Die gesammelten Schriften meines Bru - ders, Wilhelm von Humboldt, deren erste Theile mir noch die Freude geworden ist dem vater - ländischen Publikum zu übergeben, enthalten, neben grösseren, einzeln erschienenen Wer - ken, diejenigen Aufsätze und Abhandlungen, welche in mehreren Zeitschriften zerstreut ge - blieben waren. Ich hatte den sehnlichsten Wunsch, diese Aufsätze bei dem Leben des Verfassers und unter seiner leitenden Mitwir - kung zu sammeln; aber ein nicht zu unter - drückendes Streben nach Gediegenheit und Vollendung, wie die Strenge, mit der hochbe - gabte Geister ihre eigenen Schöpfungen beur - theilen, vereitelten diese Hoffnung. Nur das Gedicht Roma, das ich auf eigenen Antrieb im Jahre 1806, als Manuscript für Freunde, herausgab, wurde zum zweiten Male im Jahre 1824 gedruckt. Die hier gesammelten Frag - mente umfassen einen weiten Ideenkreis, phi - losophische Erörterungen, wie sie in den ver -IV schiedensten Zeitepochen und unter den wech - selnden Eindrücken grosser Ereignisse des Völkerlebens erzeugt wurden. Sie offenbaren uns den Menschen in dem ganzen Reichthum seines herrlichen Gemüthes und seiner See - lenkraft, den Politiker, gleichzeitig gestärkt, in seiner freien Sinnesart, durch eine tiefe Kennt - niss des Alterthums von Hellas, Latium und Indien, wie durch ein ernstes Eindringen in den Zusammenhang der neuesten Weltbege - benheiten.
Die litterarische Anordnung des Ganzen ist nicht in chronologischer Folge, sondern nach einer gewissen Gleichartigkeit des Stof - fes geschehen. An die Gleichartigkeit der Behandlungsweise des Stoffes brauche ich nicht zu erinnern. Es zeigt sich darin, wie ich schon an einem andern Orte auszusprechen gewagt habe, eine eigenthümliche Grösse, die nicht aus intellectuellen Anlagen allein, sondern vor - zugsweise aus der Grösse des Charakters, aus einem von der Gegenwart nie beschränkten Sinne und aus den unergründeten Tiefen der Gefühle entspringt.
Meine Lage hat mir nicht erlaubt, die Her - ausgabe der Schriften selbst zu übernehmen. Ich würde haben fürchten müssen, durch Rei -V sen, und eigene, sehr heterogene Arbeiten zerstreut, eine mir theure Pflicht nicht sorg - sam genug erfüllen zu können. Jede er - wünschte Sorge in Vertheilung der Materialien und in der Correctur der Bogen ist aber auf die freundlichste und zuvorkommendste Weise von Herrn Doctor Carl Brandes, dem Her - ausgeber der literarischen Zeitung, einem Manne, dessen vielseitige wissenschaftliche Bil - dung dem Publikum längst bekannt ist, über - nommen worden.
Jedem Bande soll eine poetische Zugabe geschenkt werden. Es sind theils schon ge - druckte, theils dem Nachlass entnommene un - gedruckte Gedichte meines Bruders. Das Be - dürfniss, die Ideen, die ihn an jedem Tage lebhaft beschäftigten, in ein dichterisches Ge - wand zu hüllen, nahm auf eine denkwürdige Weise mit dem Alter und mehr noch mit der Stimmung zu, in welcher ein jeden Augenblick des Daseins erfüllendes Gefühl des unersetz - lichsten Verlustes dem Anblick der Natur, der ländlichen Abgeschiedenheit, dem Geiste selbst eine eigene Weihe giebt. Die Frucht einer solchen, minder trüben als gerührten und feier - lichen Stimmung war eine grosse Zahl von Ge - dichten, alle in einer und derselben Form, de -VI ren Existenz weder mir, noch irgend einem anderen Gliede seiner ihn liebevoll umgebenden Familie bekannt wurde. Er hatte mit dem gerechtesten Vertrauen jeden Abend, mehrere Jahre lang, die Sonette, selbst auf kleinen Rei - sen, Herrn Ferdinand Schulz in die Feder dictirt, dem jetzigen Geheimen Secretär bei der Hauptverwaltung der Staatsschulden. Das Geheimniss, mit dem der Hingeschiedene diese Dichtungen so vorsichtig umgeben hatte, ja die bei mir erregte Besorgniss, dass flüchtigen Erzeugnissen der Phantasie nicht immer eine sorgsame technische Vollendung gegeben wer - den konnte, haben uns doch nicht abgehalten, einen Theil der Sonette Wilhelms von Hum - boldt zu veröffentlichen. Sie sind als ein Ta - gebuch zu betrachten, in dem ein edles, still bewegtes Seelenleben sich abspiegelt.
Alexander von Humboldt.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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