Nachdruck verboten.
Am 8. März ist die Frauenstimmrechtsvorlage im englischen Unterhaus „ zu Tode diskutiert “. Das heißt, man hat durch Obstruktion die Abstimmung verhindert. Von außen sah die Sache sich an wie eine Jllustration zu der Behauptung: Kleine Ursachen, große Wirkungen. Die Entscheidung über einen Beschluß von einzigartiger welthistorischer Bedeutung hängt davon ab, ob es fünf Uhr wird, ehe dem Redner, der die Obstruktionsrede zu halten hat, die Luft oder die Erfindung ausgeht. Und man versteht die Empörung der englischen Frauen, daß eine Sache, die ihnen so ernst ist wie ihre Vaterlandsliebe selbst, zum Gegenstand einer solchen Komödie wird, wie die vom 8. März. 7 Minuten vor 5 Uhr kommt der letzte Redner zu Wort. Der Vertreter der Vorlage, Mr. Dickinson, der ehemalige Vorsitzende des Londoner Graf - schaftsrates, dem es heiliger Ernst war mit seiner Sache, erhebt sich gleichzeitig, um den Antrag auf Schluß der Debatte und Abstimmung zu stellen. Er wurde vom Präsidenten ignoriert. Das wiederholt sich, als er unter den Bravorufen seiner Freunde und dem Lärm seiner Gegner noch mehrmals versuchte, seinen Schlußantrag einbringen zu können. Und so hatte der Obstruktionsredner, Mr. Rees, die Ehre, die Frauenstimmrechtsbill totzureden.
Jn der Komödie herrschte „ doppelter Dialog “. Es spielten andere Dinge mit als der Zufall. Die Diskussion selbst und die Äußerungen der englischen Presse zeigen das deutlich. Man gibt im ganzen dem Präsidenten recht, oder man sagt wenigstens, er habe nicht anders handeln können.
Warum nicht? Es handelt sich durchaus nicht um eine Konzession an die Stimmung des Volks dem Stimmrecht gegenüber, sondern lediglich um eine taktische Frage der politischen Lage. Man will in England das Frauenstimmrecht, trotz der Petition von 21000 Frauen, die Mr. Evans gegen das Stimmrecht mobil gemacht hat. Das will nicht sehr viel sagen, gegenüber den hunderttausenden von Petentinnen, die seit Jahrzehnten alljährlich das Parlament um eine Frauenstimmrechtvorlage an - gehen. Man hielt Mr. Evans mit Recht entgegen, daß es immer Leute geben wird, die ihre Ketten lieben. Es will auch nicht viel sagen, daß unter diesen Gegnerinnen des Stimmrechts Mrs. Humphrey Ward und Mrs. Corelli sind. Künstlerinnen sind im ganzen nicht die Leute, die man um die Notwendigkeit öffentlicher Rechte fragen muß. Es liegt in der Natur der Sache, daß sie eine romantische Geringschätzung für solche äußerlichen Dinge haben. Viel schwerer wiegt, daß Mrs. Sidney Webb, die gleich - falls früher nicht an die Notwendigkeit des Stimmrechts für die Frauen glaubte, ihre Ansicht geändert hat.
421Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England.Trotzdem aber, wie gesagt, ist die Niederlage der Bill kein Zufall. Die Rede des Premierministers ist in der Hinsicht sehr instruktiv. Sir Henry Campbell-Banner - man erhob sich, gleich nachdem Mr. Dickinson die ausgezeichnete Begründung seines Antrages beendet hatte, zu folgender Ansprache:
„ Es ist dies einer der nicht seltenen Fälle, wo die Pflicht und das Jnteresse der Regierung – jeder Regierung – erfordert, die Entscheidung der Frage dem Hause zu überlassen; denn es herrscht nicht nur keine übereinstimmende Meinung darüber im Hause überhaupt, sondern auch innerhalb jeder einzelnen Partei gehen die Ansichten auseinander. (Nein, Nein!) Unter diesen Umständen ist es Sache des Hauses selbst, den Kurs einzuschlagen, durch den es die Ansicht seiner einzelnen Mitglieder am besten zu vertreten glaubt. Soviel über die Haltung der Regierung in ihrer Stellung zum Unterhaus. Aber ich habe auch noch ein paar Worte über meine persönliche Meinung in dieser Angelegenheit zu sagen. (Hört, hört!) Jch stimme prinzipiell der Ein - beziehung der Frauen in das Wahlrecht zu. (Bravo!) Jch stütze mich dabei nicht nur auf abstrakte Rechtsgrundsätze, obgleich ich glaube, daß auch darüber sich viel sagen läßt. Zum Beispiel: eine Frau bezahlt Steuern und hat keine Macht die zu beeinflussen, die die Handhabung der Steuergesetzgebung kontrollieren. Sie hat den Gesetzen zu gehorchen und sich Anordnungen zu fügen, die auf tausenderlei Art ihre persönliche Freiheit berühren – Anordnungen, bei deren Feststellung sie nicht mitzureden hat. Und ich meine, daß diese Frage sich in der letzten Zeit sehr verschärft hat, weil so viele Frauen nicht nur zugelassen, sondern geradezu ermutigt und aufgefordert sind, an der Lohnarbeit in Handel, Gewerbe und vielen Berufen teilzunehmen, sodaß der Widerspruch zwischen ihren parlamentarischen Rechten und ihren öffentlichen Pflichten sich ohne Zweifel vergrößert hat.
Meines Erachtens ist das Stadium längst vorüber, in dem behauptet wurde – und diese Behauptung als genügende Begründung galt – daß die Frau durch ihre Natur und ihre gesellschaftliche Stellung auf irgend eine geheimnisvolle Weise vor den Rauheiten und Wechselfällen des Lebens geschützt und ungeeignet sei, tätigen Anteil in den öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen. Tatsächlich haben wir vielmehr die Vorstellung aufgegeben – oder sollten sie aufgegeben haben – die in früheren Zeiten die vorherrschende war, daß eine Frau, wenn ich die Phrase anwenden darf, auf diesem Gebiet als „ Ausländer durch Praedestination “zu gelten hat. (Gelächter.) Der Standpunkt jedoch, von dem aus ich den Gegenstand betrachte, ist nicht der des abstrakten Rechtsbegriffs, sondern der der Zweckmäßigkeit. Jst es dem Staate dienlich, daß die Frauen, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind? Gelangt es der Öffentlichkeit zum Vorteil? Welcher Art sind die Fragen, mit denen das Parlament in immer größerem Maße sich zu beschäftigen hat? Welches sind diese Fragen? (Ein Zwischen - ruf: „ Das Oberhaus “und Ordnungsrufe.)
Denken Sie an alle Aufgaben mit Bezug auf Kinderfürsorge – Erziehungs - wesen jeder Art, Schulspeisungen – dieser Antrag ist uns vorgelegt worden – städtische Milch-Depots – (Lachen) – das mag an sich richtig oder falsch, zweck - mäßig oder unzweckmäßig sein – ich spreche hier nur von der Art dieser Fragen. Die Gesetzgebung zur Verminderung der Kinder-Sterblichkeit, die Fürsorge für arme Kinder – kann irgend jemand behaupten, daß diese Dinge außerhalb der Grenzen weiblichen Jnteresses und weiblicher Erfahrungen liegen? Wir haben die Temperenz-Bewegung! Wen berühren die Bestimmungen, über die Polizeistunde 422Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England.der Wirtshäuser mehr, den Mann oder die Frau? Wen betrifft es mehr, wessen Jnteressen sind inniger beteiligt, wenn es sich um vorzuschlagende Maßnahmen gegen die Anwesenheit von Kindern in Wirtshäusern handelt? Alles das sind häusliche Fragen, über welche die Ansichten der Frau von ebenso großem, wenn nicht von größerem Wert sind als die des Mannes. (Beifall.)
Weiter sind zu erwägen die Gesetze über Wohnungsverhältnisse und Hygiene, über die Verbesserung aller solcher Einrichtungen, die für Leben oder Tod entscheidend sind, die auf der einen Seite Behagen und Glück verbreiten und auf der anderen Seite die Last einer drückenden und verderblichen Lage erleichtern sollen.
Können wir uns, wie es jetzt geschieht, einzig und allein auf die politische Begabung und Erfahrung der vorhandenen – also der männlichen Wähler verlassen? Jch glaube – und diese Überzeugung hat sich immer stärker in mir entwickelt im Laufe der Jahre – daß uns in diesen Fragen vor allem weibliche Einsicht Not tut. (Hört, hört!) Die einfache Darlegung dieser Fragen heißt schon die Annahme ad absurdum führen, daß nur Männer qualifiziert sind, zu wählen. (Beifall.)
Jch komme nun zu dem Gesetzentwurf selbst. Jch kann nicht sagen, daß gerade dieser Entwurf meine warme Sympathieen besitzt. (Beifall.) Mein werter Freund hat so viel dafür getan, wie er konnte, er hat in bewunderungswürdiger Weise alles gesagt, was zu Gunsten der Bill zu sagen ist, aber er hat mich dennoch nicht davon überzeugen können, daß dieser Entwurf meinem Standpunkt zu dieser Angelegenheit entspricht – dem Standpunkt, den ich soeben dem Hause erklärt habe. Dieser Entwurf würde nur einer kleinen Minderheit wohlsituierter, lediger Frauen das Wahlrecht gewähren. (Hört, hört!)
Er nannte einige Zahlen aus seinem eigenen Wählerkreis, die ich natürlich weder untersuchen noch beurteilen kann. Jch habe angenommen – und bis mir nicht das Gegenteil bewiesen ist, werde ich es weiter glauben – daß es im ganzen genommen so gehen wird, wie ich schon sagte –, der Entwurf wird den besitzenden, wohlhabenden Damen das Wahlrecht verleihen, aber er wird nicht, jedenfalls nicht in dem Grade, wie es notwendig ist, die große Menge der arbeitenden Frauen oder die Frauen der Arbeiter im Lande berühren. Der Antrag ist innerhalb bestimmter Grenzen gut, und ich gebe zu, daß diese Begüterten ebenso großes Anrecht an das Wahlrecht haben wie ihre Schwestern. Aber er steht nicht auf der Rechtsgrundlage, von der aus ich die Frage befürworte, von der aus ich zur Belehrung und Beeinflussung dieses Hauses und des Landes verlange, daß die aktuellen Ansichten und die Erfahrungen der großen Masse der Frauen, die der Gesetzgebung unterstehen, eingeholt werden. – Darum werde ich für diesen Gesetzentwurf stimmen (Beifall) als Ausdruck meiner Meinung, daß der Ausschluß der Frauen vom Wahlrecht weder zweckmäßig, noch gerecht, noch politisch berechtigt ist. (Beifall. ) “
Nun kamen die Gegner. Eine stärkere Rolle als die prinzipiellen Einwände, die zu bekannt sind, als daß es notwendig wäre, sie wiederzugeben, spielten die partei - politischen und taktischen Bedenken, die ja auch Sir Henry schon andeutet. Die Bill verstärkt, da England ein Zensuswahlrecht hat, das Gewicht der oberen Stände. Daß die Bekämpfung der Bill als einer „ undemokratischen “Maßregel übrigens nicht durchaus stichhaltig ist, beweist, daß sie auch Unterstützung seitens der Arbeiterpartei fand; Mr. Snowden meinte, daß nach einer Schätzung, die auf Grund der kommu - nalen Wählerlisten vorgenommen worden sei, doch auch die arbeitenden Frauen in 423Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England.erheblichem Prozentsatz zu dem Kreis der neuen Wähler gehören würden. Ein anderer Einwand gegen die Bill war der, daß Englands politische Haltung in der äußeren Politik durch das Frauenstimmrecht beeinflußt werden würde, und daß man das nicht wagen dürfe, so lange alle europäischen Länder durch „ virile masculine vote “beherrscht wären. Als taktische Bedenken wurden vor allem zwei betont: eine so wichtige Maßnahme, die den Kreis der Wähler um etwa zwei Millionen erweitert, dürfe nicht von einem Einzelmitgliede eingebracht werden, sondern müsse unter Ver - antwortlichkeit der Regierung selbst diskutiert werden. Die Regierung aber möchte – trotz prinzipieller Zustimmung – diese Verantwortung momentan nicht übernehmen. Denn einmal gilt es als eine Forderung politischen Anstandes – und mit Recht – daß die Regierung nicht große einschneidende Fragen, neue Programmpunkte, im Ver - lauf der Legislaturperiode ausnimmt, zu denen sie sich bei den Wahlen nicht schon bekannt hat, und zu denen also die Wähler sich nicht haben äußern können. Das ist bei den letzten Wahlen mit bezug auf das Frauenstimmrecht wohl hier und da, aber doch nicht durchgehend geschehen. Dann aber würde die Annahme einer Frauenstimm - rechtsbill auch deshalb die Auflösung des Parlaments nach sich ziehen, weil eine Regierung, die von dem neuen Kreis von Wählern – in diesem Fall den Frauen – nicht mitgewählt ist, keine repräsentative Bedeutung mehr hat. Jmmerhin spricht dieser Grund wohl weniger mit, weil die Eintragung der Frauen in die Wählerlisten erst bis 1909 erfolgen könnte und bis dahin, wie Mr. Dickinson hervorhob, so wie so irgend eine Wahlrechtsreform neue Wahlen erfordern würde. Ob freilich in dieser Verknüpfung mit irgend einer neuen Wahlrechtsreform das Frauenstimmrecht nicht wieder der Parteikonstellation zum Opfer fallen wird, ist sehr fraglich. Der springende Punkt ist: die liberale Regierung will nicht ihre eben errungene Position aufs Spiel setzen, indem sie den Kampf für das Frauenstimmrecht von sich aus aufnimmt, und ohne die Regierung ist die Sache aussichtslos. Es heißt also wieder „ arbeiten und nicht verzweifeln “– um der Regierung Vertrauen zu der Popularität des Frauen - stimmrechts einzuflößen.
Niederdrückend aber ist es doch, daß ein Opfer, das für Handelspolitik und Zollfreiheit selbstverständlich gebracht wird, für die Befreiung der Frauen ohne weiteres als zu groß erscheint. Bei aller Wärme, die der Minister und die Freunde des Frauenwahlrechts hier an den Tag gelegt haben – aus der Sachlage selbst geht doch zu klar hervor, daß neben den politischen Programmpunkten des Freihandels und allen, die sonst den Kurs der liberalen Regierung bezeichnen, das Frauenstimmrecht als quantité négligeable gilt. Wenn man wirklich innerlich von seiner Notwendigkeit so überzeugt ist, wie der Premier, dann ist kaum zu rechtfertigen, daß man diese Über - zeugung nicht ebenso gut in die Tat umsetzt, wie irgend eine andere, mit der die Regierung stehen und fallen würde. Handelt es sich doch, wie der Minister selbst sagt, nicht nur um das Fortbestehen einer offensichtlichen Ungerechtigkeit, sondern um die Schädigung und Vernachlässigung von Kulturaufgaben, die so lange unzulänglich gelöst werden, als der Mann allein Einfluß auf die Gesetzgebung hat.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-02-02T14:13:03Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-02-02T14:13:03Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England. Helene Lange. 1. HerbigBerlin1907. Die Frau (15) pp. 420-423.
Fraktur
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