PRIMS Full-text transcription (HTML)
3Frauenwahlrecht
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Das Proletariat, der Vorkämpfer für Frauenrecht.

Vom sozialdemokratischen Frauentag erschallt ein starker Ruf. Er bringt den Frauen, deren Sehnsucht nach freiem Menschen - tum wach geworden ist, die hoffnungsfrohe Zuversicht: ihr seid im Ringen für euer Recht nicht allein! Hinter eurer Forderung steht jederzeit die stärkste Macht unserer Tage und vor allem der Zukunft: Das klassenbewußt kämpfende Proletariat, wie esdurch die Sozialdemokratie mit ihren drei Millionen Wählern und durch die freien Gewerkschaften mit ihren zwei Millionen Mitgliedern vertreten wird. Dieses stolze Heer muß dem Be - gehren nach der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts als einer entscheidenden Etappe zum Ziel seiner vollen menschlichen Emanzipation ein treuer und zuverlässiger Kämpfer bleiben. Die geschichtlichen Notwendigkeiten des prole - tarischen Befreiungskampfes selbst sind es, die Sozialdemokratie und Gewerkschaften auch zu Streitern für volles politisches Frauenrecht erheben.

Jnmitten einer Gesellschaftsordnung, deren Wesen die ge - setzlich geheiligte Ausbeutung der vielen durch wenige ist, wo jeder Zollbreit Boden starrt von blutigem Unrecht, das sich als Recht spreizt, muß das kämpfende Proletariat hungern und dürsten nach sozialer Gerechtigkeit im höchsten Sinn des Wortes. Die zahllosen Leiden, welche die Klassenherrschaft der Besitzenden ihm schlägt, halten sein Mitgefühl für alle Unterdrückten und Unfreien lebendig und rein. Sein Gerechtigkeitssinn läßt sich nicht durch das Vorurteil der einen Hälfte der Gesellschaftsglieder gegen die andere täuschen. Das Recht, das es für sich be - gehrt, ist losgelöst von jedem sozialen Be - sitztitel, den die Vergangenheit geschaffen und geweiht hat. Es ist Menschenrecht, das Recht der Persönlichkeit als Anerkennung ihres Wertes für die Gesamtheit. Was aber das klassenbewußte Proletariat für sich selbst heischt, das kann es anderen Rechtlosen nicht verweigern. So gewinnt der Kampf für sein eigenes Menschenrecht die weitesten und erhabensten Horizonte: er wird zum Ringen um Menschheitsrecht. Um der Gerechtigkeit willen ist der Kampf des weiblichen Geschlechts auch der seine.

Der Kultur wegen auch! Mit einem verächtlichen Lächeln schüttelt das kämp - fende Proletariat das Gerede von der Minderwertigkeit und Unreife des Weibes ab, das die Rechtsforderung entkräften soll. Hat es nicht dasselbe Geschrei auch gegen sein eigenes glühendes Begehren gehört, gleichberechtigt auf allen Gebieten des Gemeinlebens mitzuwirken? Folianten sind geschrieben worden, um wissenschaft - lich darzutun, daß die königlichen Kauf - leute und die genialen Hauptleute der Jndustrie eine be - vorzugte Rasse seien, durch der Natur hartes, aber wohltätiges Gebot selbst zum Herrschen und Ausbeuten über die gesetzt, welche die Schwäche ihrer Gaben in die sozialen Niederungen bannt. Das Proletariat hat solcher Behauptungen ungeachtet kühn sein Haupt erhoben. Es hat gewollt! Und siehe, trotz seiner Armut und seiner politischen Ketten hat es die bedeutsamsten Schöpfungen unserer Tage in die Geschichte gestellt: seine Or - ganisationen, die vornehmsten Träger der zeitgenössischen Massen - kultur. Jn den Wettern und Flammen seiner Kämpfe ist ein unübersehbarer Reichtum wirkender Kräfte emporgesproßt, sind ihm aus den eigenen Reihen Bahnbrecher und Führer erstanden. Und diese Klasse könnte an die ewig unabänderliche Gnaden - wahl der einen Menschheitshälfte glauben? Nein und tausend mal nein! Das kämpfende Proletariat kann die Maßstäbe nicht gelten lassen, die das eine bevorrechtete Geschlecht an das andere, bevormundete anlegt. Es wertet die Geschlechter und ihre Leistungen nach ihrer besonderen Eigenart. Es weiß, daß das Weib seines eigenen Wesens Werte in seine Arbeit legen wird, so daß Männer - und Frauenwert, einander ergänzend, sich zu Menschenwerk zusammenfügen. Frauenrecht besagt auch für die Gesetzgebung und Verwaltung: Bereicherung der Gesamtheit. Das klassenbewußte Proletariat empfindet den Stolz und die Würde, seine Fahnen dem Fortschritt, der Kultur voranfliegen zu lassen.

Dem Siege entgegen! Dem kämpfenden Proletariat hat die Geschichtsauffassung des Sozialismus das Auge geöffnet für die gesellschaftlichen Triebkräfte, die unaufhaltsam das Leben4Frauenwahlrechtder Völker umwälzen. Aus dieser seiner Erkenntnis ist ihm gegen eine Welt von Feinden der hoffnungskühne Kampfeswille erwachsen und die opferbereite Siegeszuversicht. Das Proletariat kann nicht wähnen, daß des Weibes Los in der Gesellschaft dauernd die Unfreiheit sei, daß Verkommen, vergilbte Gesetzes - texte, Philisterweisheit, Geschlechts - und Klassenegoismus un - zerstörbare Dämme zu türmen vermöchten, hinter denen das altersgraue Unrecht für immer sicher wohne. Unbefangenen Blickes sieht es die Flut, die unwiderstehlich an diesen Dämmen rüttelt, und in ihrem ewigen Fluß erkennt es das Gesetz der nämlichen geschichtlichen Mächte, durch die es selbst als Träger der sozialen Revolution berufen wird. Die veränderte Pro - duktionsweise schafft mit gewandelten Existenzbedingungen den Frauenmassen eine neue soziale Lebensluft, in der das Weib als Persönlichkeit erwacht und wächst, in der es als Wehrlosigkeit und Schmach empfindet, was seine Mütter mit stiller Ergebung als selbstverständliches Geschick trugen. Es erneuert sich altes Be - geben. Erst die verlachten armseligen zwölf, dann die Hunderte, nun die Tausende, die ungezählten Tausende, die für die Frau Bürgerrecht fordern. Das erwachte Menschentum von Massen aber läßt sich nicht töten. Das kämpfende Proletariat grüßt der Frauen sicheren Zukunftssieg als eine Botschaft eigener Triumphe.

Das Frauenwahlrecht rüstet ihm Mitkämpferinnen! Auf der Wanderung des Proletariats durch die brennende Wüste der bürgerlichen Ordnung zu den sonnigen Gefilden des Sozialis - mus ersteht in dem Verhältnis von Mann und Weib auf höherer Stufe die alte Lebens - und Kampfesgemeinschaft der Geschlechter, von der die Wander - und Kriegszüge der Germanen sagenhaft zu uns reden. Wie der einzelne Proletarier im Daseinskampf auf die Tätigkeit und Tüchtigkeit seiner Lebensgenossin ange - wiesen ist, also wird seine ganze Klasse ohne Unterschied des Geschlechts durch eine Gegenwartsnot und ein Zukunftsziel zu einer Kampfesgenossenschaft wider das Kapital und seine Ord - nung zusammengeschweißt. Der allzeit wache Klasseninstinkt der Besitzenden läßt sich nicht täuschen: er wertet jedes Ringen des Proletariats um einen Bissen Brot und einen Hauch Freiheit als ein Vorspiel der großen Schlacht am Birkenbaum um volle Erhebung und Befreiung. Es häufen sich die Gefahren, es steigen die Opfer der proletarischen Klassenkämpfe. Jn ihrer Gluthitze verflüchtigt sich der letzte Rest des Vorurteils gegen das schwächere Geschlecht, das der Proletarier als Erbteil einstiger geistiger Knech - tung durch bürgerliche Auffassung bewahrt haben könnte. Er ruft die wehrtüchtige Vollbürgerin als Waffengefährtin an seine Seite. Das Wahlrecht besagt politische Macht, bedeutet Erziehung zum richtigen Gebrauch der politischen Macht, und zur Eroberung der politischen Macht stehen die proletarischen Sturmkolonnen im ge - schichtlichen Blachfeld. Die geschulte, gleichgerüstete Proletarierin aber stößt nicht allein zu ihnen. Sie führt die Kinder in ihr Lager, die künftigen Soldaten der sozialen Revolution. Ohne die Frauen kann das Proletariat nicht die bürgerliche Gesell - schaft überwinden, ohne sie kann es nicht die sozialistische Ord - nung aufrichten.

Es ist der Geschichte ew’ges Muß, das das Proletariat zum berufenen Vorkämpfer für Frauenrechte erhebt. An dem kraft - strotzenden Stamme seines Klasseninteresses erblühen die höchsten Menschheitsideale. Die Arbeiterklasse ist die Testamentsvoll - streckerin des sterbenden Liberalismus. Sie verwirklicht die von ihm proklamierten Menschenrechte, indem sie zum Männerwahl - recht das Frauenwahlrecht fügt und die Demokratie der Regie - rung: die Republik. Die bürgerliche Republik aber wandelt sie zur freien Zukunftsgesellschaft durch die soziale Revolution. Jhrem Lichte ist der Frauen Antlitz zugewandt.

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About this transcription

TextDas Proletariat, der Vorkämpfer für Frauenrecht
Author[unknown]
Extent2 images; 1078 tokens; 582 types; 8355 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-09-28T08:27:36Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-09-28T08:27:36Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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