PRIMS Full-text transcription (HTML)
Nro. 50.
Morgenblatt fuͤr gebildete Staͤnde.
Freitag, 27. Februar, 1808.
Uns ward ein Tugendſinn und Trieb nach Lebenswonne; Sie ſind der Doppelſtral, der in dieß Leben faͤllt. Woher der Stral? Erzeugt von einer hoͤhern Sonne, Und deutet maͤchtig hin auf eine Geiſterwelt.
(Tiedge. )

Anſichten der Natur mit wiſſenſchaftlichen Erlaͤuterungen, von A. v. Humboldt. (Beſchluß.)

Waͤhrend der 5 Tage, welche wir in der Naͤhe der Katarakten zubrachten, war es uns auffallend, wie man das Getoͤſe des tobenden Stroms dreymal ſtaͤrker bey Nacht als bey Tage vernimmt. Bey allen europaͤiſchen Waſſerfaͤllen bemerkt man die naͤmliche Erſcheinung. Was kann die Urſache derſelben in einer Einoͤde ſeyn, wo nichts die Ruhe der Natur unterbricht? Wahrſcheinlich der Strom aufſtei - gender warmer Luft, welcher der Fortpflanzung des Schalles hinderlich iſt, und welcher nach der naͤchtlichen Erkaͤltung der Erdrinde aufhoͤrt.

Die Jndianer zeigten uns Spuren von Wagengeleiſen. Sie reden mit Bewunderung von den gehoͤrnten Thieren, Ochſen, die zur Zeit, als hier die Jeſuiten ihr Bekehrungs - Geſchaͤft trieben, die Kanoes auf Wagen auf dem linken Orinoco-Ufer von der Muͤndung des Cameji zu der des Toparo zogen. Die Fahrzeuge blieben damals beladen, und wurden nicht wie jetzt durch das beſtaͤndige Stranden und Hinſchieben auf den rauhen Klippen abgenutzt.

Der Situationsplan, welchen ich von der umliegenden Gegend entworfen habe, zeigt, daß ſelbſt ein Kanal von Cameji zum Toparo eroͤffnet werden kann. Das Thal, in welchem jene waſſerreichen Baͤche flieſſen, iſt ſanftverflaͤcht. Der Kanal, deſſen Ausfuͤhrung ich dem Generalgouverneur von Venezuela im Sommer 1800 vorgeſchlagen, wuͤrde, alsein ſchiffbarer Seitenarm des Fluſſes, das alte gefahrvolle Strombette entbehrlich machen.

Der Raudal von Atures iſt ganz dem von Maypures aͤhnlich; wie dieſer eine Jnſelwelt, zwiſchen welcher der Strom ſich in einer Laͤnge von 3 4000 Toiſen durchdraͤngt; ein Palmengebuͤſch, mitten aus dem ſchaͤumenden Waſſer - Spiegel hervortretend. Die berufenſten Staffeln der Kata - rakte liegen zwiſchen den Jnſeln Avaguri und Javariveni, zwiſchen Suripamana und Uirapuri.

Als wir, Hr. Bonpland und ich, von den Ufern des Rio Negro zuruͤckkehrten, wagten wir es, die letzte oder untere Haͤlfte des Raudals von Atures mit dem beladenen Kanoe zu paſſiren. Wir ſtiegen mehrmals auf den Klippen aus, die, als Daͤmme, Jnſel mit Jnſel verbinden. Bald ſtuͤrzen die Waſſer uͤber dieſe Daͤmme weg, bald fallen ſie mit dumpfem Getoͤſe in das Jnnere derſelben. Daher ſind oft ganze Strecken des Flußbettes trocken, weil der Strom ſich durch unterirdiſche Kanaͤle einen Weg bahnt. Hier niſten die goldgelben Klippenhuͤhner (Pipra rupicola), einer der ſchoͤnſten Voͤgel der Tropenwelt, mit doppelter beweglicher Federkrone, ſtreitbar wie der oſtindiſche Haushahn.

Jm Raudal von Canucari bilden aufgethuͤrmte Granit - Kugeln den Felsdamm. Wir krochen dort in das Jnnere einer Hoͤhle, deren feuchte Waͤnde mit Converven und leuch - tendem Biſſus bedeckt waren. Mit fuͤrchterlichem Getoͤſe rauſchte der Fluß hoch uͤber uns weg. Wir fanden zufaͤllig Gelegenheit, dieſe große Naturſcene laͤnger, als wir wuͤnſch - ten, zu genieſſen. Die Jndianer hatten uns naͤmlich mitten198in der Katarakte verlaſſen. Das Kanoe ſollte eine ſchmale Jnſel umſchiffen, um uns, nach einem langen Umwege, an der untern Spitze derſelben wiederum aufzunehmen. An - derthalb Stunden lang harrten wir, bey fuͤrchterlichem Ge - witterregen. Die Nacht brach ein; wir ſuchten vergebens Schutz zwiſchen den kluͤftigen Granitmaſſen. Die kleinen Affen, welche wir Monate lang in geflochtenen Kaͤfigen mit uns fuͤhrten, lockten durch ihr klagendes Geſchrey Krokodile herbey, deren Groͤße und bleygraue Farbe ein hohes Alter andeuteten. Jch wuͤrde dieſer im Orinoco ſo gewoͤhnlichen Erſcheinung nicht erwaͤhnen, haͤtten uns nicht die Jndianer verſichert, kein Krokodil ſey je in den Katarakten geſehen worden. Ja im Vertrauen auf ihre Behauptung hatten wir es mehrmals gewagt, uns in dieſem Theile des Fluſſes zu baden.

Jndeſſen nahm die Beſorgniß, daß wir durchnaͤßt, und von dem Donner des Waſſerſturzes betaͤubt, die lange Tro - pennacht mitten im Raudal durchwachen muͤßten, mit jedem Augenblicke zu, bis die Jndianer mit unſerm Kanoe er - ſchienen. Sie hatten die Staffel, auf der ſie ſich herablaſſen wollten, bey allzuniedrigem Waſſerſtande unzugaͤnglich gefun - den. Die Lootſen waren genoͤthigt geweſen, in dem Labyrinth von Kanaͤlen ein zugaͤnglicher<es>Fahrwaſſer zu ſuchen.

Am ſuͤdlichen Eingange d<es>Raudals von Atures, am rechten Ufer des Fluſſes, liegt die unter den Jndianern weit berufene Hoͤhle von Ataruipe. Die Gegend umher hat einen großen und ernſten Natur-Charakter, der ſie gleichſam zu einem Nationalbegraͤbniſſe eignet. Man erklimmt muͤh - ſam, ſelbſt nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine ſteile, voͤllig nackte Granitwand. Es wuͤrde kaum moͤglich ſeyn, auf der glatten Flaͤche feſten Fuß zu faſſen, traͤten nicht große Feldſpathkriſtalle, der Verwitterung trotzend, zolllang aus dem Geſteine hervor.

Kaum iſt die Kuppe erreicht, ſo wird man durch eine weite Ausſicht uͤber die umliegende Gegend uͤberraſcht. Aus dem ſchaͤumenden Flußbette erheben ſich mit Wald geſchmuͤckte Huͤgel. Jenſeits des Stromes, uͤber das weſtliche Ufer hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur des Meta. Am Horizont erſcheint, wie drohend aufziehendes Gewoͤlk, das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber nahe umher iſt alles oͤde und eng. Jm tief gefurchten Thale ſchweben einſam der Geyer und die kraͤchzenden Caprimulge. An der nackten Felswand ſchleicht ihr ſchwindender Schat - ten hin.

Dieſer Keſſel iſt von Bergen begraͤnzt, deren abgerundete Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmeſſer dieſer Kugeln betraͤgt 40 bis 50 Fuß. Sie ſcheinen die Unter - lage nur in einem einzigen Punkte zu beruͤhren, eben als muͤßten ſie, bey dem ſchwaͤchſten Erdſtoße, herabrollen.

Der hintere Theil des Felshals iſt mit dichtem Laubholze bedeckt. An dieſem ſchattigen Orte oͤffnet ſich die Hoͤhle von Ataruipe; eigentlich nicht Hoͤhle, ſondern ein Gewoͤlbe,eine weit uͤberhaͤngende Klippe, eine Bucht, welche die Waſſer, als ſie einſt dieſe Hoͤhe erreichten, ausgewaſchen haben. Die Hoͤhle ſelbſt iſt die Gruft eines vertilgten Voͤlkerſtammes. Wir zaͤhlten[ungefaͤhr] 600 wohlerhaltene Skelette, in eben ſo vielen Koͤrben, welche von den Stielen des Palmenlaubes geflochten ſind. Dieſe Koͤrbe, die die Jndianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Saͤcke, die nach dem Alter des Verſtorbenen von verſchiedener Groͤße ſind. Selbſt neugeborne Kinder haben ihre eigenen Mapire. Jhre Skelette ſind ſo vollſtaͤndig, daß keine Rippe, keine Phalange fehlt.

Die Knochen ſind auf dreyerlei Weiſe zubereitet; theils gebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa orel - lana, rothgefaͤrbt, theils mumienartig zwiſchen wohlriechen - dem Harze in[Piſangblaͤtter] eingeknetet.

Die Jndianer verſichern, man grabe den friſchen Leich - nam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Mus - kelfleiſch allmaͤhlig verzehre; dann ſcharre man ihn aus, und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von den Knochen ab. Dies ſey noch der Gebrauch mancher Horden der Guayana. Neben den Mapires oder Koͤrben findet man auch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochen von ganzen Familien zu enthalten ſcheinen.

Die groͤßern dieſer Urnen ſind 3 Fuß hoch und 5 ½ Fuß lang, von angenehmer ovaler Form, gruͤnlich, mit Henkeln in Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern Rande mit Meandern und Labyrinthen geſchmuͤckt. Dieſe Verzierungen ſind ganz denen aͤhnlich, welche die Waͤnde des mexikaniſchen Pallaſtes bey Mitla bedecken. Man findet ſie unter allen Zonen, auf den verſchiedenſten Stufen menſch - licher Kultur; unter Griechen und Roͤmern, am ſogenann - ten Tempel des Deus rediculus bey Rom, wie auf den Schildern der Otaheiter; uͤberall, wo rhythmiſche Wieder - holung regelmaͤßiger Formen dem Auge ſchmeichelte. Die Urſachen dieſer Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einem andern Orte entwickelt habe, mehr auf pſychiſchen Gruͤnden, auf der innern Natur unſerer Geiſtesanlagen, als ſie Gleich - heit der Abſtammung und altes Verkehr der Voͤlker beweiſen.

Unſere Dolmetſcher konnten keine ſichere Auskunft uͤber das Alter dieſer Gefaͤße geben. Die mehrſten Skelette ſchienen indeß nicht uͤber 100 Jahr alt zu ſeyn. Es geht die Sage unter den Guareken-Jndianern, die tapferen Atu - rer haben ſich, von menſchenfreſſenden Kariben bedraͤngt, auf die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnſitz, in welchem der bedraͤngte Voͤlkerſtamm und mit ihm ſeine Sprache unterging. Jn dem unzugaͤnglichſten Theile des Raudals befinden ſich aͤhnliche Gruͤfte; ja es iſt wahrſchein - lich, daß die letzte Familie der Aturer erſt ſpaͤt ausgeſtorben ſey. Denn in Maypures (ein ſonderbares Faktum) lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten, daß man ihn darum nicht verſtehe, weil er die Sprache der Aturer rede.

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Wir verließen die Hoͤhle bey einbrechender Nacht, nach - dem wir mehrere Schaͤdel und das vollſtaͤndige Skelett eines bejahrten Mannes, zum groͤßten Aergerniß unſerer indiani - ſchen Fuͤhrer, geſammelt hatten. Einer dieſer Schaͤdel iſt von Herrn Blumenbach in ſeinem vortrefflichen kranio - logiſchen Werke abgebildet1 worden. Das Skelett aber iſt, wie ein großer Theil unſerer Sammlungen, in einem Schiff - bruch untergegangen, der an der afrikaniſchen Kuͤſte unſerm Freunde und ehemaligen Reiſegefaͤhrten, dem jungen Fran - zi<s>kanermoͤnch, Juan Gunzalez, das Leben koſtete.

Wie im Vorgefuͤhl dieſes ſchmerzhaften Verluſtes, in ernſter Stimmung, entfernten wir uns von der Gruft eines untergegangenen Voͤlkerſtammes. Es war eine der heitern und kuͤhlen Naͤchte, die unter den Wendekreiſen ſo gewoͤhn - lich ſind. Mit farbigen Ringen umgeben, ſtand die Mond - ſcheibe hoch im Zenith. Sie erleuchtete den Saum des Nebels, der in ſcharfen Umriſſen, wolkenartig, den ſchaͤu - menden Fluß bedeckte. Zahlloſe Jnſekten goſſen ihr roͤthli - ches Phosphorlicht uͤber die krautbedeckte Erde. Von leben - digem Feuer gluͤhte der Boden, als habe die ſternvolle Himmelsdecke ſich auf die Grasflur niedergeſenkt. Rankende Bignonien, duftende Vanille, und gelbbluͤhende Baniſterien ſchmuͤcken den Eingang der Hoͤhle. Ueber dem Grabe rau - ſchen die Gipfel der Palmen.

So ſterben dahin die Geſchlechter der Menſchen. Es verhallt die ruͤhmliche Kunde der Voͤlker. Doch wenn jede Bluͤthe des Geiſtes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werke ſchaffender Kunſt zerſtieben, ſo entſprießt ewig neues Leben aus dem Schooße der Erde. Raſtlos entfaltet ihre Knospen die zeugende Natur unbekuͤmmert, ob der frevelnde Menſch (ein nie verſoͤhntes Geſchlecht) die reifende Frucht zertritt.

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About this transcription

TextAnsichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen
Author Alexander von Humboldt
Extent3 images; 1526 tokens; 862 types; 11371 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Alexander von Humboldt. . 3 S. 1808. Morgenblatt für gebildete Stände (50) pp. 197-199.

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LanguageGerman
ClassificationAbhandlungen in Zeitschriften, Sammelbänden etc.; ready; avh

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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