Die vorliegende Schrift wurde hervorgerufen durch einen Beschluß des Parteitags der sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1893 zu Köln, der dahin ging, zu gelegener Zeit eine Agitation ins Leben zu rufen für Einführung des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zu den Vertretungskörpern der Einzelstaaten.
Das Erscheinen dieser Schrift wurde verzögert, weil ein anderer be - freundeter Parteigenosse die Ausarbeitung übernommen hatte, aber wegen Mangel an Zeit nicht ausführen konnte. So blieb mir nichts anderes übrig, als diese selber vorzunehmen, da ich der Urheber des Beschlusses auf dem Kölner Parteitag war.
Jm Text und in den Noten habe ich zum Theil bereits die Quellen genannt, auf welche ich einen Theil meiner Ausführungen stütze; ich füge hinzu, daß mir namentlich auch die Schrift von Dr. Jastrow „ Das Drei - klassenwahlsystem. Die preußische Wahlreform vom Standpunkte sozialer Politik “, Berlin 1894, und eine Reihe von Artikeln, die im Februar und März vorigen Jahres im „ Sozialdemokrat “(Berlin) über die Wahlrechte in einer Reihe deutscher Einzelstaaten erschienen sind, gute Dienste geleistet haben. Des weiteren habe ich die offiziellen Verhandlungen des Norddeutschen Reichstags und des preußischen Landtags sowie des Herrenhauses zu Rathe gezogen.
Auf Antrag der österreichischen Delegation beschloß der internationale Arbeiter-Kongreß zu Zürich am 12. August 1893 einstimmig:
„ Es ist die Zeit gekommen, in der das Proletariat in allen Ländern, wo das allgemeine Stimmrecht noch nicht besteht, einen Vorstoß unternehmen muß zur Eroberung des Wahlrechts für alle Mündigen, ohne Unterschied des Geschlechts oder der Rasse. “
Damit gab der internationale Arbeiter-Kongreß zu Zürich den klassen - bewußten Arbeitern aller Länder eine Direktive, entsprechend der sozialistischen Auf - fassung: daß der Kampf um die ökonomische Befreiung der Arbeiter in erster Linie ein politischer Kampf ist, und die Eroberung der politischen Macht das Mittel ist, die ökonomische Befreiung der Arbeiter zu vollenden.
Diese heute unter der Arbeiterklasse allgemein gewordene Auffassung von der Wichtigkeit des allgemeinen Stimmrechts wird naturgemäß von jenen nicht getheilt, die sich durch die Verwirklichung desselben in ihrer Machtstellung bedroht sehen: von der Bourgeoisie und ihren Regierungen.
Die Bourgeoisie hat von jeher einen Abscheu gegen das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht gehabt; sie hat alles aufgeboten, seine Einführung zu hinter - treiben, und sie hat, wo sie diese nicht zu hintertreiben vermochte, seine Wirkungen zu hindern oder zu korrumpiren versucht. Dafür ist die Geschichte des allgemeinen Stimmrechts seit den etwa 100 Jahren, die es in Frage kommt, ein schlagender Beweis.
Als die Neuenglandstaaten in den achtziger Jahren des vorigen Jahr - hunderts in einer revolutionären Erhebung sich von der Herrschaft des Mutter - landes befreiten und die Vereinigten Staaten Nordamerikas gründeten, war die Proklamirung des allgemeinen Stimmrechts als Grundlage für die Wahl der Volksvertretungen eine unumgängliche Nothwendigkeit. Dennoch gelang es erst 1*4nach heftigen Kämpfen, dasselbe durchzusetzen. Ein Staatenwesen, das einer revolutionären Erhebung seine Existenz verdankte, zu dessen Gründung fast alle Bewohner mit Einsetzung ihres Lebens beigetragen hatten, in dem es keine Stände und geschlossenen Gesellschaftsschichten im Sinne europäischen Staats - und Gesell - schaftswesens gab, das also im wahrsten Sinne des Wortes die Schöpfung einer Demokratie war, konnte schließlich nur ein Stimmrecht einführen, das allen Bürgern das gleiche Recht gewährte. Waren sonach die Vereinigten Staaten das erste Staatswesen, in dem die Demokratie im modernen Sinne uneingeschränkt zur Herr - schaft gelangte, so war dies Umständen geschuldet, die außer aller Regel liegen, sie können nicht als Vergleich und als Maßstab für europäische Verhältnisse dienen.
Anders entwickelten sich die Dinge in Europa. Frankreich, das hier zu - nächst in Betracht kommt, erhielt für seine große Revolution nicht zuletzt den Anstoß durch die Vorgänge in den Vereinigten Staaten. Das Abbé Sieyès'sche Diktum: „ Was ist der dritte Stand? Nichts! Was soll er sein? Alles! “fand in der Konstituante seine entsprechende Deutung. Nachdem das französische Bürgerthum die Macht der beiden bevorrechteten Stände – Adel und Geist - lichkeit – gebrochen und sich an deren Stelle gesetzt hatte, konstituirte es sofort gesetzlich einen vierten Stand, der gesellschaftlich allerdings bereits vorhanden war, den Stand der Dienstthuenden, der für Lohn Arbeitenden. Die Arbeiterklasse wurde durch die Konstitution des Jahres 1791 ausdrücklich vom Wahlrecht aus - geschlossen und außerdem wurde die Ausübung desselben von der Zahlung einer direkten Steuer abhängig gemacht. An die Stelle der ständischen Rechte unter der absoluten Monarchie – die durch die Geburt oder die Zugehörigkeit zu einem der privilegirten Stände erworben wurden – trat jetzt im bürgerlich-konstitutionellen Staat der Zensus, der Besitz. Damit erhielt die neue Devise von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die durch die Revolution proklamirt worden war, drastisch und praktisch ihre Auslegung. Das Bürgerthum unterschied sich also sofort durch eine vom Gesetz gezogene Scheidegrenze von den Habenichtsen, die zwar das Recht und die Pflicht hatten, für das Bürgerthum zu arbeiten und sich von ihm ausbeuten zu lassen, aber kein Recht besaßen, sich als vollwerthige Glieder des bürgerlichen Staats anzusehen, den sie eben erst mit ihrem Blut erkämpft hatten.
Es war der erste, aber nicht der letzte Verrath, den das moderne Bürger - thum an der Arbeiterklasse beging.
Zwar wurde durch die Verfassung, die nach der Auflösung der Konstituante und nach Beseitigung des Königthums der Konvent beschloß, das allgemeine gleiche Stimmrecht für alle männlichen mündigen Staatsangehörigen eingeführt, aber diese Verfassung trat nicht in Geltung. Die Ereignisse überstürzten sich. Der Konvent und seine Verfassung wurden beseitigt, und begünstigt von dem bedrohten Klassen - interesse und der Feigheit der emporgekommenen Bourgeoisie bestieg, gestützt auf seinen Schwertknauf und die Armee, in Napoleon Bonaparte der Cäsarismus den Thron. Die Napoleonischen Raub - und Eroberungskriege, die von seiner Er - nennung zum Konsul ab fast zwanzig Jahre ganz Europa in Athem hielten und eine totale Veränderung der politischen Grenzen seines Ländergebiets zur Folge hatten, ließen in Frankreich keine Kämpfe um Volksrechte zur Geltung kommen.
Diese Kämpfe beginnen erst wieder nach dem zweiten Pariser Frieden (1815) und der Rückkehr der Bourbonen an die Spitze Frankreichs. Aber diese Kämpfe waren ausschließlich parlamentarische Kämpfe der französischen Bourgeoisie, welchen eine Erweiterung, aber keineswegs eine Verallgemeinerung des Stimmrechts mit zu Grunde lag.
Jn der Julirevolution von 1830 halfen die französischen, speziell die Pariser Arbeiter zum zweiten Male ihrer Bourgeoisie das Königthum stürzen, um nach dieser Hilfe, genau wie das erste Mal, betrogen zu werden. An Stelle des fort - gejagten Bourbonen, Karl X., trat der Herzog von Orleans, Louis Philipp, den der Phrasendrechsler Lafayette den Parisern als „ die beste Republik “zu empfehlen die Stirne hatte. Damit hatte die Bourgeoisie den Thron bestiegen, sie5 allein heimste alle Vortheile der Revolution ein. Das schamlose Wort Gnizol's: „ Enrichissez-vous! “ (Bereichert Euch!) ließ sie sich nicht zwei Mal sagen; sie beutete aus und stahl, soviel sie konnte, und trat nach wie vor das rechtlose Volk mit Füßen. Erst die Februarrevolution (1848) gebot auf kurze Zeit ihrem Treiben Einhalt.
Die furchtbare Niederlage, die das französische Proletariat in der Juni - schlacht erlitt (23. -25. Juni 1848) und die grausamen Verfolgungen, die daraus resultirten, konnten ihm einen Erfolg der Februarrevolution nicht nehmen, die Anerkennung und Aufrechterhaltung des allgemeinen gleichen Stimmrechts. Der Gedanke der demokratischen Gleichheit, für den das französische Volk und ins - besondere das französische Proletariat schon so oft sein Blut verspritzte, hatte endlich sich die allgemeine Anerkennung erobert. Noch gab es zwar Gegner des - selben in Menge, aber ihre Macht war nicht stark genug, dasselbe zu beseitigen. Und wenn man es beseitigt hätte, was wollte man an seine Stelle setzen? Die Bourgeoisie steht als Klasse dem Proletariat feindlich gegenüber, aber sie selbst zerfällt wieder in eine Reihe von Jnteressengruppen, die sich auf bestimmte soziale Gruppen stützen, die untereinander um die Herrschaft und um die Beute kämpfen. Wo wollte man da für eine Beschränkung des Wahlrechts die Grenze ziehen? Außer - dem hatten die politischen Kämpfe seit nahezu 60 Jahren, die begonnen hatten mit einer Revolution und durch drei neue Revolutionen weiter zeitweilig sehr heftig geworden waren, die herrschenden Klassen in so hohem Maße gespalten und untereinander in Feindschaft versetzt, daß selbst der Haß gegen den gemeinsamen Feind, das Proletariat, sie nicht dauernd zu einigen vermochte.
Diese Situation erkannte vor Allem Louis Napoleon. Obgleich er mit geistigen Fähigkeiten sehr mäßig ausgestattet war, besaß er die nöthige Schlauheit und Geriebenheit, um die Gegensätze einerseits innerhalb der herrschenden Klassen, andererseits zwischen den herrschenden Klassen und dem Proletariat für seine Zwecke auszunutzen. Was ihm selbst an Verstand und Geriebenheit abging, ersetzten die Abenteurer, die sich um ihn geschaart hatten und ihn als Piedestal für ihre habsüchtigen Zwecke brauchten. Hatte der erste Napoleon dem kon - stitutionellen Spuck sehr rasch ein Ende bereitet, so erkannte sein Nachfolger zu gut, daß die Entwicklung von fünf Jahrzehnten nicht ausgelöscht werden konnte. Er bequemte sich den Umständen an. Das allgemeine Stimmrecht, angewandt nach dem alten Grundsatz aller Despoten und Cäsaren: divide et impera (theile und herrsche) sollte ihm als Mittel dienen, seine Herrschaft zu sichern und zu befestigen. Auf der einen Seite stützte er sich auf die Bauern Frankreichs, die der Name Napoleon blendete und deren Gunst er außerdem sich durch demagogische Mittel und einen gefügigen Beamten-Apparat zu sichern wußte. Auf der andern Seite mußte der Haß des französischen Proletariats gegen die Bourgeoisie, die so grausam während und nach der Junischlacht gegen dasselbe gewüthet hatte, seinen Herrschaftszwecken dienen. Drittens kam ihm die Gleichgiltigkeit zu statten, mit welcher der französische Arbeiter später, nahezu zwei Jahrzehnte lang, allen innerpolitischen Kämpfen gegenüber stand. Die Losung: Nichtbetheiligung an der Politik, welche viele der vorgeschrittensten Köpfe ausgegeben hatten, wurde vielfach befolgt. Ein anderer Theil der Arbeiter warf sich infolge mangelnder Führung und Aufklärung den bürgerlichen Radikalen in die Arme. Eine kämpfende Arbeiterpartei gab es nicht. Andererseits wäre gerade dieser Zustand der Dinge ein Grund gewesen, das allgemeine Stimmrecht anzutasten. Aber Napoleon, der Kaiser von Plebiszits Gnaden, der seinen Thron nur der allgemeinen Volksabstimmung verdankte, der Mann, dessen Stärke einzig in seinem revolutionären Ursprung lag, durfte das nicht wagen.
So blieb das allgemeine Stimmrecht unangetastet. Als dann Napoleon, nach den Schlägen im Kriege von 1870, das Feld räumen mußte und die dritte Republik ins Leben trat, war das allgemeine Stimmrecht so in Fleisch und Blut des französischen Volkes übergegangen, daß in ganz Frankreich nicht ein Mensch sich befand, der seine Beschneidung oder Beseitigung für möglich gehalten hätte. Es dachte daran nicht einmal Jemand. Daran änderte auch weder der Aufstand6 der Kommune etwas, noch die Thatsache, daß seitdem der Sozialismus unter der Arbeiterklasse Frankreichs mächtigen Anhang gewonnen hat und, im Gegensatz zu früher, das französische Proletariat als organisirte Partei sich immer mehr des allgemeinen Stimmrechts bedient für die Eroberung der politischen Macht, indem es seine eigenen Vertreter in die Nationalversammlung sendet.
Was das dritte Kaiserreich unangetastet ließ, ja mit Emphase als seinen eigentlichen Ursprung ausgab, das konnte und kann die Republik nicht wagen anzugreifen. Eine Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts wäre in Frankreich gleichbedeutend mit der Revolution, in der Arbeiter, Kleinbürger und Bauern gemeinsame Sache machten.
Jn Deutschland vollzogen sich die Dinge harmloser und gemüthlicher als in Frankreich. Das in Hunderte von mittleren, kleinen und kleinsten selbständigen Herren - thümern und sogenannten freien Städten getheilte heilige römische Reich deutscher Nation war im Jahre 1806 glücklich zu Grabe getragen worden. Es gab wohl kaum einen Deutschen, der ihm eine Thräne nachweinte, obgleich sein Untergang die Folge napoleonischer Eroberungen und der Gründung des Rheinbundes war, der sich unter dem Protektorate Napoleon's aus einer Anzahl deutscher Mittel - und Kleinstaaten gebildet hatte. Der napoleonischen Herrschaft war auch die Säkularisation zahlreicher geistlicher und kleiner weltlicher Herren zu danken, die dadurch wider Willen und weit mehr, als die Mehrzahl der deutschen Geschichts - schreiber zugeben will, für die deutsche Einheit gearbeitet hat, ja sogar erst den Boden schuf, auf dem die deutschen Einheitsbestrebungen erwachsen konnten. Des weiteren sind die Jdeen der großen Revolution durch die französischen Eroberungen erst recht nach Deutschland getragen worden und fanden in den von Napoleon's Gnaden geschaffenen neuen Königreichen und Fürstenthümern, in Mittel -, West - und Süddeutschland, bis zu einem gewissen Grade ihre praktische Verwirklichung, zum Wohle ihrer Bevölkerungen und des politischen Fortschritts in Deutschland.
Ohne diese lange Jahre währende französische Fremdherrschaft stand Deutsch - land nicht auf jenen Standpunkt verhältnißmäßiger politischer Reife, auf dem seine Bevölkerung nach endlicher Beseitigung der napoleonischen Herrschaft im Jahre 1815 sich befand. Ja es hätte erst einer Revolution bedurft – für deren Verwirklichung gar keine Aussicht vorhanden gewesen wäre –, um das frühere Zaunfürsten - und Zaunherrenthum zu beseitigen und den west - und süd - deutschen Bevölkerungen jenes Maß von bürgerlichen Rechtsinstitutionen zu ver - schaffen, die sie im Vergleich zu Ost - und Norddeutschland Jahrzehnte voraus besaßen. Auch hatte unter der französischen Fremdherrschaft in den von dieser längere Zeit beherrschten Gebieten die ökonomische Entwicklung des Bürgerthums einen Aufschwung genommen, der diesem in seinen Kämpfen gegen das Fürsten - thum in einer Weise das Rückgrat steifte, von der man anderwärts noch lange nichts empfand.
Es war nicht Zufall, daß der Geist der Opposition gegen die bestehenden Zustände vor allen Dingen in West - und Süddeutschland sich bemerkbar machte.
Auch Preußen hat erst den Niederlagen von Auerstädt und Jena die Aera Stein-Scharnhorst-Gneisenau-Schön zu danken, auf die man sich heute mit einem gewissen Stolze gern beruft. Die Jahre unmittelbar nach den Niederlagen brachten die Reformen, die man alsdann in den Jahren nach den großen Siegen (von 1813-15) nach Kräften zu verhunzen sich beeilte.
Die Völker in Monarchien scheinen für ihre innerpolitische Entwicklung weit mehr Nutzen von äußeren Niederlagen als von äußeren Siegen zu haben. Das erfuhr nicht nur Preußen nach 1806 / 1807 im Vergleich zu nach 1815, sondern7 auch Oesterreich nach 1866 und Frankreich nach 1870 / 71. Auch Rußland hat, was es an inneren Reformen erlangte, vorausgegangenen äußeren Niederlagen zu verdanken.
Die großartige Opferwilligkeit, die das preußische Volk bei der Besiegung Napoleon's bewiesen hatte, nöthigte Friedrich Wilhelm III. das Versprechen ab, derselben eingedenk zu sein, und so verhieß er am 22. Mai 1815 durch einen feierlichen Erlaß seinem Volke eine Repräsentativverfassung. Das geschah namentlich unter dem Eindruck der Nachricht von der Rückkehr Napoleon's von Elba nach Frank - reich und in der Erkenntniß, daß es abermals neuer schwerer Opfer seitens des preußischen Volkes bedürfen würde, um Napoleon zum zweiten Male zu unterwerfen.
Sogar in die Bundesakte hatten die um jene Zeit zu Wien versammelten deutschen Fürsten und ihre Bevollmächtigten unter dem Eindruck der letztjährigen schweren Ereignisse eine Bestimmung ausgenommen (Artikel 13), wonach „ in allen deutschen Staaten eine landständische Verfassung stattfinden werde “, wie es in wunderbarem Deutsch dort hieß, eine Zusage, gegen deren Verwirklichung sich nach - her der Bundestag mit allen Mitteln sträubte und alle darauf gerichteten Be - strebungen schwer verfolgte.
Wie oft sind seitdem von fürstlicher Seite in schwerer Stunde gegebene Ver - sprechen später vergessen worden.
Am 21. März 1818 wiederholte der König von Preußen in einer Kabinets - ordre die frühere Zusage, behielt sich aber über das „ Wann “die Entscheidung vor. Man hatte ihn aus der Rheinprovinz, welche in jener Zeit die vor - geschrittenste und rebellischste der preußischen Provinzen war, an sein Versprechen gemahnt, aber er erklärte auch weiter: „ er werde sich nicht durch unzeitige Vor - stellungen im richtigen Fortschreiten zu diesem Ziele übereilen lassen. “
Das Sand'sche Attentat auf Kotzebue in Mannheim (23. März 1819) gab den bequemen Vorwand ab, die Erfüllung des gegebenen Versprechens abermals hinauszuschieben, während man zugleich durch die berüchtigten Karlsbader Be - schlüsse jede freiere Regung noch mehr als vordem unterdrückte. Alsdann wurden die bekannten gehässigen Demagogenverfolgungen ins Werk gesetzt, die schweres Unheil über Viele brachten.
Endlich, am 5. Juni 1825, erschien ein von der Regierung Friedrich Wilhelm III. erlassenes Gesetz, das die Einführung von Provinzialständen an - ordnete, die nach und nach in den einzelnen Provinzen ins Leben traten. Welcher Art aber diese Provinzialvertretungen waren, zeigt z. B. die Zusammensetzung des Provinzial-Landtags der Provinz Brandenburg. Jn diesem hatte der grund - besitzende Adel unter Heranziehung von 4 Vertretern der Standesherren 35 Stimmen, die Städte hatten nur 23 und die Bauern der Provinz nur 12. Obendrein wurden diese Bauern - und Städtevertreter von bestimmten Wählerloterien ernannt, nicht von der Gesammtheit der Bauern und Bürger gewählt. Aehnlich war die „ Vertretung “in den andern Provinzen des Staats. Das bot man einem Volke an, das die riesigsten Opfer an Gut und Blut für die Erhaltung des Thrones gebracht und dem man seitdem die allgemeine Wehrpflicht mit neuen schweren Opfern auferlegt hatte.
Von einer Gesammtvertretung des Staats, die versprochen worden war, blieb Alles still. Friedrich Wilhelm III. fuhr endlich in die Grube (1840), ohne dieses dem Volke gegebene Versprechen eingelöst zu haben.
Das preußische Volk war – wie man sieht – sehr bescheiden, aber bescheiden war man zu jener Zeit überall in Deutschland. Und doch zitterten und bebten die Regierungen im Bewußtsein ihres bösen Gewissens, wenn sie von Bestrebungen hörten, die jetzt überall sich zu regen begannen und die auf eine Aenderung der Landesverhältnisse im Sinne bürgerlich-konstitutioneller Zustände abzielten. Für die Uebelthäter, die solche „ revolutionäre “Jdeen verfolgten, war keine Bestrafung hart genug.
8Die konservativsten Staatsmänner von heute schütteln den Kopf, lesen sie, was in jener Zeit als staatsgefährliche Demagogie und revolutionäre Bestrebungen grausam verfolgt wurde.
Jn den meisten deutschen Staaten wurden, unmittelbar nach 1815, im Gegensatz zu Preußen und Oesterreich, ständische Vertretungen ins Leben gerufen. Der König von Württemberg hatte 1806 die altständische Verfassung widerrechtlich aufgehoben und berief 1815 eine Versammlung von Vertretern der höheren Stände, um mit diesen eine neue Verfassung zu vereinbaren. Diese weigerten sich aber darauf einzugehen und verlangten die alte Verfassung, als noch zu Recht bestehend, wiederhergestellt. Nach jahrelangen Kämpfen kam endlich 1819 eine neue Ver - fassung zu Stande, die im Wesentlichen heute noch in Kraft ist. Die Volks - vertretung wurde aus zwei Kammern gebildet. Die sogenannte Volks - oder zweite Kammer bestand aus 13 Abgeordneten der Ritterschaft, 6 evangelischen Prälaten, dem katholischen Landes-Bischof, den dem Dienste nach ältesten katholischen Dekan, einem Mitglied des Domkapitels, dem Kanzler der Universität, den Abgeordneten der sogenannten „ sieben guten Städte “und 64 Abgeordneten der Oberämter, die indirekt, mit öffentlicher Stimmabgabe und nach einem Zensus gewählt wurden.
Weimar erhielt 1816 eine „ Volksvertretung “, dergestalt, daß der Adel 11, die Städte und Landgemeinden je 10 Vertreter wählten. Das Wahlrecht war indirekt und es bestand ein Zensus.
Nassau erhielt bereits 1814 eine Verfassung mit zwei Kammern, mit eben - falls indirekten Wahlen für die zweite Kammer.
Baden gelangte 1818 in den Besitz einer Verfassung. Die zweite Kammer bildeten 63 Abgeordnete der Städte und Aemter, die indirekt und auf 8 Jahre gewählt wurden.
Bayern rückte ebenfalls im Jahre 1818 in die Reihe der Staaten ein, die eine ständische Verfassung besaßen. Die zweite Kammer bestand aus 135 Mit - gliedern. Ein Theil derselben wurde durch Privilegirte: den niederen Adel, die katholische und protestantische Geistlichkeit und die Professoren der Universitäten gewählt. Die übrigen Mitglieder erlangten ihr Mandat auf dem Wege eines sehr verwickelten Wahlverfahrens und auf Grund eines hohen Zensus. Die Dauer des Mandats währte 6 Jahre.
Ein Jahr später wie Bayern folgte Hannover, das 1819 eine neue land - ständische Verfassung bekam, nachdem es bereits seit 1814 einen Landtag besaß, der aus 44 ritterschaftlichen, 10 geistlichen, 29 städtischen und 3 bäuerlichen Ver - tretern bestand. Auch nach der neuen Verfassung von 1819 fiel dem Grundadel der Löwenantheil an der Vertretung zu.
Als Wirkung der französischen Julirevolution (1830), die den deutschen Fürsten ein großes Unbehagen erweckte und auch in Deutschland allerlei Volks - bewegungen hervorrief, vereinbarte der König von Sachsen mit den alten Ständen eine neue Verfassung, die am 4. September 1831 ins Leben trat, nachdem am 9. Januar 1831 Kurhessen bereits vorangegangen war. Am 12. Oktober 1832 folgte Braunschweig, das an diesem Tage eine neue Landschafts - Ordnung erhielt.
Eine ganz eigenthümliche Stellung nahmen die vier freien Reichsstädte Bremen, Frankfurt, Hamburg und Lübeck ein, die ihre volle Unabhängigkeit und Selbstverwaltung gerettet hatten, dieselbe aber den Patriziern und einer Handvoll privilegirter Bürger überließen; ihre Staatsordnungen bildeten einen Hohn auf den Namen einer „ freien Stadt “oder Republik.
Die skizzirten Verfassungszustände stimmten darin überein, daß überall die Masse des Volks und der Steuerzahler von dem Wahlrecht entweder gänzlich aus - geschlossen war oder ein Wahlrecht besaß, das keinen entscheidenden Einfluß auszuüben ermöglichte. Außerdem hatten die Regierungen sowohl durch Aufnahme Privilegirter in die zweiten Kammern, wie durch die Errichtung der ersten Kammern dafür gesorgt, daß der Volkswille nicht zur Geltung kam. Ueberall waren die9 Hauptbedingungen für den Eintritt in diese Körperschaften Zugehörigkeit zu einem privilegirten Stand (Adel oder Geistlichkeit), Besitz und christliches Bekenntniß. Juden und Andersgläubige waren ausgeschlossen. Der Geist des Mittelalters schwebte über diesen Versammlungen.
Die ersten Kammern, wo sie vorhanden waren, und das war in den mitt - leren und größeren Staaten überall der Fall, bestanden und bestehen heute in der Hauptsache noch aus den Prinzen der regierenden Häuser, den Standesherren, den Vertretern des Grundadels, der hohen Geistlichkeit beider Konfessionen, aus Vertretern der Universitäten und aus Ernannten seitens der regierenden Fürsten, die diese auf Lebenszeit oder erblich berufen. Es war also dafür gesorgt, daß keine unliebsamen Beschlüsse gefaßt oder gar unliebsame Gesetze angenommen wurden. Faßte dennoch ab und zu hier und dort eine zweite Kammer, wie das namentlich in Baden geschah, einen unbequemen Beschluß, so nahm man das nicht zu ernst; ihn zu berücksichtigen bestand keine Verpflichtung.
Aber es änderten sich die Zeiten. Die ökonomische Entwicklung Deutsch - lands wurde durch die Vielstaaterei mit ihren separaten und unter einander widersprechenden Gesetzgebungen überall gehemmt. Die neuen Verkehrsmittel (Eisenbahnen) ließen die Kleinstaaterei immer mehr als Anachronismus erscheinen. Das werdende Großbürgerthum verlangte daher immer entschiedener nach neuen politischen Formen und nach größerer und freierer Bethätigung, die ihm seine ökonomische Entwicklung ermöglichten. Die bestehenden Zustände wurden von Jahr zu Jahr unerträglicher mit den überall sich geltend machenden neuen Bedürfnissen. So entstand eine oppositionelle Bewegung, die namentlich im Laufe der vierziger Jahre bedrohlicher wurde. Das brachte denn zu Wege, daß endlich im Jahre 1847 Friedrich Wilhelm IV. sich entschloß, wenigstens der Form nach, das von seinem Vater gegebene Versprechen einzulösen, indem er durch Patent vom 3. Februar 1847 die Provinzialstände zu einem vereinigten Landtag nach Berlin einberief. „ Das war eine zweifellos sehr würdige Versammlung, die aber heute eines gewissen komischen Eindrucks nicht verfehlen würde, denn ihre Mitglieder saßen gesondert nach Provinzen, und innerhalb eines solchen Kreises von Provinzialen wurden die „ drei Kurien der Stände “, mit der „ Kurie “der Herren an der Spitze, geschieden. “ *)Max Schippel: „ Fort mit dem Dreiklassen-Wahlsystem in Preußen. “ Zweite umgearbeitete Auflage. Berliner Arbeiter-Bibliothek, II. Serie, 8. Heft. „ Vorwärts “- Buchhandlung, Berlin.Aber auch jetzt noch, und obgleich es bereits überall rumorte, verstand der König die Zeichen der Zeit so wenig, daß in der Rede, mit welcher er den Vereinigten Landtag am 11. April eröffnete, er unter anderem äußerte:
„ Jch werde nun und nimmermehr zugeben, daß sich zwischen unsern Herr - gott im Himmel und dieses Land ein geschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte heilige Treue zu ersetzen. “
Der so sprach, ahnte nicht, daß das Gewitter bereits über seinem Haupte sich zusammenzog und er genau ein Jahr später eine Verfassung und vieles andere zu geben bereit war, von dem er sich an jenem 11. April nichts träumen ließ. Am 22. Februar 1848 kam das Gewitter zunächst in Paris zum Ausbruch, das Louis Philipp den Thron kostete, und verbreitete sich rasch über das übrige Europa. Am 13. März schlug der Blitz in Wien ein und zwang den Träger der europäischen Reaktion, den Fürsten Metternich, sein Heil in schleuniger Flucht zu suchen. Nach Wien folgte Berlin, das in des Tagen des 18. und 19. März das alte absolute Preußen in Trümmer zerschlug und den schwach gewordenen König für alle möglichen Konzessionen mürbe machte.
Der unmittelbar darauf wieder berufene Vereinigte Landtag nahm am 8. April ein Wahlgesetz für Preußen an, auf Grund dessen eine „ National - versammlung “zur Feststellung einer Verfassung gewählt werden sollte. Was kurz10 zuvor in unendlicher Ferne zu stehen schien, war jetzt That und Wahrheit ge - worden. Dem neuen Wahlgesetz hatte die Revolution ihren Stempel aufgedrückt. Es sprach in seinem § 8 klipp und klar aus:
„ daß jeder Preuße, der das 24. Lebensjahr zurückgelegt und nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Urtheils verloren hatte, in der Gemeinde, in der er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz und Aufenthalt hatte, stimmberechtigter Urwähler sei, insofern er nicht aus öffent - lichen Mitteln Armenunterstützung beziehe. “
Das war also die Proklamirung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, kraft dessen 3661993 über 24 Jahre alte Männer Landtagswähler wurden.
Kurze Zeit darauf fanden die Wahlen statt und wurde der neugewählte Landtag am 22. Mai durch den König mit einer Thronrede eröffnet. Die Linke hatte die Mehrheit, aber sie war eine bunt zusammengewürfelte Mehrheit ohne festen Zusammenhalt und ohne den energischen Geist und die feste Entschlossenheit, die für eine Versammlung von solcher Bedeutung und in der gegebenen Situation nothwendig war. Statt sofort durch eine Reihe kräftiger Handlungen sich die Macht zu sichern und die entgegenwirkenden Kräfte einzuschüchtern und unschädlich zu machen, vertrödelte sie die kostbare Zeit durch weitschweifige Verhandlungen, und oft über Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ganz anders die Kamarilla und die Militär - und Junkerpartei. Was seit den Märztagen geschehen war, erfüllte diese mit tiefster Entrüstung und einer geheimen Wuth, sie trachteten darnach, jedes brauchbare Mittel zu ergreifen, um das Geschehene nach Möglichkeit rückgängig zu machen. Dem liberalen Ministerium Camphausen, das aus waschlappigen Alt - liberalen zusammengesetzt war und dem schon aus diesem Grunde alles Zeug zu entschiedenem Handeln fehlte, legte man bei dem König jedes denkbare Hinderniß in den Weg. Der König selbst hatte sich, wie nach seiner ganzen Vergangenheit und bei einem preußischen König es nicht anders sein konnte, nur widerwillig und dem Zwange gehorchend auf die neuen Bahnen drängen lassen und ersehnte die Gelegenheit zur Umkehr.
Das Bürgerthum war gespalten, die eigentliche Bourgeoisie hatte mit dem größten Unbehagen die Entwicklung der Dinge seit den Märztagen verfolgt und insbesondere beunruhigte sie, daß die Arbeiter eine immer größer werdende Selbst - ständigkeit zeigten und mit Nachdruck auf soziale Reformen drängten, für die bisher in der Kammer sehr wenig Sinn und Verständniß vorhanden war. Das Gespenst des Kommunismus ging um und ängstigte die stets und überall durch Mangel an Muth sich auszeichnende Bourgeoisie. Was bei ihr das Unbehagen erhöhte, war die große Arbeitslosigkeit, die allgemein herrschte, die Unzufriedenheit in den Massen schürte und die Berliner Behörden zur Jnangriffnahme öffentlicher Arbeiten zwang, um den Arbeitslosen einigen Verdienst zu gewähren. Man ließ unter anderem die sogenannten Rehberge abtragen, eine sehr unnütze und unproduktive Arbeit, von der die betheiligten Arbeiter den Namen „ die Rehberger “erhielten. Gleich - zeitig ließ der Arbeitsminister von Patow die Arbeitslosen in Schaaren aus der Haupt - stadt abschieben, um das revolutionäre Element zu entfernen. Oeffentliche Demonstrationen, die wegen der angekündigten Rückkehr des Prinzen von Preußen (des späteren Kaisers Wilhelm) aus England stattfanden und bei welchen die Arbeiter sich stark betheiligten, wie der Sturm auf das Zeughaus am 14. Juni trugen ferner dazu bei, bei der Bourgeoisie einen Zustand zu erzeugen, der sie aus der Angst und der Aufregung nicht mehr herauskommen ließ. Sie sehnte sich nach einem Retter.
Unmittelbar nach dem Zeughaussturm hatte das Ministerium Camphausen seinen Abschied eingereicht, um von dem Ministerium Auerswald, das schon um eine Nüance weiter nach rechts stand, abgelöst zu werden. Um jene Zeit war aber Berlin und die Mark von Militär fast entblößt. Der Kampf gegen Dänemark wegen Schleswig-Holsteins war entbrannt und hatte einen Theil der Armee unter Wrangel absorbirt. Daher hielt es der Hof für zweckmäßig, um die Gunst der Bürger - wehr zu buhlen, die man gleichzeitig gegen die Arbeiter einzunehmen suchte, was 11 bei dem Stande der Dinge nicht schwer war. Die Kammer berieth währenddem die neue Verfassung und die verschiedensten anderen Materien, wie sie der Tag brachte, und verschärfte durch eine Anzahl ihrer Beschlüsse die Gegnerschaft der reaktionären Kreise. Diese setzten namentlich in den Ostprovinzen alle Hebel in Bewegung, um die gegenrevolutionäre Strömung zu einer Macht zu steigern. Vor allem aber handelte es sich darum, die Armee zur Verfügung zu haben, damit diese im entscheidenden Augenblicke eingreifen könne. So wurde (26. August 1848) mit Dänemark der schmachvolle Waffenstillstand zu Malmö geschlossen, der ermög - lichte, die Armee zurückzuführen, die bald darauf unter dem Kommando Wrangel's um Berlin Aufstellung nahm.
Die Haltung der Nationalversammlung auf der einen, die Haltung des Hofes auf der anderen Seite, nöthigte das Ministerium Auerswald, bereits am 11. September zurückzutreten, um dem Ministerium Pfuel, das als ein solches der gemäßigten Rechten galt, den Platz zu räumen. Die Nationalversammlung tagte ruhig weiter. Sie berieth ein neues Jagdgesetz, ein Gesetz über die Sistirung der Ablösungsverhältnisse und beschloß bei der Spezialberathung der neuen Verfassung die Beseitigung des Titels „ von Gottes Gnaden “und die Abschaffung des Adels und der Orden und Titel. Darüber war der König tief empört und gab seiner Stimmung entsprechenden Ausdruck. Die Situation wurde noch bedenklicher durch einen blutigen Konflikt zwischen den Arbeitern und der Bürgerwehr, den man seitens der letzteren auf ein „ Mißverständniß “zurückzuführen suchte. Die Konflikte wiederholten sich aber am 26. Oktober. Wenige Tage später (den 31. Oktober) war Wien den Kanonen des Fürsten Windischgrätz unterlegen, eine Nachricht, die, als sie in Berlin eintraf, Volk und Kammer in die höchste Aufregung versetzten, aber im Lager der Reaktion den größten Jubel hervorrief. Die Forderung der Kammer an die Regierung, die Sache Wiens bei der österreichischen Regierung mit allen Mitteln zu vertreten, war das Signal für die Reaktion, die Maske ab - zuwerfen. Das Ministerium Pfuel erhielt den Abschied und Brandenburg-Man - teuffel, die Häupter der Junkerpartei, übernahmen die Regierung. Am 9. November wurde der Kammer mitgetheilt, daß ihre sofortige Verlegung nach Brandenburg stattzufinden habe, woselbst sie am 27. zur Berathung zusammentreten sollte. Es galt die Kammer den Einflüssen der Berliner Bevölkerung zu entziehen. Die große Mehrheit der Kammer widersetzte sich und tagte, als sie ihr Sitzungslokal geschlossen fand, in anderen Lokalen weiter. Jetzt stellte das Ministerium an den Kommandanten der Bürgergarde die freche Zumuthung, die Versammlung aus - einander zu treiben. Dieser weigerte sich, der Aufforderung zu gehorchen. Die Antwort war die Auflösung der Bürgergarde am 12. November. Tausende von Arbeitern, die sich zum Schutz der Nationalversammlung erboten hatten und Waffen verlangten, wurden von dem Präsidenten derselben, Herrn v. Unruh, zurück - gewiesen mit dem Bemerken: man werde sich mit dem passiven Widerstande be - gnügen. Noch an demselben Tage, am 10. November, rückte Wrangel an der Spitze von 20000 Mann in Berlin ein und ließ die Nationalversammlung aus - einandertreiben, nachdem dieselbe noch kurz zuvor den Beschluß gefaßt hatte: die Bürger aufzufordern, die Steuern zu verweigern.
Zwar trat die Kammer am 27. November, den Anordnungen des Ministe - riums gemäß, aufs Neue in Brandenburg zusammen, aber am 5. Dezember ereilte sie bereits die Auflösung, und am 6. Dezember erschien ein neues Wahlgesetz, das die vom bisherigen Gesetz abweichende Bestimmung enthielt, daß der Wähler „ selbständig “sein müsse, wodurch ca. 700000 bisherigen Wählern das Wahlrecht entzogen wurde. Jmmerhin war dieses Wahlrecht noch weit radikaler als das kurz darauf eingeführte Dreiklassen-Wahlrecht. Gleichzeitig berief die Regierung die neuen Kammern auf den 26. Februar 1849 nach Berlin, um die von ihr gleich - falls oktroyirte Verfassung zu „ revidiren “.
Der Hauptakt in dem ersten revolutionären Drama Preußens war ohne Sang und Klang zu Ende. Der „ passive Widerstand “war die Losung des12 Bürgerthums, daher nichts leichter, als daß eine zielbewußte Reaktion die Lage für sich ausnutzte. Als die neue zweite Kammer zusammentrat und sich heraus - stellte, daß sie von der aufgelösten sich nur wenig unterschied, wurde sie am 27. April abermals nach Hause geschickt. Darauf erließ am 30. Mai 1849 die Regierung eine neue Verordnung, durch welche das „ elendeste und erbärmlichste aller Wahlgesetze “, das heute noch in Preußen giltig ist, das Dreiklassenwahlsystem, ins Leben gerufen wurde.
Erbittert über diesen Staatsstreich, den die Oktroyirungsmaßregeln der Re - gierung darstellten, beschloß die demokratische Linke unter Protest Enthaltung von den Wahlen, womit sie der Regierung nur einen Gefallen erwies. Die neue gefügige Kammer brachte mit der Regierung die Revision der Verfassung im Dezember 1849 zu Stande. Zehn Jahre später, im Jahre 1859, als unter der „ Regentschaft “die sogenannte neue Aera begann, trat die bürgerliche Demokratie endlich aus dem Schmollwinkel hervor und betheiligte sich wieder an den Wahlen.
Aehnlich wie dem preußischen erging es dem sächsischen Volke. Die März - tage und was ihnen folgte hatten auch die sächsische Regierung zur Einlenkung in neue Bahnen gezwungen. Sie vereinbarte mit dem Ständelandtag im Frühjahr 1848 ein Wahlgesetz, das die einzige Beschränkung enthielt, daß der Wähler „ selbständig “sein, d.h. einen eigenen Hausstand haben müsse. Jm übrigen war das Wahl - gesetz allgemein, gleich und direkt. Als aber nach dem verunglückten Maiaufstand in Dresden (1849) die Reaktion wieder Oberwasser erhielt und die Volksvertretung Beschlüsse faßte, die der Regierung nicht genehm waren, wurde dieselbe am 1. Juni 1850 aufgelöst. Wider alles Recht und als hätten die letzten zwei Jahre nicht existiert, berief die Regierung auf dem Verordnungswege die 1848 gesetzlich aufgehobenen Stände wieder zusammen (3. Juni 1850). Ebenso er - gingen widerrechtlich Verordnungen, durch welche die bestehenden sehr freien Vereins - und Versammlungsgesetze und das Preßgesetz aufgehoben und neue reaktionäre Gesetze provisorisch an deren Stelle gesetzt wurden, die gut zu heißen alsdann die reaktionären Stände sich beeilten.
Das Schicksal, das die Volkswahlrechte in Preußen, Sachsen und ander - wärts getroffen hatte, ereilte auch das Wahlrecht für das deutsche Parlament zu Frankfurt a. M. Das letztere hatte das Wahlrecht auf breitester demokratischer Grundlage gutgeheißen und wurde dasselbe unter dem 12. April 1849 als Reichsgesetz durch den Reichsverweser und die Reichsminister verkündet. Charakte - ristischer Weise war es die Linke und die Rechte des Parlaments, welche gegen den Widerstand der gemäßigten Liberalen, der späteren sogenannten Gothaer, als deren Erben und Nachfolger man die heutigen Nationalliberalen ansehen muß, das Reichstagswahlrecht beschloß.
Damals repräsentirten diese gemäßigten Liberalen, auch die Erbkaiserlichen genannt – weil sie die Könige von Preußen als erbliche Kaiser an die Spitze Deutschlands setzen wollten – die im Wachsen begriffene Bourgeoisie, wie heute die Nationalliberalen die Vertreter der Bourgeoisie par excellence sind.
Diese Gesellschaftsklasse ist sich immer und überall gleich: sie ist mit der liberalen Phrase im Munde volks - und arbeiterfeindlich bis ins innerste Mark hinein. Jhre Vertreter sind stets und überall politische Mollusken, die sich durch zwei Eigenschaften ihrer Klasse besonders auszeichnen, durch Feigheit und politische Charakterlosigkeit.
Das Reichswahlgesetz für das deutsche Parlament bestimmte in seinem § 1: Wähler ist jeder Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat. Wählbar zum Abgeordneten des Volkshauses – die Volksvertretung sollte aus einem Staaten - und einem Volkshause bestehen – war jeder wahlberechtigte Deutsche, der seit mindestens 3 Jahre einem deutschen Staate angehört hatte. Ausgeschlossen von der Wahl und damit auch von der Wählbarkeit zum Ab -13 geordneten waren 1. Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel standen; 2. Personen, über deren Vermögen Konkurs - oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet worden war, und zwar während der Dauer dieses Zustandes; 3. Personen, die eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln bezogen oder im letzten der Wahl vorausgegangenen Jahre bezogen hatten.
Diese Ausschließungsbestimmungen sind später fast wörtlich in das deutsche Reichswahlgesetz aufgenommen worden. Ferner sollten die Mitglieder des Staaten - hauses wie des Volkshauses eine Reisekostenentschädigung von 1 fl. pro Meile und Tagegelder in Höhe von 7 fl. rheinisch (= 12 Mk.) erhalten. Da aber die damalige ganze Reichsherrlichkeit an der Kontrerevolution der Fürsten und der hinter ihnen stehenden Schichten zu Grunde ging, so blieb auch das Reichs - wahlgesetz gleich der neuen Reichsverfassung auf dem Papier.
Das Volk hatte vergebens gekämpft, geblutet und geopfert. Die Feigheit und der Verrath der maßgebenden Klassen und der Jndifferentismus und die Unklarheit großer Volksmassen hatten die Niederlage herbeigeführt.
Als das Ministerium Manteuffel am 30. Mai 1849 seine berüchtigte Ver - ordnung erließ, durch die das bestehende Wahlrecht aufgehoben und das Drei - klassenwahlsystem eingeführt wurde, erhob sich in weiten Kreisen ein Sturm des Unwillens und der Empörung. Die Wirkung dieser Oktroyirung war, daß, wie schon bemerkt, die Demokratie sich der Betheiligung an den Wahlen enthielt und die Rechtsbeständigkeit der Verordnung negirte, was nicht verhinderte, daß die auf Grund des oktroyirten Wahlgesetzes gewählte Kammer sich als Volksvertretung ansah und giltige Gesetze beschloß. Auch entschwand im Laufe der Jahre dem Volke das Bewußtsein der Nichtrechtsbeständigkeit jenes Wahlrechts und so hielt die Linke es schließlich selbst für angemessen, vom Jahre 1859 ab sich wieder an den Wahlen zu betheiligen. Heute wagt kaum noch einer ihrer Nachkommen an die Nichtrechtsbeständigkeit jener Verordnung zu erinnern.
Die Sozialdemokratie hat bisher niemals Rechtsinstitutionen auf ihre Rechts - beständigkeit geprüft, um davon die Anerkennung oder Nichtanerkennung abhängig zu machen, sie weiß zu genau, daß alles Recht nur eine Frage der Macht ist. Statt mit der Untersuchung subtiler Rechtsfragen die Zeit todtzuschlagen, ist sie bemüht, jedes ihr zur Verfügung stehende Kampfmittel, das Erfolg verspricht, zu benutzen, um sich die Macht zu erobern und alsdann das Recht in ihrem Sinne zu gestalten. Bedenken über die Rechtsbeständigkeit des Dreiklassenwahlsystems waren es also nicht, die bisher die Sozialdemokratie abhielten, sich an der Aus - übung desselben zu betheiligen, sondern die Ueberzeugung, daß die Betheiligung an diesem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlgesetze, wie es Fürst Bismarck in der Sitzung des Norddeutschen Reichstags am 28. März 1867 selbst nannte, ihr keine Erfolge verhieß.
Die Verschlimmbesserungen, die das preußische Abgeordnetenhaus, das würdige Produkt dieses famosen Wahlgesetzes, in seiner Session von 1892 / 93 an demselben vornahm, deren Wirkung bei den Neuwahlen im Herbst 1893 schon theil - weise in die Erscheinung traten, sind geeignet, diese herrschende Auffassung von dem Werthe des Dreiklassenwahlsystems zu bestärken. Das Gesetz ist durch die Erscheinungen, welche die letzten Wahlen hervorbrachten, noch mehr als bisher dem Fluche der Lächerlichkeit, um nicht zu sagen der öffentlichen Verachtung ver - fallen. Verwundert fragt man sich, warum eine Regierung, die auf ihre Reputation achtet, nicht bestrebt ist, ein solches Monstrum eines Gesetzes so bald als möglich aus der Welt zu schaffen, dessen Unhaltbarkeit nicht blos für jeden Gerechtigkeit - liebenden, nein, für jeden anständigen Menschen selbstverständlich ist.
Der § 8 der Verordnung vom 30. Mai 1849 bestimmt:
14„ Jeder selbständige Preuße, welcher das 24. Lebensjahr vollendet und nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge richterlichen Erkenntnisses verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, sofern er nicht aus öffentlichen Mitteln Armenunterstützung erhält. “
Dies in Preußen bestehende Wahlrecht unterscheidet sich zu seinen Gunsten von dem Reichstagswahlrecht dadurch, daß bereits mit vollendetem 24. Lebens - jahre die Wahlfähigkeit beginnt, während bei dem Reichstagswahlrecht das voll - endete 25. Lebensjahr erfordert wird. Weiter hatten – wenigstens bis zum Erlaß der Norddeutschen Bundes-Verfassung, 1867 – auch die aktiven Militär - personen, wenn sie den Anforderungen des § 8 entsprachen, das aktive und passive Wahlrecht.
Das Dreiklassenwahlsystem unterscheidet sich von dem bestehenden Reichstags - wahlrecht zu seinen Ungunsten dadurch:
1. Daß die Stimmabgabe eine öffentliche ist, wodurch der Einschüchterung und Beeinflussung der Wähler und der Wahlmänner Thür und Thor geöffnet ist, und für Millionen Wähler eine freie Wahl zur Unmöglichkeit wird;
2. Daß die Wahlen indirekt sind. Die sogenannten Urwähler haben Wahlmänner zu wählen, die ihrerseits in einem besonderen Wahlgang, ebenfalls mit öffentlicher Stimmabgabe, die Abgeordneten zu wählen haben.
3. Daß wie das Stimmrecht weder geheim noch direkt, es auch nicht gleich ist. Die Wähler jedes Wahlkreises werden nach der Höhe der direkten Steuern, die sie zahlen, in drei Klassen eingetheilt, von denen jede Klasse ein Drittel der Wahlmänner wählt, obgleich die Zahl der Wähler in den einzelnen Klassen eine sehr verschiedene ist.
Die Wahlmänner der drei Klassen wählen gemeinschaftlich die Abgeordneten, so daß die Wahlmänner der ersten und zweiten Klasse, obgleich sie nur kleine Wählerkreise hinter sich haben, die Wahlmänner der dritten Klasse, die bis zu 90 und mehr Prozent der Wähler repräsentiren, überstimmen können.
Das wichtigste politische Recht wird also nach Maßgabe des Besitzes verschieden bemessen. Es sichert den Reichen und Wohl - habenden unter allen Umständen die Macht.
Für die Wahlrechtszutheilung wurden bisher die direkten Staatssteuern, die gezahlt würden, in Anrechnung gebracht. Und zwar wurde seit der Steuerreform vom Jahre 1890 die Einkommensteuer, die Gewerbesteuer einschließlich der Betriebs - steuer und die Grund - und Gebäudesteuer in Ansatz gebracht, mit der weiteren Maßgabe, daß diejenigen, die, weil sie unter 900 Mk. Jahreseinkommen haben, von der Einkommensteuer – vordem von der Klassensteuer – befreit sind, 3 Mk. als Steuersatz angerechnet erhalten.
Diese Bestimmungen wurden durch die weitere Steuerreform und durch die gleichzeitig vorgenommene Wahlrechtsreform vom Jahre 1893 dahin abgeändert, daß vom 1. April 1895 an nicht nur die direkten Staatssteuern (Einkommen - steuer nebst Ergänzungs - [Vermögens -] und Gewerbesteuer für den Gewerbebetrieb im Umherziehen), sondern auch die direkten Gemeinde -, Kreis - und Provinzial - bez. Bezirkssteuern, die der Urwähler zu entrichten hat, in Berechnung gestellt werden. Dabei treten an Orten, wo direkte Gemeinde - steuern nicht erhoben werden, an deren Stelle die vom Staate veranlagten Grund -, Gebäude - und Gewerbesteuern, auf deren Erhebung aber der Staat vom 1. April 1895 an verzichtet. Es kommen also Steuern in den betreffenden Orten in erheblicher Höhe für die Zumessung des Wahl - rechts in Betracht, die gar nicht erhoben werden.
Ein System, nach dem nicht bezahlte Steuern als bezahlte angesehen werden und für die Vertheilung politischer Rechte in Anrechnung kommen, besteht wohl einzig und allein in Preußen. Hier zeigt sich, zu welchen Ungeheuerlichkeiten eine ausschließlich auf dem Besitz beruhende Landesvertretung sich versteigen kann. 15Das Bestreben, die Macht, die man besitzt, um jeden Preis zu behalten, womöglich noch zu erweitern, artet ins Wahnsinnige aus.
Der Vortheil aus diesen ungeheuerlichen Bestimmungen fällt in erster Linie den über 16000 ostelbischen selbständigen Gutsbezirken zu, in welchen der Guts - herr als Gemeindeoberster und Polizeiherr schaltet und waltet und an sich selbst natürlich keine Gemeindesteuer bezahlt, aber die nicht entrichtete Gebäude -, Grund - und Gewerbesteuer zur Bemessung des Wahlrechts angesetzt erhält. Daß ein solches ungeheuerliches Privilegium geschaffen wurde, ist vorzugsweise dem Zentrum geschuldet, das in seinen Mogeleien mit der Rechten der letzteren, die genau wußte, was sie forderte, diese Forderungen bewilligte. Die Rechte ihrerseits hatte dem Zentrum dafür die Konzession zugestanden, daß von der für die Zumessung des Wahlrechts in Anrechnung kommenden Einkommensteuer Be - träge über 2000 Mk. außer Ansatz bleiben sollten. Das Zentrum hoffte, da die Vertheilung des Landtagswahlrechts auch für die Gemeindewahlen gilt, durch diese Bestimmung in einer Anzahl rheinischer Gemeinden seine Anhänger gegen die nationalliberalen und freikonservativen Großbourgeois in der ersten Wähler - klasse in die Gemeindevertretungen bringen zu können. Es war freilich ein aller Konsequenz Hohn sprechender Beschluß, auf der einen Seite nicht gezahlte Steuern für die Zumessung des Wahlrechts in Ansatz zu bringen, auf der anderen Seite aber wirklich gezahlte Steuern über einen bestimmten Satz hinaus außer Ansatz zu lassen. Dergleichen kann nur von Parteien beschlossen werden, denen Konsequenz und Gerechtigkeit hohle Worte sind. Jn dieser Beziehung über - trafen sich die Parteien im Landtage gegenseitig.
Schließlich war aber das Zentrum der betrogene Theil. Jm Abgeord - netenhause bildeten Zentrum und Konservative die große Mehrheit und so wurden diese Vereinbarungen gegen die lebhafte Opposition der nationalliberalen Groß - bourgeois angenommen. Ebenso hatte das Abgeordnetenhaus die von der Re - gierung vorgeschlagene Zwölftelung – auf die wir noch zu sprechen kommen – statt der Drittelung der Steuerbeträge in die 3 Klassen gutgeheißen.
Das Herrenhaus aber änderte diese Beschlüsse. Es hob die Zwölftelung auf – eine Aenderung, der keine besondere Bedeutung beizulegen war – und stellte die Drittelung wieder her. Außerdem strich es die vom Zentrum ausgegangene Aenderung, daß über einen Satz von 2000 Mark die Einkommensteuer für die Zumessung des Wahlrechts nicht in Anrechnung kommen sollte; dagegen ließ es die andere Bestimmung, wonach in Orten, in denen direkte Gemeindesteuern nicht erhoben werden, die vom Staate veranlagte oder nicht erhobene Grund -, Gebäude - und Gewerbesteuer in Anrechnung kommen sollte, in Kraft.
Als nun die Vorlage an das Abgeordnetenhaus zurückging, um eine Uebereinstimmung mit den Beschlüssen des Herrenhauses zu erzielen, weil ohne diese Uebereinstimmung und die Zustimmung der Regierung keine Vorlage Gesetzeskraft erlangen kann, erklärten die schlauen Konservativen zum größten Aerger des Zentrums, nunmehr für die Herrenhaus-Beschlüsse zu stimmen. Das - selbe erklärten die National-Liberalen, die gegen die Vorlage, wie sie das Abge - ordnetenhaus beschlossen, gestimmt hatten. Dagegen erklärte Herr Bachem voll Zorn und Entrüstung Namens seiner Partei, daß sie das Gesetz in der Fassung des Herrenhauses nunmehr ablehnten.
Diese parlamentarische Komödie wäre unmöglich gewesen, saß auch nur ein Sozialdemokrat im Abgeordnetenhause, der diese Schacherpolitik gebührend an den Pranger stellte.
Ein weiterer Beschluß, dem Abgeordnetenhaus und Herrenhaus zustimmten, ging dahin, daß wie schon bisher diejenigen Wähler, die weniger als 900 Mark Jahreseinkommen besitzen und von der Staatseinkommensteuer befreit sind, bei der Zumessung des Wahlrechts einen Steuersatz von 3 Mark in Ansatz gebracht bekommen sollen, und zwar auch in dem Falle, daß für einen solchen Urwähler eine andere von ihm zu entrichtende direkte Staats - oder Gemeindesteuer anzu -16 rechnen ist. Aber man beschloß weiter, daß vom 1. April 1895 ab alle Ur - wähler, die zu keiner Staatseinkommensteuer veranlagt sind, der dritten Wählerklasse zuzutheilen seien, auch wenn sie durch die An - rechnung des Steuersatzes von 3 Mark in die zweite oder erste Abtheilung gelangen würden. Letzteres wäre in Bezirken, wo die Zahl der von der Staatssteuer befreiten Wähler eine sehr große ist, und bei der gegen - wärtig geltenden Drittelung der Steuersätze in den Urwahlbezirken hier und da möglich gewesen. Z. B. zählte, wie bei einer Probe-Aufstellung sich zeigte, im Jahre 1893 der Kreis Teltow unter 2805 Wahlberechtigten 1449 = 51,7 pCt. steuerfreie Wahlberechtigte, der Kreis Niederbarnim bei 956 Wahlberechtigten 460 = 48,1 pCt. steuerfreie Wahlberechtigte und der Kreis Ratibor bei 2946 Wahl - berechtigten 1513 = 51,4 pCt. steuerfreie Wahlberechtigte.
Nach der seit 1890 beschlossenen Einrichtung, daß die Wählerklassen nicht mehr nach der Steuerquote, welche der ganze Wahlkreis aufweist, sondern nach der Quote, die der einzelne Urwahlbezirk im Ansatz hat, in den Urwahlbezirken gebildet werden, lassen diese Zahlenangaben den Schluß zu, daß in Urwahlbezirken, die ausschließlich aus unbemittelter Bevölkerung bestehen, Dreimarkmänner in die zweite, unter Umständen selbst in die erste Wählerklasse kommen könnten. So z. B. bildeten diese Dreimarkmänner im 508. Urwahlbezirk in Berlin 98,5 pCt. der Wähler. Von 203 Wählern waren 200 Dreimarkmänner. Jm 486. Ur - wahlbezirk waren es 97,3 pCt., in einem Bezirk des Teltower Kreises 98,4 pCt.
Das wußten die Konservativen, und das fürchteten sie, und darum ver - langten sie diese Wählermassen unter allen Umständen in die dritte Wählerklasse zu bannen, ein Verlangen, dem das Zentrum und die übrigen Parteien zustimmten.
Jndem aber diese wahlberechtigten Dreimarkmänner ein für alle Mal in die dritte Wählerklasse gebannt wurden, trat eine Begünstigung der übrigen Wahl - berechtigten ein. Man sicherte diesen ausschließlich die erste und zweite Wähler - klasse. Eine ähnliche Bindung auch mit denjenigen Wahlberechtigten vorzunehmen, welchen die vom Staate veranlagte Grund -, Gebäude - und Gewerbesteuer, obgleich sie nicht bezahlt wird, in Anrechnung kommt, fiel natürlich dem Landtage nicht im Traume ein. Hier handelte es sich eben um wohlhabende, oft sehr reiche Leute, deren Macht um jeden Preis, selbst durch künstliche Mittel verstärkt werden mußte, dort, bei den Dreimarkmännern, um arme Teufel.
Da die dritte Wählerklasse, wie wir sehen werden, gegenüber der ersten und zweiten Wählerklasse vollkommen machtlos ist, so hat für die dritte Klasse die Zuweisung der Dreimarkmänner nur eine dekorative Bedeutung und einen fingirten Werth.
Daß übrigens die Wirkung der Steuerreform, auch ohne eine besondere Begünstigung der Jnhaber selbständiger Gutsbezirke, eine Verschiebung des Drei - klassen-Wahlrechts im plutokratischen Sinne*)Jm Sinne der Herrschaft der reichen Leute. nothwendig zur Folge habe, wußte die preußische Regierung, wie eine Rede des Finanzministers Miquel bewies, sehr wohl. Als in der fünften Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses, am 21. November 1892, der ehemalige Minister des Jnnern, der Abg. Herrfurth, auf die wahrscheinlich starke plutokratische und agrarische Wirkung der Steuerreform hinwies, wenn diese nicht durch eine entsprechende Wahlreform verhindert werde, antwortete Herr Miquel:
„ Jch gebe auch von meinem Standpunkt aus zu, daß die Wirkung des Ein - kommensteuergesetzes ebensowohl als die Wirkung der Reformgesetze auf das Wahl - recht eine sehr bedeutende sein und sich namentlich nach der pluto - kratischen Seite hin äußern wird; ich bin auch der Meinung, daß ein Wahlgesetz dieser Wirkung entgegentreten und dafür Sorge tragen muß, daß nicht ein so starkes Ueberwiegen der plutokratischen Elemente beim preußischen Wahlrecht in Zukunft vorhanden ist. “
17Er versprach weiter darauf zurückzukommen, wenn die Wahlreform-Vorlage vorliege und hoffte, daß man zu einer Verständigung kommen werde.
Nun! Die Wahlrechtsvorlage kam! Die Vorlage der Regierung war aber weit entfernt davon, dem plutokratischen Charakter, den das Wahlrecht für die erste und zweite Wählerklasse erlangt hatte, abzuhelfen. Sie schlug zwar, wie schon erwähnt, vor, daß für die Berechnung der Steuerbeträge in den Wahlbezirken nicht mehr die Drittelung, sondern die Zwölftelung maßgebend sein sollte, dergestalt, daß von dem Gesammtsteuerertrag eines Bezirks die erste Klasse 5, die zweite 4, die dritte 3 Zwölftel aufzubringen habe. Aber die neue Eintheilung veränderte nur in sehr unbedeutendem Maße die Zahl der Wähler in der ersten und zweiten Klasse und hatte für die dritte Klasse gar keinen Werth, da diese nach wie vor die enorme Mehrzahl der Wähler umschloß. Das zeigten schlagend die Er - hebungen, welche die Regierung über den Einfluß der Zwölftelung in einigen Probewahlkreisen vornehmen ließ, um ein Urtheil über die Wirkung des Systems zu bekommen. Ausgewählt wurden für die Großstädte: Berlin II. und Köln; für größere und kleinere Mittelstädte: Krefeld-Neisse und Greifswald; für ländliche Kreise mit überwiegendem Großgrundbesitz: Grimmen-Greifswald, mit überwiegendem bäuerlichem Grundbesitz: Schlawe-Rummelsburg. Wir stellen die Ergebnisse hier neben einander, indem für 1888 die thatsächliche Gestaltung der Wahlen, für 1892 die unveränderte Anwendung des Gesetzes von 1891 und das System der Zwölftelung, beides unter der Annahme von Dreimark-Wählern vorausgesetzt wird
System der Drittelung | System der Zwölftelung | ||||||||
1888 | 1892 (bezirksweise) | ||||||||
I. | II. | III. | I. | II. | III. | I. | II. | III. | |
Schlawe-Rummelsburg | 3,35 | 11,83 | 84,82 | 3,58 | 14,17 | 82,25 | 5,13 | 19,89 | 74,98 |
Grimmen-Greifswald | 2,78 | 8,82 | 88,40 | 2,67 | 8,60 | 88,73 | 3,90 | 12,12 | 83,98 |
Stadt Greifswald | 3,03 | 10,01 | 86,96 | 3,58 | 10,10 | 86,32 | 5,20 | 13,01 | 81,79 |
Stadtkreis Köln | 2,21 | 8,81 | 88,98 | 2,26 | 8,32 | 89,42 | 3,41 | 11,75 | 84,84 |
Stadtkreis Krefeld | 2,54 | 8,47 | 88,99 | 2,36 | 8,58 | 89,06 | 3,61 | 12,30 | 84,09 |
Stadtkreis Berlin II. | 1,25 | 6,75 | 92,00 | 1,59 | 7,13 | 91,28 | 2,31 | 11,35 | 86,34 |
Neisse-Grottkau | 3,38 | 8,75 | 87,87 | 3,60 | 10,72 | 85,68 | 5,21 | 14,42 | 80,37 |
Stadt Neisse | 4,03 | 10,42 | 85,55 | 3,77 | 9,97 | 86,26 | 5,37 | 12,58 | 82,05 |
Das Resultat der Zwölftelung im Gesetz wäre also gewesen, daß die Wählerzahl in der ersten und zweiten Klasse ein wenig größer, und dementsprechend die Wählerzahl der 3. Klasse ein wenig kleiner geworden wäre. Aber was hat es für einen Einfluß auf den Ausgang der Wahl, wenn künftig statt 82,25 pCt. der gesammten Wählerschaft 74,98 pCt. – das ist der stärkste Unterschied, der sich bei der Probeaufstellung ergab – zur dritten Klasse gehört? Jn den sieben anderen Probewahlkreisen sind die Unterschiede noch weit geringer. Es erscheint als ein schlechter Scherz, das eine „ Reform “zu nennen. Als dann das Herrenhaus die Drittelung wieder hergestellt hatte, der schließlich das Abgeordnetenhaus zu - stimmte, beeilte sich die Regierung ebenfalls, diese Aenderung mit den anderen, welche sowohl den plutokratischen wie den agrarischen Charakter der Wahlrechtsvertheilung auf die höchste Spitze trieben, zu akzeptiren. Sie nahm das neue Gesetz sogar mit einer Eile in die Gesetzessammlung auf, die im höchsten Grade auffällig war.
Von einer Opposition des Herrn Miquel gegen den plutokratisch-agrarischen Charakter des neuen Gesetzes hörte man nichts. Wer will auch von einem Dorn - strauch Feigen lesen?
Abgesehen von den Reformen zu Gunsten der Kapitalisten und Agrarier, die am Dreiklassenwahlsystem vorgenommen wurden, mußte allein schon die wirth - schaftliche Entwicklung innerhalb der letzten Jahrzehnte das System zu Gunsten der reichen Klassen auf Kosten der Minderbemittelten beeinflussen. Das zeigt ein Blick auf die Einkommensvertheilung innerhalb des erwähnten Zeitraums. Nach218Clemens Heiß*)Die großen Einkommen in Deutschland und ihre Zunahme in den letzten Jahrzehnten. München und Leipzig 1893. Eine von der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen gekrönte Arbeit. hat in den acht alten Provinzen Preußens in dem Zeitraum von 1853-1890 die Einwohnerzahl um 42 pCt. zugenommen. Die Einkommen liegen aber in dieser Periode folgendermaßen:
Die Einkommen | unter 3000 | Mk. | stiegen | um | 42 | pCt., | ||
〃 | 〃 | von | 3000 -36000 | 〃 | 〃 | 〃 | 333 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 36000-60000 | 〃 | 〃 | 〃 | 590 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 60000-120000 | 〃 | 〃 | 〃 | 835 | 〃 |
〃 | 〃 | über 120000 | 〃 | 〃 | 〃 | 942 | 〃 |
Die Zahl der Einkommen bis zu 3000 Mk. stieg also konform der Zunahme der Bevölkerung, die Zahl der großen Einkommen wuchs aber um so rascher, je größer sie waren. Es ist klar, daß eine sehr starke Verschiebung in den drei Wählerklassen eine nothwendige Wirkung dieser Verschiedenartigkeit der Einkommens - vermehrung war. Und da durch die Einführung der Staatseinkommensteuer mit Zwangseinschätzung (1891) das Wachsthum der großen Einkommen sich noch weit erheblicher herausstellte, als die Tabellen von Heiß, die mit 1890 abschließen, ergaben, so war eine weitere Entwicklung der Wahlrechtsvertheilung nach der plutokratischen Seite selbstverständlich. Sie ist thatsächlich auch eingetreten.
Bei der Tendenz unserer ökonomischen Entwicklung, nach der die großen Vermögen progressiv wachsen auf Kosten der kleineren und auf Kosten der großen Masse der Bevölkerung, mußte die Gesammtzahl der Wähler der ersten und zweiten Klasse im Verhältniß zu jener der dritten immer kleiner werden. Die Einflußlosigkeit der dritten Wählerklasse nimmt mit der Zunahme ihrer Zahl nicht ab sondern zu. Zu einer solchen Ungeheuerlichkeit führt das bestehende Wahlsystem.
Nach der amtlichen Statistik gab es im Jahre 1849 auf Grund des Drei - klassenwahlsystems in Preußen:
Davon | gehörten | zur | 1. | Wählerklasse | 153308 | Urwähler, |
〃 | 〃 | 〃 | 2. | 〃 | 409945 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 3. | 〃 | 2691950 | 〃 |
Ein Wähler 1. Klasse hatte demnach durchschnittlich so viel Wahlrecht wie 2,7 Wähler der 2. Klasse und 17 Wähler der 3. Klasse. Die 563753 Wähler der 1. und 2. Klasse steckten die 2691960 Wähler der 3. Klasse in die Tasche, diese hatten jenen gegenüber „ nix to feggen “. Noch mehr. Die Wähler der 1. Klasse und einer über die Hälfte der Wähler der 2. Klasse konnten die ge - sammten Wähler der dritten und die kleinere Hälfte der Wähler der 2. Klasse überstimmen. Heute ist es noch ebenfalls so, nur mit dem Unterschied, daß die Zahl der Wähler der 1. und 2. Klasse im Verhältniß zu jener der 3. noch kleiner geworden ist. Darnach läßt sich bemessen, was es heißt, wenn die vom Ministerium entworfene Thronrede, mit welcher der Landtag am 5. Juli 1893 geschlossen wurde, sagte:
„ Der in Folge der Steuerreform eintretenden Verschiebung in der Ab - stufung des Wahlrechts trägt das Gesetz über die Abänderung des Wahl - verfahrens Rechnung; “und „ daß diese von dem Streben nach ausgleichender Gerechtigkeit geleiteten Reformen meinem Volke zum dauernden Segen gereichen werden. “
War im Jahre 1849 die Gesammtzahl der Urwähler 3255703, so betrug sie bei den Wahlen von 1898: 5989538**)Nr. 10 der Statistischen Correspondenz, XX. Jahrgang des Königl. Statist. Bureaus.
Dieses Mehr von 2733835 Urwählern ist einestheils durch die steigende Bevölkerung, anderntheils durch die Annexionen veranlaßt. Es ist nun interessant19 zu sehen, wie sich vom Jahre 1849 an bei den verschiedenen Wahlen, die Wähler - zahl prozentual auf die drei Wählerklassen vertheil en. Darnach hatten:
1849 | 1855 | 1858 | 1861 | 1863 | 1866 | 1867 | 1888 | 1893 | |||
1. | Klasse: | 4,72 | 5,02 | 4,80 | 4,73 | 4,46 | 4,20 | 4,28 | 3,62 | 3,52 | pCt. |
2. | 〃 | 12,59 | 13,86 | 13,42 | 13,49 | 12,78 | 12,34 | 12,18 | 10,82 | 12,06 | 〃 |
3. | 〃 | 82,69 | 81,09 | 81,78 | 81,77 | 82,76 | 83,54 | 83,54 | 85,56 | 84,42 | 〃 |
Der Vergleich ergiebt, daß die Zahl der Wähler 1. Klasse in diesem Zeit - raum von 4,72 pCt. in 1849 auf 3,52 pCt. in 1893, die Wähler 2. Klasse von 12,59 pCt. in 1849 auf 12,06 in 1893 sanken, daß dagegen die Wählerschaft der 3. Klasse von 82,69 pCt. in 1849 auf 84,42 pCt. in 1893 wuchs.
Die angegebenen Zahlen repräsentiren das Ergebnis, des Durchschnittes in der Monarchie. Die Wählerschaft ist aber in jedem Wahlbezirk eine andere; je nachdem die Einkommensverhältnisse der einzelnen Wahlkreise be - schaffen sind, je nachdem ein Wahlkreis ein ländlicher oder ein industrieller oder städtischer sc. ist, je nachdem er eine dünne, mittlere oder dichte Bevölkerung hat, ändert sich die Eintheilung. Ein Wähler 1. oder 2. Klasse in einem Wahlkreis hat keineswegs die Sicherheit, ein Wähler 1. oder 2. Klasse in einem Nachbar - kreise oder in einem beliebigen anderen Wahlkreise zu sein. Wer in dem Wahl - kreis A Wähler 1. Klasse ist, kann im Wahlkreis B, C u. s. w. Wähler 3. Klasse sein. Und ein Wähler 3. Klasse im Wahlkreise E kann Wähler 1. Klasse sein, wenn er im Wahlkreise F wohnt.
Das System des Dreiklassen-Wahlsystems ist, kein System zu sein. Der Zufall entscheidet.
Die Willkürlichkeiten und Zufälligkeiten des Systems sind aber noch gesteigert worden, nachdem seit 1890 durch die Gesetzgebung angeordnet wurde, daß die Be - rechnung der einzelnen Steuerklassen nicht mehr nach dem Steuerbetrag des ganzen Wahlkreises, sondern nach dem der einzelnen Urwahlbezirke, von denen der einzelne mindestens 750 und höchstens 1749 Seelen umfassen darf, vorgenommen werden.
Hatte früher z. B. ein Wahlkreis einen direkten Staatssteuerbetrag von 300000 Mk. aufzubringen, so entfielen auf jede der drei Klassen 100000 Mk. Steuern. Besaß die 1. Klasse 30 Wähler, die 2. Klasse 85 und die 3. Klasse 750 Wähler, so war sicher, daß die 30 reichsten Leute die 1. Wählerklasse, die 85 Nächstreichen die 2. Klasse und die 750 Minderwohlhabenden oder Nichts - besitzenden des Wahlkreises die 3. Wählerklasse bildeten. Darin lag noch ein ge - wisses System für den einzelnen Wahlkreis. Durch die Drittelung der Steuer in den Urwahlbezirken werden aber die größten Absurditäten herbeigeführt, sogar innerhalb des einzelnen Wahlkreises. Hing nach der früheren Eintheilung für einen großen Theil der Wähler die Wählerklasse von dem Wahlkreis ab, dem sie angehörten, so hängt sie jetzt ab von dem Urwahlbezirk, in dem sie wohnen, d. h. es kommt darauf an, in welchem Ort, in welcher Straße eines bestimmten Ortes, ja in welcher Hausnummer einer bestimmten Straße sie wohnen. End - lich hängt bei dem ganzen System für den Einzelnen auch oft von dem Buch - staben des Alphabets ab, mit dem sein Name beginnt, ob er in die 1. oder 2., in die 2. oder 3. Klasse kommt.
Hätte man eine Prämie darauf gesetzt, ein Wahlsystem zu erfinden, das durch seine Komplizirtheit wie durch seine Widersprüche und Systemlosigkeit sich auszeichnete und geeignet sei, zum öffentlichen Spotte zu werden, der preußi - schen Regierung und den preußischen Kammern gebührte der Preis.
Wie die plutokratische Wirkung des Wahlsystems bewirkte, daß die Zahl der Wähler 1. Klasse stetig sank, die der 3. stetig wuchs, mögen weiter einige Angaben aus einzelnen Städten und Orten beweisen:
1. Abtheilung | 2. Abtheilung | 3. Abtheilung | |
1849 | 2350 = 3,1 pCt. | 7232 = 9,4 pCt. | 67375 = 87,5 pCt. |
1893 | 5930 = 1,7 〃 | 28233 = 8,2 〃 | 347782 = 90,1 〃 |
Jm Jahre 1849 hatten also 3,1 Wähler der 1. Klasse genau soviel Stimm - recht wie 87,5 der 3., im Jahre 1893 hatten aber bereits 1,7 Wähler der 1. Klasse so viel Stimmrecht wie 90,1 der 3. Und nach den vom 1. April 1895 in Kraft tretenden Bestimmungen wird die Kapitalmacht noch ausschlaggebender sein. Und das heißt man in Preußen „ ausgleichende Gerechtigkeit “.
1888 | 1893 | |
im 1. Wahlkreis: | ||
in der 1. Klasse | 2150 | 1453 − 697 |
〃〃 2. 〃 | 6756 | 4972 − 1784 |
〃 〃3. 〃 | 55172 | 61647 + 6475 |
im 2. Wahlkreis: | ||
in der 1. Klasse | 883 | 1323 + 440 |
〃 〃 2. 〃 | 4780 | 5900 + 1120 |
〃 〃 3. 〃 | 65126 | 74052 + 8926 |
im 3. Wahlkreis: | ||
in der 1. Klasse | 1537 | 2007 + 470 |
〃 〃 2. 〃 | 7713 | 11561 + 3848 |
〃 〃 3. 〃 | 86124 | 112787 + 26663 |
im 4. Wahlkreis: | ||
in der 1. Klasse | 921 | 1146 + 225 |
〃 〃 2. 〃 | 4535 | 5799 + 1264 |
〃 〃 3. 〃 | 57621 | 64800 + 7179. |
Aehnliche Verschiebungen der Wähler in den einzelnen Klassen wie in Berlin haben sich auch in anderen Städten herausgestellt, aber die Nachweise hier - für, soweit sie uns vorliegen, erstrecken sich nur auf die letzten Jahre, sie sind dafür aber um so charakteristischer.
Jn Crefeld betrug die Gesammtzahl der Wahlberechtigten: 18916141 18938090.
Aber in diesem Zeitraum war die Zahl der Wähler der 1. Klasse von 372 auf 143, die Wähler der 2. Klasse von 1277 auf 782 gesunken, dagegen war die Zahl der Wähler der 3. Klasse von 4761 auf 7165 gestiegen. Es geht doch nichts über die „ ausgleichende Gerechtigkeit “.
Jn Aachen waren wahlberechtigt: 18916878 Personen, 18939747 〃
1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | |
1891 | 311 | 1208 | 5359 |
1893 | 124 | 738 | 8885 |
− 187 | − 470 | + 3526 |
1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | |
1891 | 190 | 591 | 3363 |
1893 | 77 | 385 | 3927 |
− 113 | − 206 | + 464 |
1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | |
1891 | 250 | 1541 | 13401 |
1893 | 20 | 660 | 16000 |
− 230 | − 781 | + 2599 |
Jn einer Reihe anderer rheinischer Städte stellte sich die Wählerzahl in den verschiedenen Klassen also. Es hatten:
211891 | 1893 | |||||
1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | |
Köln | 636 | 3233 | 14897 | 370 | 2584 | 22323 |
Düsseldorf | 386 | 1356 | 6089 | 149 | 1100 | 9400 |
Elberfeld | 270 | 1314 | 5784 | 152 | 907 | 10098 |
Barmen | 302 | 1049 | 4921 | 185 | 1093 | 8635 |
Mülheim a. Rh. | 81 | 271 | 1039 | 4 | 143 | 3147 |
Reuß | 68 | 280 | 1109 | 34 | 233 | 1393 |
Düren | 14 | 202 | 1866 | 9 | 74 | 2242 |
Eupen | 38 | 167 | 767 | 18 | 121 | 850 |
Dülken | 33 | 116 | 475 | 20 | 102 | 539 |
Uerdingen | 15 | 75 | 520 | 9 | 40 | 702 |
Jn Frankfurt a. M. verminderte sich in Folge des Gesetzes von 1893 die Zahl der Wähler 1. Klasse von 870 auf 794, die der 2. Klasse von 2990 auf 2640. Jn Essen kommen auf einen Wähler 1. Klasse 187 Wähler der 2. und 5127 Wähler der 3. Klasse.
Bei den Kommunalwahlen, für welche dasselbe Wahlgesetz gilt, nur mit dem Unterschied, daß jede Wählerklasse ein Drittel der Gemeindevertreter und direkt wählt, tritt die Ungeheuerlichkeit des Dreiklassenwahlsystems nach augenfälliger in die Erscheinung. So ernennen die beiden Wähler der 1. Klasse in Essen ein Drittel der Stadtverordneten, in Bochum haben dasselbe Recht fünf Wähler der ersten Klasse, in Berlin wählt 1 / 25 der Wähler ein Drittel der Stadtverordneten (40).
Die Steigerung der Macht der Plutokratie liegt für den Einfältigsten offen vor. Und da spricht man von „ ausgleichender Gerechtigkeit “.
Jn Neustadt in Oberschlesien stehen im Verzeichniß der Kommunalwähler der 1. Abtheilung: Abraham Fränkel, Herm. Fränkel, Emanuel Fränkel; in der 2. Abtheil 4 Personen: Joseph Pinkus, Albert Fränkel, Max Pinkus und August Schneider. Die sechs zuerst genannten Personen sind die Jnhaber der Firma E. Fränkel. Jn der 3. Abtheilung wählen 1231 Mitglieder 12 Stadt - verordnete. Die Firma Fränkel wählt deren 24. Man braucht solche Thatsachen nur anzuführen, um das Hohngelächter der ganzen Welt hervorzurufen.
Eine sehr erheiternde Wirkung üben die Vergleiche aus, die zeigen, wie sowohl zwischen den einzelnen Wahlkreisen, wie innerhalb der Wahlkreise in den Urwahlbezirken die Zumessung des Stimmrechts nach der Steuerdrittelung zu den unglaublichsten Absurditäten führt. Hier geht System, Vernunft, Gerechtigkeit vollkommen in die Brüche. Da kann man sich nicht einmal mehr entrüsten, man kann nur noch aus Verachtung über solche Zustände lachen.
Man höre, staune und erheitere sich.
im | 59. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 73750 | Mk. | |
〃 | 57. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 47912 | 〃 | |
〃 | 58. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 33518 | 〃 | |
〃 | 216. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 159 | 〃 | |
〃 | 212. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 118 | 〃 | |
und | 〃 | 156. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 116 | 〃 |
im | 58. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 10546 | Mk. | |
〃 | 98. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 7400 | 〃 | |
〃 | 42. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 3704 | 〃 | |
〃 | 218. u. 236. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 | |
und | 〃 | 204. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 9 | 〃 |
im | 486. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 40819 | Mk. |
〃 | 489. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 30758 | 〃 |
〃 | 424. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 6561 | 〃 |
〃 | 324. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 44 | 〃 |
〃 | 385. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 20 | 〃 |
im | 486. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 1470 | Mk. |
〃 | 376. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 686 | 〃 |
in | den | Urwahlbezirken | 324, 340, 359, 365 u. 367 | 9 | 〃 | |||
〃 | 〃 | 〃 | 370 und 385 | 6 | 〃 |
im | 743. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 31948 | Mk. |
〃 | 734. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26907 | 〃 |
〃 | 772. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 20506 | 〃 |
〃 | 838. u. 909. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 |
〃 | 860. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 12 | 〃 |
im | 980. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 3256 | Mk. |
〃 | 953. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 870 | 〃 |
in den Urwahlbezirken 860, 909, 1042, 1052, 1068, 1069 und 1071 | 6 | 〃 |
im | 566. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 26517 | Mk. |
〃 | 564. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 16484 | 〃 |
〃 | 695. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 27 | 〃 |
〃 | 508 u. 602. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 |
im | 564. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 13884 | Mk. |
〃 | 686. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 2829 | 〃 |
〃 | 684. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 876 | 〃 |
in den Urwahlbezirken 598, 577, 602 u. 695 | 6 | 〃 |
Solche Verrücktheiten in der Vertheilung des Wahlrechts zeigte Berlin Aehnliches bietet fast jeder Wahlkreis der Monarchie. Jn Halle ist z. B. der höchste Steuersatz in der zweiten Wählerklasse im 5. Urwahlbezirk 17985 Mk., im 31. Urwahlbezirk nur 9 Mk. Der höchste Steuersatz für die 3. Wählerklasse ist im 37. Urwahlbezirk 774 Mk., im 31. Urwahlbezirk nur 6 Mk.
Jn Bochum ist der höchste Steuersatz für die erste Wählerklasse im 21. Urwahlbezirk 9057 Mk., im 8. Urwahlbezirk 131 Mk. Jn der zweiten Wählerklasse ist der höchste Steuersatz im 21. Urwahlbezirk 1155 Mk., im 8. Urwahlbezirk 21 Mk. Jn der dritten Wählerklasse ist der höchste Steuersatz 346 Mk. im 31. Urwahlbezirk nur 6 Mk. u. s. w.
Die folgende Aufstellung zeigt, wie diese unglaublichen Widersprüche in der ganzen Monarchie zum Ausdruck kommen.
a) in der ersten Abtheilung: | |||||||||
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | |
5 | 5 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | ||
bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | über | ||
20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 30000 | 300000 | ||
in 1 | 9 | 30 | 2071 | 7037 | 9071 | 4293 | 1578 | 40 Urwahlbezirken. | |
b) in der zweiten Abtheilung: | |||||||||
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | |||
5 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | ||||
bis | bis | bis | bis | bis | bis | über | |||
30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 30000 | 30000 | |||
in 2738 | 8344 | 8448 | 3722 | 719 | 157 | 2 Urwahlbezirken. | |||
c) in der dritten Abtheilung: | |||||||||
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | |
3 | 3 | 10 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | |
bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | |
10 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 8484 | 10000 | |
in 273 | 3754 | 4303 | 3111 | 9433 | 2675 | 500 | 64 | 10 | 1 Urwahlbezirken. |
Ein weiterer Kommentar ist Angesichts dieser Zahlen überflüssig.
23Man sagt zur Vertheidigung des Dreiklassenwahlsystems, daß es den Besitz gegenüber der großen besitzlosen Klasse zur Geltung bringe. Das ist, wie die kolossale Verschiedenheit der Steuersätze in jeder Wählerklasse darthut, eine grobe Unwahrheit oder Täuschung. Wenn beispielsweise in Berlin in einem Wahlkreis ein Wähler mit einem Steuersatz von 40819 Mk. und ein anderer mit einem solchen von 20 Mk., je nach dem Urwahlbezirk, in dem er wohnt, in der ersten Klasse wählt, so steht auf der einen Seite ein vielfacher Millionär einem kleinen Geschäftsmann, kleinen Beamten oder gut bezahlten Arbeiter mit 1500-1800 Mk. Einkommen gegenüber. Jn demselben Wahlkreis kommt aber ein anderer viel - facher Millionär mit einem Steuersatz von 10546 Mk. und einem Arbeiter, der nur 9 Mk. Steuern zahlt, in die zweite Wählerklasse. Aehnliche Beispiele sind nicht vereinzelt, sie sind typisch.
Jn der Breitenstraße in Berlin, deren Häuser zu verschiedenen Urwahl - bezirken gehören, ist man mit einem Steuerbetrag von 147 Mk. im Hause Nr. 7 in der dritten Wählerklasse, im Hause Nr. 8 in der zweiten. Jn dem dicht dabei liegenden Köllnischen Fischmarkt kommt man aber mit diesem Steuersatz in die 1. Wählerklasse. Jn einem Theil der Scharrnstraße steht der Wähler mit 272 Mk. Steuer in der 2. Klasse, wenn sein Name mit dem Buchstaben A oder B beginnt; beginnt derselbe jedoch mit einem anderen Buchstaben, so kommt er in die 3. Wähler - klasse. Wir fragen wieder: Wo bleibt da Prinzip, Vernunft, Gerechtigkeit?
Zeigen die angeführten Beispiele, daß selbst der Besitz unter dem Drei - klassenwahlsystem mißhandelt wird, so geschieht das mit der „ Bildung “genau ebenso. Aus Bonn wird berichtet, daß der Oberbürgermeister, der Landrath und fast sämmtliche Professoren der Universität in der 3. Klasse wählen. Jn Berlin, Cöln, Magdeburg, Halle, Aachen und den großen und mittleren Städten der Monarchie wählt der größte Theil der höheren Staatsbeamten, der Professoren, Richter, Aerzte, Juristen, höheren Lehrer, Schriftsteller in der 3. Wählerklasse, wohingegen Börsenjobber, glückliche Grundstücksspekulanten und reich gewordene Fleischer - und Bäckermeister, die den Dativ von dem Akkusativ nicht zu unter - scheiden vermögen, oft in der 1. Klasse wählen.
Jn dem 58. Urwahlbezirk, den die Boßstraße in Berlin bildet, gab es 189 Wahlberechtigte. Jn dieser Straße wohnten der Reichskanzler, 3 Minister, 3 Geheimräthe und Räthe, 3 Rittergutsbesitzer und Majoratsherren, 12 Geheime Kommerzienräthe ꝛc, neben einer Anzahl Bureau - und Kanzleibeamten, Köche, Kellner, Heizer und Portiers der erwähnten Herren. Jn diesem Urwahlbezirk bildeten zwei Vertreter des Großhandels und der Großindustrie die 1. Wählerklasse. Vier Ver - treter des Großhandels und der Großindustrie und ein Rittergutsbesitzer bildeten die 2. Wählerklasse. Alle übrigen Wähler, darunter der Reichskanzler, drei Minister, eine Anzahl Geheimer Kommerzienräthe, Bankiers ꝛc. bildeten mit ihren Kammerdienern, Lakaien, Köchen, Portiers, Heizern ꝛc. die 3. Klasse.
Von den 10 preußischen Ministern gehörten der Reichskanzler, der Minister - präsident Graf zu Eulenburg, der Vizepräsident Dr. v. Bötticher, der Justiz - minister, der Eisenbahnminister und der Kultusminister in die 3. Wählerklasse, der Finanzminister Dr. Miquel, der Handelsminister und der Landwirthschaftsminister in die 2. Klasse. Der Kriegsminister besitzt als aktiver Soldat kein Wahlrecht. Von den wahlberechtigten 9 Ministern wählte nicht einer in der 1. Klasse.
Alles was in Berlin zur „ Jntelligenz “sich zählt, gehört mit den Arbeitern in die 3. Klasse. Die höchsten Staatsbeamten, die ersten Gelehrten, die bekanntesten Schrift - steller, die hervorragendsten Künstler sind fast ohne Ausnahme Wähler der 3. Klasse.
So spricht die Praxis des Wahlsystems den Grundsätzen, die es zur Geltung bringen soll, vielfach Hohn und giebt das System und seine Vertheidiger der Lächerlichkeit Preis.
Diese Unnatur des Wahlsystems, verbunden mit dem Zwang zur öffentlichen Stimmabgabe hat auch veranlaßt, daß die Betheiligung bei den Wahlen von Wahl -24 periode zu Wahlperiode gesunken ist. Und zwar im Gegensatz zum Reichstags - Wahlsystem, bei dem die Betheiligung der Wähler sich im Laufe seiner Geltung bedeutend gehoben hat. Leider liegt für die Betheiligung der Wähler an den Landtagswahlen eine genaue Statistik nur bis zum Jahre 1866 vor, wohingegen für die Reichstagswahlen eine solche bis zum Jahr 1893 vorhanden ist.
1849 | 31,9 pCt. | 186127,2 pCt. | |
1855 | 16,1 〃 | 1862 | 34,2 〃 |
1858 | 22,6〃 | 1863 | 30,9 〃 |
1866 | 31,5 pCt. |
Die stärkere Wahlbetheiligung von 1862 bis 1866 ist auf die Konflikts - periode zurückzuführen. Seitdem ist die Wahlbetheiligung beständig gesunken. Das ergiebt namentlich ein Blick auf die Berliner Landtagswahlen, die hierin typisch sein dürfen. Jn Berlin wählten von je 100 Urwählern:
1849 | 45,8 pCt. | 1867 | 33,4 pCt. | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1855 | 38,8 〃 | 1873 | 25,3 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1858 | 43,3 〃 | 1876 | 22,4 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1861 | 42,2 〃 | 1879 | 22,9 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1862 | 62,8 〃 | 1882 | 33,8 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1863 | 61,8 〃 | 1885 | 26,2 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1866 | 53,1 〃 | 1888 | 25,1 〃 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
1893 | 14,5 pCt. *)Ein ganz anderes Bild zeigen uns die Reichstagswahlen, worüber uns das „ Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich “belehrt. Das Resultat der Wahlbeteiligung war in runden Summen: *)
Ein Vergleich mit der Betheiligung an den preußischen Landtagswahlen belehrt uns, daß bei den Reichstagswahlen von „ Wahlmüdigkeit “, die man dem Volke andichtet, keine Spur ist. Die Wahlbetheiligung bei den Reichstagswahlen wird in demselben Maße lebhafter, wie die Massen ihre Bedeutung begreifen. |
Diese Statistik bestätigt ebenfalls, daß die Wahlbetheiligung an den Landtags - wahlen während der Konfliktsperiode am stärksten war. Seitdem ist sie sehr erheblich gesunken. Kaum ein Siebentel der Wähler haben sich 1893 an der Wahl betheiligt. Charakteristisch ist ferner, daß sowohl in Berlin wie im ganzen Lande die Betheiligung der dritten Wählerklasse die schwächste war, sie sank z. B. in Berlin von 61,1 im Jahre 1862 auf 11,5 im Jahre 1893. Aber die Wahlbetheiligung war in Berlin selbst in der ersten Wählerklasse in einer Reihe Urwahlbezirken gleich 0. So erschien in 34 Urwahlbezirken kein Wähler erster Klasse, in 166 Urwahlbezirken betheiligten sich nur je einer, und in 254 Urwahl - bezirken nur je zwei Wähler. Jn Urwahlbezirken dieser Kategorie sinkt die Wahl zur bloßen Ernennung herab. Gab es doch in Berlin 34 Urwahlbezirke, in welchen die erste Klasse überhaupt nur aus einem Wähler bestand, in 97 Bezirken bestand sie aus zwei. Waren diese beiden Wähler verschiedener Ansicht über die von ihnen zu ernennenden Wahlmänner, so blieb nichts übrig, als die Namen der Kandidaten auszuknobeln. Jn Magdeburg gab es 12 Urwahlbezirke mit je einem Wähler erster Klasse und in 11 dieser Bezirke ernannte der Wähler zwei Wahlmänner. Kann ein Gesetz lächerlicher gemacht werden, als es hier durch seine eigenen Wirkungen wird?
25Die Wahlbetheiligung bei den Dreiklassenwahlen wäre weit schwächer, müßten nicht viele abhängige Wähler, insbesondere Beamte, ihre Stimme abgeben, weil ihr Fernbleiben sonst übel vermerkt würde.
Welches Gewicht von den höheren Behörden auf die Wahlbetheiligung ihrer Untergebenen bei dem Dreiklassen-Wahlsystem gelegt wird, zeigt ein Erlaß des Eisenbahnministers vom 14. Februar 1894, der lautet:
Die durch den Erlaß vom 19. v. M. – P. IV (I) 10398 – ertheilte Ermächtigung, den bei der Eisenbahn beschäftigten Arbeitern für die durch Aus - übung ihres Wahlrechts versäumte Arbeitszeit auch bei künftigen Wahlen eine Lohnvergütung zu gewähren, soll sich, wie ich der Königlichen Eisenbahn-Direktion auf den Bericht vom 3. d. M. – I A. 762 – erwidere, nur auf die Landtags - wahlen beziehen. Für die Reichstagswahlen besteht zum Erlaß einer ent - sprechenden allgemeinen Anordnung kein Bedürfniß.
Der Minister der öffentlichen Arbeiten.
Der Schlußsatz des Erlasses spricht Bände. „ Für die Reichstagswahlen besteht zum Erlaß einer entsprechenden allgemeinen Anordnung kein Bedürfniß “, offenbar nur, weil die Reichstagswahlen mit geheimer Abstimmung vorgenommen werden, die Landtagswahlen aber mit öffentlicher Stimmabgabe. Und für die Wirkung der öffentlichen Stimmabgabe auf die Beamten haben die letzten Landtags - wahlen, unter anderem in Berlin und Frankfurt a. M., seltsame Resultate ergeben. Jn denselben Bezirken, in welchen bei der Reichstagswahl so viele sozialdemokratische Stimmen abgegeben wurden, daß jeder Zweifel darüber ausgeschlossen war, daß auch zahlreiche Beamte sozialdemokratisch gestimmt hatten, wurden bei der Land - tagswahl nur Stimmen für konservative oder antisemitische Wahlmänner abgegeben.
Die öffentliche Stimmabgabe wirkt einschüchternd, abschreckend und demora - lisirend. Die große Zahl der Wähler, die sich wirthschaftlich und sozial in Abhängigkeit befindet, wird entweder auf die Wahlbetheiligung verzichten, oder wer gezwungen ist, wegen seiner Abhängigkeit dennoch seine Stimme abgeben zu müssen, wird wider seine bessere Ueberzeugung stimmen, um nicht geschädigt zu werden. So traten z. B. bei den Landtagswahlen die niederen Beamten fast Mann für Mann zur Wahlurne an. Sollte das aus Eifer und Jnteresse am preußischen Abgeordnetenhaus, in dem so wenig ihre Jnteressen grade durch Diejenigen vertreten werden, welchen sie öffentlich ihre Stimme geben, geschehen sein?
Daß die öffentliche Stimmabgabe einschüchtert und demoralisirt, ist eine so offenkundige Thatsache, daß sie Niemandem, der im praktischen Leben steht, ent - gehen kann. Dennoch wurde bei der Wahldebatte im preußischen Abgeordneten - hause im Jahr 1893 die öffentliche Stimmabgabe als allein „ moralisch “ver - theidigt, wohingegen die geheime Abstimmung die politische Heuchelei (!) begünstigen sollte.
Diese wunderbare, unglaublich klingende Behauptung stellte der konservative Abg. v. Tiedemann-Labischin auf, indem er auf die Thatsache hinwies, daß Eisenbahnbeamte bei der Reichstagswahl sozialdemokratisch, bei der Landtagswahl konservativ gewählt hätten. Natürlich fiel es dem freisinnigen Abg. Parisius leicht, dem konservativen Herrn nachzuweisen, daß er an einer Begriffsverwirrung leide und gerade die öffentliche Stimmabgabe zur politischen Heuchelei führe. Der Abg. Rickert wies nach, daß der frühere Minister Graf zu Eulenburg im Jahre 1876 in seinen Städteordnungs-Entwurf die geheime Abstimmung aufgenommen hatte und mit den Worten motivirte: „ Der Entwurf folgt in diesem Punkte dem System des Reichstags-Wahlrechts vom 31. Mai 1869. Das diesem System zu Grunde liegende Motiv, die Wähler vor illegitimen Beeinflussungen und vor der nothwendigen Rücksichtnahme auf Personen und äußere Verhältnisse zu bewahren,26 trifft in verstärktem Verhältnis bei kommunalen Wahlen zu. “ Ferner erinnerte der Abg. Rickert an Friedrich Wilhelm III., der in der rheinisch-westfälischen Kirchen - ordnung von 1837 die geheime Abstimmung vorschrieb und diese mit den Worten begründete: „ Bei dieser geheimen Abstimmung kann keine Jnfluenzirung auf die Wähler eintreten, die Wahlen werden vielmehr der wahre Ausdruck der Herzens - meinung der Wähler sein. “ Nichtsdestoweniger wurde die öffentliche Abstimmung im preußischen Wahlgesetz auch nach der Wahlreform von 1893 aufrecht erhalten.
Der Absatz 2 des Artikels 72 der preußischen Verfassung besagt:
„ Das Nähere über die Ausführung der Wahlen bestimmt das Wahlgesetz, welches auch die Anordnung für diejenigen Städte zu treffen hat, in denen an Stelle eines Theils der direkten Steuern die Mahl - und Schlachtsteuer erhoben wird. “
Dieses durch den Artikel 72 angekündigte „ Wahlgesetz “existirt bis heute nicht, sondern es besteht nach wie vor die oktroyirte Wahlrechtsverordnung vom 30. März 1849, die man im Laufe der Jahrzehnte in einigen Punkten durch Gesetz ab - ändern mußte, bis eine größere Abänderung im Laufe des Jahres 1893 vor - genommen wurde, auf die bereits in dieser Abhandlung des Oefteren Bezug ge - nommen worden ist. Streng genommen besteht weder die Wahlordnung von 1849, noch die Verfassung, noch die Landesvertretung, Herrenhaus und Abgeordneten - haus, zu Recht und sind von diesem Standpunkte aus alle Handlungen der letzteren rechtsungiltig.
Aber, wie schon erwähnt, es denkt heute fast Niemand mehr an diese Rechts - ungiltigkeit und Niemand stützt sich auf dieselbe, indem er die Handlungen der Landesvertretung als rechtsungiltig verwirft.
Umsomehr war es Pflicht eines wirklichen Landesvertreters, als durch die einschneidenden Steuerreformen der letzten Jahre die Grundlagen des Dreiklassen - wahlsystems noch mehr zu Gunsten des Kapitalismus verschoben wurden, als dies durch die kapitalistische Entwicklung der Gesellschaft in den mehr als vier Jahr - zehnten seit Erlaß der Wahlverordnung schon geschehen war, auf ein neues Wahlgesetz zu dringen. Der einzige Abgeordnete, der dies mit Nachdruck that, war der frühere Minister des Jnnern, der Abgeordnete Herrfurth.
Jn der 5. Sitzung des Abgeordnetenhauses, am 21. November 1892, äußerte Herrfurth, nachdem er ausgeführt, daß die Wahlreform für die Wahlen zum Landtag und für die kommunalen Vertretungen erlassen werden müsse, damit ver - hindert werde, daß der plutokratische beziehentlich agrarische Charakter der Steuer - reform im Wahlrecht zum Ausdruck komme:
„ Hier soll die Formel „ Veranlagung gleich Entrichtung “(es handelte sich um die Anrechnung der staatlich veranlagten aber nicht gezahlten Grund -, Gebäude - und Gewerbesteuern in den Fällen, wo direkte Gemeindesteuern nicht entrichtet würden) Anwendung finden. Hier soll den Grund - und Gebäudebesitzern und Gewerbetreibenden nicht blos ihre Einkommensteuer – ich spreche vom Rechts - zustand in dem größten Theile der Monarchie, wo bei den Kommunalwahlen auch die Kommunalsteuern in Anrechnung kommt*)Jn der Rheinprovinz und Westfalen besteht die Selbstherrlichkeit der selbständigen Gutsbezirke seit der Franzosenzeit nicht mehr. – nicht blos die erhöhten Kommunal - steuern, nicht blos die neue Vermögenssteuer in Ansatz gebracht werden, sondern auch noch die fingirte bisherige Grund - und Gebäudesteuer.
„ Meine Herren! Das heißt meines Erachtens die ganze Grundlage, auf der unser Dreiklassenwahlsystem beruht, zerstören. Das Dreiklassen - wahlsystem geht davon aus, daß der Umfang der politischen Rechte in einem gewissen Grade bestimmt werden soll durch die Höhe der thatsächlichen Steuerleistungen27 für öffentliche Zwecke. Damit würde es aber doch im direkten Widerspruch stehen, wenn sich der Umfang des Wahlrechts nicht nach der Steuer, die Jemand entrichtet, sondern nach den Steuern, die ihm erlassen werden, bemessen soll. “
Und Herrfurth schließt:
„ Lieber eine Verzögerung um ein oder zwei Jahre, als eine Reform, welche zwar nicht die Absicht (!), nach meinem Dafürhalten aber die Wirkung haben würde, die Jnteressen der Gemeinden und kommunalen Verbände und die politischen Rechte der minder wohlhabenden Klassen den Jnteressen einzelner Klassen von Besitzenden hintanzustellen, eine Reform, welche trotz der besten Absicht (!) Gefahr laufen würde, sich zu gestalten zu einer reformatio in pejus. “*)Reform zum Schlechteren, d.h. zu Gunsten des Geldsacks. – Die Sperrung der Sätze und die (!) rühren von uns her. Der Verfasser.
Hervorgehoben muß werden, daß Herrfurth ein Anhänger des Dreiklassen - wahlsystems ist, aber die Reform im plutokratisch-agrarischen Sinne ging ihm wider den Strich. Daher warnte er auch in der Sitzung vom 13. Januar 1893, nachdem er hervorgehoben hatte, daß schon im Jahre 1888 mehr als 4000 Urwahlbezirke vorhanden gewesen waren, in welchen die Wahl - männer von 1 und 2 Wählern ernannt wurden, der plutokratische Charakter der Wahlrechts also schon damals ein sehr bedenklicher gewesen ist:
„ Wir dürfen uns nicht verhehlen, die bloße Existenz des Reichstagswahl - rechts ist eine schwere und dauernde Gefahr für das Dreiklassenwahlsystem. “
Aber seine Warnungen und Rathschläge verhallten. Die Majorität war entschlossen, unter allen Umständen ein Gesetz zu Stande zu bringen, das den reichen Klassen die Macht sicherte. Zwar stellte die freisinnige Fraktion unter Führung Rickert's den Antrag, das Reichstagswahlgesetz auch für die Landtags - wahlen einzuführen, aber dieser Antrag würde so lau und lahm und in so ele - gischer Stimmung durch den Antragsteller vertheidigt, daß alle Welt sah, der Antrag wurde nur anstandshalber gestellt. Das rückte namentlich der freikonser - vative Abgeordnete Ahrendt den Freisinnigen vor. Die Antragsteller ließen es auch zu, daß ihr Antrag so rasch als möglich todtgeschlagen wurde, indem sie einwilligten, daß der Antrag, der ein Gesetzentwurf war, als Amendement zur Regierungs - vorlage behandelt wurde – „ um Zeit zu ersparen “– wodurch er mit einer Abstimmung abgethan war. Auch die sonstige Haltung der Freisinnigen in den Kommissions - und Plenarverhandlungen war eine sehr lahme. Sie betheiligten sich mit einem Ernst an der Amendirung der Regierungsvorlage, der zeigte, sie würden herzlich gerne für eine solche „ Reform “gestimmt haben, wäre ihnen dieses einigermaßen möglich gemacht worden. Jm höchsten Grade traurig benahm sich das Zentrum in der Sitzung vom 13. Januar 1893. Sein Vertreter, der Ab - geordnete Bachem, begnügte sich, dem allgemeinen gleichen und direkten Wahlrecht einige platonische Komplimente zu machen. Er wolle auf diese Frage jetzt nicht eingehen, eine Diskussion darüber habe nur akademischen Werth. Da - gegen legte er sich um so eifriger in's Zeug, um die 2000 Mk. Grenze bei der Ein - kommensteuer, über die hinaus diese Steuer für das Wahlrecht nicht in Anrech - nung kommen sollte, durchzusetzen.
„ Jn meiner Vaterstadt Köln, rief er, wählen Landgerichtsräthe, Oberlandes - gerichtsräthe und Landgerichtsdirektoren in der 3. Klasse. Wir haben hier in Berlin die Thatsache, daß die meisten Minister in der 3. Klasse wählen. Absolut unhaltbare Zustände. Es wird unser Bestreben sein müssen, diese Ele - mente für die 2. Klasse zu retten (das war also der Zweck und Kernpunkt der Reform des Zentrums. D. Verf. ); dieselben gehören in die 2. Klasse hinein! (Große Heiterkeit.)
„ Meine Herren, ich hätte sagen können: sie gehören mindestens in die 2. Klasse hinein! (Heiterkeit.)
Welche Volksfreundlichkeit, welcher Radikalismus!
28Jn der Sitzung vom 13. März 1893 erklärte Herr Bachem weiter, daß die Vorlage, wie sie aus der Kommission vorliege, ein Kompromiß sei, an dem das Zentrum festhalte. Dieses Kompromiß bestand, wie wir hier wiederholen wollen, darin, 1. daß die Berechnung der direkten Steuern nach Zwölfteln – wie die Regierungsvorlage vorschlug – statt nach Dritteln für die einzelnen Wählerklassen vorgenommen werde, 2. daß die Einkommensteuer nur bis zum Satz von 2000 Mk. in Anrechnung komme, dagegen 3. die nicht entrichtete Grund -, Gebäude - und Gewerbesteuer in Orten, in welchen direkte Gemeindesteuern nicht erhoben würden, in Anrechnung gebracht werden sollten, und 4. die Bindung der Drei - markmänner in die 3. Wählerklasse stattfinde. Wie die Berechnung der Steuer nach dem Vorschlag der Regierung, 5 / 12 des Gesammtsteuerbetrages für die 1. Klasse, 4 / 12 für die 2. Klasse und 3 / 12 für die 3. Klasse anzurechnen, in der Praxis gewirkt haben würde, wenn sie Gesetz geworden wäre, ergiebt die Probeberechnung, welche die Regierung hatte aufmachen lassen und die wir weiter oben mittheilten.
Betreffs des freisinnigen Antrages Rickert und Genossen erklärte Bachem, daß das Zentrum zwar für den Antrag stimmen, aber nicht für denselben sprechen werde. Man bereitete ihm ein stilles Begräbniß. Jn Konsequenz dieser Haltung vertheidigte er dagegen in der Sitzung vom 16. März 1893 die Kommissions - vorlage mit einem wahren Feuereifer gegen die Angriffe der Freisinnigen und des nationalliberalen v. Eynern, der namentlich die 2000 Mk. Grenze angriff.
Ein Antrag auf geheime Abstimmung hatte der Zentrumsabgeordnete Dasbach gestellt, er vertheidigte denselben aber äußerst matt. Als dann dieser Antrag in der Kommission gefallen war, ereiferte sich das Zentrum im Plenum nicht mehr für denselben. Einen ganz anderen Ton schlug aber Bachem gegen die Vorlage an, als das Herrenhaus die beiden dem Zentrum am Herzen liegen - den Beschlüsse, die Zwölftelung und die 2000 Mk. Grenze, verworfen hatte. Das war in der Sitzung vom 27. Juni 1893. Jetzt donnerte er:
„ Das Wahlgesetz, wie es gegenwärtig in der Form des Herrenhauses vor - liegt, ist in unseren Augen geradezu eine Vergewaltigung der Mittelstände (sehr wahr! im Zentrum, Widerspruch rechts) und eine derartige Benachteiligung des Wahlrechts der unteren Stände (das war die Vorlage auch in der Fassung, in welcher das Zentrum ihr zustimmen wollte. D. Verf. ), daß wir an dieser Politik nicht betheiligt sein wollen. “ (Sehr richtig!)
Die Freundschaft zwischen Konservativen und Zentrum war damit wieder einmal aus. Man regalirte sich gegenseitig mit den schönsten Vorwürfen. Um - gekehrt waren die Nationalliberalen von der nunmehrigen Gestalt der Vorlage durch das Herrenhaus befriedigt und gaben derselben ihre Zustimmung, nachdem sie früher gegen dieselbe gestimmt hatten. Der Abgeordnete Gneist, dem der ver - storbene Kriegsminister v. Roon bereits 1868 im Norddeutschen Reichstag ins Gesicht sagte: „ er sei der Mann, der Alles beweisen könnte “, hatte schon in der Sitzung vom 13. Januar 1893 eine Rede gehalten, die ein wahrer Panegyrikus auf das Dreiklassenwahlsystem war und an der Vorlage gerühmt: „ Das Beste an derselben sei ihm der Grundgedanke, wir wollen Alles beim Alten lassen. “
Recht offenherzig sprach sich auch der Konservative von Heydebrand und der Lasa aus, welcher gegen den freisinnigen Antrag ausführte:
„ Das gegenwärtige schlechte Wahlsystem ist mir viel lieber, tausendmal lieber als das, was der Abgeordnete Rickert will. *)Sitzung vom 13. Januar 1893.
Und bei einer späteren Gelegenheit äußerte er: „ Wir wissen, daß der Tag einmal kommen kann – und wir erleben ihn vielleicht noch –, wo wir in diesem festen und gesunden Einfluß des Mittelstandes, in dieser soliden Basis einen Damm haben gegen die umstürzlerischen Massen der im deutschen Reich durch das allgemeine Wahlrecht entfesselten Gewalt des vierten Standes. **)Sitzung vom 13. März 1893.
29Damit aber dem Ganzen die Krone und der Segen nicht fehle, äußerte sich auch der Ministerpräsident Graf zu Eulenburg. Er konstatirte wiederholt mit Genugthuung, daß die sehr große Mehrheit des Hauses (zu dieser sehr großen Mehrheit rechnet er offenbar auch das Zentrum. D. Verf. ) gegen das all - gemeine Wahlrecht sei. Er konstatirte ferner mit Genugthuung, daß was die Kornmunalwahlen anbetreffe, auch der Abgeordnete Meyer (Berlin) der gleichen Ansicht sei. Es habe sich weiter gezeigt, daß das Wahlsystem keineswegs so schlecht sei, als es vielfach dargestellt wurde. Darum ist er der Meinung, daß man ruhig abwarten könne, ob eine weitere Entwicklung dazu dränge, Aenderungen eintreten zu lassen. Er glaubt nicht an eine solche Entwick - lung, die bisher sich vielmehr in entgegengesetzter Richtung bewegt habe. „ Eine Menge von Leuten sind von der Schwärmerei für das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht zurückgekommen (sehr richtig! rechts) und ich bin der Meinung, daß diese Strömung noch lange Zeit fortdauern, immer mehr Festigkeit gewinnen wird, selbst auch nach der Richtung hin, in welcher unter den Gegnern dieses Wahlrechts hin und wieder eine Meinungsverschiedenheit besteht, nämlich in Beziehung auf die geheime Wahl. “
Der Ministerpräsident spricht sich alsdann direkt gegen die geheime Wahl und zu Gunsten der öffentlichen Stimmabgabe aus, unter Billigung der Rechten und ohne von anderer Seite Widerspruch zu finden. *)Sitzung vom 14. Januar 1893.
Diese Rede des preußischen Ministerpräsidenten läßt tief blicken. Ging es diesem nach, so wären sogar die Tage des Reichstagswahlrechts gezählt. Der gegenwärtige preußische Ministerpräsident erweist sich als ein noch schlimmerer Reaktionär als selbst sein Vorvorgänger, Graf Fritz zu Eulenburg, war. **)Obige Zeilen wurden geschrieben, als der Graf zu Eulenburg noch im Amte war. Seitdem wurde er entlassen, aber bekannt ist worden, daß er im preußischen Ministerrath sehr weitgehende Pläne in Bezug auf die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts für die Reichstagswahlen entwickelte, die dort vorläufig noch keinen Anklang fanden.Jene Anschauungen brauchen bei ihm, als einem der Väter des Sozialistengesetzes und bei seiner Abstammung aus einer der ersten altpreußischen Junkerfamilien nicht zu überraschen. Aber es ist gut für das arbeitende Volk, zu wissen, wie die Männer denken, von denen es regiert wird. Das arbeitende Volk erzeugt erst die Werthe, welche die großen Herren in die Lage setzen, die hohen Steuersummen bezahlen zu können, auf Grund deren ihnen ihre Vorrechte gewährt werden.
Das muß immer wieder konstatirt werden.
Was der preußische Ministerpräsident ausführte, ist der geheime Gedanken - gang, der alle bürgerlichen Parteien beherrscht, mit Ausnahme eines sehr kleinen Theils der Anhänger der Parteien auf der Linken und im Zentrum. Das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht ist ihnen verhaßt, sie fürchten und ver - abscheuen es, allen voran die nationalliberale Partei, diese Vertretung einer feigen, charakterlosen und heuchlerischen Bourgeoisie. Bestände nicht die Scheu vor den Wählern, eine erhebliche Mehrheit aus den bürgerlichen Parteien beseitigte das jetzt bestehende Wahlrecht für den Reichstag lieber heute als morgen. Da man dies aber vorläufig nicht wagen kann, ohne eine Aufregung hervorzurufen, die in ihren Wirkungen unübersehbar ist, so beschränkt man sich darauf, zu verhindern, daß das allgemeine gleiche direkte und geheime Wahlrecht für die Landtagswahlen in den Einzelstaaten Giltigkeit erlangt.
Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts steht im Zeichen der Reaktion. Man hüte sich, daß sie nicht ihren Antipoden, die Revo - lution, erzeugt.
Wie die große Mehrzahl der Mittel - und Kleinstaaten dem sogenannten „ Staat des deutschen Berufs “, Preußen, in Bezug auf konstitutionelles Leben und allgemeine bürgerliche Freiheit, der Zeit wie der Qualität nach, weit voraus war, so auch in Bezug auf die Gestaltung der Wahlrechte. Eine öffentliche Ab - stimmung, wie sie das elendeste und erbärmlichste aller bestehenden Wahlgesetze, das preußische Dreiklassen-Wahlsystem vorschreibt, giebt es in keinem der übrigen deutschen Staaten. Auch besteht in den Wahlgesetzen der meisten Einzelstaaten, in Bezug auf die Zumessung des Wahlrechts für die in Frage kommenden Klassen, mehr System und damit mehr Vernunft und Gerechtigkeit als im preußischen Dreiklassen-Wahlsystem, das in allen diesen Richtungen den Gipfel der Absurdität, der Unvernunft und Ungerechtigkeit erreicht hat.
Die Wahlsysteme sämmtlicher Mittel - und Kleinstaaten zu kritisiren, ist nicht nothwendig, es genügt für den Zweck dieser Schrift, eine Anzahl derselben, darunter diejenigen der Mittelstaaten, des Näheren zu beleuchten.
Jn Bayern besteht wie in Preußen und in einer Reihe anderer Staaten, damit der parlamentarische Fortschritt nicht in galoppirendes Tempo gerathen kann – eine Gefahr, welche die Natur unserer einzelstaatlichen „ Volksvertretungen “schon von selbst ausschließt – neben der zweiten eine erste Kammer.
Die ersten Kammern, deren Zusammensetzung bereits erwähnt wurde, haben zweierlei Zweck. Einmal dienen sie als Bremsen, wenn die „ Volkskammern “in ihren Forderungen zu anspruchsvoll werden, das andere Mal als Puffer, wenn es gilt, die Angriffe der zweiten Kammer auf die Regierungen abzuschwächen. Alle wichtigen Beschlüsse der „ Volkskammern “müssen erst durch die ersten Kammern gutgeheißen werden, ehe sie der Regierung zur Genehmigung vorgelegt werden können. Daher sah der Liberalismus in seiner Jugendzeit, als er noch Jdeale hatte und Kampflust besaß, die ersten Kammern stets mit sehr feindlichen Augen an, und eine seiner wesentlichsten Programmforderungen war:
Jm tollen Jahr, im Jahr 1848, gelang es ihm auch verschiedentlich, vorüber - gehend die ersten Kammern zu beseitigen, aber sie kamen wieder. Und heute hat der altersschwach und zahnlos gewordene Liberalismus sich so mit den ersten Kammern ausgesöhnt, daß er sie vielfach gegen die Forderung der Sozialdemokratie, sie zu beseitigen, vertheidigt. Sic transit gloria mundi. *)So vergeht die Herrlichkeit der Welt.
Die Zahl der Abgeordneten für die zweite Kammer Bayerns wird bestimmt, so schreibt die Verfassung vor, nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Regierungs - bezirke, und zwar in der Weise, daß auf je 31500 Einwohner ein Abgeordneter kommt. Bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung ist das Ergebniß der Volkszählung vom 1. Dezember 1875 maßgebend. Eine Abgrenzung der Wahlkreise durch Gesetz fand bisher nicht statt. Die Regierung bildet die Wahlkreise, für welche das Gesetz vorschreibt, daß der einzelne Wahlkreis ein räumlich zusammenhängendes Ganze bilden soll, und daß kein Wahlkreis weniger als 28000 Seelen zählen darf.
Die Regierung hat bei dieser Vollmacht es in der Hand, in großem Umfang Wahlkreisgeometrie zu betreiben, indem sie die einzelnen Wahlkreise ganz un - gebührlich in die Länge oder in die Breite zieht oder sonst gruppirt, wie es ihrem Jnteresse entspricht. Die vorausgegangenen Wahlen geben ihr ein Bild der Stimmung der Bevölkerung in den verschiedenen Gegenden. Diese Wahlkreis - geometrie ist schon häufig Gegenstand der heftigsten Angriffe, namentlich seitens der Zentrumspartei gewesen, die sich durch dieselbe benachtheiligt sah. So erhob der Abgeordnete Jörg im Jahre 1875 gegen die Regierung die Anklage: „ Die31 Wahlkreisgeometrie, die sie übe, sei eine Vergewaltigung der großen Mehrheit des bayerischen Volkes. “ Und ebenso führte Grillenberger in einer seiner Reden in der Session des Landtages von 1893 auf 1894 eine Reihe drastischer Beispiele an, durch die er klar nachwies, daß die Wahlkreisgeometrie dazu diene, einen großen Theil der Wähler um sein Wahlrecht zu prellen. Einmal wird die Wahl - kreisgeometrie im Großen betrieben bei der Abgrenzung der Wahlkreise, dann wieder im Kleinen innerhalb der Wahlkreise durch die Abgrenzung der Urwahlbezirke.
Obgleich nun diese Wahlkreisgeometrie offen zu Tage liegt und die schärfste Kritik herausfordert, auch Niemand dieselbe zu vertheidigen vermag, so konnten sich doch bisher die maßgebenden Parteien, Liberale und Zentrum, nicht über eine Wahlreform einigen. Diese bedeutet in Bayern eine Verfassungsänderung, die eine Zweidrittelmajorität der zweiten Kammer erfordert. Keine Partei will durch eine vom Gesetz festgelegte Wahlkreiseintheilung zu Schaden kommen, jede will viel - mehr möglichst viel dabei herausschlagen, und bei diesem kleinlichen Kampf werden die wichtigsten Jnteressen des Volks hintangesetzt und die Regierung triumphirt. Neuerdings ist es, wie überall so auch in Bayern, die Furcht vor der Sozial - demokratie, welche die herrschenden Parteien nebst der Regierung abhält, eine Wahl - reform vorzunehmen.
Die Wahl ist indirekt. Wahlberechtigt als Urwähler ist jeder volljährige (über 21 Jahre alte) Staatsangehörige, der den Verfassungseid geleistet hat und dem Staate seit mindestens 6 Monaten eine direkte Steuer entrichtet. Für die Ausschließung vom Wahlrecht gelten die gleichen Bestimmungen, wie bei der Ausschließung vom Reichstagswahlrecht. Wahlmann kann nur werden, wer alle Bedingungen als Urwähler besitzt und mindestens das 25. Lebensjahr zurück - gelegt hat. Die Wahlmänner haben vor der Wahl der Abgeordneten einen so - genannten Wählereid zu leisten. Jn Bayern sieht man offenbar das Wahl - geschäft als ein sehr frommes Geschäft an, zu dessen Verrichtung es erst der Leistung zweier Eide bedarf. Aehnliches existirt nirgends in Deutschland. Zum Abgeordneten kann gewählt werden, wer die Qualifikation als Urwähler besitzt und mindestens 30 Jahre alt ist.
Fast alle Einzelstaaten schreiben als wahlfähiges Alter für die Abgeordneten das vollendete 30. Lebensjahr vor, wohingegen für die Wahl zum Reichstags - abgeordneten – ohne Schaden für die Qualität derselben – das 25. Lebensjahr vorgeschrieben ist.
Die Qualifikation als Wahlmann oder Abgeordneter geht verloren, sobald eine der nöthigen Vorbedingungen verloren ist. Zur giltigen Wahl eines Ab - geordneten ist die Anwesenheit von zwei Dritteln der Wahlmänner erforderlich. Die Wahl erfolgt durch absolute Majorität.
Zur Geschichte des jetzt bestehenden Wahlgesetzes sei Folgendes bemerkt. Jm Jahre 1854 versuchte das reaktionäre Ministerium v. d. Pfordten, einen Gesetz - entwurf, betreffend die Bildung der zweiten Kammer, durchzudrücken, der eine Rückrevidirung auf ständischer Grundlage bezweckte und die Ausübung vom Be - kenntniß zur christlichen Religion abhängig machte. Aber dieser Gesetzentwurf erhielt nicht die nothwendige, für Verfassungsänderungen vorgeschriebene Zwei - drittel-Majorität. Herr v. d. Pfordten versuchte es nun mit zweimaliger Auf - lösung der Kammer, aber die Opposition kam verstärkt zurück. Der Sturz des Ministeriums (1858) machte dem grausamen Spiel ein Ende.
Jm April 1870 legte das Ministerium v. Braun der Kammer einen neuen Wahlgesetzentwurf vor, der als wesentliche Verbesserung die Einführung direkter Wahlen enthielt. Stimmberechtigt sollte jeder Staatsangehörige sein, der das 25. Lebensjahr vollendet hatte und eine direkte Staatssteuer entrichtete. Für die Wahl zum Abgeordneten war wie bisher das vollendete 30. Lebensjahr vor - gesehen und wurde eine mindestens dreijährige Staatsangehörigkeit verlangt.
Der inzwischen ausbrechende Krieg gegen Frankreich ließ es zu keiner end - giltigen Entscheidung über den Entwurf kommen. Jm Jahre 1874 brachte die32 Regierung die Vorlage von Neuem ein, sie scheiterte aber an der Kammer, weil man sich über die Wahlkreiseintheilung nicht verständigen konnte. Darauf zog die Regierung die Vorlage zurück.
Jn den Jahren 1875 / 76, 1877, 1878 und 1879 folgten verschiedene Jnter - pellationen beziehentlich Anträge für eine Wahlreform, die wiederum das Eine ergaben, daß die Kammer sich auch jetzt nicht über die Wahlkreiseintheilung, d. h. über die Vertheilung der Beute einigen konnte. Das Ende der Verhandlungen bildete die Erklärung der Regierung: daß sie für die Einführung direkter Wahlen nicht mehr zu haben sei! Das Sozialistengesetz war mittlerweile in Kraft getreten, das besagt Alles.
Der Wahlreformentwurf von 1881 änderte nur Nebensächliches und kam, da er obendrein Verschlechterungen enthielt, als Gesetz zu Stande.
Der Eifer der Kammer für eine Wahlreform war aber mittlerweile der - maßen abgekühlt, daß der Berichterstatter, der ultramontane Abgeordnete Daller, sich begnügen konnte, zu erklären:
„ Es wird die künftige oder eine spätere Kammer wahrscheinlich das Jdeal eines Wahlgesetzes, eines trefflicheren, das den Anforderungen entspricht, keineswegs aufgeben und ist sie auch jedenfalls durchaus nicht durch diese Gesetzes - amendation verpflichtet, dieses Jdeal aufzugeben. “
Verlegener kann man sich kaum ausdrücken. Das Ganze war nur Phrase. Denn als volle zwölf Jahre später die sozialdemokratischen Abgeordneten, die mittlerweile in den Landtag eingedrungen waren. Daller und seinen Freunden Gelegenheit gaben, das „ Jdeal “eines Wahlgesetzes durch ihre Zustimmung ver - wirklichen zu helfen, stimmten Daller und Genossen dagegen.
Der Gesetzentwurf auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, den die Sozialdemokratie in der Landtagssession von 1893 / 94 im Münchener Landhause einbrachte, wurde von sämmtlichen Abgeordneten des Zentrums mit Ausnahme der Stimmen Dr. Schädler's und zweier seiner