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4Frauenwahlrecht
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Das Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit.

Als ein Recht der Persönlichkeit reklamieren wir Sozia - listinnen das Frauenwahlrecht, und deshalb kann für uns ledig - lich das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in Betracht kommen. Jedes beschränkte Frauenwahlrecht da - gegen, sei es gebunden an eine bestimmte Steuerleistung, aneinen bestimmten Bildungsgrad, oder sei es sonstwie von Be - dingungen abhängig, charakterisiert sich als ein Recht des Be - sitzes, das die Persönlichkeit erschlägt.

Nur wenn das Wahlrecht ein Recht der Persönlichkeit, wenn es allgemein und gleich ist, erweist es sich als eine Waffe, als ein Stück politischer Macht in der Hand einer jeden Frau, während es als beschränktes Wahlrecht eine Vermehrung und eine Befestigung der politischen Macht der Herrschenden schafft und damit einen Bruch des demokratischen Prinzips darstellt. Jndem das beschränkte Frauenwahlrecht den politischen Ein - fluß der Besitzenden stärkt, erhöht es das Bollwerk, das sich der Anerkennung des Rechtes der Persönlichkeit der Proletarierin, ihrer politischen Gleichberechtigung entgegenstellt, und verschärft gleichzeitig ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und Not, zu deren Lockerung und Linderung es beitragen sollte.

Sicher aber hat die Proletarierin mindestens den gleichen Rechtstitel auf das volle Bürgerrecht wie die Dame der Bour - geoisie: Größer und umfangreicher wird von Jahr zu Jahr der Anteil, den die Frauen am Produktionsprozeß der kapita - listischen Gesellschaft haben, und die erdrückende Überzahl der er - werbstätigen Frauen sind Proletarierinnen. Sie heischen kein Vorrecht, aber gleiches Recht. Wieviel Frauen in Deutschland mit Hand und Hirn fronden, um die Güter zu schaffen, die zur Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft notwendig sind, wie ihre Zahl rapid wächst, schneller sogar als die weib - liche Bevölkerung, das beweisen die Ergebnisse der Berufs -, Ge - werbe - und Volkszählung: 1882 wurden 5541517 weibliche Er - werbstätige gezählt, 1895 6578550 und 1907 sogar 9492881. Das ist seit 1882 fast eine Verdopplung, und weitere Zu - nahmen sind seit 1907 bereits erfolgt.

Jedoch noch eine andere, nicht minder stichhaltige Begrün - dung vermögen die Frauen für ihren Rechtsanspruch ins Feld zu führen: Es ist die Bedeutung ihrer Leistungen für die Fort - pflanzung und Erhaltung der Art. Die Frauen haben die kom - mende Generation zu gebären, zu pflegen und zu erziehen. Mit der Erfüllung dieser Verpflichtung leisten sie der Gesellschaft den wichtigsten Dienst, der für sie ein schwerer und gefahrvoller ist und es unter den Geißelhieben kapitalistischer Ausbeutung in immer höherem Maße wird. Sterben doch jährlich in Deutsch - land zirka 10000 Frauen bei oder gleich nach der Entbin - dung. 50000 Frauen erkranken schwer an den Folgen von Wochenbett und Schwangerschaft. Das sind furchtbare Opfer im Dienste der Mutterschaft! Die Frau des zwanzigsten Jahr - hunderts leistet aber nicht etwa einem Automaten gleich diesen Dienst, sondern sie ist sich seiner Bedeutung für die Gesellschaft bewußt geworden wie auch ihrer eigenen gewandelten Stellung in derselben und damit ihres Anspruchs auf volles Bürgerrecht.

Dieselben gesellschaftlichen Mächte, die sie lehrten, ihren wohlbegründeten Anspruch auf volles Bürgerrecht zu erkennen, lehren sie gleichfalls dessen Wert und die Notwendigkeit seines Besitzes. Gleich dem Manne in langer Tagesfron an die Ma - schine gefesselt, auf dem Bau, in der Ziegelei, im Kontor, im Laden oder auf dem Felde tätig, erkennt die Frau, daß sie des Wahlrechts bedarf zur Sicherung und Erweiterung des Koali - tionsrechts, zum Ausbau der Sozialgesetzgebung, zum wirksamen Kampfe gegen den Zollwucher, gegen den Vampir Militaris - mus usw., kurzum zur Beeinflussung aller gesetzlichen Maß - nahmen und Einrichtungen, die das Jnteresse der Frau mit dem öffentlichen Leben verknüpfen. Am schärfsten fühlt deshalb die Frau die brennende Schmach ihrer Rechtlosigkeit, ihrer poli - tischen Helotenstellung bei den Wahlen, bei denen sie in auf - gezwungener Passivität verharren muß. Vor allem die Prole - tarierin, die neben dem kapitalistisch ausgebeuteten Manne im Kampfe um eine hellere Gegenwart und sonnige Zukunft steht! Gleich dem Manne von der Not des Lebens gepeitscht, gleich ihm von der Erkenntnis des wirtschaftlichen und politischen Geschehens und seiner treibenden Kräfte durchdrungen, gleich ihm freiheitsdurstend und sonnensehnsüchtig: sieht sie sich der wichtigsten Waffe für den Befreiungskampf ihrer Klasse be - raubt. Der Waffe, die es ihr ermöglichen sollte, Reformen zu erzwingen, die gleichermaßen ihr eigenes Leben wie das Leben ihrer Klasse erhellen und deren Kampfesfähigkeit stärken, aber5Frauenwahlrechtauch des Mittels, dessen sie sich bedienen muß zur politischen Erweckung und Erziehung der Jndifferenten. Und doch bedarf gerade sie, als die doppelt und dreifach Belastete, vor allem des Wahlrechts zu diesem Doppelzwecke. Als der körperlich schwächere Arbeiter und als der weibliche Mensch, der Sonderaufgaben zu erfüllen hat, ist gerade für die Proletarierin die feste Schranke unerläßlich, die durch Gesetz der kapitalistischen Ausbeutung gezogen wird, ist gerade für sie das Mittel zur politischen Erweckung und Erziehung ihrer noch indolenten Geschlechts - genossinnen eine unbedingte Notwendigkeit. Sie alle müssen ja mit klarer Einsicht in das Wesen und die Entwicklung des Kapitalismus erfüllt werden und mit dem Willen, der inneren Bereitschaft zur Eroberung der politischen Macht, zur Umwand - lung der bürgerlichen Ordnung in die sozialistische Gesellschaft. Bedeutet doch der Sieg des Sozialismus, die Aufhebung des Privateigentums allein für sie das Ende der Lohn - und Ge - schlechtssklaverei und damit die Eroberung vollen Menschentums.

Ausgerüstet mit dem vollen Bürgerrecht, im Kampfe für dieses hohe Jdeal, wird die Proletarierin gleichzeitig Klassen - kämpferin und Rekrutenerzieherin für den Klassenkampf sein. Sie wird selbst voll ihre Pflicht im Befreiungskampf ihrer Klasse tun und gleichzeitig die kommende Generation für ihre historische Pflichterfüllung schulen, sie wird Bürgertugenden betätigen und Staatsbürger im besten Sinne des Wortes erziehen. Damit aber beschleunigt und sichert sie den Sieg des Sozialismus. Mit zäher Energie, mit verdoppeltem Eifer und heiliger Begeisterung werden deshalb die Genossinnen kämpfen um das Recht der Persönlichkeit, um das Mittel zur politischen Erweckung und Erziehung der Massen, um die Waffe in unserem Befreiungs - kampf, um die Waffe zur Erringung der politischen Macht und der Sozialsicherung der Gesellschaft: Um das politische Frauenwahlrecht.

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About this transcription

TextDas Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit
Author Luise Zietz
Extent2 images; 910 tokens; 452 types; 6890 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-07-07T16:36:44Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-07-07T16:36:44Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Das Frauenwahlrecht, ein Rechtstitel und eine Notwendigkeit. Luise Zietz. 1. DietzStuttgart1911. Frauenwahlrecht! pp. 4-5.

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Freie Universität Berlin 62 99 50908(7)

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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Shelfmark62 99 50908(7)
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