PRIMS Full-text transcription (HTML)
[1]
Das Frauenstimmrecht
Verlag:Buchhandlung des Schweiz. Grütlivereins,Zürich1913.
[2]

Die vorliegende kleine Schrift, Arbeiter, Arbeiterin, ist für Dich. Sie will Dir die Wandlungen der Stellung der Frau in der menschlichen Gesellschaft, wie sie sich in langen Zeiträumen herausentwickelt hat, aufzeigen. Da - durch soll in den weitesten Proletarierschichten Jnteresse und Verständnis für die moderne Arbeiterinnenbewegung und ihre Ziele geweckt und gefördert werden.

Zürich, 4. Februar 1913.

Marie Walter.

Das Frauenstimmrecht.

Der große Philosoph des Altertums, Plato, der zu Anfang des vierten Jahrhunderts vor Christo lebte, dankte den Göttern, daß er als Mann und nicht als Frau geboren wurde. Der fromme Jude betet noch heute in seiner Morgenandacht: Gelobt seist du, Gott, unser Herr, und Herr der Welt, der mich nicht zu einem Weibe gemacht hat . Die moderne Arbeiterin, die geplagte Fa - milienmutter, die weder Lust zum Philosophieren noch Zeit zum Beten übrig hat, seufzt unter der Last ihrer doppelten Berufs - pflichten. Sie hadert mit dem Schicksal, das sie nicht als Mann, sondern als Weib auf die Erde gestellt hat. Sie seufzt und hadert, bis das unbestimmte Sehnen in ihrem Jnnern erlischt, bis die Re - signation ihr von Natur gefühlsweiches, empfängliches Herz ab - stumpft und hart werden läßt. Die denkgeschulte, zur Erkenntnis ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage erweckte Proletarierin seufzt und hadert nicht. Jm Vollbewußtsein ihres Eigenwertes, ihres Menschtums lauscht sie mit gespannter Seele dem Flügel - schlag der neuen, der kommenden Zeit und verfolgt mit wachsen - dem Jnteresse die großen ökonomischen Umwälzungen, die sich in der Vergangenheit ereignet und heute weiterhin vollziehen. Jhr Blick, getragen, geweitet und geschärft von der durch den Sozia - lismus vermittelten Einsicht in die Wirtschafts - und Gesellschafts - ordnung, eilt weg von der bangen, drückenden Gegenwart in die verheißungsvolle, lichtverklärte Zukunft, er wendet sich gleichzeitig rückwärts, durchmißt Jahrtausende, um an Hand der Geschichte der Menschheit, an ihren Entwicklungsstufen, immer klarer und bewußter den Weg zu erkennen, der untrüglich vorwärts und hinauf ins Licht der Kultur führt.

3

Das Streben nach der Ergründung des geschichtlichen Ge - schehens, nach der Erfassung der organischen Zusammenhänge im Welt - und Menschenleben, lüftet Schleier um Schleier und löst all - mählich auch das Dunkel, das über den Uranfängen der Mensch - heit gelagert. Aus seltsamen, bis in die Neuzeit unverstandenen und unrichtig gedeuteten Erscheinungen in Sitten und Gebräu - chen mancher wilden Völkerstämme leuchten blitzende Lichter auf, die ungeahnte neue Erkenntniswerte aufzeigen.

Als erster, welcher eine geschichtliche Entwicklung der Familie nachzuweisen versuchte, ist der Schweizer Bachofen zu nennen. Bis zum Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lehnte die historische Wissenschaft sich auf diesem Gebiete an die fünf Bücher Moses an. Danach galt die patriarchalische Familienform als die älteste und allein bestehende, die sich bis in unsere Tage in der bürgerlichen Familie forterhalten hat. Bachofens Mutterrecht, das 1861 erschien, bedeutete eine vollständige Revolution jener ver - knöcherten Anschauung. An Hand von zahllosen, der altklassischen Literatur entnommenen Stellen trug er mit Bienenfleiß die Be - weise für die Richtigkeit seiner von ihm ausgestellten Leitsätze und Behauptungen zusammen. Jndessen ihn erreichte das Geschick so manchen Forschergeistes: er blieb unbekannt.

Vier Jahre später (1865) trat ohne Kenntnis des Bachofen - schen Werkes ein Engländer, Mac Lennan, mit einem Buche an die Oeffentlichkeit: Studies in Ancient History . Die zum Teil auf recht gewagten Kombinationen fußenden theoretischen Er - örterungen des nüchternen Juristen fanden in England lebhaften Anklang. Er galt hier allgemein als erste Autorität, als der eigentliche Begründer der Geschichte der Familie und das noch geraume Zeit nach dem entscheidenden Auftreten Morgans.

Dieser, ein Amerikaner, versuchte in seinem Hauptwerk: An - cient Society (Urgesellschaft) 1877, seine 1871 noch unklar erfaßten Entdeckungen über die mutterrechtliche Familienform in ihrer urgeschichtlichen Bedeutung auseinanderzulegen. Das bei den Jrokesen, den amerikanischen Jndianern, noch in Anwendung ste - hende eigentümliche Verwandtschaftssystem bildete den Ausgangs - punkt zu wertvollen Schlußfolgerungen. Das Studium jener Ver - hältnisse und anderer bei verschiedenen asiatischen, vor allem indi - schen, Völkerstämmen geltenden Verwandtschaftssysteme, ermöglichte ihm die Rekonstruierung der entsprechenden Familienformen. Da - mit war für den Forschungsweg eine weite Perspektive in die Vor - geschichte der Menschheit eröffnet. Das Hauptverdienst Morgans aber liegt darin, daß er jene Familienform entdeckte, jene nach Mutterrecht organisierte Geschlechtsgemeinschaft, aus der sich die spätere vaterrechtlich organisierte Familiengemeinschaft oder Gens der antiken Kulturvölker entwickelte.

4

Der große Denker Karl Marx trug sich mit der Absicht, die Resultate der Morganschen Entdeckungen in den Rahmen seiner materialistischen Geschichtsuntersuchung einzufügen. Der Tod hin - derte ihn daran. Der Gedanke gewann aber gleichwohl lebendige Gestalt. Sein Freund Engels fühlte sich zur Lösung dieser Auf - gabe, als eines Vermächtnisses, geradezu verpflichtet.

Jn seinem durch Lessingsche Gedankenklarheit und einen leicht fließenden, gedrungenen Stil sich auszeichnenden Buch: Der Ur - sprung der Familie, des Privateigentums und des Staates , erste Auflage 1884, hat Engels ein unvergängliches Werk geschaffen. Unter Zugrundelegung der von Bachofen und Morgan aufgezeig - ten großen Gesichtspunkte reiht er Bild an Bild von der ur - sprünglich auf kommunistischer Grundlage sich festigenden mut - terrechtlichen Familiengemeinschaft zur vaterrechtlich sich gestal - tenden Einzelfamilie.

Seit dem Erscheinen dieses Buches sind die Forschungsergeb - nisse in der Völkerkunde und Vorgeschichte noch weiter gediehen. Manche der Engelsschen Ansichten und Ausführungen wurden überholt, so von Grosse: Entwicklung der Wirtschaft und der Fa - milie . Dies veranlaßte auch August Bebel, in der neuesten Auf - lage seines bedeutenden Werkes: Die Frau und der Sozialis - mus , zu einer Neugestaltung und Erweiterung der ersten Ka - pitel.

Eine auf breiter Grundlage fußende systematische Darstellung der gewonnenen Resultate vermittelt Dr. F. Müller-Lyer in seiner umfassenden Soziologie: Entwicklungsstufen der Menschheit, und zwar in Band 3: Formen der Ehe , und Band 4: Die Familie . Die Forschungen des Genossen H. Cunow über die Verwandt - schaftsorganisationen der Australneger bildeten für ihn wichtige Stützpunkte. Schon dieser leistete den Nachweis, daß auf der Stufe des niederen Ackerbaues die Frau den Mann beherrschte. Dieser Frauenherrschaft räumt er eine verhältnismäßig nur kurze Zeit ein. Sie erreichte ihr Ende mit dem Uebergang des wich - tigsten Produktionsmittels, des Ackers, aus dem Besitz der Frau in jenen des Mannes.

Aus dem Endresultat all dieser Forschungen aber tritt als bedeutsames Moment zutage: die unumstößliche Tatsache der mit - unter durchaus freien wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stel - lung des Weibes, der Frau, in der ursprünglich kommunistischen Haushaltung der Geschlechtsverbände.

Bücher, in seiner Entstehung der Volkswirtschaft , erscheint es zweifellos, daß das uranfängliche Menschengeschlecht unermeß - liche Zeiträume hindurch ohne jegliche gesellschaftliche Organisa - tion und Arbeit existiert hat. Erst mit dem Uebergang der indivi - duellen Nahrungssuche zur materiellen Lebensgemeinschaft ent -- 5 standen fester gefügte kleinere Gemeinwesen. Jhre Kraft ruhte in einer Demokratie, in welcher die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne je nach dem Grade ihrer wirtschaftlichen Bedeutung zum Ausdruck kam. Ein primitiver Kommunismus in der Wirt - schaft und im Besitz, ein einfaches Zusammenleben und Zusam - menarbeiten hielt die Blutsverwandten beieinander. Für Bachofen und Engels bildet schon die kommunistische Haushaltung die sach - liche Grundlage der Vorherrschaft der Frauen im Hause. Jeden - falls ist die aus der Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts her - vorgegangene Auffassung eine ganz irrige, das Weib sei im An - fang der Gesellschaft durchgehend die Sklavin des Mannes gewe - sen. Bei den Wilden und Barbaren der Unter - und Mittelstufe, teilweise noch der Oberstufe, war seine Stellung nicht selten eine freie und gleichberechtigte. So konnte ein langjähriger Missionar, Arthur Wright, noch von den Jrokesen berichten: Was ihre Fa - milien betrifft, zur Zeit, wo sie noch die alten, langen Häuser bewohnten, beherrschte gewöhnlich der weibliche Teil das Haus. Die Vorräte waren gemeinsam. Wehe aber dem unglücklichen Ehe - mann oder Liebhaber, der zu träge und zu ungeschickt war, seinen Teil zum gemeinsamen Vorrat beizutragen. Einerlei, wieviel Kinder oder wieviel Eigenbesitz er im Hause hatte, jeden Augen - blick konnte er des Befehls gewärtig sein, sein Bündel zu schnüren und sich zu trollen. Und er durfte nicht versuchen, dem zu wider - stehen. Das Haus wurde ihm zu heiß gemacht. Die Frauen waren die große Macht in den Geschlechtsverbänden, in den Gentes und auch sonst überall. Gelegentlich kam es ihnen nicht darauf an, einen Häuptling abzusetzen und zum gemeinen Krieger zu degra - dieren.

Diese Vorzugsstellung der Frauen, d. h. der Mütter, hatte ihre besondere Grundursache. Sie resultiert letzten Endes aus dem Gemeinschaftsleben, das wohl die leibliche Mutter untrüglich erkennen liest, nicht aber den leiblichen Vater. Diese nur von mütterlicher Seite mit voller Gewißheit nachweisbare Abstam - mung bewirkte daher in manchen Geschlechtsverbänden einzig die Anerkennung der weiblichen Stammeslinie. Wiederum gebührt Bachofen das Verdienst, diese Entdeckung gemacht zu haben. Er war es auch, der diese ausschließliche Anerkennung der Abstam - mungsfolge nach der Mutter und die daraus mit der Zeit sich er - gebenden Erbschaftsbeziehungen die aber nicht etwa in unserem juristischen Sinne aufzufassen sind mit dem allerdings schiefen Namen Mutterrecht bezeichnete.

Kommunismus und Demokratie, diese grundlegenden Formen der Sozialwirtschaft aber mußten gesprengt werden, sobald das Privateigentum als treibende Macht in die Geschichte eintrat. Dies geschah mit der Erfindung neuer gesellschaftlicher Arbeits - 6 mittel, dem wachsenden Reichtum an Vieh, allgemein gesprochen, mit den veränderten Produktionsverhältnissen.

Die zunehmende Geschicklichkeit in der Verfertigung von Waffen und Werkzeugen veranlaßte eine immer größere Steige - rung der Produktion. Hiervon zeugen die an vielen Orten auf - gefundenen unzweifelhaften Reste von Werkstätten für Steinwerk - zeuge, wo gemeinsam für die Gesamtheit gearbeitet wurde. Nach und nach gesellte sich die Verarbeitung der Metalle hinzu, von Kupfer und Zinn, der aus beiden zusammengesetzten Bronze und von Gold und Silber.

Jn gleicher Weise erschließen die Zähmung der wilden Büffel - kuh und anderer Tiere in Asien, und damit die Züchtung von Her - den, neue Quellen des Reichtums. Die Hirtenstämme bilden sich, welche das Aufziehen und die Wartung des Viehes zu ihrem Hauptarbeitszweig gestalten. Damit vollzieht sich die erste große ge - sellschaftliche Teilung der Arbeit. Mit der reichlicheren Milch - und Fleischproduktion, der Herstellung anderer Lebensmittel und der vermehrten Gewinnung von Rohstoffen wird der Grund gelegt zur Warenübertragung, zum Warenaustausch von Stamm zu Stamm, der ursprünglich im Auswechseln von Gastgeschenken bestand.

Sobald aber die Herden und die übrigen neuen Reichtümer aus dem Gemeinbesitz des Stammes, der Gens, in das Eigentum des einzelnen übergingen, bricht eine gewaltige Revolution über die Familiengemeinschaft herein.

Die uranfängliche Arbeitsteilung, die nur zwischen den beiden Geschlechtern bestand, nötigte den Mann zur Beschaffung des Roh - stoffes der Nahrung und der dazu erforderlichen Werkzeuge. Er zieht aus auf die Jagd und den Fischfang, in den Krieg zur Aus - übung der Blutrache. Sein Reich, sein Gebiet ist der Wald. Die Frau wirkt im Zelt, in der Behausung, auf dem von ihr mit dem Grabstock notdürftig zugerichteten Ackergelände. Sie besorgt die Zubereitung der Nahrung und Kleidung; sie pflanzt, kocht, webt und näht. Jedes, Mann und Frau aber ist Eigentümer der von ihm selbst gefertigten und benutzten Werkzeuge. Alles andere, was gemeinsam hergestellt und gemeinsam verbraucht wird, ist gemeinsames Eigentum, so die Behausung, das Boot, das Pflanz - land.

Nun aber durch die Vervollkommnung der Werkzeuge, durch die Erfindung und Gewinnung neuer Arbeitsmittel, durch die Aufzucht von Herden, in allen Arbeitszweigen eine immer größere Steigerung der Produktion erzielt wurde, war bald ein Ueber - schuß an Gütern vorhanden. Die menschliche Arbeitskraft erzielte ein größeres Produkt, als zu ihrem Unterhalt erforderlich war. Die Gier nach persönlichem, privatem Reichtum, nach Eigenbesitz, 7 erwachte. Der von allem Anfang an auf den Erwerb von außen angewiesene Mann bemächtigte sich der neuen ausgiebigeren Er - werbsmittel, des Ackerlandes und der Herden. Gehörte ihm aber das Vieh, dessen Zähmung und Wartung sein Werk war, so auch die gegen Vieh eingetauschten Waren und Sklaven. Mit dem Ver - fügungsrecht über die neuen Nahrungsquellen erwirbt er sich eine wichtigere Stellung in der Familie als die Frau. Der wilde Krieger und Jäger , sagt Engels, war im Hause zufrieden ge - wesen mit der zweiten Stelle, nach der Frau; der sanftere Hirt, auf seinen Reichtum pochend, drängte sich vor an die erste Stelle und die Frau zurück an die zweite. Damit aber noch nicht genug. Dem ersten Schritt zur Alleinherrschaft des Mannes im Hause folgte als natürliche Konsequenz der zweite, der Sturz des Mut - terrechtes.

Nach dem Brauch der damaligen Gesellschaft konnten nicht immer die Kinder des Mannes von ihm erben, sondern oft nur von ihrer Mutter. Bei seinem Tode wären seine Herden vielfach übergegangen in den Besitz zunächst seiner Brüder und Schwe - stern, oder der Nachkommen der Schwestern seiner Mutter. Jn vielen Fällen blieben seine eigenen Kinder enterbt. Was lag daher näher, als daß er seine durch den wachsenden Eigenbesitz mehr und mehr verstärkte Stellung in der Familie benutzte, um die mütterliche Erbfolge aus dem Wege zu räumen? Die Mutter - folge wurde umgestoßen, Vaterrecht trat an ihre Stelle. Noch in unsern Tagen sehen wir diesen Vorgang in einer Reihe von Jndianerstämmen sich vollziehen unter dem Einfluß des sich meh - renden Reichtums und der veränderten Wirtschaftsweise.

Mit dem Umsturz des Mutterrechts, mit seiner Verdrängung durch das Vaterrecht war der Zusammenbruch des alten Kom - munismus besiegelt. Diese Wandlung bedeutete einen tiefen Eingriff ins Frauenleben. Denn die alte kommunistische Haus - haltung hatte für die Frauen die Ausübung einer öffentlichen, gesellschaftlich notwendigen Funktion bedeutet, welche ihnen in der Gemeinschaft eine freie, mit den Männern gleichberechtigte Stellung sicherte. Das durch den Privatbesitz geheiligte Herr - schaftsmonopol des Mannes formte diesen öffentlichen Dienst um in den Privatdienst des Familienhauptes. Mit andern Worten: Der Sieg des Privateigentums über das naturwüchsige Gemein - eigentum änderte die Familienform. Die Herrschaft des Mannes mit dem Hauptzwecke der Erzeugung von Kindern mit unbestrit - tener Vaterschaft zwang die Frau im Gegensatz zum Manne zur Monogamie, zur Einzelehe. Damit begann die Knechtung und Entwürdigung des weiblichen Geschlechts durch das männliche: die erste Klassenunterdrückung, wie Engels zutreffend ausführt.

Denn Mutterschaft und die von Natur gebotene Pflicht des8 Stillens der Kinder bildeten für die Frau von allem Anfang an Hemmnisse in ihrer Bewegungs - und Lebensfreiheit. Die zeit - weilig hilflose Lage wies sie hin auf den Schutz des Mannes, so - bald jener enge Gemeinsinn unter der Blutsverwandtschaft sich zu lockern begann. Der an physischer Kraft Ueberlegene gewöhnte sich leicht ein in die Rolle des Beschützers und leitete daraus be - wußt und unbewußt für sich das Recht ab des Besitzes über sein wertvollstes Eigentum, das Weib. Die Unterordnung unter eine mächtigere Gewalt, unter einen fremden Willen, wurde von diesem erst mehr als eine ihm erwiesene Guttat denn als lästige Fessel empfunden.

Hatte im alten kommunistischen Haushalt für Mann und Weib die Pflicht bestanden, Tag um Tag die Nahrung für den Lebensunterhalt neu zu beschaffen, so trat mit der Zähmung der Haustiere und der Bildung von Herden eine wesentliche Erleich - terung ein. Milch und Fleisch waren jetzt reichlich vorhanden. Ja, das Vieh vermehrte sich viel rascher als die Familie. Zu seiner Wartung wurden immer mehr Leute benötigt. Die mensch - liche Arbeitskraft erlangte daher eine zunehmend höhere Wertung. Die Menschenfresserei, als eine Folge der andauernden Unsicher - heit der Nahrungsquellen, verschwindet. Die Haltung von Sklaven, von Unfreien kommt auf. Wiederum ist es der Mann, der sich dieses Arbeitsmittels bemächtigt. Damit ist der Grund gelegt zu einem neuen gesellschaftlichen Organismus: der patriarchalischen Groß-Familie. Jhr Wesenszug ist die Zusammenfassung von freien und unfreien Personen, von Weib, Kindern und Sklaven, oder Leibeigenen, Hörigen im Mittelalter zu einer wirtschaftlichen Einheit, zu einer Familie unter der väterlichen Gewalt des Fa - milienhauptes.

Jn dieser geschlossenen Hauswirtschaft sind Art und Maß der Produktion durch den Verbrauchsbedarf der Hausangehörigen bestimmt. Gütererzeugung und Güterkonsumtion bilden einen einzigen ununterbrochenen und ununterscheidbaren Vorgang. Nicht nur dem Boden sind die Gaben abzugewinnen. Alle benö - tigten Werkzeuge, Geräte, Bedarfsgegenstände werden von den Familienzugehörigen selbsttätig hergestellt, die Rohprodukte um - geformt und veredelt, bis sie zum Gebrauche hergerichtet sind.

Zu höchster Ausbildung gelangte die römische Groß-Familie. Weite Strecken des Grundbesitzes wurden im Privatinteresse des Familienhauptes durch Scharen von Sklaven bewirtschaftet. Diese übten in Abteilungen unter der Aufsicht von Aufsehern alle Be - rufe aus.

Die Frau aber wurde in eine unwürdige Lage herabgedrückt. Bei manchen Völkern bewirkten die Nachklänge des alten Mutter - rechtes eine verhältnismäßig freiere Stellung des weiblichen Ge -9 schlechtes, so bei den Aegyptern und Spartanern. Dem Mann als Familienhaupt fallen alle wichtigen und ehrenvollen Beschäfti - gungen zu. Die nunmehr ganz ins Haus gebannte Frau sinkt zur Haushälterin, zur Dienerin, zur Sklavin des Mannes herab. Dieser ist der Eigentümer alles Reichtums, den er durch die akku - mulierte Tätigkeit seiner Untergebenen als Krieger, Kaufmann, Handwerker, Geldwucherer oder Bauer erwirbt. Die blutigen Kriege, die großen Eroberungen, die zur Stämmevereinigung, zur Staatenbildung drängen, die Klassenkämpfe im Jnnern spiegeln sich wieder im despotischen Geist, der das Leben der Großfamilie durchdringt.

Jm Altertum war die Gewalt des Mannes als Familien - haupt eine unbeschränkte, ein Recht über Tod und Leben aller. Von der Frau verlangte der Mann unbedingte Treue zur sicheren Feststellung seiner Vaterschaft. Tötet er sie, so hat er nur ein ihm zustehendes Recht ausgeübt. Die unumschränkte und keinem auf der Erde verantwortliche Macht des Hausherrn , sagt Mommsen in seiner römischen Geschichte, ist unabänderlich und unzerstör - bar, solange er lebt; nicht das Alter, nicht der Wahnsinn, ja nicht einmal sein eigener freier Wille vermag die Macht zu lösen Dem Hausherrn gegenüber war alles, was zur Familie gehört, rechtlos, Weib und Kind nicht minder als der Stier und der Sklave.

Mit der Erfindung des wichtigsten Metalls, des Eisens, wuchs der Reichtum noch rascher. Die Urbarmachung ausgedehnterer Waldstrecken wurde mit Hilfe der eisernen Pflugschar möglich. Die zweite große Teilung der Arbeit trat ein: das Handwerk sonderte sich vom Ackerbau. Mit dieser Spaltung bereitet sich die Produktion direkt für den Austausch vor. Der Handel gewinnt große Ausdehnung über die Landesgrenzen hinaus, ja sogar übers Meer. Neben den Freien und Sklaven zeigen sich bereits die Un - terschiede von Reich und Arm. Der Krieg, früher geführt lediglich aus Motiven der Rache, wird zum Raubmittel und damit zu einem stehenden Erwerbszweig.

Die zunehmende Differenzierung, die verschiedenartige Ge - staltung der Boden - und übrigen Besitzverhältnisse bewirkt die Klassenscheidung. Die Ausbeutung und Entrechtung vieler durch wenige wird zum hervorstechendsten Wesenszug aller Gesellschafts - gliederungen, die sich hinfort auf das Privateigentum stützen. Die Zahl der sozial und wirtschaftlich Enterbten mehrt sich zu un - gezählten Massen, die sich in immer mehr anwachsendem Groll und Haß aufbäumen gegen die eisernen Ketten der Klassenherr - schaft. Zwischen den Bevorrechteten und den Geknechteten kommt es zu gewaltigen Kämpfen, die den Fortschritt in der Mensch - heitsentwicklung in ihrem gärenden Schoße tragen. Jch erinnere 10 hier nur kurz an die Sklavenkriege im Altertum, an die Kämpfe der Handwerkerzünfte gegen das Patriziat der Städte im Mittel - alter, an die Aufstände der unterdrückten Bauern im 16., die Re - ligionskriege im 17., die Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert, denen in der Neuzeit die modernen Klassenkämpfe zwischen Pro - letariat und Unternehmertum sich anreihen. Die kapitalistische Weltordnung erzittert in ihrem vielgestaltigen Gefüge. Kommu - nismus und Demokratie, jene soliden Grundvesten ursprünglicher Menschengemeinschaft, winken in höher entwickelter Form als Er - löser, als Befreier von den Schmerzen und Qualen, welche die Klassenherrschaft geboren. Jn diesem Schöpfergang der Geschichte, in diesem Menschheitswerden bildet die Befreiung des Weibes eine Etappe, eine Stufe von höchster Bedeutung. Wiederum ist es die Sozialwirtschaft, sind es die gesellschaftlichen Produktions - bedingungen, welche mit ihren dem Weibe aufgebürdeten Pflichten ihm das Anrecht auf wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung schaffen.

Mit der Entwicklung der Privatwirtschaft wurde der Weg bereitet, der die Frau aus der geschlossenen Hauswirtschaft wieder hinausführte in die öffentliche gesellschaftliche Arbeit. Dies ge - schah um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Der durch die Ent - deckungen der überseeischen Länder von Amerika und Australien rasch emporblühende Außenhandel hatte zur Wertmessung der Güter, der Waren, zur Erfindung eines allgemeinen praktischen Tauschmittels, der geprägten Münze, des Metallgeldes, geführt. Der über große Kapitalien verfügende Kaufmann, der Händler, wan - delte sich, zur sicheren Gewinnung von Mehrwert, um in den kapi - talistischen Unternehmer. Er fing an, außerhalb seiner eigenen[Betriebsstätte] regelmäßig eine größere Zahl von Arbeitern und Arbeiterinnen zu beschäftigen. Bald übermittelte er diesen den Rohstoff selbst und zahlte dann Stücklohn, oder er bediente sich ihrer Arbeitskraft, indem sie das Rohmaterial, Flachs und Hanf zum Spinnen, Garn zum Weben lieferten. Jm letzteren Falle schoß er den Kaufpreis vor.

Neben dieser einen Form kapitalistischen Betriebes, dem Ver - lagssystem, das die gleichartigen Arbeitskräfte nur lose zusammen - hält, erstand die Manufaktur, die Fabrik. Diese organisiert den ganzen Produktionsprozeß durch eine zweckdienliche Arbeits - teilung. Durch diese kapitalistischen Produktionsweisen wurden wichtige wirtschaftliche Funktionen der familiären Wirtschafts -- gemeinschaft entzogen, was ihre Schwächung und Zersetzung her - beiführte. Dieser Auflösungsprozeß setzt sich fort bis in die heu - tige Zeit.

Schon in diesem Vorstadium des Kapitalismus treten männ -11 liche und weibliche Vorkämpfer des revolutionären Bürgertums für die wirtschaftliche und politische Gleichstellung der Frau ein.

Als erste Verfechterin der Frauenrechte ist die im 15. Jahr - hundert lebende französische Schriftstellerin Christine de Pisan zu nennen. Der Kampf ums Dasein, die Notwendigkeit des eigenen Broterwerbes zur Bestreitung des Unterhaltes ihrer Kinder ver - anlaßte sie in einer Streitschrift La cité des dames für die intellektuelle Gleichberechtigung der Frauen einzutreten. Durch ihr Vorgehen angeregt, ging Mademoiselle de Gournay, die Adop - tivtochter Montaignes, in ihren Forderungen noch weiter. Sie verlangte die volle Gleichberechtigung der Geschlechter mit Aus - nahme der Wehrpflicht. Jn England ließ der Kampf um die mit Füßen getretenen Grundrechte des Volkes und die declaration of rights sowie ihre im Jahre 1689 erfolgte gesetzliche Bestätigung die Frauenfrage lebendig werden. Unter anderen war es vor allem Anna Clifford, die lebhaft die rechtliche und politische Gleichberechtigung der Frauen verteidigte. Noch war aber das erlösende Wort für die halt - und ziellos tastende Frauenseele nicht gesprochen. Rousseau fand es in der Weisung: Werde Mutter! Damit hatte er die verborgene Wunde der Frau des 18. Jahr - hunderts aufgedeckt, die Verachtung der Mutterschaft. Und mit demselben warm pulsierenden Herzblut verfocht er im Contrat social die allgemeinen Menschenrechte: Der Mensch ist frei ge - boren Stärke gewährt kein Recht Auf seine Freiheit ver - zichten, heißt auf seine Menschheit, seine Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten Der Grundvertrag der Gesell - schaft muß an Stelle der physischen Ungleichheit eine sittliche und gesetzliche Gleichheit setzen 14 Jahre später verkündeten in den Vereinigten Staaten die ersten Vorkämpferinnen die Gleich - berechtigung des weiblichen Geschlechtes: Mercy Otis Warren, welche die Unabhängigkeit Amerikas forderte, bevor Washington sich in den Gedanken hineinfinden konnte, und ihre Freundin Abigail Smith Adams. Diese schrieb 1776 an ihren Mann: Wenn die künftige Verfassung den Frauen keine gründliche Auf - merksamkeit schenkt, so sind wir zur Rebellion entschlossen und halten uns nicht für verpflichtet, uns Gesetzen zu unterwerfen, die uns keine Stimme und keine Vertretung unserer Jnteressen zu - sichern. Rebelliert wurde zwar nicht, und wenn auch der Wunsch nach politischer Gleichberechtigung für die Gesamtheit der Verei - nigten Staaten sich nicht erfüllte, so waren es doch New Jersey und Virginia, die als erste Staaten der Welt für ihre weiblichen Bürger das Wahlrecht einführten und damit die Blicke des ganzen Weltenrundes auf sich lenkten.

Alle diese Tatsachen wirkten mit, daß in den Revolutions - stürmen Frankreichs mit dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und 12 Brüderlichkeit auch die Frauenbewegung mächtig gefördert wurde. Jhr begeisterter Anwalt Condorcet erhob schon 1787 in seinen Briefen eines Bürgers von Newhaven die Forderung nach voller Gleichberechtigung der Frauen. Fünf Jahre darauf erschien das berühmte Werk der Engländerin Mary Wollstonecraft: Forde - rung der Frauenrechte , dem die deutsche Schrift Hippels über die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts folgte. Auch in der Schweiz hatten sich seit Pestalozzi die Stimmen gemehrt, die nicht nur intellektuelle, sondern auch vollständige politische und wirt - schaftliche Gleichstellung der Frau forderten.

Allein weder die große französische Revolution noch die Frei - heitserhebungen von 1848 vermochten in den Frauen der untern Klassen den zündenden Funken zu einem bewußten organisierten Wollen zu entfachen. Die soziale Revolution von 1789 riß wohl eine ganze Reihe glänzender Frauengestalten auf die Welten - bühne. Die eifrigen Revolutionärinnen Rose Lacombe, Olympe de Gouges waren vor allem Kämpferinnen für die Rechte der Frau. Madame Noland, deren geistige Bedeutung ein Goethe anerkannte, nahm lebhaften Anteil an der Tagespolitik. Aber alle jene in den Salons der Girondisten (Vertreter des Großbürger - tums) sowie im Klub der Jakobiner (Vertreter der kleinbürger - lichen Demokraten) am geistigen Leben der Revolution sich betei - ligenden Frauen gehörten den höheren Gesellschaftsschichten an. Sie traten in Wort und Schrift, für die Umgestaltung der herr - schenden Gesellschaftsordnung ein. Eine nachhaltige Bewegung vermochten die bürgerlichen Freiheitskämpfe indessen unter den Frauen des Volkes nicht auszulösen. Zwar haben diese in den bewegten Tagen der französischen, der deutschen, der Wiener Revolution von 1848 auf den Barrikaden gestanden und an allen Kämpfen mit der den Frauen eigenen Tapferkeit und Begeiste - rung teilgenommen. Sogar die große Revolution kündet eine erfolgreiche Frauentat: den berühmten Zug der hungernden Frauen vom 5. September zum Versailler Königsschloß, um von Ludwig XVI. Brot für sich und die Kinder zu verlangen. Aber das alles waren keine von einem bewußten Willen getragene Ak - tionen.

Erst dem Sozialismus fiel die hehre Aufgabe zu, die Gedrück - testen, die Bejammernswertesten und die Rechtlosesten der mensch - lichen Gesellschaft mit dem Lichte der Erkenntnis des erduldeten Unrechts zu erfüllen und sie aufzuwecken aus dem tiefen geistigen Schlafe, der sie lange Jahrhunderte umfangen hielt. Nicht Theorie, nicht wissenschaftliches Grübeln waren es, das sie wach werden ließ und ihnen den Weg ihrer Pflicht vorzeichnete. Die industrielle Revolution, die mit der Erfindung der Dampfmaschine 1764 durch James Watt einsetzte, der drei Jahre später die wichtigste mecha -13 nische Erfindung des 18. Jahrhunderts folgte, die mit mecha - nischem Antrieb in Bewegung gesetzte Spinning Throstle von Richard Arkwright, diese industrielle Revolution hatte wohl mit leisen Schlägen an Herz und Verstand gepocht. Kaum daß das erste schwache Rütteln von den Frauen verspürt wurde. Zu schwer lastete der Druck der Vorurteile, der anerzogenen Gedankenlosig - keit, wie Bleigewicht auf ihnen. Da auf einmal erklang ein scharfer, hell metallener Ton! Die erlösende Botschaft des Sozia - lismus, dieses allgewaltigen Schmerzens - und Leidensstillers. Wie horchten die Frauen auf! Erst ungläubig die Köpfe schüttelnd, bis es sie innerlich zerrte und riß, mit aller Macht auf sie ein - stürmte und ihnen allmählich das beglückende und befreiende Pro - phetenwort zur unentbehrlichen geistigen Nahrung wurde.

Mit dem Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit schlug der Kapitalismus der Frau die grausamsten Wunden. Unter ihrer Einwirkung vollzog sich die Auflösung der patriarchalischen Hausgenossenschaft noch rascher. Zweig um Zweig der produktiven Arbeit wurde der bäuerlichen Hausindustrie entrissen und hinein in die Fabriken verlegt. Der immer gewaltiger sich entfaltenden Großindustrie werden die Arbeiterfrauen und Mädchen von Jahr zu Jahr in steigendem Maße als Berufstätige, als Erwerbende zugeführt. Karl Moor, Bern, gibt in seiner Broschüre: Ueber das Stimmrecht der Frauen ein anschauliches Zahlenbild über den Anteil des weiblichen Geschlechts an der modernen wirtschaft - lichen Tätigkeit. Jch kann mich daher auf einige wenige Angaben beschränken. Nach den zuverlässigsten in Betracht kommenden Be - rechnungen war in Ungarn, Rußland, Oesterreich beinahe die Hälfte der weiblichen Bevölkerung erwerbstätig, in Jtalien, Frankreich, Deutschland etwas mehr als ein Drittel, in der Schweiz, Belgien, Dänemark annähernd ein Drittel, während in den industriell bedeutend weniger fortgeschrittenen Ländern, wie Spanien und Portugal, die erwerbstätigen Weiblichen heute nur ungefähr einen Siebentel der weiblichen Gesamtbevölkerung aus - machen. Deutschland zum Beispiel zählte 1882 5,541,517 weibliche Erwerbstätige; 1895 6,578,550 und 1907 sogar 9,492,881; also nach Verlauf von 25 Jahren annähernd das Doppelte. Diese 9 ½ Mill. Frauen und Mädchen machen mehr als den vierten Teil der ge - samten weiblichen Bevölkerung des deutschen Reiches aus. Aehn - liche Zahlenverhältnisse weist die Schweiz auf. Die Volkszählung von 1870 registrierte rund 217,500 erwerbende weibliche Personen: freie Berufe, Kopfarbeiterinnen 10,000, Jndustrie 186,000 und Handel 21,500. Die Volkszählung von 1900 ergab ein Anwachsen der weiblichen Erwerbskräfte auf die Zahl 319,500: freie Berufe 24,000, Jndustrie 234,000 und Handel 61,500. Jn den 30 Jahren von 1870 bis 1900 fand demnach eine Vermehrung der erwerbs --14 tätigen Schweizerfrauen um 102,000 statt, rund um 50 Prozent. Heute ist die Zahl der weiblichen Erwerbskräfte weit über eine halbe Million angewachsen.

Daß die Frauen - und Jugendlichen-Erwerbsarbeit in stetem Steigen begriffen ist, geht auch aus den Berichten der schweize - rischen Fabrikinspektoren hervor. Danach ist im Zeitraum von 1901 bis 1909 im 2. Jnspektionskreise die Zahl der jugendlichen Erwerbstätigen um 70,3 Prozent, die der Frauen überhaupt um 88,1 Prozent gestiegen. Die Zunahme der jugendlichen Frauen allein beträgt 82,6 Prozent, während die der männlichen Jugend - lichen nur 59,2 Prozent ausmacht. Die Zahl der erwachsenen Frauen verzeichnet eine Vermehrung um 80,2 Prozent. Die Ver - gleichung mit dem numerischen Stand der männlichen Fabrik - arbeiterschaft des betreffenden Kreises ergibt ein verhältnis - mäßig stärkeres Anwachsen der weiblichen Fabrikarbeiter als der männlichen, bei den Frauen um rund 17 Prozent; bei den jugend - lichen Weiblichen um 25 Prozent. Wenn auch diese Verhält - nisse nicht ohne weiteres eine Verallgemeinerung zulassen, so ist aus den Aeußerungen der Fabrikinspektoren doch untrüglich zu erkennen, daß die Zunahme der Verwendung weiblicher Arbeits - kräfte in einem steten Fortschreiten begriffen ist.

Aus all diesen Zahlen redet in nicht zu mißdeutender Sprache die Leibes - und Seelennot der modernen Arbeiterin, die erbar - mungslos hinausgeworfen wird in den harten Daseinskampf, der heute in seiner nackten Brutalität mehr als der Hälfte der heirats - fähigen Arbeiterinnen den Eintritt in die Ehe verwehrt. Nicht daß der Frauenüberschuß hierbei eine gewichtige Rolle spielt. Nach der Volkszählung gab es in Deutschland 1900 27,246,000 Männer und 28,284,000 Frauen, und 1907: 30,461,000 Männer und 31,259,500 Frauen; also 1900 einen Ueberschuß von ungefähr 1 Million Frauen, und 1907 von 800,000. Dieser macht sich erst vom 16. Altersjahre an bemerkbar und erfährt die höchste Steige - rung in den höheren Altersstufen. Unter 16 Jahren überwiegt das männliche Geschlecht mit 50,000, in der Altersstufe von 16 bis 30 Jahren wendet sich das Verhältnis, indem sich ein Plus von 125,000 Frauen ergibt, das von 50 bis 70 Jahren die Höchstziffer von 500,000 erreicht, und über die 70 Jahre hinaus wieder zurück - sinkt auf 185,000. Die Jungweibernot, wie der Dichter Frenssen die Altjungfernschaft nennt, beschränkt sich nicht etwa auf den Frauenüberschuß, der im eigentlichen Heiratsalter, also vom 16. bis 30. Jahre im obigen Falle 125,000 beträgt. Jn Wirklichkeit waren im Jahre 1900 von den 6 ¾ Millionen erwerbstätigen Frauen rund 70 Prozent unverheiratet, nämlich etwa 4 ¾ Mill. Von 1900 bis 1907 nimmt dieser Prozentsatz sogar noch bedeutend zu. Diese Tatsache wirft ein helles Schlaglicht auf das Familie15 und Ehe zerstörende Wirtschaftssystem, unsere kapitalistische Weltordnung.

Jm nachbarlichen Oesterreich ist diese Frauennot noch größer. Hier zeigt sich sogar die merkwürdige Erscheinung, daß auf je 1000 gewerblich tätige Personen noch mehr Frauen als im indu - striell hochentwickelten Deutschland kommen. Auf 1000 zum Bei - spiel in der Tabakindustrie beschäftigte Personen entfallen in Deutschland 513 Frauen und Mädchen, in Oesterreich aber 881; in der Glasindustrie in Deutschland 138, in Oesterreich 291. Der - gestalt haben moderne Fabrikindustrie und Großhandel dem Haushalt die frühere Bedeutung entrissen und ihn seines alten Charakters entkleidet.

Dieses stetig anschwellende Einströmen der Frauen in Handel, Jndustrie und Gewerbe hält fortwährend die Triebkräfte der Frauenbewegung lebendig, der bürgerlichen sowohl wie der prole - tarischen. Beide erstreben mit der Wiedereingliederung in die gesellschaftliche Wirtschaft, die sich auf das Geheiß des Kapitalis - mus vollzieht, die soziale Gleichberechtigung. Dieses Endziel wird die bürgerliche Frauenbewegung niemals völlig erreichen. Wenn ihr auch die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter gelingt, so kann im Schoße der bürgerlichen Gesellschaftsordnung das Pro - blem der weitestgehenden Entwicklungs - und Betätigungsmöglich - keit der Frauen nicht vollständig gelöst werden. Der charakteri - stische Wesenszug des Kapitalismus, die Höchsteinschätzung und Heilighaltung des Privateigentums, bildet zur Erreichung jenes Zieles ein unübersteigliches Hindernis. Erst der sozialistischen, auf Gemeinwirtschaft aufgebauten Zukunftsgesellschaft wird es vorbehalten sein, die letzten sozialen Fesseln zu sprengen.

Jn hohem Maße begünstigt wird die Einbeziehung des weib - lichen Proletariats in Jndustrie und Gewerbe durch den tech - nischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Wahrhaftes Staunen erregen die revolutionierten Produktionsmittel und Verfahren der Neuzeit. Man vergegenwärtige sich zum Beispiel nur die sechsfach ermöglichte Steigerung der Produktion durch den im Jahre 1910 von der Maschinenfabrik Rüti konstruierten automa - tischen Webstuhl oder den heute schon zahlreich in der Stickerei - branche eingeführten Automaten mit seiner achtfachen Pro - duktivität. Die maschinellen Vervollkommnungen, die wirtschafts - technische Revolution in Jndustrie und Gewerbe lassen die man - nigfaltigste Verwendung und Ausnutzung der weiblichen Arbeits - kraft zu. Neben dem Manne und in der neueren Zeit an Stelle des Mannes tritt die proletarische Arbeiterin mehr und mehr auf den Werkplatz des Lebens. Wo findet sich heute ein Arbeitsgebiet für Körper und Geist, das den Frauen die Türe verschließt? Unter den 10,000 Berufsarten, welche die Statistik nennt, sind16 eine große Anzahl, die sich für die Frau noch besser eignen als für den Mann. Sicherlich bleibt nicht zu befürchten, daß die Frauen die spezifisch männlichen Berufe, jene des Bahnbeamten, Poli - zisten, Packträgers usw. auswählen werden, um dafür den Män - nern die weiblichen Berufe, wie Näherei, Blumenmachen, Putz usw. zu überlassen. Vielmehr sorgt heute die Arbeitsteilung schon dafür, und wird dies in der sozialistischen Gesellschaft noch zweckdienlicher geschehen, daß jedes, Mann und Weib, diejenigen Kulturwerte schafft, die seiner natürlichen Veranlagung und seinem Charakter entsprechen.

Die gedankenlose Phrase: Die Frau gehört ins Haus, wird millionenhaft Lügen gestraft. Kapitalistische Profitsucht und proletarische Not treiben die Mutter oft genug vom Säugling weg ins qualvolle, auf die Dauer schier unerträgliche Sklavenjoch des Erwerbs. Wo findet sich übrigens heute ein Gegenstand, ein Kunstprodukt, das ohne das Zutun der Frauen geschaffen wird? Harte sehnige Frauenkörper, die allen Liebreiz verloren, arbeiten gleich Männern im dunkeln Berginnern. Jch erinnere hier nur an die plastischen, monumentalen Darstellungen eines Meunier. Frauen sind es, die hinaufsteigen auf die schwankenden Gerüste, Frauen, die schaffen am feuerlohenden Gießofen. Ströme warmen, lebendigen, lustglühenden Blutes verrauchen in den von Dunst und Staub erfüllten Arbeitszwingern. Selbst die Macht der Religion weicht zurück vor dem Kommandoruf des Kapitals, das gefühllos hinwegschreitet über Legionen in seinem Dienst er - töteter Menschenleiber und Menschenseelen. Die von den klas - sischen Weltphilosophen gekündete Heiligkeit des Lebens ist in den Staub getreten. Denn heilig ist allein der Besitz, heilig ist nur das Kapital.

Allein die drängende Flut des Lebens, das geschichtliche Ver - gehen und Werden, wandelt alles Bestehende, schafft neue Formen, neue Jdeen, neue Daseinsnormen. Das Dogma von der Heilig - keit des Besitzes ist bereits vom wissenschaftlichen Sozialismus, durch seine großen Bekenner, Marx und Engels, als ein unrecht - mäßiges heuchlerisches Jnstrument in der Hand brutalen Eigen - nutzes gebrandmarkt worden. Jn gleicher Weise mußte die bür - gerliche Wissenschaft die Lehre von der Minderwertigkeit der weiblichen Begabung, dieses Ergebnis allzu kühnen Forschergeistes, einer Revision unterziehen. Diese Theorie spuckt zwar bewußt und unbewußt noch in manchem[Männerkopf]. Doch lassen wir die Theorie und begnügen wir uns mit der Tatsache, daß die Pro - duktion auf die Arbeitskraft und die besonderen Fähigkeiten der Frau geradezu angewiesen ist und ihrer nicht mehr entraten kann.

Aus dem kleinen Haus, der engumgrenzten Häuslichkeit, hat der unaufhaltsame Entwicklungsprozeß in der Gesellschaft die17 Frau hinausgeführt in das große weite Haus der Welt. Hier waltet und wirkt sie mit ihrer Hände Arbeit und ihres Geistes und Gemütes Kraft in Fabrik und Werkstatt, im Bureau und Laden, in der Schule, im Krankenhaus, für das Wohl der Gesell - schaft, für das Gedeihen der Allgemeinheit. Die Arbeit, die Tätig - keit, bildet wie beim Manne die Grundlage ihrer Existenz und verschafft ihr mit der Pflicht das Recht zur Verteidigung ihrer Lebensinteressen. Erscheint es da nicht selbstverständlich, daß gleiche Pflichten gleiche Rechte bedingen? Jst die Frau wie der Mann der Arbeit verpflichtet, dann soll sie auch als Gleichberech - tigte neben ihm stehen. Soll sie arbeiten, erwerbstätig sein in der Gemeinde, im Staat, in der Gesellschaft, dann lasse man sie auch mithaushalten in dem großen Weltenhause. Man gebe ihr per - sönliche, wirtschaftliche und politische Rechte wie dem Manne. Denn dadurch, daß die Frauen in der gesellschaftlichen Produktion tätig sind, ist ihre Existenzsicherheit nicht mehr eine wie früher durch den Hausfleiß gegebene. Jhr persönliches Dasein hängt von der Außenwelt, der Gesellschaft ab; es verknüpft sich mit den so - zialen Einrichtungen und Erscheinungen. Der Besitz politischer Rechte zur Wahrung der persönlichen Jnteressen wird für die Frau eine Lebensnotwendigkeit wie für den Mann.

Hinzu tritt noch ein weiteres Moment. Die wirtschaftliche Gleichberechtigung mit dem Manne verhilft der Frau zur ökono - mischen Unabhängigkeit von ihm und der Familie und erweckt in ihr die Erkenntnis ihres Eigenwertes, ihrer selbständigen Persönlich - keit. Erst jetzt wird sie sich ihrer hohen Naturbestimmung als Weib bewußt. Jhre hausfraulichen und mütterlichen Funktionen erscheinen ihr nicht mehr als Privatleistungen im Dienste des Mannes: Sie wachsen empor zu ihren höchsten Pflichtleistungen gegenüber dem Staate, gegenüber der Menschheit. Unter dem Ge - sichtswinkel dieser Einwertung empfindet sie die soziale und po - litische Vormundschaft des Mannes als ein gewaltiges Unrecht, als eine schwer lastende Kette, welche die eigene Rechtlosigkeit ihr geschmiedet. Die Forderung des Stimmrechts bedeutet daher die mit Hilfe des Gesetzes zu erreichende Mündigkeitserklärung der Frauen. Jn unsern Tagen verdichtet sich dieses Verlangen nach der politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter zu einem bewußten Massenwillen, der mit siegreicher Kraft vorwärts stürmt.

Noch aber haben die Frauen einen Kreuzesweg zu gehen, den sie seit mehr als einem Jahrhundert beschreiten und der sein Ende bis heute nicht erreicht hat. Tränen und blutiger Schweiß erzählen von der zurückgelegten Wegstrecke. Die Hungerlöhne der Frauen und Kinder enthüllen ein Elendsbild stumm erlittener Leibes - und Seelenqualen, aus dem mit grauenvollen Augen der Alkoholismus und die Prostitution hervorglotzen, jene Pesthauch18 ausatmenden Würgengel, die Schönheit, Tugend und Jugend ver - nichten. Die leidvollste Kreuzesträgerin aber ist die Mutter. Jhr Pfad ist der dornen - und schmerzensreichste! Die Pflichten der Mutterschaft und Berufsarbeit schaffen innere Konflikte, Seelen - kämpfe, die wehvollsten im Leben des Weibes! Das Dulden dieser Mütter ist nicht umsonst! Es hat den Grund gelegt und baut ihn weiter fort zu jenem Mut und jener Kampfesausdauer, die Berge zu versetzen imstande sind. Die geschichtliche Entwicklung reißt die Frauen aus dem harten Muß zum unbeugsamen Wollen und sichert ihnen damit den Sieg in der Zukunft.

Der Kampf der Frauen um ihre Rechte und damit um bessere Arbeits - und Lebensbedingungen ist nicht etwa eine vom übrigen Weltgeschehen losgetrennte Einzelerscheinung. Er bildet vielmehr einen Teil der allgemeinen Umwälzung der sozialen und wirt - schaftlichen Verhältnisse. Er bildet eine notwendige Vorstufe im Entwicklungsgang der Gesellschaft zu voller Demokratie, dessen Endziel gipfelt in der uneingeschränkten politischen Gleichberech - tigung des Proletariats. Faßt man dieses in den ökonomischen Gesetzen begründete geschichtliche Weiterschreiten der Menschheits - entwicklung ins Auge, so wird einem sofort klar, daß nicht die bürgerliche Frauenbewegung, daß nicht die bürgerlichen Parteien die endgültige politische Befreiung des weiblichen Geschlechtes zu vollbringen imstande sein werden. Unter allen Parteien in allen Ländern trägt einzig die Sozialdemokratie das Banner mit der Losung: Für das allgemeine Frauenstimmrecht! voran.

Wohl prägte die Bourgeoisie ehemals im Kampfe gegen den Feudaladel, gegen die Vorrechts - und Machtstellung der Aristo - kratie, mit Flammenschrift das politische Recht der Persönlichkeit als ein von der Natur gegebenes und gewolltes ihrer Siegesfahne auf. Die Betonung dieses Fundamentalsatzes im wetternden Sturme der Völkerbefreiung verschaffte dem Bürgertum die Mit - herrschaft im Staate und damit eine ungehinderte, seinen Klassen - interessen dienende Entfaltung der kapitalistischen Produktion. Der treue Kampfgenosse, das Proletariat, der vierte Stand, ging bei dieser Machtaneignung leer aus. Er war noch zu jung, noch fehlten ihm die Kräfte zur Geltendmachung seiner Rechte.

Heute aber ist das Proletariat schon dermaßen erstarkt, daß es gebieterisch seinen Teil fordert am öffentlichen politischen Recht. Gewaltige Klassenkämpfe erschüttern die Gesellschaft. Mit allen Mitteln suchen die besitzenden Klassen ihr Machtgebiet der prole - tarischen Ausbeutung sich ungeschmälert zu erhalten. Schritt um Schritt muß ihnen der Boden von der kämpfenden Arbeiterschaft abgerungen werden. Dabei bedient sich das Proletariat der For - derung nach dem allgemeinen Stimmrecht als eines der wirk - samsten Mittel zur Sammlung und Schulung der arbeitenden19 noch unorganisierten Männer und Frauen. Mit Bangen und Schrecken wird das Bürgertum gewahr, daß mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterschaft der bürgerlichen Klassenherrschaft ein Ende bereitet und damit freie Bahn geschaf - fen wird für die soziale Umgestaltung.

Daher auch die Lauheit des Bürgertums gegenüber der bür - gerlichen Frauenbewegung. Diese ist gezwungen, gegen die soziale und rechtliche Vorzugsstellung der Männer Kehrt zu machen, um sich ihren gewünschten Anteil an den sozialen Vorteilen und Mo - nopolen der besitz - und machthabenden Klassen zu sichern. Heute, wo es sich um eine Machteinschränkung im einen wie im andern Falle für die Bourgeoisie handelt, vermag sie sich darum nicht mehr für die volle politische Gleichberechtigung des Weibes zu er - wärmen und zu begeistern wie in ihrer Entwicklungsperiode. Wenn der Liberalismus auch hin und wieder Hand bietet zur Er - langung eines eingeschränkten, an Besitz und Bildung gebundenen Frauenstimmrechts, des Damenwahlrechtes, so geschieht das einzig und allein im Hinblick und in Würdigung der Macht des weib - lichen Besitzes.

Ein beschränktes, oder gar an Besitz und Bildung gebundenes Zensus-Wahlrecht ist aber für die Schweizerfrauen von vorn - herein undenkbar und ausgeschlossen. Jn unserer Demokratie be - deutet eine solche Forderung die vollständige Verkennung unserer freiheitlichen Jnstitutionen, die Verläugnung der geschichtlichen Vergangenheit unseres Landes. Die proletarische wie die bürger - liche schweizerische Frauenbewegung kennt daher nur eine Forde - rung des Stimmrechts: das allgemeine Stimmrecht, wie es die Schweizerbürger schon besitzen, das allgemeine Stimmrecht, das alle anderen politischen Bürgerrechte in sich schließt. Jm Kampfe um diese Forderung mag darum ein zeitweiliges Zusammengehen der proletarischen und bürgerlichen Frauen, die Veranstaltung gemein - samer Aktionen in bestimmten Fällen wohl gegeben sein, etwa in ähnlicher Art, wie die Genossen bei der Eroberung des Proporzes sich der bürgerlichen Mithilfe versichern. Jm übrigen pflichten wir in bezug auf die organisatorische Frage den Ausführungen der österreichischen Genossin Adelheid Popp bei, die an der II. Jnternationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen 1910 den Standpunkt des weiblichen Proletariats gegenüber den Frauen - rechtlerinnen also markierte: Für Sozialistinnen erscheint uns überflüssig zu sagen, daß sie den Kampf nicht mit den bürger - lichen Frauenrechtlerinnen, sondern in Gemeinschaft mit den Männern ihrer Klasse kämpfen. Das ist für Arbeiterinnen selbst - verständlich, und wir würden es für eine Beleidigung halten, es anders zu erwarten. Um die bürgerliche Frauenbewegung kümmern wir uns nicht, greifen sie auch nicht an, wenn kein Anlaß20 dazu vorliegt. Bei dieser Debatte handelte es sich um die von Klara Zetkin redigierte Fassung der Resolution über das Frauen - stimmrecht, die der internationale Frauenkongreß in Stuttgart 1907 angenommen. Der zu gleicher Zeit tagende internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart stimmte den letzten drei Absätzen unter Weglassung der am Anfang stehenden allgemeinen Ausein - andersetzungen bei. Diese für die verschiedenen Länder als prin - zipielle Wegleitung bei der Erkämpfung des allgemeinen Frauen - stimmrechts dienende Resolution hat folgenden Wortlaut:

Die sozialistischen Parteien aller Länder sind verpflichtet, für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts energisch zu kämpfen. Daher sind insbesondere auch ihre Kämpfe für Demokra - tisierung des Wahlrechtes zu den gesetzgebenden Körperschaften in Staat und Gemeinde zugunsten des Proletariats als Kämpfe für das Frauenwahlrecht zu führen, das energisch zu fordern und in der Agitation wie im Parlament mit Nachdruck zu vertreten ist. Jn Ländern, wo die Demokratisierung des Männerwahlrechts bereits weit fortgeschritten oder vollständig erreicht ist, haben die soziali - stischen Parteien den Kampf für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts aufzunehmen und in Verbindung mit ihm selbstverständlich alle die Forderungen zu verfechten, die wir im Jnteresse vollen Bürgerrechts für das männliche Proletariat etwa noch zu erheben haben. Pflicht der sozialistischen Frauenbewegung aller Länder ist es, sich an allen Kämpfen, welche die sozialistischen Parteien für die Demokratisierung des Wahlrechts führen, mit höchster Kraftentfaltung zu beteiligen, aber auch mit der näm - lichen Energie dafür zu wirken, daß in diesen Kämpfen die For - derung des allgemeinen Frauenwahlrechts nach ihrer grundsätz - lichen Wichtigkeit und praktischen Tragweite ernstlich verfochten wird. Der internationale Kongreß erkennt an, daß es nicht ange - bracht ist, für jedes Land die genaue Zeit anzugeben, wo ein Wahlrechtskampf anzufangen sei, erklärt jedoch, daß, wenn ein Kampf für das Wahlrecht geführt wird, er nur nach den soziali - stischen Prinzipien geführt werden soll, also mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen und Männer.

Nun erachten wir für unser Land, die Schweiz, den Zeitpunkt für gekommen, wo der Kampf um das Stimmrecht der Frauen von der Sozialdemokratie auf der gesamten Linie mit aller Energie zu beginnen hat. Pflicht der Partei, ihrer Verbände und Organe wie ihrer Vertreter in den Behörden soll von nun an sein, jede Gelegenheit zu ergreifen zur Agitation für das Frauen - stimmrecht, wie zu seiner Einführung für die Behörden, wo es zunächst erreichbar ist. Jn diesem Sinne lautet auch ein vorlie - gender Antrag des sozialdemokratischen Frauenvereins Bern: Der schweizerische sozialdemokratische Parteitag 1912 in Neuen -21 burg ladet die sozialdemokratischen Vertreter in den kantonalen Parlamenten ein, überall da, wo das aktive und passive Wahlrecht der Frauen für die Schul - und Armenbehörden noch nicht besteht, oder wo diese zeitgemäße Forderung nicht erst kürzlich diskutiert wurde, die Gewährung dieses Frauenwahlrechtes zu beantragen.

So bleibt die Sozialdemokratie, das Proletariat die einzige geschlossene Macht, welche für die volle Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes eintritt. Während der Kampf um diese Forderung im bürgerlichen Lager lähmend und Kräfte zersetzend wirkt, sammelt er die Ausgebeuteten und vereinigt sie zur mäch - tigen gesellschaftlichen Organisation. Je weiter diese fortschreitet, um so mehr rückt die Hauptforderung des weiblichen Proletaria - tes, das Frauenstimmrecht, in den allgemeinen Jnteressenkreis der Arbeiterklasse. Die veralteten Vorurteile gegen das Frauen - geschlecht schrumpfen mehr und mehr zusammen. Die Erkenntnis ringt sich durch, daß auch die Proletarierin mit der Einsetzung ihrer ganzen Kraft mithelfen muß, das mächtige Gebäude der kapitalistischen Klassenherrschaft zu stürzen. Die größere Entfal - tung der Frauenkräfte wird aber nur ermöglicht durch den Voll - besitz politischer Rechte. Denn im Grunde bedeutet jeder Klassen - kampf ein Ringen um die politische Macht. Die Forderung nach dem uneingeschränkten allgemeinen Stimmrecht kann daher nur aufgefaßt werden im Sinne unerläßlicher notwendiger Ergänzung des politischen Männerrechtes als Vorbedingung für die volle Demokratisierung der menschlichen Gesellschaft.

Wie steht es nun mit der Verwirklichung des Frauenstimm - rechtes in den verschiedenen Ländern? Jn der alten wie in der neuen Welt finden sich mehr oder weniger entwickelte An - sätze. Jahr für Jahr sind Fortschritte zu verzeichnen. Die bishe - rigen Erfahrungen zeigen, daß dort, wo das weibliche Geschlecht seinen Einfluß direkt in den städtischen und staatlichen Parla - menten zur Geltung bringen kann, es sehr bald die Widerstände überwindet, die seiner vollen Mitbetätigung im kulturellen und öffentlichen Leben noch im Wege stehen. Fast überall, wo das po - litische Frauenstimmrecht erobert wurde, geschah dies erst im An - schluß an das städtische, das Gemeinde - oder Kommunalwahlrecht. Dieses letztere weist innerhalb eines und desselben Landes infolge der verschiedenen Stadt - und Landgemeindeverordnungen die komplizierteste Gestaltung auf.

Es hieße wohl Eulen nach Athen tragen, wollten wir uns hier über den Stand der heutigen Frauenstimmrechtsbewegung in all den verschiedenen Ländern verbreiten. Genosse Karl Moor hat in seiner bereits erwähnten Broschüre, die Sie alle in Händen haben, auf mehr als zwanzig Seiten eine ausgezeichnete Orientie - rung darüber gegeben.

22

An die Eroberung des Frauenstimmrechtes knüpfen sich in - dessen nicht nur praktische Momente. Es bringt auch starke geistige, ideelle Kräfte zur Auswirkung. Vor allem vermittelt es den Ein - blick in den geschichtlichen Entwicklungsgang der menschlichen Ge - sellschaft, wobei das Stimmrecht sich zu einem Mittel der sozialen Verteidigung und der Anerkennung sozialer Mündigkeit des weib - lichen Geschlechtes gestaltet. Der gedrückten Klassenlage der Aus - gebeuteten, Minderberechtigten und Unfreien, entsprießt der so - ziale Gerechtigkeitssinn, der das gewaltige Unrecht dem Weibe gegenüber lebhaft nachfühlen läßt. Mit dem Grade des Fort - schreitens der proletarischen Bewegung und damit der Kultur - entwicklung wächst der Drang nach Mitarbeit, nach Nutzung der Kräfte für die Gemeinschaft, nach Entfaltung der persönlichen Eigenart. Daher wird überall, wo der Same des Sozialismus in die vollen Aehren schießt, auch die Saat bereitet der Mensch - heitsbefreiung des Weibes.

Wohl liegt die Gewißheit nahe, daß mit der Einführung des Frauenstimmrechtes die Macht der Reaktion, des Rückschrittes, vorübergehend gestärkt werde. Sei es! Die Sozialdemokratie kennt nicht den Ehrgeiz des momentanen Erfolges. Jhr schwebt stets vor Augen das leuchtende Ziel der Menschheitsveredlung. Daher bedeutet für sie das Frauenstimmrecht ein wertvolles Mittel der politischen Sammlung und Schulung der proletarischen Frauen - massen.

Denn die rechtlose Proletarierin wird durch die ihr von bürgerlicher Seite erwiesenen Wohltaten geblendet, irregeführt, nicht selten von ihren eigenen Todfeinden als Werkzeug gegen die Arbeitsbrüder verwendet. Als Vollbürgerin im öffentlichen Leben stehend, wird sie zur begeisterten Kampfesgenossin im Dienste des Sozialismus, wird sie zur begeisterten Kampfesgenossin in den Anstürmen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die herrschende kapitalistische Klasse. Als Vollbürgerin wird sie als verständige, den Blick aufs Große gerichteten Mutter aber auch in ihren Kindern ein brauchbares, tüchtiges Geschlecht von Kämpfern und Kämpferinnen für den Sozialismus heranziehen. So besehen ist der Kampf ums Frauenstimmrecht mehr als eine Forderung der Gerechtigkeit und mehr als eine Sache der Frauen. Er ist auch Männersache, er ist ein Kampf zur Abschaffung der Klassenherrschaft, ein Kampf um Menschenrechte, ein sieghafter Kampf, der altersgraue Mauern niederreißt und die gesamte befreite Menschheit in die lichten weiten Sonnenhallen des Kom - munismus und der Demokratie hineinführen wird, wo beide Ge - schlechter, Mann und Weib, erst der Menschwerdung entgegen - reifen.

[23]
Thesen betreffend das Frauenstimmrecht. (Am Parteitag in Neuenburg bereinigt und angenommen.)
  • 1. Nach der materialistischen Geschichtsauffassung ist die Stel - lung des Weibes bedingt durch die in jeder Epoche herrschenden Produktionsverhältnisse. Auf der Stufe des Ackerbaues der kom - munistischen Geschlechtsverbände war die Frau mit dem Manne gleichberechtigt.
  • 2. Veränderte Produktionsverhältnisse setzten an Stelle des Kommunismus das Privateigentum, die patriarchalische Groß - familie mit der Herrschaft des Mannes und der Knechtung der Frau.
  • 3. Die moderne Wirtschaft zieht schon in ihren Anfängen die Frau in die Erwerbstätigkeit und erschüttert die Produktions - einheit des Familienhaushalts. Bereits in diesem Vorstadium des Kapitalismus treten weibliche und männliche Vorkämpfer des revolutionären Bürgertums für die wirtschaftliche und politische Gleichstellung der Frau ein.
  • 4. Die Einführung der Maschine in den kapitalistischen Be - trieb treibt Massen weiblicher Personen in die Fabriken, Maga - zine, Bureaus und zerstört in großen Schichten des Volkes die Reste der patriarchalischen Familie. Der Mann ist nicht mehr alleiniger Ernährer. Dadurch kommen die Frauen zum Bewußt - sein ihrer wirtschaftlichen Gleichberechtigung und verlangen folge - richtig auch die Gleichberechtigung zur Anteilnahme an den öffent - lichen Angelegenheiten.
  • 5. Diese Anteilnahme erheischt das gleiche Stimm - und Wahl - recht für die Frauen wie für die Männer. Keine bürgerliche Par - tei erstrebt und anerkennt die volle Gleichberechtigung der Frau. Einzig die sozialdemokratische Partei, die für die wirtschaftliche und soziale Befreiung des arbeitenden Volkes und somit für die Aufhebung jeder Klassenherrschaft kämpft, tritt auch für die völ - lige Gleichstellung der Frau ein.
  • 6. Die angeblich parteilose[bürgerliche] Frauenbewegung unter - scheidet sich grundsätzlich von dieser Stellungnahme. Jhr Endzwec[k]ist die Aufrechterhaltung des auf dem Privateigentum beruhend[en]Wirtschaftssystems. Ein zeitweiliges Zusammenwirken zur[Er -]ringung des Frauenstimmrechts ist zulässig. Die Zugehörigke[it zu]24einer bürgerlichen Frauenorganisation widerspricht jedoch den Jn - teressen und den Satzungen der Partei. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, mit ganzer Kraft für die Stärkung der sozialdemo - kratischen Frauenbewegung einzutreten.
  • 7. Der Parteitag in Neuenburg erklärt daher, in Ueberein - stimmung mit den Beschlüssen des Jnternationalen Sozialisten - kongresses in Stuttgart 1907, als Pflicht der Partei, ihrer Ver - bände und Organe wie ihrer Vertreter in den Behörden, jede Ge - legenheit zu ergreifen zur Agitation für das Frauenstimmrecht, wie zu seiner Einführung in die Behörden, wo es zunächst erreich - bar ist.
  • 8. Das Frauenstimmrecht ist mehr als eine Forderung der Gerechtigkeit. Es ist ein wichtiges Mittel im Klassenkampf des Proletariats gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die herrschende kapitalistische Klasse. Erst mit dem Eintritt der Pro - letarierin in die vollen Bürgerrechte erreicht der Klassenkampf den Ernst und die Wucht, die ihn zum Siege führen: Zur Abschaffung der Klassenherrschaft und zum Aufbau einer Gesellschaft, welche die Menschwerdung beider Geschlechter verbürgt.

About this transcription

TextDas Frauenstimmrecht
Author Marie Walter
Extent24 images; 8071 tokens; 2998 types; 61064 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-04-10T14:18:39Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-04-10T14:18:39Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDas Frauenstimmrecht Marie Walter. . Buchhandlung des Schweiz. GrütlivereinsZürich1913.

Identification

Staats- und Universitätsbibliothek Bremen 02.A,1269

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

Editorial statement

Editorial principles

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T10:43:21Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported (German) License.

Holding LibraryStaats- und Universitätsbibliothek Bremen
Shelfmark02.A,1269
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.