„ Wiſſe, daſs jedes Werk, das da werth war zu erſchei - nen, ſogleich bei ſeiner Erscheinung gar keinen Richter finden kann; es ſoll ſich erſt ſein Publikum erziehen, und einen Richterſtuhl für ſich bilden. – – Spinoza hat über ein285 Jahrhundert gelegen, ehe ein treffendes Wort über ihn geſagt wurde; über Leibnitz iſt vielleicht das erſte treffende Wort noch zu erwarten, über Kant ganz gewiß. Findet ein Buch ſo - gleich bei ſeiner Erſcheinung ſeinen kompetenten Richter, ſo iſt dies der treffende Beweis, daſs dieſes Buch eben ſo wohl auch ungeſchrieben hätte bleiben können. “
Dieſe Worte ſind von Johann Gottlieb Fichte, und wir ſetzen ſie als Motto vor unſere Rezenſion des Menzelſchen Werks, theils um anzudeuten, daſs wir nichts weniger als eine Rezenſion liefern, theils auch um den Vfr. zu tröſten, wenn über den eigentlichen Jnhalt ſeines Buches nichts Er - gründendes geſagt wird, ſondern nur dessen Verhältniſs zu an - deren Büchern der Art, dessen Aeuſserlichkeiten und beſonders hervorſtehende Gedankenſpitzen beſprochen werden.
Jndem wir nun zuförderſt zu ermitteln ſuchen, mit wel - chen vorhandenen Büchern der Art das vorliegende Werk ver - gleichend zuſammengeſtellt werden kann, kommen uns Fried - rich Schlegels Vorleſungen über Literatur faſt ausſchlieſslich in Erinnerung. Auch dieſes Buch hat nicht ſeinen kompeten - ten Richter gefunden, und wie ſtark ſich auch in der lezteren Zeit, aus kleinlich proteſtantiſchen Gründen, manche abſpre - chende Stimmen gegen Friedrich Schlegel erhoben haben, ſo war doch noch keiner im Stande, beurtheilend ſich über den groſsen Beurtheiler zu erheben; und wenn wir auch einge - ſtehen müſſen, daſs ihm an kritischem Scharfblick ſein Bru - der Auguſt Wilhelm und einige neuere Kritiker, z. B. Willi - bald Alexis, Zimmermann, Varnhagen v. Enſe und Jmmer - mann, ziemlich überlegen ſind, ſo haben uns dieſe bisher doch nur Monographien geliefert, während Friedrich Schlegel groſs - artig das Ganze aller geiſtigen Beſtrebungen erfaſste, die Er - ſcheinungen derſelben gleichſam wieder zurückſchuf in das ur - ſprüngliche Schöpfungs-Wort, woraus ſie hervorgegangen, ſo daſs ſein Buch einem ſchaffenden Geiſterliede gleicht.
286Die religiöſen Privatmarotten, die Schlegels ſpätere Schriften durchkreuzen, und für die er allein zu ſchreiben wähnte, bilden doch nur das Zufällige, und namentlich in den Vorleſungen über Literatur iſt, vielleicht mehr als er ſelbſt weiſs, die Jdee der Kunſt noch immer der herrſchende Mittel - punkt, der mit ſeinen goldenen Radien das ganze Buch um - ſpinnt. Jſt doch die Jdee der Kunſt zugleich der Mittel - punkt jener ganzen Literaturperiode, die mit dem Erſcheinen Goethe's anfängt und erſt jetzt ihr Ende erreicht hat, iſt ſie doch der eigentliche Mittelpunkt in Goethe ſelbst, dem groſsen Repräſentanten dieser Periode – und wenn Friedrich Schle - gel, in ſeiner Beurtheilung Goethes, demſelben allen Mittel - punkt abſpricht, ſo hat dieſer Jrrthum vielleicht ſeine Wurzel in einem verzeihlichen Unmuth. Wir ſagen „ verzeihlich, “um nicht das Wort „ menſchlich “zu gebrauchen: die Schlegel, geleitet von der Jdee der Kunſt, erkannten die Objektivität als das höchſte Erforderniſs eines Kunſtwerks, und da ſie dieſe im höchſten Grade bei Goethe fanden, hoben ſie ihn auf den Schild, die neue Schule huldigte ihm als König, und als er König war, dankte er, wie Könige zu danken pflegen, indem er die Schlegel kränkend ablehnte und ihre Schule in den Staub trat.
Menzels „ deutſche Literatur “iſt ein würdiges Seiten - ſtück zu dem erwähnten Werke von Friedr. Schlegel. Dieſelbe Groſsartigkeit der Auffaſſung, des Strebens, der Kraft und des Jrrthums. Beide Werke werden den ſpäteren Literatoren Stoff zum Nachdenken liefern, indem nicht blos die ſchönſten Geiſtesſchätze darin niedergelegt ſind, ſondern indem auch ein jedes dieſer beiden Werke ganz die Zeit charakteriſirt, worin es geſchrieben iſt. Dieſer leztere Umſtand gewährt auch uns das meiſte Vergnügen bei der Vergleichung beider Werke. Jn dem Schlegelſchen ſehen wir ganz die Beſtrebungen, die Be - dürfniſſe, die Jntereſſen, die geſammte deutſche Geiſtesrich - tung der vorlezten Dezennien, und die Kunſtidee als Mittel -287 punkt des Ganzen. Bilden aber die Schlegelſchen Vorleſun - gen ſolchermaſsen ein Literaturepos, ſo erſcheint uns hingegen das Menzelſche Werk wie ein bewegtes Drama, die Jntereſſen der Zeit treten auf und halten ihre Monologe, die Leiden - ſchaften, Wünſche, Hoffnungen, Furcht und Mitleid ſpre - chen ſich aus, die Freunde rathen, die Feinde drängen, die Parteien ſtehen ſich gegenüber, der Vfr. läſst allen ihr Recht widerfahren, als ächter Dramatiker behandelt er keine der kämpfenden Parteien mit allzu beſonderer Vorliebe, und wenn wir etwas vermiſſen, ſo iſt es nur der Chorus, der die letzte Bedeutung des Kampfes ruhig ausſpricht. Dieſen Chorus aber konnte uns Herr Menzel nicht geben, wegen des einfachen Umſtandes, daſs er noch nicht das Ende dieſes Jahr - hunderts erlebt hat. Aus demſelben Grunde erkannten wir bei einem Buche aus einer früheren Periode, dem Schlegel - ſchen, weit leichter den eigentlichen Mittelpunkt, als bei einem Buche aus der jetzigſten Gegenwart. Nur ſo viel ſehen wir, der Mittelpunkt des Menzelſchen Buches iſt nicht mehr die Jdee der Kunſt. Menzel ſucht viel eher das Verhältniß des Lebens zu den Büchern aufzufaſſen, einen Organismus in der Schriftwelt zu entdecken, es iſt uns manchmal vorgekommen, als betrachte er die Literatur wie eine Vegetation – und da wandelt er mit uns herum und botaniſirt, und nennt die Bäume bei ihren Namen, reiſst Witze über die gröſsten Eichen, riecht humoriſtiſch an jedem Tulpenbeet, küſst jede Roſe, neigt ſich freundlich zu einigen befreundeten Wieſenblümchen, und ſchaut dabei ſo klug, daſs wir faſt glauben möchten, er höre das Gras wachſen.
Andererſeits erkennen wir bei Menzel ein Streben nach Wissenſchaftlichkeit, welches ebenfalls eine Tendenz unſerer neueſten Zeit iſt, eine jener Tendenzen, wodurch ſie ſich von der früheren Kunſtperiode unterſcheidet. Wir haben groſse geiſtige Eroberungen gemacht, und die Wiſſenschaft ſoll ſie als unſer Eigenthum ſichern. Diesſe Bedeutung derſelben hat ſogar die288 Regierung in einigen deutſchen Staaten anerkannt, abſonder - lich in Preußen, wo die Namen Humbold, Hegel, Bopp, A. W. Schlegel, Schleiermacher etc. in sſolcher Hinſicht am schönſten glänzen. Daſſelbe Streben hat ſich, zumeiſt durch Einwirkung ſolcher deutſchen Gelehrten, nach Frankreich ver - breitet; auch hier erkennt man, daß alles Wiſſen einen Werth an und für ſich hat, daß es nicht wegen der augenblicklichen Nützlichkeit kultivirt werden ſoll, ſondern damit es ſeinen Platz finde in dem Gedankenreiche, das wir, als das beſte Erbtheil, den folgenden Geſchlechtern überliefern werden. Herr Menzel iſt mehr ein encyklopädiſcher Kopf als ein ſynthetiſch wiſſenschaftlicher. Da ihn aber ſein Willen zur Wiſſenſchaftlichkeit drängt, ſo finden wir in ſeinem Buche eine ſeltſame Vereinigung ſeiner Naturanlage mit ſeinem vorge - faßten Streben. Die Gegenſtände entſteigen daher nicht aus einem einzigen innerſten Prinzip, ſie werden vielmehr nach einem geisſtreichen Schematismus einzeln abgehandelt, aber doch ergänzend, ſo daß das Buch ein ſchönes, gerundetes Ganze Ganze bildet. Jn dieſer Hinſicht gewinnt vielleicht das Buch für das große Publikum, dem die Ueberſicht erleichtert wird, und das auf jeder Seite etwas Geisſtreiches, Tiefgedachtes und An - ziehendes findet, welches nicht erſt auf ein leztes Prinzip be - zogen werden muß, ſondern an und für ſich ſchon ſeinen voll - gültigen Werth hat. Der Witz, den man in Menzelſchen Geiſtesprodukten zu ſuchen berechtigt iſt, wird durchaus nicht vermißt, er erſcheint um ſo würdiger, da er nicht mit ſich ſelbst kokettirt, ſondern nur der Sache wegen hervortritt – ob - gleich ſich nicht läugnen läßt, daß er Herrn Menzel oft dazu dienen muß, die Lücken ſeines Wiſſens zu ſtopfen. H. M. iſt unſtreitig einer der witzigſten Schriftſteller Deutſchlands, er kann ſeine Natur nicht verläugnen, und möchte er auch, alle witzigen Einfälle ablehnend, in einem ſteifen Perückentone doziren, ſo überraſcht ihn wenigſtens der Jdeenwitz, und dieſe289 Witzart, eine Verknüpfung von Gedanken, die ſich noch nie in einem Menſchenkopfe begegnet, eine wilde Ehe zwiſchen Scherz und Weisheit, iſt vorherrſchend in dem Menzelſchen Werke. Nochmals rühmen wir des Vfrs. Witz, um ſo mehr, da es viele trockene Leute in der Welt gibt, die den Witz gern pro - ſcribiren möchten, und man täglich hören kann, wie Pantalon ſich gegen dieſe niedrigſte Seelenkraft, den Witz, zu ereifern weiß, und als guter Staatsbürger und Hausvater die Polizei auffordert ihn zu verbieten. Mag immerhin der Witz zu den niedrigſten Seelenkräften gehören, ſo glauben wir doch, daß er ſein Gutes hat. Wir wenigſtens möchten ihn nicht ent - behren. Seitdem es nicht mehr Sitte iſt, einen Degen an der Seite zu tragen, iſt es durchaus nöthig, daß man Witz im Kopfe habe. Und ſollte man auch ſo überlaunig ſeyn, den Witz nicht blos als nothwendige Wehr, ſondern ſogar als Angriffswaffe zu gebrauchen, ſo werdet darüber nicht allzu ſehr aufgebracht, Jhr edlen Pantalone des deutſchen Vater - landes! Jener Angriffswitz, den Jhr Satyre nennt, hat ſeinen guten Nutzen in dieſer ſchlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion iſt mehr im Stande, die Lüſte der kleinen Erdenherrſcher zu zügeln, ſie verhöhnen Euch ungeſtraft und ihre Roſſe zertreten Eure Saaten, Eure Töchter hungern und verkaufen ihre Blüthen dem ſchmutzigen Parvenü, alle Roſen dieſer Welt werden die Beute eines windigen Ge - ſchlechtes von Stokjobbern und bevorrechteten Lakayen, und vor dem Uebermuth des Reichthums und der Gewalt ſchüzt Euch nichts – als der Tod und die Satyre.
„ Univerſalität iſt der Charakter unſerer Zeit, “ſagt Herr Menzel im zweiten Theile S. 63. ſeines Werkes, und da dieſes Leztere, wie wir oben bemerkt, ganz den Charakter unſerer Zeit trägt, ſo finden wir darin auch ein Streben nach jener Univerſalität. Daher ein Verbreiten über alle Rich - tungen des Lebens und des Wiſſens, und zwar unter folgen - den Rubriken: „ die Maſſe der Literatur, Nationalität, Einfluß290 der Schulgelehrſamkeit, Einfluß der fremden Literatur, der literariſche Verkehr, Religion, Philoſophie, Geſchichte, Staat, Erziehung, Natur, Kunſt und Kritik. “ Es iſt zu bezwei - feln, ob ein junger Gelehrter in allen möglichen Disciplinen ſo tief eingeweiht ſeyn kann, daß wir eine gründliche Kritik des neueſten Zuſtandes derſelben von ihm erwarten dürften. Herr Menzel hat ſich durch Divination und Konſtruktion zu helfen gewußt. Jm Diviniren iſt er oft ſehr glücklich, im Konſtruiren immer geiſtreich. Wenn auch zuweilen ſeine An - nahmen willkürlich und irrig ſind, ſo iſt er doch unübertrefflich im Zuſammenſtellen des Gleichartigen und der Gegenſätze. Er verfährt kombinatoriſch und konziliatoriſch. Den Zweck dieſer Blätter berückſichtigend wollen wir als eine Probe der Menzelſchen Darſtellungsweiſe die folgende Stelle aus der Rubrik „ Staat “mittheilen:
„ Bevor wir die Literatur der politiſchen Praxis betrach - ten, wollen wir einen Blick auf die Theorien werfen. Alle Praxis geht von den Theorien aus. Es iſt jezt nicht mehr die Zeit, da die Völker aus einem gewiſſen ſinnlichen Ueber - muth, oder aus zufälligen, örtlichen Veranlaſſungen in einen vorübergehenden Hader gerathen. Sie kämpfen vielmehr um Jdeen, und eben darum iſt ihr Kampf ein allgemeiner, im Herzen eines jeden Volks ſelbſt, und nur in ſo fern eines Volks wider das andere, als bei dem einen dieſe, bei dem anderen jene Jdee das Uebergewicht behauptet. Der Kampf iſt durchaus philoſophiſch geworden, ſo wie er früher religiös geweſen. Es iſt nicht ein Vaterland, nicht ein großer Mann, worüber man ſtreitet, ſondern es sind Ueberzeugungen, denen die Völker wie die Helden ſich unterordnen müſſen. Völker haben mit Jdeen geſiegt, aber ſobald ſie ihren Namen an die Stelle der Jdee zu ſetzen gewagt, ſind ſie zu Schanden geworden; Helden haben durch Jdeen eine Art von Weltherr - ſchaft erobert, aber ſobald ſie die Jdee verlaſſen, ſind ſie in Staub gebrochen. Die Menſchen haben gewechſelt, nur die291 Jdeen ſind beſtanden. Die Geſchichte war nur die Schule der Prinzipien. Das vorige Jahrhundert war reicher an vorausſichtigen Spekulationen, das gegenwärtige iſt reicher an Rückſichten und Erfahrungsgrundſätzen. Jn beiden liegen die Hebel der Begebenheiten, durch ſie wird Alles erklärt, was geſchehen iſt. “
“Es gibt nur zwei Prinzipe oder entgegengeſezte Pole der politiſchen Welt, und an beiden Endpunkten der großen Achſe haben die Parteien ſich gelagert, und bekämpfen ſich mit ſteigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der Partei für jeden ihrer Anhänger, zwar wiſſen Manche kaum, daß ſie zu dieſer beſtimmten Partei gehören, zwar bekämpfen ſich die Glieder einer Partei unter einander ſelbſt, ſofern ſie aus ein und demſelben Prinzip verſchiedene Folgerungen zie - hen; im Allgemeinen aber muß der ſubtilſte Kritiker ſo gut wie das gemeine Zeitungspublikum einen Strich ziehen zwi - ſchen Liberalismus und Servilismus, Republikanis - mus und Autokratie. Welches auch die Nüanzen ſeyn mögen, jenes claire obscure und jene bis zur Farbloſigkeit gemiſchten Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander übergehen, dieſe Hauptfarben ſelbſt verbargen ſich nirgends, ſie bilden den großen, den einzigen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den Menſchen wie den Büchern gewöhnlich auf den erſten Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das Auge wer - fen, trifft es dieſe Farben an. Sie füllen es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum. “
„ Die liberale Partei iſt diejenige, die den politiſchen Charakter der neueren Zeit beſtimmt, während die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Charakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus ſchreitet daher in demſelben Maße fort, wie die Zeit ſelbst, oder iſt in dem Maße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert. Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen das Mit - telalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Entwickelung des Pro -292 teſtantismus im weltlichen Sinn, wie der Proteſtantismus ein geiſtlicher[Liberalismus]Ersetzung "Protestantismus" durch "Liberalismus" übernommen aus der Textquelle; vgl .https: / / www. uni-due.de / lyriktheorie / texte / 1828_heine. html. Tatsächlich zitiert Heine hier fehlerhaft, vgl. die entsprechende Passage in: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <http: / / www. deutschestextarchiv.de / menzel_literatur01_1828 / 233 >, abgerufen am 20.10.2017. 1 war. Er hat ſeine Partei in dem gebildeten Mittelſtande, während der Servilismus die ſeinige in den Vornehmen und in der rohen Maſſe findet. Dieſer Mittelſtand ſchmilzt allmählig immer mehr die ſtarren Kryſtalliſationen der mittelalterlichen Stände zuſammen. Die ganze neuere Bildung iſt aus dem Liberalismus hervorgegan - gen, oder hat ihm gedient, ſie war die Befreiung von dem kirchlichen Autoritätsglauben. Die ganze Literatur iſt ein Triumph des Liberalismus, denn ſeine Feinde ſogar müſſen in ſeinen Waffen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm Vorſchub geleiſtet, ſeinen größten Philoſophen aber hat er in Fichte, ſeinen größten Dichter in Schiller gefunden. “
Unter der Rubrik „ Philoſophie “bekennt ſich Herr Men - zel ganz zu Schelling, und unter der Rubrik „ Natur “hat er deſſen Lehre, wie ſich gebührt, gefeiert. Wir ſtimmen überein in dem, was er über dieſen allgemeinen Weltdenker ausſpricht. Görres und Steffens finden als Schellingſche Unterdenker ebenfalls ihre Anerkennung. Erſterer iſt mit Vorliebe gewür - digt, ſeine Myſtik etwas allzu poetiſch gerühmt. Doch ſehen wir dieſen hohen Geiſt immer lieber überſchäzt als parteiisch verkleinert. Steffens wird als Repräſentant des Pietismus dargeſtellt, und die Anſichten, die der Vfr. von Myſtik und Pietismus hegt, ſind, wenn auch irrig, doch immer tief - ſinnig, ſchöpferiſch und großartig. Wir erwarten nicht viel Gutes vom Pietismus, obgleich Herr Menzel ſich abmüht, das Beſte von ihm zu prophezeien. Wir theilen die Mei - nung eines witzigen Mannes, der keck behauptet: unter hun - dert Pietiſten sind neun und neunzig Schurken und ein Eſel. Von frömmelnden Heuchlern iſt kein Heil zu erwarten und durch Eſelsmilch wird unſere ſchwache Zeit auch nicht ſehr er - ſtarken. Weit eher dürfen wir Heil vom Myſtizismus erwar - ten. Jn ſeiner jetzigen Erſcheinung mag er immerhin wider - wärtig und gefährlich ſeyn; in ſeinen Reſultaten kann er heil -293 ſam wirken. Dadurch, daß der Myſtiker ſich in die Traum - welt ſeiner innern Anſchauung zurückzieht und in ſich ſelbſt die Quelle aller Erkenntniß annimmt: dadurch iſt er der Oberge - walt jeder äußern Autorität entronnen, und die orthodoxeſten Myſtiker haben auf dieſe Art in der Tiefe ihrer Seele jene Urwahrheiten wieder gefunden, die mit den Vorſchriften des posſitiven Glaubens im Widerſpruch ſtehen, ſie haben die Auto - rität der Kirche geläugnet und haben mit Leib und Leben ihre Meinung vertreten. Ein Myſtiker aus der Sekte der Eſſäer war jener Rabbi, der in ſich ſelbſt die Offenbarung des Vaters erkannte und die Welt erlöſte von der blinden Autorität ſtei - nerner Geſetze und ſchlauer Prieſter; ein Myſtiker war jener deutſche Mönch, der in ſeinem einſamen Gemüthe die Wahr - heit ahnte, die längſt aus der Kirche verſchwunden war; – und Myſtiker werden es ſeyn, die uns wieder vom neueren Wortdienſt erlöſen und wieder eine Naturreligion begründen, eine Religion, wo wieder freudige Götter aus Wäldern und Steinen hervorwachſen und auch die Menſchen ſich göttlich freuen. Die katholiſche Kirche hat jene Gefährlichkeit des Myſtizismus immer tief gefühlt; daher, im Mittelalter, be - förderte ſie mehr das Studium des Ariſtoteles als des Plato; daher im vorigen Jahrhundert ihr Kampf gegen den Janſe - nismus; und zeigt ſie ſich heut zu Tage ſehr freundlich gegen Männer wie Schlegel, Görres, Haller, Müller etc., ſo be - trachtet ſie ſolche doch nur wie Guerrillas, die man in ſchlim - men Kriegszeiten, wo die ſtehenden Glaubensarmeen etwas zuſammengeſchmolzen ſind, gut gebrauchen kann und ſpäterhin in Friedenszeit gehörig unterdrücken wird. Es würde zu weit führen, wenn wir nachweiſen wollten, wie auch im Oriente der Myſtizismus den Autoritätsglauben ſprengt, wie z. B. aus dem Sufismus in der neueſten Zeit Sekten ent - ſtanden, deren Religionsbegriffe von der erhabenſten Art ſind.
Wir können nicht genug rühmen, mit welchem Scharf -294 ſinne Herr Menzel vom Proteſtantismus und Katholizismus ſpricht, in dieſem das Prinzip der Stabilität, in jenem das Prinzip der Evolution erkennend. Jn dieſer Hinſicht bemerkt er ſehr richtig unter der Rubrik „ Religion. “
„ Der Erſtarrung muß die Bewegung, dem Tode das Leben, dem unveränderlichen Seyn ein ewiges Werden ſich entgegenſetzen. Hierin allein hat der Proteſtantismus ſeine große welthiſtoriſche Bedeutung gefunden. Er hat mit der jugendlichen Kraft, die nach höherer Entwickelung drängt, der greiſen Erſtarrung gewehrt. Er hat ein Naturgeſetz zu dem ſeinigen gemacht, und mit dieſem allein kann er ſiegen. Die - jenigen unter den Proteſtanten alſo, welche ſelbst wieder in eine andere Art von Starrſucht verfallen ſind, die Ortho - doxen, haben das eigentliche Jntereſſe des Kampfes aufgege - ben. Sie ſind ſtehen geblieben und dürfen von Rechtswegen ſich nicht beklagen, daß die Katholiken auch ſtehen geblieben ſind. Man kann nur durch ewigen Fortschritt oder gar nicht gewinnen. Wo man ſtehen bleibt, iſt ganz einerlei, ſo einerlei, als wo die Uhr ſtehen bleibt. Sie iſt da, damit ſie geht. “
Das Thema des Proteſtantismus führt uns auf deſſen würdigen Verfechter, Johann Heinrich Voß, den Herr Menzel bei jeder Gelegenheit, mit den härteſten Worten und durch die bitterſten Zuſammenſtellungen verunglimpft. Hierüber können wir nicht beſtimmt genug unſeren Tadel ausſprechen. Wenn der Vfr. unſeren ſeligen Voß einen „ ungeſchlachten niederſäch - ſiſchen Bauer “nennt, ſollten wir faſt auf den Argwohn ge - rathen, er neige ſelber zu der Partei jener Ritterlinge und Pfaffen, wogegen Voß ſo wacker gekämpft hat. Jene Partei iſt zu mächtig, als daß man mit einem zarten Galanteriedegen gegen ſie kämpfen könnte, und wir bedurften eines unge - ſchlachten niederſächſiſchen Bauers, der das alte Schlachtſchwert aus der Zeit des Bauernkriegs wieder hervorgrub und damit loshieb. Herr Menzel hat vielleicht nie gefühlt, wie tief ein295 ungeſchlachtes niederſächſiſches Bauernherz verwundet werden kann von dem freundſchaftlichen Stich einer feinen, glatten hochadligen Viper – die Götter haben gewiß Herrn Menzel vor ſolchen Gefühlen bewahrt, ſonſt würde er die Herbheit der Voſſiſchen Schriften nur in den Thatſachen finden und nicht in den Worten. Es mag wahr ſeyn, daß Voß, in ſeinem proteſtantiſchen Eifer, die Bilderſtürmerei etwas zu weit trieb. Aber man bedenke, daß die Kirche jezt überall die Verbündete der Ariſtokratie iſt und ſogar hie und da von ihr beſoldet wird. Die Kirche, einſt die herrſchende Dame, vor welcher die Ritter ihre Knie beugten und zu deren Ehren ſie mit dem ganzen Orient tournierten, jene Kirche iſt ſchwach und alt geworden, ſie möchte ſich jezt eben dieſen Rittern als dienende Amme verdingen, und verſpricht mit ihren Liedern die Völker in den Schlaf zu lullen, damit man die Schlafen - den leichter feſſeln und ſcheeren könne.
Unter der Rubrik „ Kunſt “häufen ſich die meiſten Aus - fälle gegen Voß. Dieſe Rubrik umfaßt beinah den ganzen zweiten Theil des Menzelſchen Werks. Die Urtheile über unſere nächſten Zeitgenoſſen laſſen wir unbeſprochen. Die Bewunderung, die der Vfr. für Jean Paul hegt, macht ſei - nem Herzen Ehre. Ebenfalls die Begeiſterung für Schiller. Auch wir nehmen daran Antheil; doch gehören wir nicht zu denen, die durch Vergleichung Schillers mit Goethe den Werth des leztern herabdrücken möchten. Beide Dichter ſind vom erſten Range, beide ſind groß, vortrefflich, außerordent - lich, und hegen wir etwas Vorneigung für Goethe, ſo ent - ſteht ſie doch nur aus dem geringfügigen Umſtand, daß wir glauben, Goethe wäre im Stande geweſen, einen ganzen Friedrich Schiller mit allen deſſen Räubern, Pikolominis, Louiſen, Marien und Jungfrauen zu dichten, wenn er der ausführlichen Darſtellung eines ſolchen Dichters nebſt den dazu gehörigen Gedichten in ſeinen Werken bedurft hätte.
Wir können über die Härte und Bitterkeit, womit Herr296 Menzel von Goethe ſpricht, nicht ſtark genug unſer Erſchrecken ausdrücken. Er ſagt manch allgemein wahres Wort, das aber nicht auf Goethe angewendet werden dürfte. Beim Lesen jener Blätter, worin über Goethe geſprochen, oder viel - mehr abgesſprochen wird, ward uns plötzlich ſo ängſtlich zu Muthe wie vorigen Sommer, als ein Banquier in London uns, der Kurioſität wegen, einige falſche Banknoten zeigte; wir konnten dieſe Papiere nicht ſchnell genug wieder aus Hän - den geben, aus Furcht, man möchte plötzlich uns ſelbſt als Verfertiger derſelben anklagen und ohne Umſtände vor old Bailly aufhängen. Erſt nachdem wir an den Menzelſchen Blättern über Goethe unſere ſchaurige Neugier befriedigt, er - wachte der Unmuth. Wir beabſichtigen keineswegs eine Ver - theidigung Goethe's; wir glauben die Menzelſche Lehre „ Goethe ſey kein Genie, ſondern ein Talent “wird nur bei Wenigen Eingang finden, und ſelbſt dieſe Wenigen werden doch zuge - ben, daß Goethe dann und wann das Talent hat, ein Genie zu ſeyn. Aber ſelbſt wenn Menzel Recht hätte, würde es ſich nicht geziemt haben, ſein hartes Urtheil ſo hart hinzuſtellen. Es iſt doch immer Goethe, der König, und ein Rezenſent, der an einen ſolchen Dichterkönig ſein Meſſer legt, ſollte doch eben ſo viel Courtoiſie beſitzen wie jener engliſche Scharfrichter, welcher Karl I. köpfte, und ehe er dieſes kritiſche Amt vollzog, vor dem königlichen Delinquenten niederkniete und ſeine Ver - zeihung erbat.
Woher aber kommt dieſe Härte gegen Goethe, wie ſie uns hie und da ſogar bei den ausgezeichnetſten Geiſtern be - merkbar worden? Vielleicht eben weil Goethe, der nichts als Primus inter pares ſeyn ſollte, in der Republik der Geiſter zur Tyrannis gelangt iſt, betrachten ihn viele große Geiſter mit geheimen Groll. Sie ſehen in ihm ſogar einen Ludwig XI, der den geiſtigen hohen Adel unterdrückt, indem er den geiſtigen Tiers état, die liebe Mittelmäßigkeit, empor hebt. Sie ſehen, er ſchmeichelt den reſpektiven Korporatio -297 nen der Städte, er ſendet gnädige Handſchreiben und Me - daillen an die Lieben Getreuen, und erſchafft einen Papieradel von Hochbelobten, die ſich ſchon viel höher dünken als jene wahren Großen, die ihren Adel, eben ſo gut wie der König ſelbſt, von der Gnade Gottes erhalten, oder um whiggiſch zu ſprechen, von der Meinung des Volkes. Aber immerhin mag dieſes geſchehen. Sahen wir doch jüngſt in den Fürſten - grüften von Weſtminſter, daß jene Großen, die, als ſie leb - ten, mit den Königen haderten, dennoch im Tode in der königlichen Nähe begraben liegen: – und ſo wird auch Goethe nicht verhindern können, daß jene großen Geiſter, die er im Leben gern entfernen wollte, dennoch im Tode mit ihm zuſam - men kommen, und neben ihm ihren ewigen Platz finden im Weſtminſter der deutſchen Literatur.
Die brütende Stimmung unzufriedener Großen iſt an - ſteckend, und die Luft wird ſchwül. Das Prinzip der Goethe - ſchen Zeit, die Kunſtidee, entweicht, eine neue Zeit mit einem neuen Prinzipe ſteigt auf, und ſeltſam! wie das Men - zelſche Buch merken läßt, ſie beginnt mit Jnſurrektion gegen Goethe. Vielleicht fühlt Goethe ſelbſt, daß die ſchöne objek - tive Welt, die er durch Wort und Beiſpiel geſtiftet hat, noth - wendiger Weiſe zuſammenſinkt, ſo wie die Kunſtidee allmälig ihre Herrſchaft verliert, und daß neue friſche Geiſter von der neuen Jdee der neuen Zeit hervorgetrieben werden, und gleich nordiſchen Barbaren, die in den Süden einbrechen, das civi - liſirte Goethenthum über den Haufen werfen und an deſſen Stelle das Reich der wildeſten Subjektivität begründen. Daher das Beſtreben, eine Goetheſche Landmiliz auf die Beine zu bringen. Ueberall Garniſonen und aufmunternde Beförde - rungen. Die alten Romantiker, die Janitſcharen, werden zu regulären Truppen zugeſtutzt, müſſen ihre Keſſel ablie - fern, müſſen die Goetheſche Uniform anziehen, müſſen täglich exerziren. Die Rekruten lärmen und trinken und ſchreien Vivat; die Trompeter blaſen –
298Wird Kunſt und Alterthum im Stande ſeyn, Natur und Jugend zurückzudrängen?
Wir können nicht umhin, ausdrücklich zu bemerken, daß wir unter „ Goethenthum “nicht Goethes Werke verſtehen, nicht jene theuern Schöpfungen, die vielleicht noch leben wer - den, wenn längſt die deutſche Sprache ſchon geſtorben iſt, und das geknutete Deutſchland in ſlaviſcher Mundart wimmert; unter jenem Ausdruck verſtehen wir auch nicht eigentlich die Goetheſche Denkweiſe, dieſe Blume, die, im Miſte unſerer Zeit, immer blühender gedeihen wird, und ſollte auch ein glühendes Enthouſiaſtenherz ſich über ihre kalte Behaglichkeit noch ſo ſehr ärgern; mit dem Wort „ Goethenthum “deuteten wir oben vielmehr auf Goetheſche Formen, wie wir ſie bei der blöden Jüngerſchaar nachgeknetet finden, und auf das matte Nachpiepſen jener Weiſen, die der Alte gepfiffen. Eben die Freude, die dem Alten jenes Nachkneten und Nachpiepſen gewährt, erregte unſere Klage. Der Alte! wie zahm und milde iſt er geworden! Wie ſehr hat er ſich gebeſſert! würde ein Nikolaite ſagen, der ihn noch in jenen wilden Jahren kannte, wo er den ſchwülen Werther und den Götz mit der eiſernen Hand ſchrieb! Wie hübſch manierlich iſt er geworden, wie iſt ihm alle Rohheit jezt fatal, wie unangenehm berührt es ihn, wenn er an die frühere xeniale, himmelſtürmende Zeit erinnert wird, oder wenn gar Andere, in ſeine alten Fußtapfen tretend, mit demſelben Uebermuthe ihre Titanen - flegeljahre austoben! Sehr treffend hat in dieſer Hinſicht ein geiſtreicher Ausländer unſeren Goethe mit einem alten Räuber - hauptmanne verglichen, der ſich vom Handwerk zurückgezogen hat, unter den Honoratioren eines Provinzialſtädtchens ein ehrſam bürgerliches Leben führt, bis aufs Kleinlichſte alle Philiſtertugenden zu erfüllen ſtrebt, und in die peinlichſte Ver - legenheit geräth, wenn zufällig irgend ein wüſter Waldgeſell aus Calabrien mit ihm zuſammentrifft, und alte Kameradſchaft nachſuchen möchte.
H. Heine.
Rudolf BrandmeyerNote: Herausgeber Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer)Note: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss. 2017-10-25T12:22:51Z Magdalena SchulzeChristian ThomasNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-14T12:28:07Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
[Rezension] Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel. 2 Theile. Stuttgart, bei Gebrüder Frankh. 1828.. Heinrich Heine. 1. J. G. Cotta'sche BuchhandlungStuttgartTübingen1828. Neue allgemeine politische Annalen (27, Heft 3) p. 284–298.
Fraktur
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Attribution: Dr. Rudolf Brandmeyer, Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften / Germanistik; Projekt Lyriktheorie via Deutsches Textarchiv.