesen war, Stolz, Leidenschaft, Eitelkeit und nur in anderem Sinne freilich, als man es gewöhnlich nimmt die zarte und vollendete Weiblichkeit, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, Alles war entschwunden auf immerdar.

Die Krankheit, welche die Mutter nach Jahren dahingerafft, entwickelte sich bei der Tochter in reißender Schnelligkeit. Sie welkte sichtbar dahin und blieb doch immer rührend schon. Endlich konnte sie nicht mehr gehen. Der Tod, der ihr früher so viel Grauen eingeflößt, schien ihrer Phantasie nur mehr ein grausames Spiel zu sein. Für ihre zarten Arme waren die goldenen Armbänder alle nun zu groß. Mit einer katzenartigen Lust an fremdem Leid machte sie ihren Mann aufmerksam darauf. Nun bist du bald von mir erlöst, sagte sie.

O Leonie! war Alles, was er erwidern konnte, indem er sich sprachlos hinwegwandte. Der tiefe Gram in seiner Stimme durchschauerte sie. Sie blickte auf und beobachtete ihn einen Augenblick.

Verzeihe mir! rief sie aus und warf sich an seine Brust, ich will's nicht mehr sagen.

Otto kam, sie zu besuchen; aber sie hatte weder Wort noch Blick für ihn. Freudetrunken war er mit Mariens Jawort angekommen; nun, bei dem Anblick seiner Schwester, schwand alle seine Freude hin. Laut weinend stand er an ihrem Bette, da wandte sie sich plötzlich nach ihm um.

Auch du hast mich tödten helfen, sagte sie; du, Alle ach! und Er und Er! sie drehte das Gesicht nach der Wand, und zum ersten Male seit ihrer Krankheit weinte sie, leise aber bitterlich.

Graf Hoheneck verließ Leonie keinen Augenblick, er geizte mit jeder Minute, die das entfliehende Leben ihm noch gewährte, und sie war sanft und freundlich gegen ihn.

Ja, das ist Liebe! sagte sie einmal, ihre Hand in die seine gelegt. Ach, was man will, das kann man nicht, und was man kann, das will man nicht!

Sie küßte gerührt seine Hand. Du hättest mich nicht verlassen! setzte sie hinzu, und Thränen verdunkelten ihren Blick. Die harte Rinde um ihr Herz mußte doch etwas geborsten sein. Nur seinen Liebkosungen wich sie mit Ängstlichkeit aus. Da nun die Verstellung keinen Zweck mehr für sie hatte, plagte sie sich auch nicht mehr damit.

Als jede Hoffnung, sie zu retten, verschwunden war, kam auch ihr Vater an. Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme vernahm, und wandte das Gesicht hinweg. Es war das einzige Zeichen des Erkennens, das sie gab.

Ich bin ganz zertreten, ganz wund! flüsterte sie, als er, über sie gebeugt, an ihrem Bette stand.

Er ging hinaus, er konnte es nicht ertragen, das lange Leben, das er zu schützen gelobt, nun an der Wunde, die er ihm beigebracht, unaufhaltsam verbluten zu sehen.

Dennoch wachte die alte dämonische Kraft noch einmal in ihr auf, als er eines Tages allein in ihrem Zimmer leise zu ihr trat, weil er sie schlafend glaubte. Sie setzte sich auf, strich die wirren Haare aus dem Gesicht und sah ihn an mit einem wilden Blick: Und ich war doch nicht unschuldig! sagte sie und sank zurück.

Sie starb, wie sie gelebt; sie hatte nie eine Schuld in sich gefühlt, und weder Reue noch Angst trübten ihren letzten Augenblick. Sonderbar war es, daß nie eine Ahnung in ihr aufdämmerte, wie sie sich ihr Schicksal doch selbst gemacht. Ihr Sinn für das Schöne und Zierliche lebte noch in den letzten Stunden in ihr. Sie kokettierte sozusagen mit dem furchtbaren Zerstörer, dem sie entgegenging. Sie ließ sich ankleiden, und man mußte Blumen bringen an ihr Bett. Mit den zarten Händchen strich sie mehrmals über die frischen Kelche hin: Morgen, flüsterte sie, wo sind wir dann?

Sie ließ das Fenster offen, und die Abendsonne übergoss mit blendendem Licht die schattenhafte, noch immer unaussprechlich liebliche Gestalt. Lebewohl! sagte sie und hob wie grüßend die schwache Hand. Und ohne Gewalt, sanft wie ein Sonnenstrahl, verlöschte sie auch.

Selbst im Tode war der wunderbare Reiz nicht von ihr gewichen, der sie im Leben geschmückt. Wie ein hilfloses Kind lag sie da, Schutz bedürfend und Schutz erflehend. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt, als man sie zu Grabe trug.

Ihr Mann war in Verzweiflung. Von der wahren Ursache ihres Todes erfuhr er nie etwas und wollte nie etwas erfahren. Er schrieb ihn stets der Härte zu, mit welcher er ihre Bitte, sie nicht nach S. zu schicken, von sich gewiesen.

Louis blieb verschollen seit jener Nacht, die ein so schreckliches Licht auf seine Liebe geworfen. Erst nach Jahren wollten die Zeitungen von einem jungen Geistlichen französischer Abkunft wissen, der, plötzlich in Brasilien erschienen, durch seinen Eifer und seine Menschlichkeit überall Liebe und Verehrung gewonnen. Als das gelbe Fieber mit ungewöhnlicher Wuth unter der farbigen Bevölkerung des Landes ausbrach, widmete er sich der Pflege der Verlassenen, und die Seuche hatte ihn bald hinweggerafft. Aus den Papieren, die man bei ihm gefunden, wollte man wissen, er sei der Letzte gewesen des altberühmten Hauses Derer von Canteloup. So war der Traum seiner Kindheit in Erfüllung gegangen, nur anders wohl, als er es sich gedacht; er starb als ein Märtyrer der Menschheit, aber statt der göttlichen Liebe war es die irdische gewesen, welche ihn zu seinem hohen Ziele geführt.

In S. ging durch Otto's Vermählung mit Marie ein reges, glückliches Leben auf, durch welches der alte Graf wie ein finsterer Schatten schlich. Leonie's Tod hatte den letzten Funken seiner Kraft vernichtet. Er erlebte es noch, seinen ersten Enkel zu sehen, aber selbst diese Freude bannte die Erinnerung an die Verstorbene nicht, und keine Vernunftgründe vermochten den Sturm zu tobten, der ihm am Herzen fraß; denn vielleicht vielleicht war sie ja doch sein Kind, und vielleicht war es der Stachel seiner Lieblosigkeit gewesen, der sie zuerst ihrem Verderben entgegentrieb.

About this transcription

TextEure Wege sind nicht meine Wege
Author Adele Wesemael
Extent213 images; 61253 tokens; 8428 types; 378516 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-16T13:30:48Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-16T13:30:48Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Eure Wege sind nicht meine Wege. Band 22. Adele WesemaelWild, Hermine. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 1-210.

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LanguageGerman
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