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Unreife Rabiatheit. Taktische Erwägungen zur Frauenstimmrechtsfrage.

Nachdruck verboten.

Jm englischen Parlament hat sich am 25. April folgendes zugetragen: Ein Vertreter der Arbeiterpartei hatte einen Antrag zur Gewährung des Frauen - stimmrechts eingebracht, der für die Sitzung dieses Tages eines Schwerinstages auf der Tagesordnung stand. Es muß vorausgeschickt werden, daß die Stimmung im englischen Unterhaus für das Frauenstimmrecht augenblicklich eine außerordentlich günstige ist; es war bekannt, daß eine große Majorität der Abgeordneten für den Antrag stimmen würde. Mr. Keir Hardie's Antrag lautete: Das Haus möge folgenden Beschluß fassen: es ist wünschenswert, daß das Geschlecht für die Ausübung des parlamentarischen Wahlrechts kein Hindernis mehr bildet. Der Antrag kam anderthalb Stunden vor Schluß der Sitzung zur Verhandlung. Er wurde von einer Reihe von Parlamentsmitgliedern bestritten, von anderen unterstützt. Mr. Gladstone gab im Namen der Regierung die Erklärung, daß sich die Regierung vorläufig der Stellungnahme in dieser Angelegenheit enthalten wolle und dem Haus der Ab - geordneten überlasse, darüber zu verhandeln und zu beschließen. Er persönlich würde für den Antrag stimmen. Es erhob sich dann ein Gegner des Antrages, der an - scheinend die Absicht hatte, durch Obstruktion die Abstimmung zu verhindern, d. h. die Zeit bis zum Schluß der Sitzung in Anspruch zu nehmen.

Auf der Ladies Gallery hatten sich nun die Führerinnen eines Verbandes eingefunden, der sich Social and Political League nennt und die Kunst33514 Unreife Rabiatheit. versteht, durch lauten Schlachtenlärm die Jllusion eines großen Heeres zu erwecken. Schon öfter in der letzten Zeit hatten diese Frauen durch ihre geräuschvolle Agitation für das Frauenstimmrecht öffentliche Versammlungen gestört und waren deshalb polizeilich bestraft worden. Sie hatten kürzlich einen Sturm auf den Premier - minister gemacht und mußten aus seinem Hause mit Gewalt entfernt werden. Diese Frauen begannen bei der Rede von Mr. Evans Demonstrationen von der Damen - tribüne aus zu inszenieren. Sie riefen: abstimmen! abstimmen! oder hört! hört! und je länger Mr. Evans sprach, um so lauter und trubulöser begleiteten sie seine Rede mit ihren Bemerkungen. Schließlich steckten sie durch das Gitter der Ladies Gallery eine Fahne mit der Jnschrift: Stimmt für Gerechtigkeit gegen die Frauen. Der Vorsitzende mußte sich entschließen, den Befehl zum Räumen der Gallerie zu geben. Es erschienen außer Beamten des Hauses Polizisten, die, da man einen solchen Zwischenfall anscheinend vorausgesehen hatte, sich bereits in der Nähe aufhielten, und entfernten die Damen gewaltsam aus den Logen. Daß der skandalöse Vorgang die Stimmung des Parlaments gegenüber dem Frauenstimmrecht wenigstens momentan empfindlich erschüttert hat, ist natürlich keine Frage; auf alle Fälle hatten die Frauen erreicht, was die Obstruktion von Mr. Evans vielleicht nicht erreicht hätte, es kam wegen des zeitraubenden Zwischenfalls nicht zur Abstimmung.

Die Arbeiterführer waren entrüstet über den Streich ihrer weiblichen Partei - genossen. Mr. John Burns sagte kräftig und unverblümt: Jch hätte ihr eins hinter die Ohren gegeben, wenn sie meine Schwester gewesen wäre. Die andern äußerten sich ähnlich. Die Demonstranten versammelten sich halb als triumphierende Helden, halb als verkannte Märtyrer auf der Straße vor Palace Yard und diskutierten den Fall, bis ein Schutzmann sie mit der väterlichen Aufforderung: Now, then, move on, please, you can't stand here, you know auseinander trieb.

Natürlich haben die Zeitungen auch in Deutschland einen Triumphgesang ange - stimmt: Da sieht man's ja mal, wohin es führt, wenn wir erst Frauen im politischen Leben haben. Hoffentlich nimmt man sich eine Lehre daraus usw. Man macht natür - lich aus den an dieser Demonstration beteiligten Frauen die Führerinnen der Frauen - wahlrechtsbewegung .

Dem gegenüber ist nun zu allererst zu betonen, daß man die englische Frauen - bewegung nicht für die Geschmacklosigkeit dieser ca. dreißig törichten Frauen verant - wortlich machen darf. Die Frauenstimmrechtsbewegung in England hat sich bisher in der allerruhigsten, besonnensten Weise vollzogen, ebenso die Beteiligung der Frauen am politischen Leben, die ja sowohl auf liberaler wie auf konservativer Seite schon lange sehr erheblich ist. Als während des letzten Wahlfeldzuges dieselben Frauen, die im Parlament demonstrierten, eine große Versammlung in Albert-Hall störten, hat der liberale Frauenbund Sir Henry Campbell-Bannermann offiziell mitgeteilt, daß er sich für das Vorgehen dieser Frauen nicht verantwortlich fühle und es im Jnteresse der Sache außerordentlich bedaure. Das ist auch diesmal geschehen. Von der Women's Liberal Federation ist den Parlamentsmitgliedern sofort folgende Mitteilung zugegangen: Der Vorstand der W. L. F. teilt Jhnen sein tiefes Bedauern mit über die Störung auf der Damengallerie des Unterhauses am Mittwoch Abend, die verhinderte, daß über Mr. Keir Hardie's Resolution zum Frauenstimmrecht abgestimmt wurde. Wir versichern Jhnen ferner, daß wir derartige Agitationsmethoden durchaus mißbilligen und in keiner Weise verantwortlich sind für die, die sie angenommen haben. Die gleiche515 Unreife Rabiatheit. Erklärung haben die Frauenstimmrechtsvereine abgegeben. Dazu kommt, daß am 19. Mai Campbell-Bannermann eine Deputation der Frauen empfangen wird, die tatsächlich die große Frauenstimmrechtsbewegung repräsentieren. Dieser Empfang, der von großer politischer Bedeutung ist, wird sicherlich den Vorfall ganz zurücktreten lassen. Und so ist vielleicht der Schaden, den die Sache davon trägt, in England selbst nicht so sehr groß. Die englischen Abgeordneten werden sich überzeugen, sofern sie noch nicht davon überzeugt sind daß diese Radaufreude wirklich nur auf einen ganz kleinen Herd beschränkt ist und man daraus keine Schlüsse auf die politische Reife und die Haltung der Majorität der englischen Frauen ziehen kann. Übrigens ist auch zu bemerken, daß, wenn auch in der Geschichte des Parlaments die Ladies 'Gallery noch niemals zwangs - weise geräumt werden mußte, das bei den für die Männer bestimmten Tribünen nicht selten geschehen ist, ohne daß man daraus Konsequenzen auf die politische Reife der Männer zog.

Jm ganzen wird also das Ausland aus dem Vorfall mehr Kapital schlagen. Und bei uns in Deutschland ist die Sache natürlich ein köstlicher Fund für viele. Die Zeitungen sind voll davon gewesen. Es hat sich einmal wieder gezeigt, daß man die Frauenbewegung nicht wirksamer in aller Mund bringen kann, als durch solche Er - eignisse, nach denen die Reporter dürsten. Und es ist ja eigentlich nichts leichter als derartige Scenen zu arrangieren, es gehört nur ein wenig Geschmacklosigkeit und manche nennen es Mut dazu. Fraglich ist es nur, wie weit ein solches Erzwingen der öffentlichen Aufmerksamkeit der Sache dienlich ist. Susan B. Anthony hat über diese Frage des Geschmacks in der Agitation einmal ein sehr weises Wort gesprochen. Sie hat eine Zeit gehabt, in der sie auch meinte, ihrer Sache zu nützen, wenn sie ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung möglichst entschieden zum Ausdruck brachte. Sie legte sich ein Bloomer-costume, d. h. Männerkleidung zu, und betrat damit die Plattform. Aber ich merkte bald , sagt sie, daß die Leute sich mehr für meinen Anzug als für meine Rede interessierten und meinten, in meinem Äußeren läge das Wesentliche des Neuen, was ich ihnen verkündete. Und ich sah, daß es gut ist, immer nur eine Sache auf einmal zu wollen, und alles zu vermeiden, was das Publikum von dieser einen Hauptsache ablenken könnte. Seitdem bemühte sie sich, alles Auffallende in Kleidung und Auftreten zu vermeiden.

Daß über die Art, wie für die Frauenbewegung Propaganda zu machen ist, auch bei uns die allerverschiedensten Ansichten herrschen, ist nur selbstverständlich. Es hängt ja diese Frage auch so mit der Persönlichkeit zusammen. Dem einen steht eine Art der öffentlichen Propaganda, die bei dem andern geschmacklos sein würde. Für das eine Land paßt eine Form der Agitation, die in einem anderen immer unpopulär und deshalb erfolglos bleiben wird. Jm ganzen ist man in Deutschland aristokratischer in der Wahl und der Beurteilung propagandistischer Mittel, und es ist die Frage, ob z. B. das von den amerikanischen und französischen Frauen über - nommene Aufkleben von Stimmrechtsmarken auf Briefe mehr Erfolg hat, als dem Postbeamten eine Freude zu bereiten.

Aber dem mag sein, wie ihm will, und man mag zugestehen, daß wir vielleicht in Deutschland etwas zu prüde und empfindlich gegenüber den Mitteln sind, die man braucht, um die Massen zu bearbeiten, schlimmer ist es, wenn die Rabiatheit nicht in den Mitteln, sondern in den Ansichten selbst zu Tage tritt.

33*516 Unreife Rabiatheit.

Eine solche Rabiatheit meint auch der Abgeordnete Müller-Meiningen, wenn er in einem an die Frauenbewegung gerichteten offenen Brief*)Offener Brief an die Herausgeberin (Frau Minna Cauer).Hochverehrte Frau! Jch danke Jhnen für die Übersendung der Nr 8 der Frauenbewegung . Jch schließe daraus, daß Sie meine Ansicht hören wollen. Offen und ehrlich, vielleicht etwas zu derb-bajuvarisch will ich sie Jhnen umgehend mitteilen. Den Artikel von Alice Dullo habe ich im Original nicht gelesen. Doch genügt mir der Auszug und der Artikel meines Freundes Ablaß! Also unser lieber alter Träger, der Frauenlob ist der Stein des Anstoßes. Selbstverständlich haben wir ihn nicht auf jedes Wort fest - legen können. Vielleicht hätte ich mich anders ausgedrückt. Aber in der Sache hat er sicherlich nichts Arges pecciert und jeder Grund zur sittlichen Entrüstung fehlte. Jch bin gewiß der Letzte, der auf Dank im politischen Leben rechnet; aber ich muß doch sagen: der Rappen scheint den verehrten Damen der radikalen Richtung doch zu oft durchzugehen! Paßt ihnen irgend ein Wort eines einzelnen Ab - geordneten nicht, und hätte er sich sonst noch so verdient um die Frauensache gemacht dann regnet es Drohungen gegen die ganze Partei! Diese Art unreifer Rabiatheit muß der fortschrittlichen Frauen - bewegung den größten Schaden bringen. Wozu die unklare Erregung? Erst Lösung der Bildungsfrage! Das ist das starke Fundament! Dann Vereins - und Versammlungsfreiheit: Das sind die starken Wände! Schließlich das Frauenstimmrecht! Das war in Übereinstimmung mit den Anschauungen der bedeutendsten Frauenführerinnen stets mein Grundsatz: Danach habe ich gehandelt. Wenn ich wieder - holt für das Frauenstimmrecht stimmte, so geschah es, um die hier jetzt rein theoretische Zustimmung zu der Schlußforderung der Bewegung zu deklarieren. Gibt es denn wirklich eine ernst zu nehmende Anhängerin der Frauenbewegung, die bestritte, daß das erdrückende Gros der Frauen d. h. bei unseren jetzigen Bildungs - und Rechtsverhältnissen der Frau eine noch schlechtere Rolle als Wähler spielen würde, als ein nur zu großer Teil der männlichen Wählerschaft, die vor allem in den Händen der Geistlichkeit charakteristischerweise auch wieder meist auf dem Wege über die Frau! nur Wachs ist?Die Jntelligenz in der fortschrittlichen Frauenbewegung sollte mit solchen Ausbrüchen der Ge - reiztheit aufräumen! Es wird nur unnütze Verbitterung erzeugt. Aber welcher politischen Partei wollen sich denn die Frauen anschließen, ohne ganz einflußlos zu bleiben? Den Sozialdemokraten? ihre Pro - grammtreue wird köstlich beleuchtet durch einen Artikel in derselben Nummer der Frauenbewegung. Und was in Schweden, in Holland und anderen Ländern von den wahren Anschauungen der Sozialdemokraten über diese Frauenrechte gilt, gilt noch weit mehr in Deutschland. Jch wollte, (siehe Nr 8 der Frauenbewegung) die Regierung würde einmal mit dem Frauenstimmrecht Ernst machen: Schrecken würde die Genossen ergreifen! Oder zu den Klerikalen? Jn ihnen sah von jeher die fortschrittliche Frauenbewegung ihren größten Feind! Oder hat den Damen die berüchtigte Wahlrechts-Farce im Ständehaus in München so imponiert? Frauenstimmrecht, wo die Frau noch erzklerikal ist! Wenn auch unter dem wiehernden Gelächter der Mehrheit! Frauenbildung: Nur im Kloster zu haben. Gegen sonstige Frauenrechte hat das Zentrum erst vor kurzem und wiederholt in rückschrittlichster Form demonstriert. Also zu den Konservativen?Die mit Ausnahme des alten Herrn von Kardorff nur Spott und Hohn für die ganze Frauen - bewegung haben! Nach ihrer ganzen Kulturstellung kann die bürgerliche Frauenbewegung nur beim fortschrittlichen Liberalismus Schutz ihrer berechtigten Jnteressen finden. Oder Alice Dullo gründet erst ihre Partei! Mich schrecken die Drohungen nicht. Jch kämpfe nach wie vor für die kulturelle und soziale Hebung des weiblichen Geschlechts als des wichtigsten Faktors für die Zukunftsentwicklung Deutschlands. Jch sage mit einer Variation des Wortes von Susan Anthony Nur wenn die Frauen immer vernünftig denken und handeln, sich nicht stets von augenblicklichen Launen und Stimmungen in ihrer politischen Zuneigung oder Abneigung leiten lassen, wird ihre Sache Unterstützung finden und endlich siegen . Das ist kurz meine Meinung.Herzlich grüßend Jhr hochachtungsvollst ergebenerDr Müller-Meiningen. seine Partei gegen die Angriffe der radikalen Frauenbewegung verteidigt. Es handelt sich dabei um die Stellung des Frauenstimmrechts in dem Programm der Radikalen im Gegensatz zu517 Unreife Rabiatheit. der Auffassung dieser Forderung seitens der praktischen Politiker. Hier, bei dem linken Flügel der Frauenbewegung, ist es das Fundament im Aufbau der Frauenrechte, bei dem praktischen Politiker ist es die Krone . Die Frage hat auch innerhalb der Frauenbewegung selbst eine Rolle gespielt und verschiedentlich ist von Seiten der Radikalen an diesem Punkt der Gegensatz ihrer Anschauungen und der unseren demon - striert worden.

Nun ist es ja zweifellos sehr einfach nachzuweisen wie das in dem Artikel Krone oder Fundament in Nr 7 der Frauenbewegung geschehen ist daß das Stimmrecht das Fundament alles realen, staatlichen Einflusses ist; ja, darüber braucht eigentlich überhaupt gar nicht geredet zu werden. Es ist aber ein naiver Trugschluß zu sagen: weil uns alles, was wir jetzt mit viel größerer Mühe und viel geringerem Erfolg zu erreichen suchen, in den Schoß fallen würde, wenn wir das Stimmrecht hätten, so wollen wir alles andere erst einmal ruhig auf sich beruhen lassen und vor allen Dingen dafür sorgen, daß wir das Stimmrecht bekommen.

Das ist etwa der Standpunkt jener alten Frau, die, als der Pastor sie fragte: Na, Frau Müllern, wie steht's werden Jhre Kirschbäume gut tragen? antwortete Der liebe Gott wird's schon geben, Herr Pastor. Geblüht haben sie ja nicht. Denn wie sollen wir's denn machen, um das Stimmrecht zu bekommen? Jn dem erwähnten Artikel heißt es: Wir Frauen vergeuden unsere besten Kräfte in halbohnmächtigen Kämpfen um Mädchengymnasien, um einheitliches Vereinsrecht Wie viel schneller, sicherer und gesünder, wenn auch nicht ohne Kampf, würde sich der Aufbau der Frauenrechte vollenden, wenn wir die Gesetzgebung direkt beeinflussen dürften. Selbstverständlich. Aber wie dahin kommen? Jedenfalls doch nicht damit, daß wir die halbohnmächtigen Kämpfe um alle diese Reformen fallen lassen, um ganz ohnmächtige um das Stimmrecht zu unternehmen.

Denn daß sie, wenigstens in dem Sinn, in dem hier der Ausdruck halb ohn - mächtig gebraucht ist, ganz ohnmächtig sind, hat ja die Abstimmung über den sozial - demokratischen Antrag im Reichstag deutlich genug gezeigt. Was soll die Frauen - bewegung daraus lernen? Daß man die Forderungen, zu deren Unterstützung sich die bürgerlichen Parteien bereit erklären, zurückstellen soll, um eine Forderung noch aus - schließlicher auf das Programm zu setzen, die sie entschieden ablehnen? Jch meine das Gegenteil! Die Verhandlungen über den Antrag waren eine Stichprobe dafür, daß das Gewicht der Frauenwünsche noch sehr gering ist einfach nicht ausreicht, um außer der sozialdemokratischen Partei irgend eine Minorität für sich zu gewinnen. Wir müssen also versuchen, dies Gewicht zu stärken. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Sehr unpraktisch erscheint mir auf alle Fälle die in dem Artikel Krone oder Fundament vorgeschlagene Taktik, nämlich das Tischtuch zwischen den Frauen und den Parteien, die das Frauenstimmrecht jetzt nicht auf ihr Programm setzen wollen, zu zerschneiden. Diese Methode hätte nur dann einen Sinn, wenn der Ver - band für Frauenstimmrecht eine solche politische Macht wäre, daß er mit derartigen Maßregeln einen wirklichen Druck ausüben könnte. Die englischen politischen Frauen - verbände, die tatsächlich eine Macht sind, haben es bis heute noch nicht für opportun gehalten, das Frauenstimmrecht in vollem Umfang zu einer test question zu machen, d. h. nur solche Kandidaten zu unterstützen, die sich dazu bekennen. Bei unserer politischen Konstellation ist diese Besonnenheit erstes Gebot. Sonst kommt man in die prekäre Lage, Drohungen ausgestoßen zu haben, die man nicht ausführen 518 Unreife Rabiatheit. wird. Denn ich glaube nicht, daß die radikale Frauenbewegung oder präziser gesagt die einzelnen Mitglieder des Frauenstimmrechtsverbandes die in dem Artikel ausgesprochene Drohung ausführen und sich politisch auslöschen oder zur Sozialdemo - kratie halten werden.

Also nicht das ist die Aufgabe, so zu tun, als wenn wir schon eine Macht wären, sondern zu versuchen, eine Macht zu werden. Die direkte Agitation unter den Frauen, der Versuch, sie für die letzten Ziele der Bewegung zu gewinnen, ist ein Mittel dazu. Wie weit eine direkte Propaganda für das Frauenstimmrecht unter den Frauen selbst schon jetzt taktisch geboten ist, darüber kann nur der Erfolg dieser Propaganda entscheiden. Daß es, um der gesamten Frauenbewegung die Weite des Horizonts und den Schwung großer Richtlinien zu sichern, notwendig ist, die politische Befreiung der Frau als letztes Ziel der Bewegung aufzustellen, ist selbstverständlich. Der Allgemeine deutsche Frauenverein hat das in dem von ihm und als Ausdruck seiner Überzeugungen herausgegebenen Flugblatt Ziele und Aufgaben der Frauen - bewegung getan, und der Bund deutscher Frauenvereine, der sich schon in einer Resolution dahin ausgesprochen hat, wird es in seinem Programm vermutlich auch tun.

Zu dieser direkten Propaganda kommt aber wie gesagt die große und ungleich schwierigere Aufgabe, das Frauenstimmrecht nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den sozialen Zuständen vorzubereiten, es nicht nur, wie der Säemann im Gleichnis seinen Samen, wahllos auf guten und schlechten Acker zu streuen, sondern dafür zu sorgen, daß aus dem schlechten Acker besserer wird. Oder hält man die mystische Macht des Frauenstimmrechts für so groß, daß sie die Frau für die ex cathedra ihres neuen Staatsbürgertums ausgesprochenen Entschließungen unfehlbar macht?

Es wird also nichts anderes übrig bleiben, als die halb ohnmächtigen Kämpfe noch eine Weile weiter zu führen. Denn um das Gewicht unserer Macht so zu stärken, daß wir die letzten Ziele der Bewegung erreichen, brauchen wir Frauen, die auf der Grundlage einer ordentlichen Bildung durchdachte politische Überzeugungen besitzen, die in den politischen Kampf noch einiges andere mitbringen als Temperament, Leidenschaft und sittliche Entrüstung, die Qualitäten, auf die sich die radikalen Frauen so viel zu gute tun, und die der Abgeordnete Müller-Meiningen in dem Begriff unreife Rabiatheit zusammenfaßt.

Und damit komme ich noch auf eine andere Seite der Rabiatheit im Kampf für das Frauenstimmrecht. Das ist die naive Anpreisung des Frauenstimmrechts als des Allheilmittels für die Schäden der Welt. Jn der Frauenbewegung steht alle Augenblicke: Hätten wir das Stimmrecht, so hätte das Volksschulgesetz keine Aussicht auf Annahme, so gäbe es keinen Zolltarif, so wäre dies und jenes nicht. Als wenn alle Frauen mit dem Stimmrecht zu einer einzigen kompakten Masse von gleichen frei - heitlichen politischen Überzeugungen werden würden! Und die gleiche Unklarheit zeigt sich in der ganzen politischen Haltung des Verbandes für Frauenstimmrecht. Es wird immer wieder betont, daß der Verband Frauen aller Parteien umfasse; selbstverständlich, denn politische Farblosigkeit ist die Grundbedingung einer solchen Organisation. Nun tritt aber der Verband alle Augenblicke politisch in Aktion. Er wird zum Volksschul - gesetz Stellung nehmen und zwar nicht nur zu dem Punkt, der ihn als Frauen - stimmrechtsverein angeht, dem der Wählbarkeit von Frauen in die Schuldeputationen, sondern zu dem Gesamtentwurf. Was machen denn da die konservativen oder die 519Ein Dokument zur Stellung der Frau in altgermanischer Zeit.konfessionell interessierten Frauen, die ihm angehören? Sie sind doch dem Verband beigetreten, um das Frauenstimmrecht, aber nicht, um die Simultanschule zu erkämpfen. Und was für einen Eindruck muß es auf Politiker machen, wenn der Verband, der seine politische Parteilosigkeit immer wieder aufs schärfste betont, ebenso oft Kund - gebungen veranstaltet, die so parteipolitisch wie nur möglich sind. Es ist eine der wichtigsten Bedingungen für die Entwicklung der deutschen Frauenbewegung sowohl als für die Entwicklung des politischen Denkens in den deutschen Frauen, daß Partei - politik und Frauenbewegung aufs schärfste von einander geschieden werden. Die Frauen sollten, wo das Vereinsrecht es ihnen gestattet, als einzelne den politischen Parteien angehören und für die politischen Parteien arbeiten, die ihren Überzeugungen entsprechen. Wo sie sich zum Kampf um irgend welche Frauenrechte korporativ zu - sammenschließen, muß die Parteipolitik ausgeschieden werden.

Das konsequente Festhalten an diesen Standpunkt wird freilich die Frauen oft genug nötigen, ihr Temperament zu zügeln. Jm politischen Leben ist aber im letzten Grunde die Klarheit der Überzeugungen ein mächtigerer Faktor als das Pathos eines unklaren Enthusiasmus.

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About this transcription

Text„Unreife Rabiatheit“
Author Gertrud Bäumer
Extent7 images; 3138 tokens; 1249 types; 22363 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-07-07T09:44:53Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-07-07T09:44:53Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information „Unreife Rabiatheit“. Taktische Erwägungen zur Frauenstimmrechtsfrage. Gertrud Bäumer. 1. W. Moeser BuchhandlungBerlin1906. Die Frau 13 (9) pp. 513-519.

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Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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Editorial principles

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

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