Jn dem Protestartikel vom 1. März, welcher sich gegen die Ablehnung des Frauenstimmrechts durch den freisinnigen Abgeordneten Dr. Träger richtet, fallen mir folgende Worte des Genannten auf, die eine Entgegnung seitens der Frauen - bewegung herausfordern. Dr. Träger sagt: „ Wir müssen die Frauen noch zurückhalten. Jch halte das aktive und passive Wahlrecht für die Krönung des Gebäudes der Frauenrechte. Wenn Sie aber bedenken, wie diese Fundamente noch heiß und heftig umstritten werden, wie wenig sie noch fest gelagert sind, dann werden Sie doch Bedenken tragen, Bedenken in der Seele der Frauen selbst, jetzt schon auf das schwankende Gebäude die Krone zu setzen. “
Er steht hier auf dem allgemein üblichen Standpunkt derjenigen, die mit recht beklommenen Herzen von ihrer alten festen Burg aus zusehen, wie die Frauen langsam, aber sicher vorwärtsschreiten. Die Wälle sind schon erstiegen; in Handel, Gewerbe und öffentlichen Bureaus sind schon die weiblichen Arbeits - kräfte längst anerkannt. Über den Festungsgraben haben sie schon gesetzt; Studium, Arzttum, Waisenpflege, Fabrikinspektion und andere Aemter haben sie schon erobert. Nun geht’s zum Burghof; sie wollen an der Gesetzgebung rütteln: Eherecht, Strafrecht, Vereinsrecht und vieles andere soll von ihnen umgewandelt werden. Vielleicht dürfte man hier mit ihnenverhandeln. Aber siehe! wie der Teufel, dem man den kleinen Finger reicht, nach der ganzen Hand greift, so greifen die ungenügsamen Frauen nach dem heiligen, höchsten, das im innern Verließ der Männerburg hängt, dem non plus ultra, der Krone der Kulturrechte: nach den Bürger - und Staatsrechten.
„ Und mit Erstaunen und mit Grauen Sehen’s die Ritter und Edelfrauen! “
Nein! so weit darf es nicht kommen – noch nicht! Sie haben ja auch noch so viel mit ihren kleinen Einzelrechten, mit ihren Ziegelsteinen und Balken zu tun, daß sie an die alles überragende hohe Dachbekrönung ihres Gebäudes noch gar nicht denken dürfen. Es ist sprunghaft, unverständig, wenn sie das tun. So argumentieren jene halben und Viertelfreunde.
Aber wir Frauen – es mag ja Frauenlogik sein – wir schließen gerade umgekehrt. Dr. Trägers Schlußfolgerung lautete: „ Das Wahlrecht ist die Krönung des Gebäudes; das Fundament schwankt noch; also darf die Krönung noch nicht heraufgesetzt werden. “– Wir bestreiten aber die Richtigkeit der ersten Prämisse und zwar auf Grund praktischer Erfahrungen, deren wir täglich mehr einsammeln. Wir sagen: nein, das Wahlrecht ist nicht die Krönung des Gebäudes, die uns fast von selbst zufallen wird, sobald das große Gebäude der Menschenrechte für uns Frauen wohnlich eingerichtet sein wird. Wir sagen: das Wahlrecht ist das Fundament des Ge - bäudes. Die Gesetzgebung ist die Macht, welche Pflichten und Rechte des Volkes ordnet und verteilt. Wer Pflichten und Rechte erringen will, der muß zuerst jene Macht besitzen; das ist der sicherste und klarste Weg zu jenen. Jeder kann nur selbst seine eigenen Bedürfnisse verstehen und vertreten. Eine Partei, die nicht an der Gesetzgebung mitarbeitet, wird niemals ihre vollen Wünsche erfüllt sehen. Andere werden dieselben nur so weit berücksichtigen, als es ihnen paßt und gutdünkt, wie es in diesem Falle Herr Dr. Träger selbst zeigt. Wir sehen es doch täglich in dem reaktionären Preußen, wo die besitzenden Klassen an der Quelle der Gesetzgebung sitzen, wie einzig die Jnteressen dieser Klassen zum Austrag kommen. Würde wohl der neue Volksschulgesetzentwurf – dieser Schlag50ins Gesicht eines aufgeklärten, freigeistigen Zeitalters! – durchgehen, wenn wir in Preußen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht hätten?! –
Wir Frauen vergeuden unsere besten Kräfte in halb - ohnmächtigen Kämpfen um Mädchengymnasien, um einheitliches Vereinsrecht, um bestimmte Aenderungen in Ehe - und Strafrecht, um ausgedehnteren Arbeiterinnenschutz, um Zulassung zur Schulinspektion und anderen Aemtern, die sich konsequent aus den modernen weiblicher Leistungen ergeben. Unsere Petitionen füllen die Papierkörbe, unsere Wünsche verhallen; unsere rasch vorwärtsströmende Entwicklung stößt sich wund an der Rückständigkeit der Gesetze. Wie viel schneller, sicherer und gesünder, wenn auch nicht ohne Kampf, würde sich der ganze Aufbau der Frauenrechte vollenden, wenn wir die Gesetzgebung direkt beeinflussen dürften. Erst dann wird sich unsere Würdigung als den Männern gleichwertige Staatsbürger durchsetzen können. – Wer aber warten will, bis die Frauen zum Gebrauch der Freiheit reif sein werden, der gleicht, nach jener antiken Erzählung „ jener Narren, die sich verschworen, nicht eher ins Wasser zu gehen, als bis sie schwimmen gelernt hätten “.
Also A und O unserer Bestrebungen muß sein: politisches Wahlrecht der Frauen! Heute müssen wir daran gehen, um morgen an die Erreichung unserer vielen einzelnen Wünsche zu gehen. Unser Schluß heißt also: Das Wahlrecht ist das Fundament des Gebäudes; alle Einzelrechte bauen sich auf der Beeinflussung der Gesetzgebung auf; also muß das Streben nach allgemeinem gleichen Wahlrecht der Hebel jeder sozialen Bewegung sein.
Und die Krönung dieses Gebäudes? – Das wird die hochentwickelte, dem Manne in jeder Beziehung ebenbürtige Frau sein, die mit ihm Hand in Hand an der Hebung der Nation mitarbeitet; das werden ferner Fortschritte und Perspektiven sein, wie sie gerade die weibliche Psyche in ihrer Eigenart fördern wird; das wird endlich eine Einheitlichkeit, eine geistige Harmonie im Staat und Familie sein, die, nicht zerrissen durch die Kluft zwischen den Geschlechtern, der nationalen Kultur zum rechten Adel gereichen wird.
Noch ein Wort zum Schluß: Jch meine, wir Frauen müßten alle die Worte des oben genannten Artikels unter - schreiben: Wenn die Ablehnung des Frauenstimmrechts als Aeußerungen der Partei Anerkennung finden sollten, so wird es den einzelnen Mitgliedern des Deutschen Verbandes für Frauen - stimmrecht unmöglich gemacht, der freisinnigen Volks - partei künftig noch anzugehören. Es hieße dies ja sich selbst untreu werden, sich selbst mit seinen Grundsätzen verneinen. Je mehr die „ freisinnige Volkspartei “sich von ihrem eigenen Lebenskern, von konsequenten Freisinn und wahrer Demokratie entfernt, wie sie es doch z. B. mit obiger Aeußerung tut, je weniger sie die kommenden Strömungen versteht, – desto mehr werden sich diese starken, vorwärts - drängenden Strömungen von ihr entfernen. Die Arbeiter in ihrer Mehrheit hat sie verloren; sie wird auch noch die Frauen von sich stoßen.
Wir Frauen verlangen von den Vertretern der frei - sinnigen Volkspartei Aufschluß darüber, ob die Partei das Frauenstimmrecht anerkennt und ob sie künftighin für dasselbe offiziell eintreten wird oder nicht. Je nachdem werden wir unsere Stellung zu dieser Partei zu bestimmen haben.
Anm. der Redaktion. Den obigen treffenden Ausführungen möchten wir noch einiges hinzufügen, nämlich unserer Ver - wunderung darüber Ausdruck geben, daß auf der ersten Tagung des „ Verbandes der Westpreußischen Frauenvereine “, die kürzlich in Danzig stattfand, die Frauenstimmrechtsfrage so reaktionär behandelt worden ist. Frau Eichholz-Hamburg, Vorsitzende des Verbandes norddeutscher Frauenvereine, Frau Helbfeld-Danzig, Vorsitzende des Vereins Frauenwohl-Danzig, Fräulein Meyer - Danzig, Vorsitzende des neuen Westpreußischen Verbandes, Frau Quitt vom Frauenwohl-Danzig, haben sich, einem Bericht des „ Geselligen “vom 17. März nach, dahin ausgesprochen, das Frauenstimmrecht dürfe erst in 10-80 Jahren gefordert werden, die Frauen seien noch nicht reif dafür ꝛc. Wenn diese Frauen sich noch nicht für reif halten, so protestieren wir im Namen derFrauenbewegung dagegen, daß sie dies für alle Frauen aus - sprechen.
Auf der Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauen - vereine in Wiesbaden im Jahre 1902 wurde auf eine Jnter - pellation der Fortschrittlichen Frauenvereine hin die folgende Resolution einstimmig angenommen:
„ Es ist dringend zu wünschen, daß die Bundesvereine das Verständnis für den Gedanken des Frauenstimmrechts nach Kräften fördern, weil alle Bestrebungen des Bundes erst durch das Frauen - stimmrecht eines dauernden Erfolges sicher sind. “
Die genannten Frauen und die von ihnen vertretenen Vereine gehören zum Bunde Deutscher Frauenvereine. Resolu - tionen und Beschlüsse sind dazu da, erfüllt zu werden. Wir äußern daher unser Befremden, daß die Resolutionen des Bundes von diesen Bundesangehörigen so wenig respektiert werden.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-11-14T15:30:14Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-11-14T15:30:14Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Krone oder Fundament.Alice Dullo. 1. W. & S. LoewenthalBerlin1906. Die Frauenbewegung 12 (7) p. 49–50.
Fraktur
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