PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 16]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Gemüth und Selbstsucht.

Die nachstehende Novelle, größtenteils in Briefen, erschien in dem von K. Büchner herausgegebenen Deutschen Taschenbuche auf das Jahr 1838 , mit dem Beisatze: mitgetheilt von Leopold Schefer . Man braucht nicht lange darin zu lesen, um sich zu überzeugen, daß die Erzählung keinen Verfasser hat, sondern eine Verfasserin. Die weiblichen Briefe bekunden dies durchsichtig genug, noch mehr aber durften es die männlichen verrathen. Diese Vermuthung findet denn auch ihre Bestätigung in einer gleichzeitigen Taschenbücherschau der Blätter für literarische Unterhaltung vom 19. December 1837, die bei Gelegenheit unserer Novelle die Bemerkung enthält: F. v. W. ist ein Fräulein von Wolf in Kopenhagen . Mehr haben wir von der talentvollen Verfasserin nicht in Erfahrung bringen können. Dieselbe entwickelt eine merkwürdige Kunst der Natürlichkeit: man glaubt wirkliche Mittheilungen aus dem Leben zu lesen, mit leichter Hand hingeworfen, als wären sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; und unter dem Eindrücke dieser Täuschung gewinnt uns die Zartheit und Anmuth des Vortrags um so mehr für den Kreis, aus welchem wir die Mittheilungen hervorgehen sehen. Eine Theilnahme freilich, die sich fast ganz auf den weiblichen Theil dieses Kreises beschränkt; denn die Herren sind nicht durchaus günstig geschildert, und der Beste von ihnen geht leer aus, was ihn, wenigstens in männlichen Augen, nicht eben zum Helden macht. Ob denn doch vielleicht Verhältnisse und Begebenheiten des wirklichen Lebens zu Grunde liegen? ob die überraschende Schlußwendung der Wirklichkeit angehört oder experimen - tirende Erfindung ist? Wir können diese Fragen nicht beantworten, glauben uns aber versprechen zu dürfen, daß die Novelle jedenfalls, wenn sie auch nicht alle Ansprüche erfüllen sollte, mit Interesse gelesen werden wird. Den Titel hätten wir anders gewünscht, halten uns jedoch nicht für berechtigt, ihn zu ändern.

Am obern Ende eines Tisches, auf welchem das Frühstück geordnet stand, saß Herr Steffano, einer der angesehensten Kaufleute in Frankfurt. Wie nach dem Namen zu erwarten, südlicher Abkunft, sprach sich diese auch in den Formen des Antlitzes, in dem Schnitte und der Farbe des Augenpaares deutlich genug aus, wenn gleich seine Voreltern schon vor beinahe zweihundert Jahren aus Italien nach Deutschland eingewandert sein mochten. Sein lebhafter und doch ruhiger Blick beurkundete die wohlbenutzten Erfahrungen eines der Thätigkeit und dem Nachdenken gewidmeten Lebens; der etwas streng geschlossene Mund deutete auf Ernst und Entschlossenheit, während in dem Lächeln, wenn dieses seine Züge belebte, herzgewinnende Freundlichkeit sich aussprach. Ihm zur Rechten befand sich ein junger Mann, mit hellbraunem Lockenkopfe, mit bedeutenden, ausdrucksvollen, wenn gleich nicht eben schönen Zügen, der dem Aeußern nach mehr erust als fröhlich, mehr gedankenvoll als beglückt sich darstellte. Zur Linken des Hausherrn, neben dem Kaminfeuer, hatte in einem bequemen Lehnsessel und in fast liegender Stellung der Neffe desselben, Herr R., sich hingestreckt, welchen man sogleich an der Familienähnlichkeit als Verwandten des Hauses erkannt haben würde. Im Allgemeinen glich seine Gesichtsbildung der des Oheims, obwohl diese jugendlichen Züge einen durchaus verschiedenen Ausdruck zeigten. Herrn Steffano's Augen deuteten Güte, Milde und Nachdenken an, zuweilen tiefen Ernst, niemals Härte; aus den herrlich gebildeten Augen des Neffen blickten dagegen im lebendigen, oft verletzenden Wechsel Geist, Neigung, Stolz, Mißtrauen, Strenge und Verachtung; auch der Ausdruck seines Mundes war bezeichnend, auch in seinem Lächeln war gewinnende Anmuth verborgen, aber öfter noch zeigte sich um seine Lippen ein Zug von Spott, Trotz und Mißvergnügen. Neben ihm saß ein junges Mädchen, deren blühendes, blendendes Colorit den angenehmsten Abstand zu seiner südlichen Gesichtsfarbe bildete. Man hatte oft scherzweise von diesem reizenden Wesen gesagt, daß sie ein Blumengesichtchen habe, und in der That kein Ausdruck konnte richtiger sein. Ihr blondes Haar war in reichen Flechten zierlich geordnet, und ihre fröhlichen, schalkhaften braunen Augen machten um so tieferen Eindruck, als man darauf hätte schwören mögen, diesem Gesichtchen könne nur ein blaues Augenpaar inne wohnen. Es gewährte ein liebliches, tröstliches Gefühl, so viel glückselige Jugend zu betrachten, und auch ihr Nachbar widerstand diesem Zauber nicht immer, obwohl er demselben nur dann nachzugeben pflegte, wenn Niemand ihn seiner Meinung nach beachtete. Neben dieser anmuthigen Blondine erblickte man die Tochter des Hauses, welche wiederum als Gegenstück ihrer Nachbarin betrachtet werden konnte. Sophie Steffano hatte das schwarze Haar, die edle Gestalt, welche ihre Familie auszeichnete, aber unter der schönen Stirn blickten tiefblaue Augen hervor, deren Ausdruck zugleich lebhaft und rührend war. Sie sah zuweilen zu ihrem Vetter hin, der ihr gegenüber saß, und dessen Augen sie oft mit Blitzesschnelle trafen, aber in diesem Anblicken lag nichts von der zutraulichen Unbefangenheit verwandtschaftlichen Verhältnisses.

Diese fünf Personen bildeten das Gemälde, den Rahmen dazu ein Zimmer, dessen schöne Anordnung auf Geschmack und die gediegene Eleganz wohl angewendeten Reichthums deutete. Herr Steffano hatte die Zeitung flüchtig durchgesehen und sagte jetzt, nicht ohne leisen Anflug von Ironie und mit Hinblick auf seinen Neffen, der eine unangezündete Cigarre spielend zwischen den Fingern bewegte: Ich freue mich zu sehr, wie mehr und mehr die Gesinnung der Damen sich dir beifällig zuwendet, denn schwerlich würde Sophie früher an die Möglichkeit geglaubt haben, daß man in ihrem Heiligthume rauchen dürfe. Sophie erröthete, ihr Blick begegnete flüchtig dem ihres Vetters, welcher die Hand über die Augen legte und nach einer kleinen Pause mit seltsamem Lächeln erwiderte: Da man mir so viele Güte beweis't, wäre vielleicht anzunehmen, ich sei derselben nicht völlig unwerth. Die kleine Blondine lächelte schalkhaft, der Oheim sah ernst vor sich hin. Der junge Mann zu seiner Rechten war gleich zu Anfange dieses Gespräches aufgestanden, verbeugte sich jetzt schweigend und verließ das Zimmer.

Nach minutenlanger Pause begann Herr Steffano von Neuem: Ich habe gestern die Bekanntschaft des Grafen von N. gemacht und freue mich dir sagen zu können, wie er ein höchst angenehmer, humaner und aufgeklärter Mann zu sein scheint.

Der Neffe schwieg. Für dich, fuhr Jener fort, kann dieses Alles nur von höchster Bedeutung sein.

R. blickte empor und entgegnete mißlaunig: Ich wüßte in der That nicht, warum mir das anders als gleichgültig vorkommen sollte.

Eine geistreiche Antwort belebt kluge Personen, selbst dann, wenn sie ihren Ansichten und Wünschen entgegen ist, eine ihrer Meinung nach unverständige pflegt sie aus aller Fassung zu bringen. Herr Steffano schwieg eine Weile, wie um sich zu sammeln, und entgegnete: Gleichgültig? Das ist eine großartige Ansicht, die wenigstens mir nicht einleuchten kann, da deine Anstellung in Staatsdiensten größtentheils von dem Grafen und seinem Einflusse abhängig sein wird.

Düstre Wolken zogen über R's Stirn. Es thut mir leid, sagte er, daß dieser Gegenstand eben jetzt zur Sprache kommt, Zeit und Stunde mögen wenig günstig sein. Mir gilt aber der Grundsatz, dem scheinbar Unabwendbaren nie aus dem Wege zu gehn; überdies, was man den Muth hat zu wollen, muß auch entschlossen ausgesprochen werden, gleichviel, ob es mit Gunst oder Ungunst aufgenommen werden mag. Ich bin sehr entschieden, in den nächsten Jahren noch keine Anstellung zu suchen.

Herr Steffano schwieg abermals, die kleine Blondine schlüpfte behende aus dem Zimmer, Sophie erhob sich ihr zu folgen, aber ein ernster Blick des Vaters bewog sie zu bleiben. Ich verstehe dich nicht, lieber Neffe, begann er endlich; sei daher so gütig, dich deutlicher zu erklären. Wenn man gleich dir acht Jahre auf Universitäten zugebracht hat, wenn man achtundzwanzig Jahre alt ist, dann, scheint mir, ist in ihrer vollen Reife die Zeit da, wo man eines ernsten Lebenszweckes bedarf und auf alle Weise ihn suchen muß. Du hast dir vollkommen Zeit gelassen, das Leben zu genießen, so hoffte ich würdest du jetzt daran denken, dich demselben nützlich und thätig einzubürgern.

Der Neffe lächelte: Ihre Güte kommt mir sehr unerwartet zu Hülfe, denn eben diese Idee des Einbürgerns in die kleinlichen und etwas platten Lebensverhältnisse, die mir bevorstehen würden, machte jede Annäherung vorläufig zur Unmöglichkeit.

Du willst also vom Civilfache dich gänzlich abwenden?

Keineswegs, nur hinausschieben will ich die Sklaverei, welche mir bevorsteht. Ich kann meinen Nacken einem solchen Joche noch nicht beugen. Nur die höheren Staatszwecke haben von jeher mein Interesse erregt, alle diese ängstlich-beschränkten Verhältnisse kleiner Beamten sind mir stets durchaus zuwider gewesen.

Höhere Staatszwecke, entgegnete der Oheim, haben immer außer dem Bereiche meines Wirkens gelegen, aber sie sind, nach meiner Ansicht, in der weisen Aufrechthaltung des bestehenden Guten, in zweckgemäßer Verbesserung des Mangelhaften zu suchen. Diesem Streben liegt die einfachste und deßhalb oft schwierigste Weisheit zum Grunde: nur gemeinsames Wirken führt zu solchem Ziele. Der geringste Beamte eines Staates kann dazu beitragen und für sein Herz, seine Eitelkeit, seinen Ehrgeiz volle Befriedigung finden. Das richtige Streben eines geistreichen Mannes wird nie übersehen werden, selbst der beschränkte Wirkungskreis dient ihm zur Hebung, und um so mehr wird daraus der Geist hervorleuchten, welcher es verstand, seine Strahlen wohlbegründeter Ordnung einer oft mechanischen Thätigkeit zuzuwenden.

Es mag sein, wie Sie sagen, erwiderte der Neffe nachlässig, aber mir wenigstens fällt es schwer, mich durch so kümmerliche Verhältnisse durchzuarbeiten nach einem möglichen Ziele. Meine Aufmerksamkeit ist von Anbeginn auf die mangelhafte Justizverwaltung meines Vaterlandes gerichtet gewesen, auf die seltsame Ver - kehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Cultur als durchaus unzulässig erscheinen müßten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insoferne auch das Mangelhafte unterrichtend sein kann.

Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vortheile oder Nachtheile, deren andere Länder theilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände anwendbar ist. Man findet überall einen National - und doch auch wieder, möchte ich sagen, einen Orts-Character, und um dieser letzeren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgend eines Landes auf die Individualität der Bewohner mit Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl als richtig erkannt wird, muß in der Beziehung als das Bessere gelten; nicht Alles ist so verkehrt, wie der Anschein uns glauben machen möchte. Ich habe mein Nachdenken solchen Betrachtungen oft zugewendet. Die Verschiedenheit der Gemüthsanlagen, ja selbst der äußern Persönlichkeit, welche man häufig in zwei einander nahe gelegenen Dorfschaften, häufig zwischen Städter und Vorstädter antrifft, mag der früher stattgehabten Einwanderung von Colonisten zuzuschreiben sein. Wenn hier ein ganzer Menschenschlag gutmüthig, lenksam und thätig erscheint, so findet man oftmals ganz in der Nähe ihn trotzig, auffahrend, verschlagen und unthätig. Nach dem Besseren zu streben ist unerläßlich, aber selbst das anscheinend Mangelhafte mag oft nützlich sein, daher würde ich mich an deiner Stelle darüber beruhigen. Bedenke wohl, was es heißt, zwei Jahre seines Lebens einem ungewissen Zwecke opfern, indessen der gewisse nothwendig und durchaus erforderlich erscheint. Du bist nicht reich, lieber Freund, kaum wohlhabend zu nennen, und folglich darf deine Wahl auf kein contemplatives Leben gerichtet sein, wenngleich ein solches dir am mehrsten zusagen dürfte. Für dich ist ein weiser Haushalt mit Zeit und Leben dringendes Bedürfniß, du sollst dir selber verdanken, was du einst sein wirst. Dein Verstand, deine schnelle Auffassungsgabe, deine Gewandtheit, ja selbst deine Fehler, welche ich unberührt zu lassen wünsche, werden dir zur Erreichung deiner Zwecke förderlich sein, wenn du nicht an Zersplitterung so wünschenswerther Gaben scheiterst. Leider ist in dir keine Einheit; verworren liegen die schönsten Blüten verstreut, hier Knospen, dort Blätter, hier Blumen, alles der verschiedensten Art, nichts aneinander gereiht, nichts gesammelt. Die Menge staunt die phantastische Verworrenheit an, der Kenner beklagt sie. Es ist ein Chaos, aus welchem das Wünschenswertheste dem Blicke sich darbietet; nur du vermagst es zu ordnen. Nur wer völlig mit sich einig ist, mag im Stande sein, ein vernunftgemäßes Urtheil über fremde Menschen und Zustände zu fällen. In vollkommener Einheit liegt einzig sicheres Fortschreiten. Eine weitere Ausbildung durch Reisen scheint mir für dich nun völlig überflüssig. Die Welt, in ihren guten und verderblichen Beziehungen, hat schon genug an dir gebildet. Die glänzende, äußere Hülle ist vorhanden, nach dem innern Kern wage ich manchmal nicht zu fragen. Wie seltsam hast du dich selber gestellt! Deinen Gewohnheiten, deinem unabhängigen Sinne, deiner Gutherzigkeit nach, würdest du ganz für das bürgerliche Leben passen; dein Hochmuth, deine Eitelkeit und zu verfeinerte Bildung ziehen dich unablässig in einen Kreis, der dich beengt, unbefriedigt läßt, und doch dir unentbehrlich erscheint. Auch hier ist Zwiespalt, denn nicht selten gefällst du dir auch in geringeren, deiner völlig unwerthen Kreisen. Der Wunsch zu gefallen zieht dich hier, zieht dich dorthin; das Ende sehe ich leider voraus: du willst Alle und besonders die Frauen für dich einnehmen und wirst Eine vielleicht sehr unglücklich machen.

Der Neffe warf einen finstern Blick auf Sophie und sagte, indem er die Spitze seiner Cigarre auf eine Weise abbiß, die auf einen tiefen innern Unmuth deutete: Was Sie mir sagen, ist ohne Zweifel wohlgemeint, wenn es gleich mir keinen wohlthuenden Eindruck geben kann. Es ist eine eigene Sache darum, Tadel anhören zu müssen, ich gehöre namentlich nicht zu den Menschen, die Solches mit Gelassenheit ertragen können. Wir wollen es dahin gestellt sein lassen, wie richtig oder verkehrt meine Ansichten sein mögen, helfen sie mir nur wohl oder übel durch die Welt. Ich werde das Gute zu erkennen, das Schlimme zu ertragen wissen. Was meine schwankenden Ansichten anbelangt, so hoffe ich, mit Recht sagen zu können, daß nur ihre Abweichung von denen Anderer sie als unsicher erscheinen lassen dürfte. Ich bin mir einer festen Grundlage und des allertiefsten Eindringens bewußt. Eine Hinneigung zu schlechter Gesellschaft darf ich mir wenigstens in keinem höheren Grade vorwerfen, als auch andere junge Leute diese, ab und an, nicht ganz von sich abzulehnen im Stande sind. Natürlicher Hang zieht mich nicht dahin; Eitelkeit, das ist möglich. Ich gestehe, fügte er schelmisch lächelnd und mit einem unsichern Blick auf seine Cousine hinzu, daß es mir augenblicklich Reiz gewährt hat, zu beobachten, wie man bei allen Ständen und in allen Verhältnissen nur durch eine etwas anders gestellte Phraseologie genau dieselben Zwecke zu erreichen im Stande ist. Was eine weitere Ausbildung durch Reisen anbelangt, so habe ich um so eher geglaubt, daran denken zu müssen, da eine solche in unsern Zeiten eine durchaus gewöhnliche zu nennen ist, ja, da selbst Sternheim sich diese hat erwerben dürfen.

Es betrübt mich, lieber Freund, daß du stets Sternheim als dir untergeordnet betrachtest; ihr steht nicht auf gleicher Höhe, das gebe ich zu, und doch wer möchte gewinnen beim Tausche, wenn ein solcher überall denkbar wäre. Durch euch wird der Begriff des praktischen und ideellen Lebens aufs Anschaulichste versinnlicht. Nie sah ich zwei ungleichere Menschen. Was äußere Annehmlichkeit anbetrifft, wirst du ihn stets weit überstrahlen; nimm dich in Acht, daß er durch wahren Gehalt nicht dich überflügeln möge! In dir sind Genius-Blitze, in ihm ist bewußte Klarheit des Verstandes. Sein Fehler ist, mit zu schweigsamer Ruhe die Eindrücke in sich aufzunehmen, welche Welt und Menschen auf ihn hervor bringen, indessen du mit sprudelndem Ungestüm, mit unüberlegter Erregung, von jedem Einwirken äußerer Verhältnisse Rechenschaft ablegen zu müssen glaubst, obwohl wiederum Offenherzigkeit nicht als Grundzug deines Charakters betrachtet werden mag. Bei dir ist Vieles zweckwidrig und doch planvoll, bei ihm Alles überdacht und einfach. Sein Verhältniß als Kaufmann machte ihm Reisen zur Nothwendigkeit, durch seine Tüchtigkeit als Mensch zog er Nutzen daraus, auch in Beziehung auf Kunst und Literatur. Absichtlich habe ich dir dieses Alles in Sophiens Gegenwart gesagt, sie ist deine liebe, nahe Verwandte, so besprich jetzt mit ihr deine Zukunft. Bedenke, lieber Freund, ob du nach zwei Jahren geeigneter sein möchtest, dich in das Joch der Abhängigkeit zu begeben; bedenke, daß du dann damit erst beginnen würdest, was längst als der erste Schritt hinter dir liegen müßte.

Herr Steffano verließ das Zimmer, sein Neffe stützte den Kopf in die Hand und sagte endlich, mehr mißlaunig als bewegt: Es thut mir leid, schmerzlich leid, daß du dieses Alles auf solche Weise hast erfahren müssen. Gewiß, Sophie, es war meine Absicht, dich zuerst mit meinem Entschlusse bekannt zu machen. Deiner lieben Billigung wollte ich vor jeder andern sicher sein. Vergieb mir, was gleichwohl nicht mein Verschulden war. Warum weinst du? fügte er nicht ohne Härte hinzu.

Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann, zu ihm hinsehend: Wäre es dir lieb, wenn der Gedanke an eine Trennung mich nicht erschütterte?

R. stand auf und näherte sich ihr. Trennungen, sagte er, sind Bedingungen des Daseins, wer getrennt ist, darf darum nicht geschieden sein. Der Geist einer innigen, unnennbaren Liebe vereint nur um so fester, wo äußere Verhältnisse entfernen. O Sophie, möchtest du gleich mir empfinden, daß es eine Liebe giebt, welche in ihrer unerschöpflichen Tiefe über das gewöhnliche Leben sich erhebt! Als du mir deine Neigung schenktest, mußtest du dir sagen, daß du fortan keinem gewöhnlichen Manne angehören werdest. Du hast dich genugsam zu überzeugen Gelegenheit gehabt, daß ich nicht denke, nicht handle wie die Mehrzahl; diese Betrachtungen haben deine Neigung nicht zurückgeschreckt, so habe denn auch jetzt die Kraft, mit der Hingebung mein zu sein, welche ich begehren darf. Kommt ein Gedanke in deine Seele, daß mein Thun und Wollen ein unrichtiges sei, so hast du mich nie geliebt, denn die Liebe erkennt weder Zweifel noch Fehler an. In ihr ist nur Glaube und Zuversicht. Einst, ich weiß es, dachtest du so, laß mir die Hoffnung, daß du es noch thust, oder hätte ich an Einfluß auf dich eingebüßt, seit ich das Geständniß meiner Neigung aussprach?

Sophie blickte ihn mit einem edlen Ausdruck an, aber sie schwieg.

Mag denn, fuhr er nicht ohne Unmuth fort, jetzt Alles zur Sprache kommen, was in der letzteren Zeit zwischen uns getreten ist; ich rechne dazu deine völlig grundlose Eifersucht, die wirklich, ganz nutzlos, nur dazu gedient hat, mich zu plagen.

Sophie sah ihn ruhig an: Hast du je einen Vorwurf von mir gehört?

Er lächelte: Und habe ich nicht jeden Tag einen Vorwurf von dir gesehn? Bedarf es dazu der Worte, und verstehe ich nicht selbst in deinen niedergeschlagenen Augen zu lesen? Wie sehr, wie innig hatte ich gehofft, du werdest zu einer großartigeren Ansicht dich erheben können, als solche den Frauen im Allgemeinen eigen zu sein pflegt. Müßtest du nicht mit Bestimmtheit fühlen, daß Nichts mich wahrhaft von dir entfernen kann, daß jeder anziehende Reiz mich an dich erinnert, die so viel reizender ist, als alle Anderen? Nie, nie noch hat ein fremdes Wesen mir das Gefühl eingeflößt, welches ich stets in deiner Nähe empfinde, das Gefühl, verstanden, gewürdigt, geliebt zu werden. Ist denn das Alles noch nicht hinreichend?

Sophie erröthete und entgegnete sanft: Mit dir streiten kann ich nicht, ich kann nur Eines sagen, Eines wünschen: o möge dir, wenn du einmal dein ganzes Lebensglück auf ein Herz setzest möge dir dann ein besseres Geschick zu Theil werden, als mir geworden ist.

Erschüttert wollte R. sie umfassen. Sophie! sagte er bewegt.

Sie bog sich zurück und fuhr fort: Ich weiß, du würdest die Fehlschlagung eines fest gehegten Wunsches nie verschmerzen, sie mir nie vergeben; so reise denn, aber sei dann auch glücklich; gönne mir den Trost wenigstens für so viel Entsagung! Hörst du? setzte sie mit weicher Stimme hinzu.

R. fuhr heftig mit der Hand über die Stirn und verließ rasch das Zimmer.

Sophie blickte schmerzlich empor: Warum, o warum! sagte sie leise und hielt dann wie erschrocken inne: Nein, nein, fügte sie hinzu, nie will ich bereuen, ihm mein ganzes Herz gegeben zu haben. Sie setzte sich und stützte den Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne des Sessels; nur an den Thränen, welche langsam über ihre bleichen Wangen rollten, sah man, daß sie lebe und leide.

Charlotte an Emmy.

So lange bin ich ohne Nachricht von dir, daß ich annehmen muß, irgend ein besonderes Ereigniß veranlasse dein Stillschweigen. Hoffentlich ein gutes, denn wenn es dir übel erginge, würdest du gewiß des Herzens gedenken, welches stets deinen Schmerz mit dir gefühlt und ihn getheilt. Manchmal steigt in mir die Furcht auf, daß mein Ernst und meine Lebensansichten dich zurückschrecken, aber habe ich das verdient? Mir blüht der Frühling anders als dir, aber von ganzer Seele freut es mich, wenn er alle seine Rosen über dich ausstreut. Meine Bestimmung war von Anbeginn anders gestellt; es ist unverkennbar, daß mir nur ein kurzes Erdendasein vergönnt sein wird, deßhalb kann ich nicht denken, mich nicht freuen, mich nicht bethören lassen, gleich dir. Es giebt Menschen, welchen eine ernste Lebensbahn angewiesen ist, über dieselbe hinaus strecken sie nicht ungeahndet die Hand nach einem Maaße von Glückseligkeit aus, welches ihnen nicht zugedacht war. Nicht zugedacht? fragst du. Nein, nicht zugedacht. Jeder soll, kann glücklich sein, auf seine Weise, aber der Nachtvogel darf nicht im hellen Sonnenschein flattern wollen. Ist er deßhalb zu beklagen? Sieht er nicht die schönen, geheimnißvollen Sterne, leuchtet ihm nicht der Mond im stillen Zauber sanft erhellter Nacht, liegt, selbst im Dunkel, welches ihn umfängt, nicht magischer Reiz und süßer Friede? Gewiß, es giebt Menschen, die auf andere Art ihr Heil erlangen sollen, als die Mehrzahl, und ließe man sie gewähren, sie würden es finden und glücklich sein auf ihre Weise. Gewöhnlich aber wird ihnen keine Ruhe, man setzt ihnen so lange mit Bitten zu, mit Ermahnungen, ja selbst mit Spott, bis sie betäubt aus ihrem Geleise weichen und elend werden. Auch ich streckte, so hingerissen, einst mit jugendlicher Zuversicht die Hand nach dem schönsten Schmucke des Lebens aus, für immer wurde ich enttäuscht. Dieses Geständniß wird hoffentlich dein liebes Herz mir wieder zuwenden, wenn meine anscheinende Kälte uns entfremdet haben sollte.

Ist R. schon bei euch angelangt? Sein Name ist auch bis zu mir gedrungen, mit Lob und Tadel, wie ja beides ausgezeichneten Menschen in gleichem Maaße zu Theil wird. Schreibe mir von ihm, von Sophien und vor allen Dingen von dir, die ich von ganzem Herzen liebe.

Charlotte.

Emmy an Charlotte.

Deine Strenge erregte mir keine Besorgniß, aber, zu meiner eignen Beschämung, die Beichte, welche dieser Brief enthalten wird. Unaufrichtigkeit ist die nutzloseste Sache von der Welt, denn es kommt immer einmal eine Zeit, wo man, halb wider Willen, wahr sein muß, und dann gewinnt das an sich Unbedeutende Bedeutung. R. ist hier; als er mir vorgestellt wurde, wie ich vermuthe, mehr der Form wegen, flog ein seltsames Lächeln um seine Lippen: Ich war früher so glücklich, sagte er, mit einer sehr höflichen Verbeugung. Ja, ich habe ihn früher gesehn und verschwieg es dir, weil die Erinnerung für mich beschämend, schmerzlich, kurz Alles ist, wovon man gern den Blick abwendet. Ich wurde mit ihm bekannt in der ewig unvergeßlichen, glückseligen Zeit, als der kleine Haushalt meines Bruders unter meiner Leitung stand. Es war die seltsamste Wirthschaft von der Welt; den Jahren nach, im ganzen Hause kein verständiger Mensch. Ich mit siebzehn Jahren die Wirthin, Ludwig mit siebenundzwanzig Jahren der Wirth, und dazu fortwährend Besuche von allen seinen Universitätsfreunden, denen es unter solchen Umständen außerordentlich wohl bei uns gefiel. Auch ging Alles sehr gut von Statten, Ludwig's eigenthümliche Art zu sein und meine sorglose Fröhlichkeit paßten vortrefflich zusammen. Da kam R. unerwartet, aber nicht unerwünscht.

Ich war allein zu Hause, der Bediente meldete mit großer Unbefangenheit einen Herrn, dessen Namen er vergessen habe; da Ludwig dem Besuch eines jungen Polen mit sehr schwierig auszusprechendem Namen entgegensah, so fand ich Nichts natürlicher und ließ ihn eintreten. Sein Aeußeres beschreibe ich dir nicht, daran liegt ja auch in der That nicht viel, obgleich, nebenbei bemerkt, mir noch nie Jemand gefallen hat, der nicht gerade so ausgesehen hätte, wie ich es gerne habe. Nach den ersten gebräuchlichen Redensarten bezeigte ich ihm meine Verwunderung darüber, daß er so vortrefflich deutsch spreche. Ueberrascht sah er mich einen Augenblick an und entgegnete mit einem Lächeln, welches ihm außerordentlich wohl läßt: daß es dasjenige sei, worauf er sich am wenigsten einbilde. Es kam zu einer Erläuterung, und R. setzte das Gespräch mit Geist und Laune fort. Seine eben zurückgelegte Reise bot den wünschenswerthesten Stoff. Ich erging mich mit ihm an den Ufern des Rheins, beschiffte mit ihm die wildströmende Donau und sah die Zweige schöner Bäume sich malerisch ins tiefblaue Wasser tauchen. Seine Darstellungsgabe fiel mir als ungewöhnlich auf, die Frische, der Reichthum in den wohlgewählten Ausdrücken, Alles war neu und anziehend, und doch sagte ich mir heimlich, er habe das Alles gewiß schon öfter erzählt, schon öfter dadurch gefallen.

Ludwig kam endlich; seine Freude war die herzlichste, die sich denken läßt, und R. bekam das beste Zimmer im Hause. Nie zuvor hatte ich von geistiger Doppelgängerei gehört, durch R.'s Gegenwart trat sie für mich ins Leben. Die Aehnlichkeit zwischen seinen Fehlern und den meinen hat mich oft wahrhaft erschreckt, und dann auch wieder diese Uebereinstimmung des Geschmacks, diese Aehnlichkeit im Guten, nur daß ich weicher bin, als er, was ja auch natürlich ist. Alles richtete sich aufs Beste ein, und die Sonne beschien während kurzer Zeit drei glückliche, heitere Menschen. R. fühlte sich befriedigt in der Ueberzeugung, mir zu gefallen. Nach einem Spaziergange kehrten wir eines Tages durch ein Gehölz zurück. Es war ein wundervoller Herbsttag, die Bäume schon in Gold, Purpur und lichtem Braun gefärbt, nur hin und wieder hob noch eine Eiche stolz das grünbelaubte Haupt empor. Die tiefe, nachdenkliche Stille dieser Jahreszeit war bereits eingetreten. Leicht, fast geräuschlos, huschte ab und an ein Vögelchen durch die Zweige, nur selten ward ein leises Zirpen vernehmbar; lautlos fiel hie und da ein Blatt von den Bäumen. Mein ganzes Herz stand diesem Eindrücke offen. Ich betrachtete mit anerkennendem Gefühl den welkenden und doch noch anziehenden Schmuck der Natur; die säulenartigen Stämme umher, die Fichten, deren melancholisches Grün durch goldgefärbte Blätter blickte, das Farrenkraut am Boden, welches seine zierlichen Zweige schon wie absterbend senkte, und auch so noch das Auge fesselte. Die Worte des Dichters fielen mir ein, und ich sagte halblaut vor mich hin:

Waldeinsamkeit,
So morgen wie heut u.

Ich höre, daß Sie den Phantasus gelesen haben, bemerkte R. Ludwig lächelte: meine Schwester müßte die Erste unter den Frauen sein, wenn sie ein Buch gelesen hätte und dieses nicht gelegentlich bemerkbar machte. Ich überhörte die Anwendung und sagte: Uebrigens möchte ich nur wissen, was an dem Märchen bewunderungswürdig ist? Ich finde nichts Schönes darin, daß ein ehrsamer Ritter eine Frau erheirathete, welche ihr Hab 'und Gut dem Raube und dem Betrüge verdankt. Es giebt in der Wirklichkeit wenig Dinge, entgegnete R., welche eine ganz prosaische Analyse auszuhalten im Stande sind, und man sollte diese auf das goldene Märchen nun vollends nicht in Anwendung bringen wollen. Mich haben der blonde Eckbert, der kleine Stromian, ja selbst der Vogel immer unendlich angezogen. Dem Ganzen liegt eine liebenswürdige Phantasie zum Grunde, und die Einheit darin scheint mir bewunderungswürdig, gleichwie die Auflösung.

Da es einmal ein Märchen ist, entgegnete ich, so hätte es auch der Wirklichkeit etwas mehr entrückt werden können; wozu war es nothwendig, daß Eckbert blondes, flach anliegendes Haar haben mußte, es stört alle Täuschung. Kaum waren diese Worte über meine Lippen, so stand mein Vetter Victor vor uns. Du kennst mein damaliges seltsames Verhältniß zu ihm; die ganze Familie sah mich als seine Braut an, obgleich mein Jawort nicht gegeben worden, was auch für überflüssig gehalten werden mochte. Als er mich grüßte, fiel mir sein schlichtes blondes Haar zuerst ins Auge, ja es schien, als ob R. ebenfalls einen schnellen, schalkhaften Blick darauf warf. Victor wollte die Ferien bei uns zubringen, und seine Gegenwart veränderte zuerst unser bisheriges schönes, friedliches Leben. R. war sichtlich über seine Dazwischenkunft beunruhigt; daß er mich sehr gestört hätte, kann ich nicht sagen, denn ich legte mit ruhiger Unbefangenheit (du würdest sagen: mit ruhiger Impertinenz) meine Vorliebe für R. an den Tag. Es war ganz unwillkürlich, ich dachte kaum weiter darüber nach. Unmöglich war es indessen nach einiger Zeit, die Kälte und finstere Laune gänzlich zu übersehn, welche Victor mir sehr unverhohlen zeigte; so oft er mir eine unfreundliche Antwort gab, blickte ich besorgt auf Ludwig, aber dieser nahm nie die mindeste Kunde davon.

Eines Tages ging ich, etwas auf meines Bruders Zimmer zu ordnen, er war nicht dort, aber die Fenster standen offen, und er saß mit Victor auf einer Bank unter denselben. Ich hörte meinen Namen nennen und blieb unwillkürlich lauschend stehen. Bester Freund, hörte ich Ludwig sagen, plage dich und mich doch nicht mit so völlig nutzlosen Grillen. Daß meine Schwester R. gefällt, ist ganz natürlich, aber glaube doch nicht, daß er nur daran denkt, sie dir rauben zu wollen; er will ihr gefallen, wie er allen Frauen zu gefallen strebt, das ist Alles. Es ist genug und zuviel für mich, entgegnete Victor; ich kann kein Mädchen heirathen, für deren Treue ich zittern muß, so oft ein liebenswürdigerer Mann, als ich bin, ihr naht. Wohl, ich bin weit entfernt, meine Ansicht dir aufdringen zu wollen, aber des Dichters Worte möchte ich dir ins Gedächtniß rufen:

Willst du Rosen ohne Dornen,
Liebe ohne Leid,
Laß sie an die Wand dir malen
In der schönen Maienzeit.

Meine Schwester ist jung und R. sehr gefallsam; daß er in diesem Augenblicke ihr besser gefällt, als du, dessen ganze Liebenswürdigkeit sich darauf beschränkt, sie mit Zorn zu betrachten und ihr mürrische Antworten zu geben, das glaube ich sehr wohl. Ich kenne R. zu genau; er ist der unbeständigste Mensch, den man sich denken mag, und sucht nicht selten Neigung zu erwecken, um sie nachher gelegentlich zu verspotten; es ist durchaus die Schattenseite seines Charakters. Die kleine Lehre, welche Emmy bei dieser Gelegenheit erhält, mag ihr sehr heilsam sein. Dir kann ich nur Einen Rath geben: glaubst du ohne Emmy glücklich sein zu können, so gieb sie auf und verzeihe ihr nicht; ist dir das aber unmöglich, so habe Nachsicht mit ihren Schwächen und suche dir ihr Herz mehr und mehr zu erwerben. Ich hörte Nichts mehr, es schwindelte mir vor Augen, hastig verließ ich das Zimmer. Auf dem Vorsaal begegnete mir R., der freundlich auf mich zutrat und zu seinem unsäglichen Erstaunen die erste kurze und unfreundliche Antwort von mir erhielt. Das Verspotten lag mir im Sinne, ich hätte in dem Augenblicke für die Welt nicht freundlich gegen ihn sein können. Auf mein Zimmer mich zurückziehend, verflossen mir einige Stunden in fast bewußtlosem Nachsinnen, zögernd begab ich mich zu Tische.

Es war ein höchst kläglicher Mittag. R., der nie auch die kleinste Kränkung ungeahndet vergiebt, zeigte sich kalt und abstoßend. Victor, dem ich, theils um Rache zu nehmen, theils aus natürlich gutem Gefühl, einige Huld bewies, lehnte diese mürrisch von sich ab. Ludwig war der Einzige, der sich ganz gleich blieb, obwohl es ihm augenscheinlich mitunter schwer wurde, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich hätte gern mitgelacht, so trübselig für den Augenblick meine Lage auch sein mochte. So vergingen Tage, Tage, während welcher ich gewiß für Alles büßte, welches jemals von mir verschuldet sein mochte. Mit standhafter Ergebung ertrug ich R's Benehmen, welches gleich kalt, ich möchte sagen, rauh war, indessen mein Herz blutete. Was ihn zu mir hinzog, war das Spiel einer müßigen der Nahrung bedürfenden Einbildungskraft, meine ganze Seele hing an ihm. Tausendmal hätte ich eine Versöhnung herbei führen mögen, ein Wort wäre hinlänglich gewesen; mein Genius verhinderte es. Unfähig, so Widerwärtiges in allen Beziehungen länger zu ertragen, fragte ich Victor eines Tages, als er, allein sich mit mir befindend, eine unfreundliche Antwort gab: Was hast du eigentlich, Victor? Mir schlug das Herz ein wenig, aber ich hielt seinen Blick aus, als er kalt fragte: Verlangst du es ernstlich zu wissen? Ja, ich wünsche es. Er zog die Achseln und ging, da nannte ich seinen Namen mit tiefem, herzlichem Gefühl. Augenblicklich drehte er den Kopf mit einem eignen Ausdruck zu mir hin. Geh nicht fort, Victor, wir wollen uns gegen einander erklären. Schweigend lehnte er in eine Fenstervertiefung und sah mich erwartungsvoll an. Hätte er nur ein Wort gesagt! sein Stillschweigen verbesserte meine Lage gar nicht. Du zürnst mir, hub ich nach einer Weile mühsam an, und ich gestehe, daß du einigen Grund dazu haben magst, aber auch du trägst bei dieser Veranlassung einen Theil der Schuld. Ich hoffte, die Ungerechtigkeit des Vorwurfes werde ihn zu einer Widerlegung veranlassen, aber er sah mich nur schweigend und durchdringend an. Ich seufzte tief aus, was sollte ich beginnen? mich noch tiefer demüthigen? dazu empfand ich nicht die mindeste Neigung, und so faßte ich einen kühnen Entschluß und sagte so ruhig wie möglich: Wenn es mir nur daran läge, mich augenblicklich mit dir zu versöhnen, dann würde Nichts leichter sein; ich dürfte dir nur einige zärtliche Worte sagen, einige erwünschte Versprechungen geben, und du würdest nicht unerbittlich sein. Er versuchte es, mich mit großer Kälte anzusehen, welches aber so schlecht gelang, daß ich darüber ins Lachen kam, was natürlich einen sehr üblen Eindruck hervorbrachte. Mir ist, fuhr ich fort, um eine wahre, ernstliche Aussöhnung zu thun, überlege dir daher Alles recht. Sieh zu, ob du mich vergessen kannst, und wenn es dir möglich ist, dann sage es mir. Diese letzten Worte rief ich ihm scherzend zu und verließ eilfertig das Zimmer.

Wenig Menschen verstehen zur rechten Zeit Frieden zu schließen; wäre er mir nur mit einem Worte gütig entgegen gekommen, wie dankbar würde ich es erkannt und es niemals vergessen haben. Wer den Schuldigen zu tief beschämen will, raubt ihm das Gefühl seines Unrechts. Endlich, nach acht Tagen, ward eine herzliche Versöhnung geschlossen, und ich gab mein festes Wort, einst die Seinige werden zu wollen. R. verließ uns eben zu der Zeit, in meinen Augen standen Thränen, als er Abschied nahm, in seinem kalten, trotzigen Blick war keine Spur milder Bewegung, lag keine Rückerinnerung an Tage, die auch ihn beglückt hatten. Für heute muß ich schließen, am nächsten Posttage schreibe ich wieder.

Emmy an Charlotte.

Ohne weitere Einleitung setze ich meine Mittheilung fort, wo sie zuletzt endete. Bald nach R. verließ uns auch Victor. Ich gedachte seiner mit herzlicher ruhiger Zuneigung. R's dagegen mit Sehnsucht, mit Unruhe, mit der Gesammtheit von Gefühlen, welche zum Glücke des Lebens wenig förderlich sind. Alles rief ich mir zurück, er hatte sich immer gut, freundlich, liebenswürdig erwiesen, während von mir der Friede ohne Anlaß von seiner Seite gebrochen worden war.

Ludwig's Scharfsinn errieth ohne Zweifel den Kampf in meinem Innern, er sprach oft und ungezwungen von beiden Freunden. Ich sah, sagte er mir einst, voraus, wie Alles kommen würde, aber gewisse Erfahrungen kann man Niemandem ersparen. Es liegt in der Unvollkommenheit des Daseins, daß ein so unschuldiges, beglückendes, friedliches Verhältniß, wie es zwischen dir und R. Statt fand, wo jeder Morgen das Glück des vergangenen Tages frisch und entzückend zurückbringt, daß ein solches nicht bestehen kann, daß es mit Schmerz, mit Nachrede, mit Thränen enden muß. Man möchte glauben, die Vorsehung wolle uns mit ernster Lehre darauf hinweisen, daß wir das Liebenswürdigste sehen und würdigen müssen, ohne es uns zueignen zu können. Das sind die Sterne, die wir anerkennen, aber nicht begehren dürfen. Deine ganze Phantasie ist von R.'s Bilde erfüllt, er ist für Frauen ein Irrlicht, dessen glänzender Schimmer ins Verderben lockt. Dein Herz wird aber einst von Victor's Bilde erfüllt werden, der dich wahrhaft liebt, mit dem du glücklich sein kannst. Schwerlich wärst du es je mit R. geworden, zu lebhafte Leidenschaft für ihn möchte dich und auch ihn unglücklich machen; nie würde er sich auf dem hohen Standpunkt haben behaupten können, den deine Verblendung ihm angewiesen. Laß die ganze Rückerinnerung mild in deiner Seele auftauchen, gedenke seiner ohne Groll und, wenn es sein kann, ohne Leidenschaft. Glaube nicht, daß auch er dich gänzlich vergessen habe; oft wird er deiner nicht gedenken, aber doch kommen Stunden, welche dein liebes Bild vor seine Seele führen mögen.

Ein halbes Jahr verging, ich dachte jetzt mit Ruhe an R.; da brach das entsetzliche Unglück auf mich her. Ludwig ward als Secundant eines Freundes zu einem Zweikampfe veranlaßt, welcher die Folge hatte, daß er lebensgefährlich in der Brust verwundet wurde. O der theure, geliebte Freund! wie lebensfrisch schied er von mir, wie glänzten im kühnen Selbstvertrauen die lieben Augen, welche mir den letzten Gruß zuwinkten! Ein Bild des Todes, mit erloschenem Blick, wurde er zurückgebracht. Wie es möglich gewesen, begreife ich nicht, aber zwei Tage nach diesem traurigen Ereignisse traf R. bei uns ein. Die Dämmerung war schon tief herabgesunken, ich stand trostlos am Fenster, da erblickte ich durch Dunkel und Nebel eine Gestalt, die ich an Gang und Haltung unter Tausenden erkannt haben würde. Der Arzt war gerade anwesend, er ging R. entgegen, sie hatten eine lange Unterredung mit einander, und durch denselben wurde er bei Ludwig eingeführt, der nicht sprechen durfte, sich kaum regen konnte. Er kam darauf zu mir und sah sehr ernst und ergriffen, aber nicht wild aus. So wie Alles steht, sagte er mit erzwungener Fassung, bleibt uns Nichts übrig, als unsern Schmerz zu bekämpfen und Alles für Ludwig zu thun, was in unsern Kräften steht. Gewiß lieben Sie ihn genug, um sich bezwingen zu wollen. Von da an theilte er meine Sorge für meinen Bruder mit einer Hingebung, wovon die Erinnerung mich noch jetzt ergreift. Tage Nächtelang, saß er in einem Lehnsessel neben Ludwig's Bette, ohne ein Wort zu reden, ohne Bücher, da die tiefe Dämmerung des Krankenzimmers alles Lesen unmöglich machte. Nur in dem blitzenden Aufschlag des Auges verrieth sich der unruhig arbeitende Geist im Innern; äußerlich war er durchaus ruhig; sanft und leise in jeder Bewegung. Schweigend, vergehend in Jammer saß ich ihm gegenüber; wenn etwas zu holen, zu veranstalten war, deuteten wir es uns durch Zeichen, durch leise geflüsterte Worte an. Wir handelten im vollkommensten Einverständniß, ach! und dachten doch vielleicht nie weniger an einander, als in der tiefen Einsamkeit dieser schmerzlichen Stunden. Am Morgen vor Ludwig's Tode legte ich einen Strauß frischer Rosen auf sein Bett, er versuchte zu lächeln, aber auf die Blumen blickend, stieg eine Thräne in seinem Auge empor. Da überwältigte mich der lange bekämpfte Schmerz, ich sank an seinem Lager hin, legte den Kopf auf seine liebe Hand und weinte im bittersten, bittersten Jammer. R. war zugegen, aber ließ es geschehen; ein leiser Seufzer, der sich Ludwig's Brust entrang, brachte mich zur Besinnung. Ich las an dem Tage in R.'s Blicken, daß er jede Hoffnung aufgegeben habe. Der Arzt gab mir die Bestätigung am Abend, denn er sagte im Fortgehen: Wenn der Kranke reden will, so hindern Sie ihn nicht daran, es kann ihm nicht mehr schaden. Während der Nacht sagte Ludwig, der anscheinend heftiges Fieber hatte: Jetzt schiffe ich mich ein nach jener schönen Insel, die jenseits liegt, o wie blühend ist Alles! Komm mit mir, Emmy. R. hatte sich vorgebeugt, eine Thräne aus seinem Auge fiel auf meine Stirn, ich wie gerne hätte ich mich mit eingeschifft, weit, weit von dieser Welt hinweg! Ganz erschöpft, ermattet, wie ich war, überwältigte mich einen Augenblick der Schlaf, da fühlte ich mich rasch emporgehoben, R. hielt mich in seinen Armen aufrecht; ich wußte sogleich, was mir bevorstand. Ludwig's schon verdunkelte Augen irrten suchend nach mir umher, er schien die Arme erheben zu wollen und sagte leise, aber vernehmlich: Meine Schwester, mein Engel! Ein Laut des Schmerzes entrang sich meiner Brust; er hörte ihn nicht mehr. In demselben Augenblick ward die Thür geöffnet, und Victor trat ein. Von dem was in den nächsten vierundzwanzig Stunden geschah, habe ich auch nicht die leiseste Erinnerung. Am darauf folgenden Morgen fand ich mich in meinem Zimmer; meine eigenen Thränen, die auf meine gefalteten Hände fielen, brachten mich zur Besinnung. Nach einiger Zeit ließ R. sich bei mir melden. Er sah bleich und sehr ernst aus und setzte sich mir schweigend gegenüber. Was wird jetzt aus Ihnen? fragte er nach einer Pause. Ich schüttelte den Kopf: wer kann in solchen Augenblicken an sich denken? Das ist gleichwohl sehr zu überlegen, sagte er wie vor sich hin. Ich hätte gewünscht, fuhr er fort, einen sehr trüben Tag hier zubringen zu können, aber es ist mir unmöglich. Ihnen wird es auch recht sein, daß Victor, der Ihnen so nahe steht, jede Veranstaltung trifft. Leben Sie wohl, und Gott sei mit Ihnen. Ich gehe jetzt, den letzten Abschied von dem liebsten Freunde zu nehmen. Halb unbewußt stand ich auf und folgte ihm, er sah verwundert aus, schwieg aber, und als wir an die Treppe kamen, faßte er meinen Arm und führte mich, als fürchte er, ich werde hinab stürzen. Er öffnete die Thür zu Ludwig's Zimmer; das Bild des tiefsten Friedens wurde dort uns zu Theil. O gewiß, Engel hatten diese Augen geschlossen! R. legte die Hand auf die erkaltete Rechte des treuesten aller Menschen und sah wie betheuernd empor, dann verließ er mit verhülltem Gesichte das Zimmer. Ich hörte noch das Fortrollen seines Wagens; es war der letzte, tief ergreifende Schmerz, der mich fortan in Bezug auf ihn betroffen hat.

Victor verließ mich gleich nach meines Bruders Bestattung; herzlich theilte er meinen Kummer; was aus mir werden würde, war noch unentschieden, vorläufig konnte ich dort im Hause bleiben.

Einige Wochen vergingen mir in der schmerzlichsten Trauer, da erhielt ich einen unbeschreiblich gütigen Brief von Herrn Steffano, mit dem Vorschlage, als seine zweite Tochter in seinem Hause zu leben, bis zu der Zeit, wo mein Bräutigam eine passende Anstellung erhalten haben werde. Ich war dieser Familie gänzlich unbekannt und habe nie bezweifelt, daß ich R.'s Vermittlung diese Zufluchtsstätte verdanke. Er selbst hat es, obwohl wider seinen Wunsch, halb eingestanden, denn als er vor einiger Zeit mit flüchtigem Hinblicke auf mich äußerte: Ich vergebe Beleidigungen, aber nie vergesse ich sie, fragte ich, nicht ohne Bewegung: Haben Sie niemals eine Kränkung mit Gutem vergolten? Er stutzte und entgegnete auf sehr einnehmende Weise: Wenn ich jemals etwas Gutes veranlaßte, so bedarf es der Anerkennung nicht, der Lohn liegt im Gelingen.

So kam ich in dieses gesegnete Haus und würde vergebens den Eindruck auf mein Wesen beim Betreten dieser Räume zu schildern unternehmen. Jegliches ist hier ansprechend, wohlthuend, beglückend. Gediegener Wohlstand macht sich überall bemerkbar, Jedwedes ist vortrefflich in seiner Art; in jeder Räumlichkeit waltet Ordnung, aus dem Schmucke der Zimmer leuchtet verständiger Geschmack hervor; nirgend ist Ueberflüssiges, überall das Wünschenswerthe. Und die Menschen, die herrlichen, beglückenden Menschen! Mir ward die liebevollste Aufnahme, mir, welche ich noch vor kurzem mich dem verwehten Blatt vom Baume verglichen hatte, das, jedem Schicksale preisgegeben, durch Sturm und Wetter wer weiß wohin geführt werden wird. Sophie, welche einige Jahre älter ist, nahm sich meiner zärtlich und mitleidig an. Meine Jugend, mein natürlich heiterer Sinn waren ihr hülfreich, die arme kleine Blume hob ihr Haupt nach und nach wieder empor im Sonnenschein des Lebens. Im Hause waltete der heiterste Friede, wir lebten im Ganzen einsam, aber angenehm.

Nach einiger Zeit erhielten wir einen neuen Hausgenossen an Herrn Sternheim, einem Associé des Hauses Steffano. Er ward auf eine Weise angekündigt, welche mich vermuthen ließ, daß der Wunsch vorhanden sei, ihn noch mit andern Banden daran zu knüpfen. Endlich erschien er. Kaum wüßte ich ihn zu beschreiben: groß und schlank, eine offene Stirn, ein angenehmer Mund und schöne Augen, sobald Gefühl sie belebt; wenn ihn etwas lebhaft ergreift, oder man ihm gefällt, hat sein Ausdruck etwas Einnehmendes. Ich sehe ihn oft an, zu ergründen, was er denkt, denn er spricht außerordentlich wenig, wenngleich sehr gut. Während der ersten Tage sagte er fast nichts, er schien zuvor einen ruhigen, vollständigen Eindruck des Ganzen in sich aufnehmen zu wollen. Herr Steffano behandelte ihn mit väterlicher Güte, Sophie war völlig unbefangen, indessen ich ihn mir sehr aufmerksam betrachtete. Er war der erste mir bekannte Mann, welcher einige Tage mit zwei jungen Mädchen hinbrachte, ohne eine Spur von Gefallsucht zu zeigen. Die Ruhe dieser Persönlichkeit zeigte sich nicht verletzend, in der Zurückhaltung war kein Hochmuth sichtbar, man erkannte, daß dem Allen etwas Besseres, Gediegeneres zum Grunde lag. Seine Gegenwart war uns lieb, es lag nichts Störendes darin; Menschen, welche dem Anscheine nach mit sich einig sind, verbreiten Ruhe und Frieden um sich her.

Sophie, welche höchst offen gegen mich ist, bekam zuweilen Briefe, von deren Inhalt ich jedoch nie das Mindeste erfuhr. Nach dem Empfange derselben pflegte eine Art Verklärung sich über ihr ganzes Wesen zu verbreiten, sie war noch milder, lieblicher als gewöhnlich. Da endlich hieß es, der Neffe des Herrn Steffano werde bei uns eintreffen; den Anstalten nach, welche Sophie traf, hatte es das Ansehen, als ob man einen Fürsten erwarte. Wir liefen Treppe auf Treppe ab; Dieses war nicht gut oder angemessen, Dieses habe ihm nie gefallen, Jenes sei nicht zweckmäßig; aus dem Geräthe aller Fremdenzimmer wurde das Beste ausgewählt. Die schönsten Topfgewächse, prächtige Vasen voll Reseda und Monatsrosen, dem Letzten, was die Jahreszeit noch bot, schmückten sein Wohnzimmer. Vortreffliche Bücher wurden aufgestellt, und die zierlichste Dame hätte da wohnen mögen, wo doch am Ende Niemand residiren sollte, als ein eben von der Universität entlassener Student, mit allen den burschikosen Gewohnheiten, welche solchen lieben und vortrefflichen Leuten eigen zu sein pflegen. Glücklicherweise endete die Dun - kelheit unsere Veranstaltungen, ich wußte kaum mehr wo mir der Kopf stand; jedes Stück war wenigstens zehnmal umgesetzt. Daß hier mehr als ein Vetter erwartet werde, muthmaßte ich so ziemlich, aber nie hatte ich erfahren, daß man so fürchten kann, was unsere Liebe erweckt hat.

Spät am Abend traf R. ein; daß er es war, erriethest du längst. Sein erster Blick war für Sophie, sein erster Gruß für den Oheim. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es möglich sein mag, selbst in einem mit Menschen angefüllten Raum, gleich beim Eintreten in denselben auf die Augen zu treffen, welche man sucht. Das sind unerklärliche geistige Befähigungen, und freundlich scheint mir der Gedanke, daß es Gefühle giebt, welche Kräfte der Seele wecken, die uns unbewußt in uns schlummern.

Mich bewegte R.'s Anblick tief, ein geliebter Schatten zog an meinem innern Blick vorüber; die unerklärliche Erschütterung, die uns erfaßt, wenn wir, selbst vorbereitet, wiedersehen was uns einst lieb, vielleicht das Liebste war, das Alles ergriff mich mit unwiderstehlicher Gewalt. Nur für einen Augenblick, dann hob ich den Blick frei und ruhig empor. Sei es, daß er fürchtete, ich werde Sophien verrathen, wie sehr er sich bemüht habe, mir zu gefallen, sei es, daß bei dem Bewußtsein, mich in glücklicher Lage zu wissen, dieses übermüthige Herz die Erinnerung an eine erlittene Kränkung wieder aufnahm, sein Benehmen gegen mich war kalt und fremd. Gelassen ließ ich es geschehen, meine Eitelkeit begehrte seine Billigung nicht, nur mein Herz hatte sie einst gewünscht.

Ein leidenschaftliches, geheimnißvolles Verständniß zwischen ihm und Sophie entfaltete sich meinen Blicken. Den Grund des Geheimnisses in diesem Verhältnisse vermochte ich jedoch nicht abzusehen. Während der ersten Tage war R. Alles was man Liebenswürdiges sein kann; heiter, sanft, anerkennend und geistvoll; nach und nach, und so wie der Zauber der Neuheit sich etwas zu verlieren begann, trat seine Eigenthümlichkeit wieder mehr ans Licht. Seine geistvolle Lebendigkeit schuf jetzt für uns ein völlig neues Dasein, ein glücklicheres? das will ich nicht behaupten. Seine ewigen Launen, seine nie zu befriedigenden Wünsche, seine eigenthümliche Auffassungsgabe erhalten Alles um ihn her in Unruhe und Spannung. Jetzt bin ich daran gewöhnt, im Anfange erschütterte es mich immer, wenn Sophie, die nur in dem Gedanken an ihn lebt, mit dem Lächeln eines Engels fragte: Ist es dir so angenehm? gefällt es dir? und er dann mißlaunig entgegnete: Es ist ganz abscheulich, durchaus verkehrt! Bei einer solchen Veranlassung sagte ich einst: Es ist immer gut seine Freunde zu kennen, und so will ich Ihnen doch sagen, daß ich wünschte, Sie verliebten sich einmal so recht aus Herzensgründe und so recht hoffnungslos, und würden hinreichend geplagt, um ein klein wenig demüthiger zu werden. Er lächelte und erwiderte ruhig: Ich danke für den freundlichen Wunsch, bedaure aber, daß er nicht in Erfüllung gehen wird. Selbst wenn ich so liebte, wie Sie es begehren, würden weder Sie noch irgend Jemand es jemals gewahren. Ich erkenne die Leidenschaft an, aber zu ihrem Sklaven macht sie mich nicht.

Sternheim's Gegenwart berührte R. anfangs sichtlich sehr unangenehm, er nahte ihm stolz und übermüthig; Jener war weder kalt noch warm, sondern völlig gelassen. Nie sah ich zwei Menschen mit so verschiedenen, aber hervorleuchtenden Eigenschaften. Beide sind ihrer Muttersprache auf eine Weise mächtig, wie man dieses selten anzutreffen pflegt. R. spricht stets mit vollkommenem Bewußtsein seines Gegenstandes, der gleich dem Entwurf eines Gemäldes sich vor ihm darstellt, an welchem er mit Geschick und Gewandtheit die verschiedenartigsten Farben anbringt. Die ganze Reichhaltigkeit unserer Sprache sich zu Nutzen machend, fesselt er durch die lebendigste Darstellungsart, hin und wieder auch den weniger gewählten Ausdruck nicht verschmähend. Sternheim dagegen, dessen tiefe Bildung unverkennbar ist, hat eine einfache, angenehme Wortsetzung, welche ihm durchaus eigenthümlich ist und unwillkürlich den Gedanken einflößt, daß er die Rede für seine Zwecke brauche, aber nicht mißbrauche. Er ist jetzt mittheilender und, durch R. angeregt, zuweilen heiter und launig. Diesen haben wir in der letzten Zeit weniger gesehen; er ist überall wohl aufgenommen und huldigt verschiedenen hübschen Mädchen und Frauen auf eine Weise, welche Sophie tief zu schmerzen scheint. Zuweilen kehrt er, wie von Reue ergriffen, von Ueberdruß gesättigt, in unsern Kreis zurück, doch aber nur, um ihn bald wieder zu verlassen. Herr Steffano sieht dem Allen bekümmert zu, er scheint seinen Neffen nicht sehr zu lieben, wenigstens nicht hinreichend, um ihn sich zum Schwiegersohn zu wünschen. In solcher Beziehung würde Sternheim ihn ganz beglücken, den er liebt und dem er vollkommen vertraut. Er sagte mir vor einigen Tagen: Danken Sie Gott, mein liebes Kind, daß sie Braut sind, R. würde sonst nicht ruhen, bis er Ihnen gefiele, und dabei ist leider wenig Glück! Ich erröthete und schlug die Augen so eilfertig nieder, als ob die ganze Vergangenheit darin lesbar sei. Dieser Brief ist zu einem Buche angewachsen, und so schließe ich für heute, ganz ermüdet, aber dich in Gedanken aufs Zärtlichste begrüßend.

Emmy an Charlotte.

Seit ich dir zuletzt schrieb, ist Alles hier im Hause verändert. R. hat uns verlassen, nach seiner eigenen Aeußerung für ein paar Jahre, welche er auf Reisen hinbringen will. Die erste Erklärung seines Vorsatzes verbreitete so viel Kummer, Mißvergnügen und Erstaunen, daß ich die Tage, welche darauf folgten, für Vieles nicht noch einmal erleben möchte. Er selbst war kalt und ziemlich mißlaunig; gewiß, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Betheuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint.

Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophien bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Uebermuth über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studiren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Uebertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; o gewiß, die Sorgfalt und Langmuth der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophiens Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, daß sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche Anordnung verlor jegliches Gleichgewicht, und die Bücher fielen nach allen Seiten umher. R. kniete nieder, um sie aufzusammeln, und reichte mir eines nach dem andern dar; das letzte emporhaltend, erfaßte er meine ausgestreckte Hand und sagte bewegt zu mir aufblickend: In wenig Stunden bin ich Ihren Augen für lange Zeit entrückt, wer kann wissen, ob nicht für immer? Soll ich ohne die Ueberzeugung scheiden, daß noch eine Spur des Wohlwollens Ihr Herz belebt, welches mich früher beglückte? Durch seine Stellung, durch die meinige beängstigt, erwiderte ich, halb gedankenvoll: Aber warum müssen Sie reisen? Warum? O Emmy, fragen Sie die vom Sturm gejagten Wolken, warum sie vorüber eilen? Noch ist keine Ruhe in mir, noch bin ich ungeeignet für das Dasein, welches meiner warten würde. Verdammen Sie mich nicht, einst, einst, werde ich wiederkehren, und dann Er drückte seine Augen auf meine Hand, sprang rasch empor und eilte von dannen. Ich ging in mein Zimmer und weinte bitterlich.

Jetzt ist er fort. Wie öde war Alles in den ersten Tagen! Herr Steffano ist liebevoller denn je gegen Sophie, ich sehe ihr Alles an den Augen ab, und auch Sternheim ist um sie bemüht, die ihren Schmerz mit stiller Ergebung trägt. Er naht ihr ohne Geflissenheit mit zarter Achtung, mit der Teilnahme, welche fein empfindende Menschen nicht aussprechen, und die doch Demjenigen, welchem sie zu Theil wird so wohl verständlich ist. Ihr Verhältniß zu R. erscheint in der That wie ein offenes Geheimniß, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man werde der Verwandtschaft diesen Antheil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist dieses indessen doch kaum möglich.

Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, daß der halb bewußtlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald schreibe ich wieder.

R. an Sophie.

Endlich, theure Sophie, habe ich das vorläufige Ziel meiner Reise erreicht. Ich bin seit gestern in London und, von einer unzähligen, unabsehbaren Menschenmenge umgeben, umwogt, fühle ich mich dennoch einsam, einsamer vielleicht, als befände ich mich in der abgeschlossensten Wüste. Welch ein seltsames Gefühl, sich sagen zu müssen: du bist von Tausenden umgeben, und kein Auge sucht dich, kein Herz schlägt schneller, wenn es dich erblickt, kein Pulsschlag regt sich lebendiger bei Nennung deines Namens, du bist allein, ungekannt, ungeliebt! Und wenn man dann wieder sich sagen muß: Alles war dein in der Heimath, das liebste Auge suchte dich, das treueste Herz schlug für dich, aber das Alles konnte dir nicht genügen, und freiwillig gabst du es auf! Kann die Reue dich versöhnen, die solche Betrachtung hervorrufen muß? Ich sehe dich in Gedanken, deine Augen auf mich gerichtet, welche so oft bei solchen Fragen nachdenklich, wehmüthig auf mir ruhten. Wehmüthig blicke auch ich in Gedanken zu dir auf, ich verstehe deinen Schmerz, verstehe du nun auch mein Sehnen und meine Reue! Reue! es ist das trostloseste Wort, der trostloseste Begriff. Die Schuld ging ihm voran, und keine Vergebung kann sie tilgen; das einmal Geschehene taucht immer wieder aus dem Meere der Vergessenheit auf, und breitet seine düsteren Fittige über Welt und Leben.

Mein Entschluß, über Hamburg zu reisen, hat mich auf keine Weise gereut; darin lag wirklich kein Eigensinn, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob du ihn nicht dafür hieltest. Der Wunsch, einen Jugendfreund wieder zu sehen, zog mich dorthin. Diesem verdanke ich, zu meinem Heil oder zu meinem Unglück, der Himmel mag es wissen, die Ausbildung Dessen, was du bei mir oft wunderbare Gaben genannt hast. Was Poesie in mir ist, ward durch ihn geweckt, denn es schlief noch tief, als ich ihn zuerst erblickte; damals war ich jung, lebensfroh, lebensfrisch. Durch ihn ward ich Alles, was ich jetzt bin. Die Anlagen waren vorhanden, er lehrte mich ihren Werth, ihre Anwendung kennen, und ich war ein gelehriger Schüler. Ich fand ihn ganz so wieder, wie ich ihn verlassen hatte; wollte ich Ihn dir beschreiben, so würdest du mein eigenes Bildniß zu schauen glauben, und doch hat eine etwaige Nachahmung sich durchaus unbewußt gebildet. In uns müssen gleiche Geisteskräfte liegen, dieselbe Befähigung zu Gutem und Bösem, denn sonst wäre eine ähnliche Uebereinstimmung undenkbar. Er besitzt gleichwohl größere Festigkeit; giebt sich auch, gleich mir, allen Gefühlen hin, aber schüttelt die Schwingen und hebt sich stolz und frei, gleich einem Adler, über das Treiben der Welt empor, wenn ich, in düstere Schwermuth versenkt, mich widerwillig davon abwende. Sein Jugendmuth ist noch derselbe, er riß mich in einen Strudel von Zerstreuungen mit sich fort; hin und wieder tauchte auch der Jugendübermuth in mir wieder auf, aber die Rückerinnerung konnte nicht mehr beleben wie früher, und ich wendete mich mit Abneigung davon weg. Die ernstesten Gegenstände kamen zwischen uns zur Sprache; das ist der Zauber, worin er mich ewig gefangen hält. Diese tiefen Einblicke in Welt und Leben, diese Geistesanmuth, welche auch den ernstesten Dingen Reiz und Annehmlichkeit verleiht, jene feine Ironie, jenes scharfe Erkennen und Eindringen, und daneben die Güte, die überraschende Güte, welche Vieles ausgleicht und das durch seine Geistesblitze betäubte Herz, den umnebelten Verstand wieder auf ebene, richtige Bahn leitet. Auch dein Name kam zwischen uns zur Sprache. Wüßtest du, mit wie viel Widerstreben er über meine Lippen kam, du würdest mir gut dafür sein. Wer den Namen des theuersten Wesens leicht auszusprechen vermag wie einen andern, der hat nie geliebt. Es war mir, als sei es Entheiligung, ihn da zu hören, wo auch viel leichtsinnige Worte mein Ohr berührt hatten. Er tadelte meinen Entschluß und sagte kalt: Du willst nie etwas mit ganzer Seele; hattest du die Pläne, welche du jetzt ausführst, wie konntest, wie durftest du über dein Herz verfügen? Ich benutzte die Zeit meines Aufenthalts auch dazu, die reizenden Elbgegenden kennen zu lernen. Eines Morgens war ich sehr früh nach Ottensen gefahren, dort verließ ich den Wagen und ging weiter, Alles ungebundener, ungestörter zu genießen. Das Leben, welches ich jetzt regte, war mehr dasjenige des Getriebes und Gewerbes. Der weiche Duft des Morgens, der leichte Wassernebel breitete noch seinen magischen Flor über die Ferne, und der schöne Strom floß, die Fahrzeuge aller Welttheile tragend, ruhig spielend dahin. An den Zweigen hing noch der frische Thau, aus Allem athmete noch jugendliches Leben; die schönsten Frühlingsblüten waren namentlich an den Gesträuchen in der anmuthigsten Fülle vorhanden; die ersten Sonnenstrahlen beschienen die weißen Kieswege der vortrefflich gehaltenen Gärten, und tief aufathmend freute ich mich des Balsamhauches der Lüste. Halb unbewußt, sinnend, träumend, aber innerlich beglückt, ging ich weiter; ein Landhäuschen, denn ein Haus kann man es in der That kaum nennen, rings von einem Balcon umgeben, fesselte meine Betrachtung. Die lieblichste Aussicht bot sich von dort aus dem Blicke; das niedliche Häuschen steht auf der Höhe, die Elbe fließt hart am Fuße derselben vorüber. Ich gedachte deiner und des süßen Glückes, dort mit dir zu wohnen, wo, dem Anschein nach, für zwei Glückliche kaum Raum war. Hier beschränkten sich meine Wünsche, welche du so oft ungenügsam, unbegrenzt genannt hast. Ich dachte daran, wie bezaubernd es sein müßte, mit dir hinauszusehen in der morgendlichen Frische auf dieses Eden umher, sich beim ersten Sonnenstrahl in den silbernen Fluten zu spiegeln, mit den Blicken umher zu schweifen in die lieblichen Fernen; den schwellenden Segeln zu folgen, welche aus fremden Ländern kommen, zu fernen Himmelsstrichen eilen. Indem ich noch so sann, öffnete sich die Thür, ein junger Mann von angenehmem Aeußern trat hervor, gefolgt von der reizendsten Frau, welche sich denken läßt. So war mein Traum verwirklicht, wenn gleich nicht für mich; die Liebe hatte dort höchst wahrscheinlich ihren Wohnsitz aufgeschlagen, und ich wünschte derselben im Stillen Heil und Dauer.

Endlich kam die Stunde des Einschiffens; als ich den Boden des Fahrzeuges betrat, da war es mir, als sei erst jetzt die Trennung von dir unwiderruflich ausgesprochen. Hast du im Hauche der Luft meine Grüße nicht gefühlt? Sagte nicht eine leise Ahnung dir: Jetzt, eben jetzt, verläßt sein Fuß den deutschen Boden, aber sein Herz bleibt zurück; seine rastlose Unruhe treibt ihn vorwärts; einst wird er wiederkehren, beruhigt, aufgeklärter, veredelter, und Alles gut machen! Flüsterte kein Hauch, kein Bote der Luft, kein Engel es dir zu? O meine Sophie, so höre es jetzt von mir, und glaube daran.

Am Nachmittage stieg am fernen Horizont ein Gewitter auf, leuchtende Blitze durchkreuzten die Wolken; das dumpfe Rollen des Donners war aus der Ferne vernehmbar, die Wellen des Flusses stiegen wie empört und murmelnd in die Höhe. Mich entzückte der Anblick; einzelne Lichtstreifen hoben in schräger Richtung das Grün der Ufer hervor, in wundervoller Beleuchtung. Unzählige Fischerkähne strebten mit ihren aufgespannten Segeln, leichten Wasservögeln gleich, in ängstlicher Hast die hannöversche Küste zu gewinnen. Zahlreiche Möven, diese Vögel des Ungewitters, hoben sich kreischend, flügelschlagend empor, und verloren sich gegen die dunkeln Wolken gleich Silberpunkten in unabsehbare Ferne. Mit einbrechender Dämmerung erreichten wir das Meer. Alles war in die Kajüten hinabgegangen, ich blieb allein auf dem Verdecke in beglückender, erwünschter Einsamkeit. Das Fahrzeug bewegte sich stärker, aber gleichmäßig, von den majestätischen Wellen des Meeres getragen. Die Luft war unendlich mild, sanft schlug der Regen mir ins Gesicht, strich der Nachtwind mir das Haar von der Stirne. In mir war tiefe Wehmuth, undenkbares, unbestimmtes Sehnen. In seltsamen Geistesträumen gedachte ich meiner Jugend, selbst meiner Kindheit. Den Kopf an den Mast gelehnt, verharrte ich lange in derselben Stellung, und drangen die Thränen aus meinem Auge. Erinnere dich der Worte des Dichters:

Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,
O lerne nie den andern kennen!

Ich war tief, tief erschüttert; kein Zaubermantel trägt mich in fremde Länder, und doch haben Dämonen Theil an dieser Fahrt. Was riß mich von dir, wenn nicht der innere Dämon? Wie fühlte ich Alles so lebendig, das Gute in mir, und dann wiederum die Widersprüche, die ungestillte, verblendete Leidenschaft.

Nie hätte ich das Alles dir mündlich so sagen können. Mein Stolz ist zu leicht erregt, mein Gefühl zu leicht verletzt, ich kann nur ganz offen sein, wo jede augenblickliche Entgegnung wegfällt. Lebe wohl, theure, geliebte Sophie, möge mein Bild dich überall umgeben. Sieh mich geistig an allen wohlbekannten Plätzen, im Lehnsessel dir gegenüber, denk oft, daß meine Augen, die Augen, welche du liebtest und vielleicht, reuevoll gestehe ich es, die du fürchtetest, daß sie auf dir ruhen. Denke es, wenn ein Anderer aber ich wage nichts mehr hinzuzufügen, ich will die Huld nicht verscherzen, die wieder ganz mir zugewendet ist, das fühle ich. So lebe denn wohl, sage deinem Vater, sage Allen von mir, was dich gut dünkt. Dir aber soll, darf nie ein Anderer sagen als ich, daß du ihm das Liebste auf Erden bist.

Emmy an Charlotte.

Seit ich dir zuletzt schrieb, was, zu meiner Beschämung gestehe ich, lange her ist, hat Sophie einen Brief von R. bekommen. Nachdem sie ihn gelesen, schloß sie mich in ihre Arme und sagte liebreich: Du hast längst errathen, daß ich durch ein festes Versprechen R. angehöre. Auf seinen Wunsch schweige ich darüber, er ach Emmy! was soll ich dir sagen? Du kennst ihn, man muß Alles wollen, was er will, wenn man ihn lieb hat. Die Furcht, mein Vater werde ein größeres Ansehen über ihn geltend machen, kann wohl die Hauptursache eines Verlangens gewesen sein, welches für mich quälend und drückend ist. Mir scheint, auf dieser Liebe könne unter solchen Verhältnissen kein Segen ruhen. Danke Gott, liebste Emmy, daß du nie ein Glück hast kennen lernen, wie meines ist. Kenntest du nur den kleinsten Theil der Qualen, die mein Herz zerrissen haben, du würdest denken, es sei zu theuer erkauft. Nur in der Ruhe liegt Glück. Wann habe ich diese empfunden? Wann bin ich zu dem Bewußtsein gelangt, dieses Herz ganz zu erfüllen, zu befriedigen, zu beglücken, welches alle Ansprüche macht und so wenig dafür aus seinem unerschöpflichen Reichthume spendet? Immer bin ich für ihn nur der Spiegel gewesen, in welchem er sein vergöttertes Bild betrachtete, um dadurch mit erneuter Zuversicht andern Erfolgen entgegen zu eilen. Seine reuevolle Rückkehr hat mich oft entschädigt, beglückt, aber Heil und Segen über die Liebe, welcher solche Erfahrungen ferne liegen! Wunderbar bin ich aus meinem Charakter und ganzen Sein herausgerissen. In mir ist so viel festes, ruhiges Wollen, und jetzt, seit ich ihm angehöre, erscheine ich als das Spielwerk des Zufalls. Oft tadle ich mich deßhalb, denn, o Emmy, sollten Menschen, in denen wahrer, echter Gehalt ist, sich durch eine Laune beglücken und betrüben, sich durch einen finstern Blick beherrschen und leiten lassen? Wie dem aber auch sein möge, mein Loos ist geworfen, mein Herz, mein Glück, mein Leben gehören ihm an.

Bald nach R.'s Abreise machte sich, wenigstens mir, die wohlthätige Ruhe bemerkbar, welche dadurch hergestellt war. In mancher Beziehung fehlte jene Erheiterung und Belebung, die er um sich her zu verbreiten versteht; das Gewöhnliche erschien wieder gewöhnlich, wie dies während seiner Anwesenheit nicht immer der Fall gewesen, denn er besitzt die Kunst, was ihm gefällt, im zauberischen Lichtglanze erscheinen zu lassen. Und nicht allein immer was ihm gefällt, sondern auch was er durch augenblickliche Laune begünstigt. In den ersten Tagen nach seiner Abreise befand ich mich einmal allein mit Sternheim, welcher lächelnd fragte, wie wir die Einsamkeit ertrügen? Einsamer ist es, entgegnete ich, aber dafür auch ruhiger. Ich habe, sagte er, Herrn R. mit großer Theilnahme beobachtet, er ist ein höchst merkwürdiger und jedenfalls sehr interessanter Mann. In ihm ist größere und geringere Tiefe, als man im Allgemeinen annehmen möchte. Er besitzt eine ernste Neigung, sich auszubilden, zum Verwundern bei einem Manne, für den der Wunsch zu gefallen Hauptzweck des Lebens zu sein scheint. Im ernsten Gespräche mit ihm vergißt man seine kleinen Schwächen und fühlt sich warm und innig zu ihm hingezogen. Einer großen Tiefe des Gefühls halte ich ihn unfähig, er besitzt zu viel Egoismus und einen Hang zur Veränderung, welcher mir nie in ähnlichem Grade vorgekommen ist. Uebrigens gehört er leider zu den Menschen, welche ihre schöne Befähigung mehr einer Idee als einem Gegenstände zuwenden. Er hat mir zuerst ganz klar vor Augen gelegt, was von Goethe über eine solche Sinnesrichtung geäußert worden. Ich kenne, war meine scherzende Erwiderung, fast nichts aus Ihrem Leben, aber einer Ihrer Freunde ist mir wohlbekannt, und der ist Goethe. Und ein Freund, entgegnete er, welchen ich ohne alle Eifersucht bei Ihnen einführen, dem ich Ihre ganze Zuneigung und Anerkennung gönnen möchte. Denken Sie denn, daß wir ihn nicht kennen? Das wohl, jedoch ihn lesen heißt nicht ihn kennen, bewundern heißt nicht immer eindringen. Bleibende, ewig anerkennende Neigung wird nicht im Fluge gewonnen, wird nicht durch Bezauberung, sondern durch Ueberzeugung begründet. Zu dieser gehört Ernst, Erwägung, Vergleichung, und ich bilde mir wenigstens ein, daß solche Betrachtungen Ihnen noch ziemlich ferne gestanden, und daß Sie mehr durch ihn sich haben erfreuen als belehren lassen. Wäre es nicht artig, Sie führten ihn wirklich bei uns ein und theilten uns aus seinen Werken mit, was Ihrer Einsicht und Ihrer Neigung gut bedünkt? Mit Freuden werde ich das thun, befehlen Sie über Ihren Diener, und er wird sich, so oft seine Zeit es gestattet, in so ehrenwerther Gesellschaft bei Ihnen einfinden.

Seit dem Tage lies't Sternheim uns jeden Abend vor, ein angenehmeres Zusammenleben läßt sich nicht denken. Es ist durchaus, als ob er zur Familie gehörte, kein Zwang, keine Bedenklichkeit irgend einer Art mischen sich in ein Verhältniß, welches dadurch, daß Sophie und ich verlobt sind, alles Auffallende verliert. Er kommt zu uns wie ein Bruder, der bei den Schwestern eines liebreichen Empfanges sicher ist. Zuweilen möchte ich wünschen, Sophie hätte R. nie gesehen; Sternheim würde ihren liebenswürdigen Charakter tausendmal besser würdigen. Oft wenn er das Buch hinlegt und hingerissen von der Schönheit des Gegenstandes sie auf jedes aufmerksam macht, fürchte ich, er werde zu tief in diese dunklen, blauen Augen sehen, die in unschuldiger Unbefangenheit auf ihn gerichtet sind. Auch erscheint seine Lage um so schwieriger, da sie anspruchslos, ohne Selbstbeachtung nicht ahnen mag, wie gerade ein so unschuldig zutrauliches Wesen den unwiderstehlichsten Reiz in sich schließt.

Von Victor habe ich seit einiger Zeit Briefe voll eines seltsamen, mystischen Inhalts, welche mich lebhaft beunruhigen, und um so mehr, da er meinen Fragen sichtlich durch unbestimmte Antworten ausweicht. Zu einer Anstellung ist vorläufig wenig Hoffnung; so schnell geht es damit in seinem Vaterlande nicht. Wenn du mir schon zum Oefteren vorgeworfen, ich besitze nicht genug Liebe für ihn, so muß ich wiederholen, daß nie ein ungerechterer Vorwurf mich betroffen hat. Meine Wahl ist er nicht, ich wurde die Seinige zunächst durch die Neigung die er mir zuwendete, wie durch den Wunsch meines Bruders. Jeder Mensch empfindet wohl einmal eine Neigung, in welcher alles Licht, Zauber, Verklärung scheint; aber Luft und Erde sind unzertrennlich mit einander verbunden, man erwacht aus so süßem Traume zu der Prosa des Daseins. Mein Verhältniß zu Victor ist ganz prosaisch, das heißt: ruhig, einen Tag wie den andern, ohne Uebertreibung, voll herzlicher Anerkennung. Ich thue Alles für ihn, oder vielmehr unterlasse Alles seinetwegen, versage mir die Vergnügungen der Gesellschaft, gehe auf keinen Ball und entsage überhaupt Allem, welches denkbarer Weise sein Mißfallen erregen könnte. Meine Ansicht über Victor ist rein menschlich, ich sehe sein Gutes und Schlimmes, und daher eben wird es ihm leicht werden, mich mehr zu beglücken, als ich es erwarte.

Die Nachrichten über deine Gesundheit betrüben mich sehr; wenn du mich recht trösten und erfreuen willst, so sage mir bald, daß es dir besser geht, und lasse mich in deinen Briefen mit dir fortleben, wie du in den meinen mit uns fortlebst.

Emmy an Charlotte.

Wenn etwas Besonderes mitzutheilen ist, so weißt du, bin ich gleich mit der Feder bereit. Wir haben, seit ich dir schrieb, den Besuch eines Jugendfreundes unseres R. gehabt, den Dieser vor allen liebt und schätzt. Er ließ sich an einem Abende melden, als eben Sternheim aus Goethe's Leben vorlas. Sophie erröthete bei Nennung des Namens und gerieth in sichtliche Befangenheit. Dieser Freund, ein Herr von Steinberg, ist dem Aeußern nach das Widerspiel von R.: groß, hochblond, mit seinen, einschmeichelnden Formen. Er begrüßte Sophien voll sichtlichen Antheils, mich höchst artig, wobei indessen ein fast unmerkliches Lächeln sich über sein Antlitz verbreitete; den Blick dann auf Sternheim gerichtet, nahte er sich Diesem höflich und betrachtete ihn mit unverkennbarer Aufmerksamkeit. Das noch aufgeschlagene Buch gab zu einer allgemeinen Unterhaltung den ersten Anlaß. Unser neuer Freund äußerte sich darüber mit eben so viel Feinheit als Kenntniß des Gegenstandes und gab dem Gespräch die geschick - teste Leitung. Mit R. kann man ihn allein in der Hinsicht vergleichen; ob er gescheidter ist, weiß ich nicht, jedenfalls darf man ihn wohl ausgezeichnet nennen. Eine angenehmere Unterhaltung läßt sich nicht denken, als diejenige von Männern, welche mit Kenntnissen feine Weltsitte verbinden. Herr von Steinberg entfaltet gleich einem Chamäleon alle Farben; Ernst, Heiterkeit und Spott weiß er auf gleich anziehende Weise geltend zu machen. Die raschesten Uebergänge stellen sich bei ihm wie in ganz natürlicher Folge dar. Herr Steffano lud ihn sehr höflich auf den folgenden Tag ein, und aus diesem Tage sind im allmählichen Zugeben achte geworden, welche er größtentheils hier im Hause verlebt hat. So artig und gescheidt mir das Wesen des Mannes auch vorkommt, so liegt indessen dennoch Etwas in seiner Art zu sein, welches mich, mir selber unerklärlich, einigermaßen von ihm zurückstößt. Gegen Sophie hatte er eine einnehmende Artigkeit, betrachtete sie oft nachdenklich, ich möchte sagen, wehmüthig, und begegnete ihr mit wahrer Hochachtung. Sternheim widmete er eine sehr ernste Beobachtung, welche Diesem sichtlich nicht entging und mit gehaltenem Benehmen erwidert wurde. Mir schenkte unser Gast eine freundliche Aufmerksamkeit, und ich hörte ihn einmal gegen Sternheim äußern: Sie ist ganz entzückend, eine wahre kleine Fee! Dessenungeachtet fühlte ich mich nicht mehr zu ihm hingezogen, vielleicht in der Voraussetzung, R. habe ihm mit all der Eitelkeit von mir gesprochen, die ihm eigen ist. Ein Etwas in seinem Wesen, in seinem Lächeln verrieth es mir und verdroß mich unbeschreiblich. Nicht, daß ich jemals verleugnen würde, was empfunden zu haben natürlich war, aber es ist schmerzlich, auf solche Weise daran erinnert werden. Herr von Steinberg befand sich auf dem Wege nach Wien, wo er einige Monate zu verweilen denkt, und schied mit dem Versprechen, bei der Rückkehr von dort uns wieder aufsuchen zu wollen.

Nachdem er Abschied genommen, begab ich mich mit Sophie in den Garten. Es war ein wunderschöner Abend, wir setzten uns an das Geländer, welches den Garten vom Strome trennt, und Sophie blickte lange nachdenkend in die silberhelle Flut hinab. Wie seltsam, sagte sie nach einer Weile, fühle ich mich immer durch diese weiche, laue, schmeichelnde Luft beruhigt. Es ist, als ob sie mit ihrem magischen Einflusse bis tief in meine Seele dränge und jeden unruhigen Gedanken daraus hinweg zauberte. Von Allem, was in mir vorgeht, wüßte ich keine Rechenschaft abzulegen, es ist Friede, Sehnen, gedankenloses Denken und Träumen. Bei dem klaren Erwachen aus solchem Sinnen ist R. mein erster Gedanke, weßhalb ich denn auch annehmen möchte, daß meine ganze Seele in solchen Augenblicken, mir selber unbewußt, bei ihm weile. O könnten solche Friedensgefühle auch Ruhe in sein Inneres hauchen! Zwischen uns findet, wie verschieden wir auch sein mögen, eine seltsame Gleichheit der Em - pfindung statt, auf ihn wirkt Vieles in der nämlichen Art ein, wie auf mich, aber er vertheidigt sich oft gegen einen Zauber, dessen Einwirkung abzuleugnen außer seiner Macht liegt. Unsere Lebensansichten sind freilich sehr verschieden; eine freundliche Wohnung in einer reizenden Gegend, der mäßige Bedarf des Lebens, mit ihm getheilt, würde mir als unendliches Glück erscheinen, während er darin einen kümmerlichen Nothbehelf zu erblicken geneigt ist. Aeußere Verhältnisse haben uns zu sehr verwöhnt: nur bei mäßiger Sorge, bei thätigem Erwerb besteht Zufriedenheit und genügsames Bescheiden; Ueberfluß erzeugt rastlose Wünsche und Geringachten der Gegenwart. Beneidenswerth nenne ich Den, der durch seinen Fleiß das Wohl, das Glück einer ganzen Familie begründet, auf den alle Augen der Seinen mit Liebe und Anerkennung gerichtet sind. Uns gab das Geschick zu viel, und eben deßhalb sind wir arm. Indem sie noch so sprach, kam Sternheim zu uns, sein Blick fiel mir auf, der nicht traurig, aber unruhig war. Nach einigen Bemerkungen über Luft und Gegend sagte er zu Sophien gewendet: Der eigentliche Zweck meines Kommens ist, Sie auf eine Nachricht vorzubereiten, welche Ihr Vater Ihnen gewiß demnächst mittheilen wird, und da ich annehmen darf, daß Sie dieselbe nicht ohne Betrübniß hören werden, möchte ich Herrn Steffano den ersten erschütternden Anblick derselben ersparen. So eben ist die Nachricht eingegangen, daß Herr R. durch den Sturz eines französischen Handelshauses den größten Theil seines Vermögens verloren hat. Sophie erbleichte und schwieg lange, endlich entgegnete sie: R. ist Ihnen hinlänglich bekannt geworden, damit Sie sich sagen können, nie hätte ein Verlust der Art Jemanden unglücklicher betreffen können. Die liebenswürdigen Eigenschaften, welche ihn auszeichnen, würden bei erzwungener Abhängigkeit zu Grunde gehen. Sternheim, ich wende mich an Sie mit dem Vertrauen einer Schwester, helfen Sie mir mit ihrem Einflusse, mit Ihrer guten Gesinnung. Sie wissen, daß ich durch das Vermächtniß meiner Tante im Stande sein werde, R.'s Verlust zu ersetzen, bereden Sie mit mir meinen Vater, daß er es gestatte, aber nie, nie darf R. es erfahren, der sich leider um seine Angelegenheiten nur zu wenig bekümmert. Wollen Sie mir helfen? Sternheim ward so blaß, daß selbst seine Lippen erbleichten, dann wieder goß helle Röthe sich über sein Antlitz, und er entgegnete freundlich: Ich verspreche es Ihnen, wenn Sie es verlangen, aber gerne möchte ich in dieser Angelegenheit Ihre Stelle vertreten. Ich bin sehr bemittelt, der Einzige meines Namens, und stehe ganz allein in der Welt, für wen sollte ich sparen? Für wen? für Ihre Frau. Er schüttelte den Kopf und sagte ernst: Ich werde schwerlich jemals heirathen. Nehmen Sie denn diese Summe als ein Darlehen von mir an, und im Falle meiner Verheirathung will ich als Ihr Gläubiger vor Ihnen erscheinen. Sophie stand lebhaft auf: Ich empfinde Ihre Großmuth, sagte sie bewegt, bin aber zu eigensüchtig, um nachzugeben. Nur aus meinen Händen soll R., wenn auch ihm unbewußt, das Gute empfangen; ich gönne Keinem die Freude, als nur mir allein. Sternheim verbeugte sich und verließ uns.

Als er fort war, sagte Sophie: Nur zu bald bestätigen sich die trüben Ahnungen, welche Sternheim's Erscheinen in mir weckte. Er kam mir vor wie der böse Genius meines Lebens, und all seine Freundlichkeit vermochte den Eindruck nicht zu heben; immer war mir in seiner Nähe bang und ängstlich zu Sinne. Warum aber, war meine Entgegnung, R. den ihn betroffenen Verlust verheimlichen? Er würde, er müßte zurückkehren, müßte sein Leben einem thätigen Berufe widmen, und du würdest glücklich sein. Sophie schüttelte verneinend den Kopf: Charaktere gleich dem seinigen müssen aus den Irrthümern und Verirrungen ihres Lebens aus eigener Ueberzeugung geläutert hervorgehen. Zwang mag heilsam sein für kleinliche Gemüther, groß gesinnte, wenn gleich nicht untadelhafte Wesen wird derselbe erbittern und in ihnen die Keime des Guten mehr und mehr ersticken. Menschen der Art, wie R., wollen Zeit haben, das zu werden, was sie ihren Anlagen nach sein können. Persönlich will ich, ihm gegenüber, dem Zwange nichts verdanken, da mein Bewußtsein mir sagt, daß ich Eigenschaften besitze, welche beglücken können. Nicht drückende Verhält - nisse, nur sein Herz muß ihn zu mir führen. Oft empfinde ich tiefe, herzliche Sehnsucht nach ihm, wenn aber diese getheilt würde, so wäre er hier an Ort und Stelle und mein Glück das seinige.

Herr Steffano mißbilligte, wie dieses vorauszusehen war, den Entschluß seiner Tochter sehr und bekämpfte ihn mit den kräftigsten Gründen. Sternheim trat, seinem Versprechen gemäß, vermittelnd und siegreich dagegen auf und bewog den Vater zum Nachgeben. O gewiß, er ist ein guter, vortrefflicher Mensch! Mit welchem liebenswürdigen Ausdrucke nahm er Sophiens Dank entgegen und erwiderte scherzend: Sie mögen ruhig ausreden, denn ich habe heute, Ihnen zu Willen, gegen meine Ueberzeugung gehandelt, und da man etwas Schlimmes selten halb thut, so darf auch jetzt in Ihrem Danke der unverdiente Lohn von mir in Anspruch genommen werden. Ob Sophie ihm gleichgültig ist? Die Frage drängte sich mir oft auf, und es fällt schwer, diese mit Entschiedenheit zu beantworten. Sternheim hat eine wunderbare Gewalt über sich, und ich halte es für nicht leicht, bis in die Tiefe seiner Seele zu dringen. So weit die Blicke aber reichen, suhlt er sich zufrieden und aufgeheitert.

Eben erhalte ich einen Brief von Victor, voll mir unverständlicher, seltsamer Andeutungen, die beängstigende Wirkung hervorgebracht haben. Ich werde eine bestimmte Erklärung begehren, denn nur für das Unerklärliche fehlt es mir an Muth. Sophie schreibt an R., und ich schließe jetzt, um an Victor zu schreiben. Dem Himmel sei Dank, daß es glücklichere Bräute giebt, als wir eben alle Beide sind! Der Eine mit dem besten Verstande verkehrt aus Uebermuth, aus Stolz, aus Indolenz; der Andere beruhige dich, ich sage kein Wort mehr, als nur das liebevollste dir.

R. an Sophie.

Halb beschämt bekenne ich den Empfang deiner Briefe und nehme, gewohnt von dir übertroffen zu werden, dankbar das Gute entgegen, ohne an eine genügende Nacheiferung zu denken. Die Zeit ist mir hier gleich einem Traume vergangen, aber wie ein Traum, dessen Eindrücke bewußt in meiner Seele ruhen. Was man sieht und hört, fast möchte ich sagen, was man denkt, ist großartig. Gewiß, daß es einen äußern Maßstab giebt, der seinen Einfluß auf die Reden und Handlungen, selbst auf die Denkkraft geltend macht! Die Verhältnisse bilden den Menschen, gleich wie sie ihn beherrschen. Mir sind hier, in dem nebelumhüllten London, Gedanken gekommen, die ich daheim auf den Rebenhügeln meines Vaterlandes nie gefaßt haben würde. Hier sind alle Betrachtungen mehr auf das reelle Interesse des Lebens und einer geistvollen Industrie gerichtet, dort lebt man der Gegenwart, die man nimmt und genießt, wie sie sich darbietet. An dauernde Bevortheilung durch zweckgemäße Einrichtungen und Umwälzungen denkt eben Niemand. Ein wahrhaft geistig befähigter Mensch steht in meinem Vaterlande vereinzelt, gleich der Palme, die in dem ihr nicht zusagenden Boden das Leben fristet, ohne frisch und kräftig die ganze Fülle der innern Natur zu entwickeln. Sie heißt noch Palme, ohne es zu sein, ihr kümmerliches Dasein giebt eine schwache Vorstellung dessen, was sie unter günstigen Verhältnissen hätte werden können. Alles ist hier großartig, selbst die Sorglosigkeit, mit welcher man sich um das Zusammenrotten von Tausenden nicht kümmert, indessen zwanzig exaltirte Köpfe hinreichen, ganz Deutschland in Bewegung zu bringen. Freilich hat hier auch die Emeute einen andern Charakter, sie ist ganz volkstümlich, roh, kräftig, zerstörend, aber ohne feinere und tiefer demoralisirende Zwecke.

Ueber die Dauer meines hiesigen Aufenthaltes ist noch nichts ausgemacht, es kann sein, daß ich die Hochlande und Irland bereise, möglich wäre aber auch ein ungesäumtes Aufbrechen nach Italien, wohin doch eigentlich ein innerer Sinn mich zu ziehen scheint. Durch Steinberg's Empfehlung, der früher lange in England reifte, bin ich mit verschiedenen angesehenen und vornehmen Familien bekannt geworden, namentlich in dem Hause Mr. Wards, eines vortrefflich gebildeten Mannes. Er hat zwei Töchter, welche, reizend und einnehmend, an dich, an Emmy erinnern. Auch hier ist die jüngere blond, auch sie hat den ganzen Frohsinn unbefangener Jugend, aber man merkt es ihr an, daß sie von Anbeginn der feinsten Bildung theilhaftig geworden ist. Emmy ist ohne Zweifel sehr niedlich, aber ihr mangelt der Blütenhauch, den nur das Leben in den auserwähltesten Kreisen zu verleihen scheint. Immer, selbst in ihrem Muthwillen weiblich, flößt sie gleichwohl die Scheu nicht ein, welche man da empfindet, wo ein gewisses vornehmes Zurückziehen sich eigentlich mehr ahnen als bemerken läßt. Vielleicht würde es dir gelingen, solchen Mangel ihr bemerkbar zu machen. Vieles in der Art läßt sich erwerben. Die anmuthige ältere Schwester erinnert mehr an dich, theure Sophie; auch aus ihrem Benehmen leuchtet übrigens das Gepräge einer Bildung, wie solche leider nur die Cirkel gewähren, in welchen diese beiden Damen aufgewachsen sind. Sie hat die schönsten Augen, welche ich jemals sah, Augen wie man sie überhaupt nur in diesem bevorzugten Lande erblickt, und deren eigentlicher Ausdruck eben so wohl wie ihre Färbung sich schwer angeben ließe. Es liegt Alles darin, was zu rühren, zu beschäftigen und anzuziehen vermag. Diese angenehme Familie bewohnt einen Landsitz am Ufer der Themse, den man in jedem Lande der Welt beneidenswerth nennen würde. Die Wohnung verdient den Namen einer Villa, in dem erfreulichen Sinne, welchen wir Nordländer damit verbinden, und ein vortrefflich eingerichteter Park, der zu den Ufern des schönen Flusses führt, erfreut die Lustwandelnden durch die Ueberlegung, womit man bei dessen Anpflanzung zu Werke gegangen. Das Wachsthum, die Höhe und Ausbreitung jeglicher Baumart, ihr helleres oder dunkleres Grün, Alles scheint berücksichtigt worden zu sein; Alles gedeiht neben, mit einander in schönster Verbindung und Uebereinstimmung. Nahe am Hause bewundert man den herrlichsten Rasen, die prachtvollsten Blumen und Gesträuche in glücklichster Mischung und Auswahl. England ist in Wahrheit die Heimath der Schönheit und der Blüten. Dazu die Behaglichkeit der Wohnungen; überall gediegener, auf Bequemlichkeit berechneter Luxus und die größtmöglichste Reinlichkeit. In solcher Beziehung habe ich hier zuerst Befriedigung empfunden. Bei uns fällt jede Nachahmung der Art traurig und kleinlich aus, was um so beklagenswerther ist, da geistige Befähigungen sich nur vollkommen da auszubilden pflegen, wo alle äußeren Eindrücke harmonisch auf dieselben einzuwirken im Stande sind. Noth mag die Mutter der Erfindungen und der mehr materiellen Interessen des Lebens sein, aber nur im angenehmen Ueberflusse gedeiht das Schöne, das fein Geistige. Steinberg schreibt mir, daß er auf seiner Reise nach Oesterreich dich in Frankfurt aufzusuchen gedenke. Nimm ihn freundlich auf, ich wünsche sehr, daß du ihm gefallen mögest, dein Lob aus seinem Munde würde mich erfreuen. Er ist ein höchst angenehmer, durchaus geistreicher Mann, auf dessen Urtheil ich den größten Werth lege.

Lebewohl, theure, geliebte Sophie, und glaube es deinem Freunde, daß er an dich denkt, wie an den Engel seines Lebens.

Emmy an Charlotte.

Monate sind vergangen, seit ich dir schrieb, ich ließ sie ruhig dahin eilen, wohl fühlend, daß ich der Fassung bedürfe, dir alles mittheilen zu können, was ich erlebt, wie es sich begeben und mein Herz getroffen hat. Meine Bitten, meine Vorstellungen vermochten endlich Victor zu einer aufrichtigen Antwort. Die Art der Mittheilung, welche er mir zu machen hatte, erklärt die Scheu, mit welcher er sie verschob. Er schrieb mir, sichtlich gebeugt, gedemüthigt, daß Zeit und Entfernung, nebst der Ueberzeugung, daß ich ihn nie geliebt habe, wie er mich, mein Bild aus seiner Seele verdrängt hätten; daß er eine Andere liebe und volle Erwiderung seiner Neigung gefunden habe. Ich war bei Lesung dieses Bekenntnisses so vernichtet, so beschämt, als ob ich die Schuldige sei. Meine Achtung für seinen Charakter, für seine unwandelbare Rechtlichkeit, hatten ihm die Zusage meiner Hand erworben, und er, ein Freund jenes geliebten Verlornen, der mich ihm mit Ruhe, mit unendlichem Vertrauen übergeben hatte, er verläßt mich aus dem Grunde, daß eine Andere ihm mehr gefällt! Mein Entschluß war schnell gefaßt, ich antwortete ihm ohne Groll, mild wie eine Schwester, die den Fehl des geliebten Bruders nicht übersieht, aber ihn zu verdammen sich nicht berufen fühlt. Er bekam sein Wort zurück. Ich habe ihn nie mit Leidenschaft geliebt, würde aber eine gute, treue Frau geworden sein, und gewöhnt, mich als die Seine zu betrachten, hätte selbst das glänzendste Loos meine Seele nicht von ihm abwendig machen können, nachdem ich freiwillig, durch meine Worte an ihn gebunden war. O gewiß, bei gutgesinnten Frauen ist das Band der Ehen feiner, unzerreißbarer, als bei Männern! Welche Leere empfand ich! wem gehörte ich jetzt an in der Welt? Auch mein Verhältniß hier im Hause erschien mir völlig verändert; so flüchtet der einsame Wanderer vor Sturm und Unwetter unter die schirmenden Zweige eines herrlichen Baumes, dankbar erkennt er den ihm verliehenen Schutz, aber sein Auge strebt vorwärts nach der Heimath, nach dem eigenen Herde und Dache. Liebevoll ward ich getröstet, aufgerichtet, so weit es möglich war. Herr Steffano faßte nach der traurigen Mittheilung meine beiden Hände und sagte herzlich: So seien Sie jetzt wirklich meine Tochter, und daß ich Sie von heute an als solche betrachte, davon werden Sie sich überzeugen, wenn ich nicht mehr bin. Weinend sank ich mit dem Gesicht auf seine Hand, drückte meine Lippen auf dieselbe und benetzte sie mit heißen Thränen. Fremde bezeigten mir Zuneigung und Mitleid, während ich mich von dem Herzen verlassen sah, welches freiwillig, mit Wort und Schwur sich mir geweiht hatte.

Während ich mich den trübsten und nachdenklichsten Vorstellungen hingab, langte ein Brief R.'s an, jedoch verspätet, denn er meldete darin Herrn von Steinberg's Ankunft, welcher uns bereits seit Wochen verlassen hatte. Um Sophiens Lippen bildete sich ein schmerzliches Lächeln, als sie den Brief gelesen, aber es gelang ihr, mit Heiterkeit gegen mich zu äußern: In R.'s Brief ist eine kleine Lehre für dich enthalten, lies selber und benutze sie, wie du willst. Zum Erstenmal las ich einen seiner Briefe, es war der kälteste Bräutigamsbrief, den man sich denken kann. Gewohnt mein Mentor zu sein, giebt er eine so gütige Fürsorge auch in der Ferne nicht auf und äußert ziemlich rücksichtslos, daß es mir an eigentlicher idealer Bildung fehle. Kaum weiß ich, ob er Recht hat, ich weiß nur, daß ich für das Leben in einem edlen, bürgerlichen Kreise gebildet bin, und darüber hinaus reichen meine Ansprüche nicht. Nach Lesung des Briefes sagte ich gelassen: R. zeigt wie gewöhnlich in Betreff meiner einige Ueberhebung, hätte er indessen gegen dich nur mehr Zärtlichkeit geäußert, so würde jener Umstand sich leichter verwinden lassen. Sie erröthete: Du beurtheilst ihn wie die Menge, süße Emmy, und das eben hätte ich dir nicht zugetraut; er schreibt mir in jeder Stimmung, und so werden mir alle Eindrücke seines augenblicklichen Sinnes. Worin bestände die Bevorzug - ung eines solchen Verhältnisses, wenn nicht eben in völlig ungezwungener Mittheilung? Tröstliches wußte ich nicht zu erwidern und schwieg daher, scheinbar überzeugt.

Unser Leben wurde in allen äußern Verhältnissen ruhig fortgesetzt, wie bisher. Sternheim machte die Erheiterung und Belebung desselben aus, durch seine Vorlesungen und geistvolle Unterhaltung. Nach einiger Zeit kam es mir indessen vor, als trete darin etwas Gezwungenes ein, indem er häufig erst später anlangte, und mitunter ganz ausblieb. Als ich in solcher Veranlassung eine Beschwerde gegen Sophie laut werden ließ, bemerkte diese: Es ist eine seltsame Eigenheit der menschlichen Natur, die Annehmlichkeit des Lebens Andern verdanken zu wollen. Jeder ist befähigt genug, durch sich erlangen zu können, um wessentwillen er rastlos nach außen umher strebt. Für bequemer mag es freilich gelten, wenn das Nachdenken Anderer uns auf dasjenige leitet, welches der eigene Forschungsgeist gewähren könnte. Ich meinerseits habe immer die Freude und Belehrung, welche Sternheim's Vorlesungen uns gewähren, als vorübergehendes Gutes betrachtet, mich dessen erfreut, was war und woran die Erinnerung unvergänglich sein wird. Manchmal kommt es mir vor, als ob eine Neigung ihn unserem Kreise entfremde, und wie könnten wir uns anders als darüber freuen, sofern nur das Verhältniß ein glückliches zu nennen! Diese letzte Ansicht theilte ich, nur mit dem Glauben, daß Diejenige, welche so unbefangen darüber redete, Gegenstand derselben sein möchte. Sternheim's Benehmen blieb bei alledem gleich ansprechend, er entschuldigte sein Ausbleiben freundlich, so oft dieses Statt hatte, und nur sein umwölkter Blick, ein augenblickliches Zucken der Lippen, so oft die Rede auf R. kam, verriethen seine Gefühle. Eines Abends, als er uns einzelne Gedichte von Claudius vorgelesen, stand Sophie auf, ein Buch zu holen, über welches sie einige Aufklärung wünschte. Sternheim versank während ihrer Abwesenheit in tiefes Nachsinnen und blickte, den Kopf in die Hand gelehnt, düster vor sich hin. Sophie kehrte zurück, stand, ihn betrachtend, einen Augenblick still, nahte sich dann und sagte, eine Hand auf seinen Arm legend, mit großer Herzlichkeit: Was fehlt Ihnen, Sternheim? Sagen Sie es mir, ich bitte Sie. Ich sah auf, Sternheim zuckte zusammen, aber in demselben Augenblick stieß ich einen durchdringenden Schrei aus im Spiegel gegenüber erschien mir R.'s Bild. Heftig erschrocken folgte Sophie der Richtung meiner Blicke, sie fuhr mit der Hand nach dem Herzen und blieb wie versteinert stehen. Sternheim blickte verwundert umher, aber die Erscheinung war verschwunden. Sehr verstört nahm er sein Buch und empfahl sich schweigend; was er denken mochte, mag der Himmel wissen. Kaum hatte er uns verlassen, so stürzte Sophie auf mich zu, ergriff meine Hände und sagte leidenschaftlich:

O liebste, beste Emmy, was wird jetzt aus mir werden? Erschrocken sah ich sie an: Also du gewahrtest die Gestalt ebenfalls? Thörichtes Kind, es war R., wie kannst du daran zweifeln? Aber ach, wie hätte er zu unglückseligerer Stunde kommen können! Was wird er denken, was sagen? Nie, nie sollte man der Eingebung auch des untadelhaftesten Gefühls folgen, wenn der Schein zweifelhaft ist. In Gegenwart von Tausenden könnte ich, freigesprochen vom eignen Bewußtsein, meine Hand auf Sternheim's Arm legen und fragen: Was fehlt Ihnen? Aber was ich Angesichts der ganzen Welt könnte, nie würde ich es in R.'s Gegenwart gewagt haben! Theure Emmy, sieh, ob Licht in R.'s Zimmer ist, mir fehlt die Kraft, selber hinzugehen. Ich eilte aus den Vorsaal, von wo aus man diese Fenster übersieht, und brachte ihr die bestätigende Nachricht. Sie zitterte vor innerer Erregung und sagte sehr bewegt: Meine einzige Furcht ist, daß er abreist, ohne mich zu sehen; o Emmy, wenn du mich lieb hast, so schaffe Hülfe, versprich, versprich mir, daß ich ihn zuvor sehen werde. Ihr rührendes Vertrauen bewegte mich tief: Ich verspreche es dir, ich will zu ihm gehn. Sie sah mich groß an: Das willst du? Ach, der Himmel, segne dich dafür, du liebster Engel! Zu keinem Besinnen mir Zeit lassend, trat ich rasch den Weg an; mit bebender Hand klopfte ich an die Thür seines Zimmers. Ein ziemlich rauhes Herein! gestattete mir den Eingang. Er saß am Tisch, einen Brief in der Hand; mich erblickend, fuhr er bestürzt empor. Ein unangenehmer Ausdruck flog über seine Züge, dann aber, wie sich besinnend, äußerte er sehr höflich, aber mit Ironie: Welchem Zufalle verdanke ich ein so ganz unerwartetes, beneidenswerthes Glück? Meine Befangenheit bekämpfend, so weit es möglich war, sagte ich nicht das Geistreichste, aber das Erste, was mir einfiel: Sind Sie es wirklich? Er lächelte schelmisch und entgegnete: Ich darf vielleicht annehmen, daß Sie das nicht bezweifeln. Sein Lächeln gab mir Muth: Nun, sagte ich scherzend, dann werden Sie auch Sophiens Bitte Gehör geben und sich sogleich zu ihr begeben, da sie eben allein ist. Ein Zug der finstersten Mißlaune bereitete mich auf seine Antwort vor. Ich bedaure, daß ich heute Abend dieser gütigen Einladung nicht folgen kann, ich bin zu ermüdet. Zu ermüdet, Sophien zu sehn? Liegt darin etwas so Unerhörtes? Sie kennen mich so gut, R., sagte ich nach einer Pause, Sie wissen, daß mir Verstellung unmöglich ist; warum wollen wir in diesem Augenblick uns täuschen, der für Sie, der für mich peinlich ist? Sie fühlen sehr wohl, was mich herführt, so geben Sie mir eine gute Antwort; versprechen Sie mir, daß Sie kommen, oder wenigstens nicht abreisen wollen, ohne Sophien gesehn zu haben! Es ist Ihnen bekannt, entgegnete er, daß ich nie etwas zu versprechen pflege, wenn ich einigermaßen es zu vermeiden im Stande bin; geschähe dieses, so müßte es gehalten werden, und wer ist der nächsten Minute Meister? Fürchten Sie übrigens nicht, fügte er mit angenommener Besorgniß hinzu, sich hier zu erkälten? Es ist so eben erst Feuer im Kamin angefacht. Bei dieser kleinen Unverschämtheit stieg mir das Blut ins Gesicht, aber mich fassend, war meine sanfte Erwiderung: Ich bin auf zu guten Wegen, als daß Ihre Bemerkung mir wehe thun könnte. O, R., folgen Sie wenigstens bei dieser Angelegenheit der Stimme Ihres Herzens; ist denn so viel an Klugheit, an Eigenwillen gelegen, daß darüber Alles zu Grunde gehen muß? Es scheint überflüssig, daß ich es ausspreche, wie ganz schuldlos Sophie ist, aber wäre sie es auch nicht, dürften Sie so strenge richten? Gedenken Sie Ihrer eigenen Vergangenheit! Mir traten Thränen ins Auge: Ich kann nichts mehr sagen, handeln Sie, wie Sie dereinst hoffen, es verantworten zu können. Ueber mein Dasein sind manche Stürme gezogen, seit Ludwig nicht mehr ist, aber mein Auge kann frei zum Himmel emporblicken, wo ich ihn suche. Wohl Ihnen, wenn auch Sie das vermögen! Rücksichtlich Ihrer kann ich das allerdings, denn wenn Sie jemals des Rathes, der Hülfe bedürften, würden Sie bei mir beides und die Gesinnung des treusten Bruders finden. Ich habe die Güte Ihres Herzens nie in Zweifel gezogen, aber warum solche für mögliche Fälle geltend machen wollen, und nicht da sie zeigen, wo der Augenblick es erheischt? Welche Antwort darf ich Sophien bringen? Verzeihen Sie es meiner Offenheit, aber ich kann nur Fragen beantworten, welche Sophie an mich richtet. Ich ging zu dieser zurück, welche darauf ihm einige Zeilen schrieb. Sie überlas das Geschriebene, einzelne Thränen fielen auf das Papier, dann siegelte sie und schickte es ihm. Nach einer Weile folgte ein Billet zurück, welches nur die Worte enthielt: Ich komme morgen früh um zehn Uhr. Sophie blickte dankbar empor: Nun er kommt, sagte sie, kehrt Ruhe und Zufriedenheit zurück. Was auch geschehen mag, ich bin auf Alles gefaßt, nur ihn zu sehen war mein Verlangen. Ich habe seine Neigung mit innigerer Neigung erwidert, seine Launen mit unwandelbarer Sanftmuth ertragen, seinen Kaltsinn nie zurückgegeben, so mag denn geschehen, was da will, mein Herz spricht mich frei. Schmerzlich ist es, daß ich anscheinend der Vertheidigung bedarf; R. hat so oft aber mir gegenüber Nachsicht in Anspruch genommen, daß, falls er jetzt sich freundlich bezeigt, ihm von Herzen die kleine Genugthuung, welche darin für ihn liegen möchte, gegönnt sei.

Beim Frühstück, am folgenden Morgen, erschien R. nicht, Sternheim war ernster und nachdenkender als gewöhnlich, Sophie behauptete mit Anstrengung eine ruhige Fassung, und mir erschien zum Erstenmal die gute, alte Sitte eines Familien-Frühstücks überaus peinlich. Herr Steffano berührte die Ankunft seines Neffen sehr oberflächlich: Sahst du ihn schon? fragte er Sophien. Sie erröthete: Er will um zehn Uhr zu mir kommen. Also läßt er sich melden? Ich hätte kaum gedacht, daß so viel Förmlichkeit zwischen euch obwaltete. Sternheim stieß in dem Augenblick, wie ich vermuthe, absichtlich seine Tasse um und gab dadurch dem Gespräche eine andere Wendung. Herr Steffano, welchem jede Störung zuwider ist, nahm mit einiger Mißlaune ein Zeitungsblatt und las, wenigstens dem Anschein nach. Ich sagte in der innern Bekümmerniß meines Herzens Alles, was mir einfiel, um Sophien zu Hülfe zu kommen, und dankte dem Himmel, als das Frühstück beendet war.

Um zehn Uhr erschien R. Sophie hatte mich gebeten, im anstoßenden Cabinette zu bleiben, von wo aus ich vermittelst eines Spiegels Beide erblicken konnte, ohne gleichwohl gesehn zu werden. Als R. eintrat, eilte Sophie ihm einige Schritte entgegen, er kam langsam näher; vor ihr stehend, betrachtete sie ihn einen Augenblick mit einem unbeschreiblich liebevollen Ausdrucke, seine Augen, sein Haar, als um sich zu versichern, daß er es sei, dann streckte sie ihm die Hand entgegen, welche er kalt und zögernd nahm. Bedarf ich bei dir der Vertheidigung? Ist es möglich? waren ihre ersten Worte, sagt dein Herz dir nicht, was jedes Wort von meiner Seite unnöthig machen sollte? R. zog seine Hand langsam zurück: Ich hätte, entgegnete er, mir bei meiner Abreise sagen können, wie Alles kommen werde. Sternheim ist der Liebling deines Vaters, was ich nie war; er ist reich, ansässig, ich bin beides nicht; er war gegenwärtig, ich abwesend; daß er gefallen kann, muß ich voraussetzen; und so erscheint es allerdings natürlich, daß ich der Verlierende sein mußte. Und das ist dein Ernst? Und das kannst du denken? Der Augenschein hat mich überzeugt. So vertraulich behandelt man Niemanden, welchen man zu lieben unfähig sein würde. Denke nicht, fuhr er, den Kopf stolz in die Höhe werfend, fort, daß ich das ganze Verhältniß unrichtig beurtheile, daß es mir einfällt, Sternheim mir gleich stellen zu wollen. Nie wird ein Anderer dir sein können, was ich dir war; du hast mich mit, gegen deinen Willen geliebt. Eigenschaften, denen du nicht zu widerstehen vermochtest, erwarben mir deine Neigung. Ich weiß sehr wohl, daß ich dir noch jetzt Alles bin, daß Sternheim gegen mich in keinen Betracht kommt, aber ich weiß auch, daß Zeit und Jahre, der Wunsch deines Vaters und manche andere Rücksichten dich bewegen könnten, eine Verbindung mit ihm einzugehen. Dieser Glaube ist mir unumstößlich geworden. Sophie entgegnete mit bewegter Stimme, aber großer Haltung: Was du mir mit vielleicht zu großem Selbstgefühle sagst, ist durchaus wahr; gegen dich scheint Sternheim nur nichts, du könntest eben so gut hinzusetzen, gegen dich sei mir die ganze Welt leer und unbedeutend. Ob ich Sternheim hätte heirathen können, wenn du mir unbekannt gewesen, bleibt unausgemacht, denn ich habe nie darüber nachgedacht und kann nur versichern, daß mein Herz ihm ein gutes Loos vom Himmel erflehen möchte. Sieh nicht so finster aus; warum darf ich nicht äußern, was so ganz natürlich ist? Bedenkst du nie, wie ungerecht du immer gegen mich gewesen? Meine Thränen folgten deiner Abreise; mit Entzücken, mit Frohlocken würde ich deine unerwartete Rückkehr begrüßen, wenn deine Kälte, deine Härte es mir nicht zur Unmöglichkeit machten. Ich weiß, daß du im Innersten der Seele nicht an mir zweifelst, mein Herz sagt es mir, warum denn willst du dich, mich quälen, so nutz - und grundlos? Wann ließ ich deine Bitten unerhört, wann kam ich nicht dem Worte zuvor und vergab dem Blicke? R.'s Miene blieb finster: Wenn ich dir jemals zu verzeihen gehabt hätte, was du mir vergeben hast, so wären wir längst geschieden; in solcher Beziehung kann von keiner Gleichstellung die Rede sein. Meine Rückkehr ist das Werk einer mir zugekommenen, ernstlichen Warnung. Steinberg schrieb an mich, wie höchst wahrscheinlich ein bedeutender Nebenbuhler in Sternheim mir erwachse. Der Augenschein hat mich von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt, ich bin jetzt ganz mit mir einig. Ich kann die Fesseln nicht mehr tragen, die früher mein Stolz waren. Meine Frau muß in meinen eignen Augen über jeden Tadel, über jeden Argwohn erhaben sein. Der Zauber ist für immer dahin! Mit blutendem Herzen reiße ich mich von dir los, aber ich kann, ich kann nicht mehr dein sein, wir würden Beide grenzenlos unglücklich werden. Du wirst dich beruhigen, trösten und einst den Wunsch deines Vaters erfüllen. Hohe Nöthe ergoß sich über Sophiens Gesicht: So sei es, sagte sie fest, ich scheide von dir; die Zeit wird lehren, ob deine Vermuthung gegründet ist. Jetzt aber geh, aus Barmherzigkeit geh! R. richtete die düstern Augen mit einem unnennbaren Ausdruck auf sie, welche das Gesicht mit den Händen verhüllte, und wollte sich entfernen, da plötzlich trat ihm sein Oheim entgegen. Seine Tochter und R. fuhren betroffen zurück, und ich trat, ohne recht zu wissen, was ich vornahm, mit ins Zimmer. Herr Steffano sah ungewöhnlich ernst aus und sagte nach einer kleinen Pause: Was der ganzen Stadt kein Geheimniß mehr ist, darf auch ich am Ende nicht mehr als solches anerkennen, und so komme ich als Vater und Oheim, eine ernste, entscheidende Frage zu thun. Ich habe deine Abreise nicht gebilligt, deine Rückkehr muß mich überraschen. Kehrst du in der Absicht zurück, einen Wirkungskreis dir zu suchen, liebst du Sophien wahr und treu, so sei sie dein, mit meinem väterlichen Segen. Ist Jenes nicht der Fall, so werde ich eure dereinstige Verbindung nicht hindern, aber sie wird mich bekümmern und betrüben. Sophie hatte sich ihrem Vater genaht, welcher ihre Umarmung mit einer sanften, aber entschiedenen Bewegung ablehnte. R. bemerkte: Sie sahen mich bereit zu gehn, es war ein Abschied für immer. Wie sehr ich Sophien auch geliebt haben mag, mein Gefühl sagt mir, daß aus dieser Verbindung kein Glück erblühen würde. Ich habe dem Glücke mit dieser Ueberzeugung überhaupt entsagt. Gewiß wird Sophie Ihren Wünschen einst entsprechen, und ich dann kein Gegenstand der Abneigung mehr für Sie sein. So erlauben Sie mir, jetzt zu scheiden! Er näherte sich seinem Oheim, welcher mit einem unbeschreiblich mitleidigen Blicke Sophien die Arme entgegen breitete; tief ergriffen sank sie an seine Brust. R. faßte die herabhängende Hand Sophiens und drückte sie an sein Herz: Dank für alle, alle Liebe, sagte er mit erstickter Stimme, grüßte mich mit einer Bewegung des Kopfes und ging der Thür zu. Sophie fuhr wie aus einem Traume empor, mit ausgebreiteten Armen eilte sie ihm nach, als sie ihn erreicht hatte, sank sie wie erschöpft vor ihm hin, mit dem Kopf an seine Schulter: Nein, sagte sie in abgebrochenen Sätzen, so sollst du nicht scheiden, so unnatürlich nicht, für ein ganzes Leben. Ich halte dich nicht zurück, ich fühle, daß ich dich nicht beglücken kann, aber die Versicherung nimm beim Abschiede, daß ich Keinen geliebt habe, als dich, daß ich dir treu war, so treu Thränen erstickten ihre Stimme. Sie richtete das Haupt empor: Nun geh! der Himmel segne dich, o R. wenn du dieser Stunde gedenkst, so denke auch, daß ich dir von Herzen ver - gebe. Leb wohl, leb wohl, fügte sie hastig hinzu. R. stand regungslos, da sahen sie einander an und hielten gleich darauf sich, fest umschlungen. Endlich versuchte Sophie zu sprechen, verstummte aber wieder und deutete matt mit der Hand nach der Thür, als ob sie ihn beschwöre zu gehn. Da endlich brach dieses kalte, trotzige Herz: Nein, niemals will ich gehn, sagte er mit Innigkeit und ergriff die ausgestreckte Hand, wie ist so viel Liebe zu vergelten! Bergieb mir, um der Qualen willen, die ich erduldete. Meine Sophie! fügte er weich und herzlich hinzu. Herr Steffano näherte sich seiner Tochter: Entscheide frei über das Glück deines Lebens, geliebtes Kind; wie du auch wählst, mein Segen ist mit dir. Auf seinen Wink verließ ich mit ihm das Zimmer. Jetzt steht Sophiens Geschick zur Frage, waren seine Worte, liebste Emmy, bitte mit mir den Himmel, daß es ihr wohl gehen möge! R. hat ein sehr gutes Herz, vertrauen Sie darauf, entgegnete ich. Er hatte es, sagte er mit Bedeutung: Eitelkeit, Welt und Leben haben zerstörend darauf eingewirkt; die Trümmer des Guten werden einer Frau zu Theil, deren edles, reines Gemüth ein besseres Geschick verdient hätte. Aufwallung ist nicht Herzensgüte, augenblickliche Weichheit nicht milder Sinn. Wer würde heute an seiner Stelle nicht gerührt worden sein! Darin kann für mich keine Gewähr einer besseren Zukunft liegen. R. gehört zu den Menschen, welche sich Jegliches gestatten, weil sie, in unermeßlicher Selbstliebe befangen, sich einbilden, Alles wieder gut machen zu können. Immer wird es ihnen leicht, Verzeihung zu erlangen, und so achten sie die Thränen nicht, welche ihrem Unrechte flossen. Sternheim kam am Abend; nie sah ich in einem Gesichte so sehr die edelsten Empfindungen der Seele ausgesprochen. In den Augen lag ein Ausdruck, daß man hätte sagen mögen, es seien keine Augen von dieser Welt. Sein Glückwunsch war einfach und herzlich, und zu R.'s Ehre muß ich gestehn, daß dessen Benehmen die vollste Anerkennung aussprach. Er war in einer milden Stimmung, welche ihm immer außerordentlich wohl läßt. Sophie erschien ungezwungen freundlich; ein weniger edles Gemüth würde sich haben einschüchtern lassen, das Bewußtsein völliger Reinheit gab ihr eine durchaus würdige Haltung.

Es ist jetzt entschieden, daß R. in einigen Wochen sich in sein Vaterland begeben und dort eine Anstellung suchen wird. Sobald ihm eine solche zu Theil geworden, kehrt er zurück, um zu heirathen, da es auf den größeren oder geringeren Ertrag der Stelle dabei nicht ankommt.

Dieser Brief ist längere Zeit liegen geblieben, denn in dem Augenblick, wo ich ihn schließen wollte, erschien hier, sehr unerwartet, Herr von Steinberg. Er ward freudig empfangen und war selber in der besten Stimmung. Sind Sie mir nicht ein wenig gut dafür, sagte er heimlich, daß ich R, zurückgeführt habe? Wenn darin ein überdachter Plan lag, so mußte er doch sehr gewagt erscheinen, war meine Antwort. Wie wollen Sie denn, daß ich ihn von seinem nutzlosen Umherstreifen abwendig machen sollte? Eifersucht war der einzig zündbare Funke. Zudem, zwei Liebende trennen sich nicht so leicht. Bei R. sind wir an Sturm und Unwetter ziemlich gewöhnt; daß Sonnenschein nachfolgt, ist ganz in der Regel. Einige Tage vergingen in seiner Gesellschaft höchst angenehm. R. war ganz Leben und Liebenswürdigkeit. Zuerst sah ich ihn jetzt alle Vorzüge seines seltenen und seltsamen Geistes entwickeln, es war, als ob die Anlagen, welche in der Tiefe seiner Seele ruhen, durch magnetischen Einfluß hervor gerufen würden. Wie bewunderungswürdig doch, daß solche Einwirkung möglich ist! daß es einen Zauber giebt, welcher eine Herrlichkeit des Gedankens, eine Zartheit und Tiefe der Empfindung entfaltet, von deren Dasein man in solchem Grade nie eine Ahnung hatte. Herr v. Steinberg schien sich seiner Gewalt vollkommen bewußt zu sein und nicht ohne Stolz auf einen Freund hinzublicken, an welchen er auf manche Weise erinnert. Er ist fester, ironischer als R., gefallsam, aber nicht gefallsüchtig, nicht sehr weich, aber auch nicht hart, sehr klug, zu klug, um überhebend zu sein. Jetzt haben beide Herren uns verlassen, und wir leben wieder unser einfaches, ruhiges Stillleben; einsamer noch, da auch Sternheim fort ist. Er unternimmt eine Reise durchs südliche Frankreich, angeblich seiner Gesundheit wegen. Wir waren Beide gerührt bei seinem Abschiede, er sehr gefaßt, aber immer wird der Ausdruck mir gegenwärtig bleiben, womit er scheidend sagte: Gedenken Sie zuweilen eines treuen Freundes!

Dieser lange, ausführliche Brief wird mir hoffentlich Vergebung für mein Stillschweigen erwerben. Vergilt es nicht und sage mir bald, daß du wohl, heiter, mit mir zufrieden bist. Mir scheint, ich bin, seitdem Victor geschrieben, um zehn Jahre älter, ernster, bedachtsamer geworden. Ob ich dabei gewonnen? Wer weiß es? Es verdrießt mich immer, wenn ich Jemanden nachsagen höre: er müsse bedächtiger, überlegter zu Werke gehn; och! ließe man nur Jeden gewähren, das Leid des Lebens wird die Erziehung schon übernehmen. Lebewohl, meine liebste Freundin!

Charlottens Tod, welche von Emmy tief und herzlich betrauert wurde, machte den brieflichen Mittheilungen derselben ein Ende. Ungefähr nach einem Jahr kehrte R. zurück, Sophien in seine Heimath abzuholen. Emmy blieb zu Herrn Steffano's Gesellschaft und Pflege und führte den Hausstand mit Umsicht und Geschick. Auch Sternheim kehrte von seinen Reisen zu seinem Berufe zurück. Er kam wieder, wie er gegangen, mit demselben ruhigen, gediegenen Wesen; nur in dem leicht umflorten Blick las man die Tiefe der Empfindung, welche sein gehaltenes Benehmen abzuleugnen schien. Alle Welt dachte, er werde sich mit Emmy verbinden. In seinem Bezeigen lag gleichwohl nichts, was diesen Glauben rechtfertigen konnte. Emmy's angenehmes Aeußere erweckte einen freundlichen Eindruck, er empfand wahre Freundschaft für sie, wer aber für Sophien tiefe, zärtliche Liebe empfunden, konnte diese schwerlich auf Emmy übertragen. Beide mußten für einnehmend und schätzenswerth gelten, aber in Sophien war Alles harmonische Uebereinstimmung, jeder Uebergang des Gefühls, jedes ernste oder milde Bezeigen trat in gehöriger Begründung hervor. Emmy kannte keine Laune, aber sie hing ab vom Eindruck des Augenblicks, und der schnelle Wechsel in den Empfindungen gab ihrem Wesen etwas Unruhiges, Abweichendes. Sie war fast immer anziehend, aber nicht immer befriedigend. So lebte der kleine Kreis eine Weile mit einander fort, und Herr Steffano hatte sich völlig daran gewöhnt, Emmy wie eine liebe, ihm herzlich ergebene Tochter zu betrachten, als eines Abends ein Reisewagen vor dem Hause stille hielt. Ein junger Mann stieg heraus und begab sich, gleich einem alten Bekannten, in Herrn Steffano's Zimmer. Am folgenden Morgen ward Emmy's Verlobung mit Herrn von Steinberg angezeigt. Die Braut lächelte wie das Glück, und der Bräutigam flüsterte ihr neckend zu: Ich hoffte Vieles für das Gelingen meiner Bewerbung von meiner Aehnlichkeit mit R.! Diese Ehe ward eine sehr glückliche, indem Steinberg Emmy's kindlichen Sinn, ihren lebhaften Verstand, selbst ihre Unbesonnenheit zu würdigen wußte und sich als den liebevollsten und treusten Freund bewährte. Sophiens Briefe enthielten immer nur Gutes, wie sie dem Anschein nach auch heiter und glücklich war, so oft sie ihren Vater besuchte. Dem aufmerksamen Beobachter mochte indessen in ihren tief blauen Augen ein Ausdruck geheimen Sehnens nicht unbemerkt bleiben. Nur in der Liebe für ihre Kinder vereinigte R.'s Sinn sich ganz mit dem ihrigen. Sternheim verließ nach Herrn Steffano's Tode Deutschland, seiner Aeußerung nach für immer in Italien sich ansiedelnd, von wo Emmy mitunter Briefe erhielt, aus welchen ruhiger Ernst, eine besonnene Würdigung des Lebens, der Kunst, der Natur um ihn her, aber keine Heiterkeit hervorblickte.

About this transcription

TextGemüth und Selbstsucht
Author Margarethe von Wolff
Extent88 images; 18162 tokens; 4481 types; 119799 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-16T13:52:17Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-16T13:52:17Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Gemüth und Selbstsucht. Band 16. Margarethe von WolffF. v. W.. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 1-86.

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Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

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