— Sonderbare Zufälle eines vielbewegten Lebens haben mich die Südsee und das Caspische Meer früher als das, meiner Vaterstadt so nahe Baltische Meer beschif - fen lassen. Auf zwei kleinen Fahrten, die ich neuerlich, in sehr nahen Zeitepochen, von Stettin nach Königsberg auf dem Russischen Dampfschiffe Ischora, und von Königs - berg nach Danzig und Stettin auf dem Preußischen Dampf - schiffe Friedrich Wilhelm gemacht, habe ich mich unun - terbrochen mit den Temperaturverhältnissen der Ostsee an der Oberfläche beschäftigt. Das Phänomen einer son - derbaren Erkältung von 9 bis 11 Grad des hundertthei - ligen Thermometers ist mir sehr auffallend gewesen. Viel - leicht sind andere Beobachter glücklicher, die Ursache die - ser plötzlichen Erkaltung zu entdecken. Während die〈…〉〈…〉224 Luft am 24. August zwischen 21°,5 und 24°,6 von 10 Uhr Morgens bis 7 Uhr Abends war, fand ich das Meer bei Swinemünde 23°,2, gegenüber Treptow 20°,3. (Im Haff südlich von Swinemünde 18°,2.) Als wir am 25. das Vorgebirge zwischen Leba und Rixhofter umsegelten, da wo die Küste im Meridian der Insel Gotland am mei - sten hervortritt, fiel plötzlich das Thermometer im See - wasser bis 11°,2 und 12,0 herab (Luft 19°). Wir wa - ren in demselben Abstande von der Küste, 1½ bis 3 See - meilen, 60 auf den Grad gerechnet, geblieben, und die Beobachtungsstunden waren 10½ und 1½ Uhr Morgens und Mittags. Ich gebe diese Zeitbestimmung und die Lufttemperatur an, ob ich gleich wenig an ihren Ein - fluß unter den vorliegenden Verhältnissen glaube. Oest - licher von der Landzunge von Hela stieg wieder die See - temperatur bis 22°,2 um 8 Uhr Abends. (Luft 19°,5.) Diese Wärme des Meeres erhielt sich bis Pillau und Kö - nigsberg, und am Frischen Haff bei Peise war das Meer noch 21°,8. (Luft 20°,5.) Dieselben Erscheinungen zeig - ten sich bei der Rückfahrt. Das Meer, das nahe bei Fahrwasser (8 Uhr Morgens bei 4 Faden Tiefe) am 3. September nur 17°,8 Wärme zeigte, um 9 Uhr im Golf von Danzig (bei 15 Faden Tiefe) 17°,5, erwärmte sich gegen Hela hin bis 21°,4 (Tiefe 17 Faden, Luft 20° bis 21°); und als wir uns dem Vorgebirge zwischen Rixt - hofter und Leba wieder naheten, sank allmälig die Meer - temperatur erst auf 15°,4, dann auf 10°,6. (Luft 17°,5 bis 18°,0; Zeit: Mittag und 3 Uhr Nachmittags.) Der Unterschied der Meerestemperatur auf der Oberfläche war also bei der Hinreise 20°,3 − 11°,2 = 9°,1; bei der Her - reise 21°,4 − 10°,6 = 10°,8. Wie wir uns Stolpe näher - ten, ohne daß die Meerestiefe oder der Abstand vom Ufer verschieden waren, stieg die Meereswärme wieder auf 17° und 18°, obgleich bei hoher See, bei starkem Westwinde und bei einer bis 15° gesunkenen Lufttempe - ratur; gegen Rügenwalde und Swinemünde hin zeigte das
Thermometer gar 20° und 20°,4. Die Ursachen der son - derbaren Erkältung an dem Vorgebirge zwischen Leba und Rixhofter sind nicht Strömungen, bemerkbare auf der Ober - fläche, nicht Untiefen. Der zunehmenden nördlichen Breite ist auch die Erscheinung nicht zuzuschreiben, da man von dem Vorgebirge bei Pillau an meist in demselben Pa - rallelkreise gegen Osten und doch in wärmerem Wasser schifft. Die Ursache liegt vielleicht fern, jenseits des Sundes und in Bewegungen unterer Wasserschichten in obliquer Richtung nach oben, wie Erkältungen in dem Luftmeere oft ähnlichen herabkommenden Strömungen zu - gehören. Da nach Horner's Beobachtungen, im Ocean, unter mittleren Breiten, 100 Faden Tiefe kaum eine Er - kältung von 7°,7 hervorbringen, so wird man wenig ge - neigt, das fragliche Phänomen Local-Ursachen im Bek - ken der Ostsee (die nur 15 bis 40 Faden tief ist) zu - zuschreiben. Das Eindringen von Polarwassern, in tie - fen Wasserschichten des Sundes, bietet sich als mögliche Ursache dar; doch auch die langsame Fortpflanzung der Wärme nach unten muß, bei der diesjährigen hohen Som - mer-Temperatur, beachtet werden. Im Genfer See hat man, wenn die Oberfläche 21°,2 war, schon in 150 Fuß Tiefe 15° Unterschied gefunden, im See von Annecy bei 14°,4 Oberfläche 8°,8 Unterschied (Pouillet, Elem. de Phys. et de Meteorologia, T. II p. 676). Man sieht aus den angegebenen Zahlen, wie das Maaß der Tem - peraturabnahme von verwickeltern Ursachen abhängt, wie die Abnahme in ruhigen Wasserschichten schneller, bei tief bewegteren langsamer ist, wenn nicht etwa Strömun - gen von fern her kälteres Wasser herbeiführen oder gar schief aufsteigen gegen die Ueberfläche.
Das beträchtliche Areal der Ostsee und ihre Er - streckung nach Norden üben einen großen Einfluß aufPoggendorff's Annal. Bd. XXXIII. 15226die Temperaturverhältnisse des nördlichen Deutschlands aus, und geben einem Becken, einer Erdsenkung, Wich - tigkeit, die man ausgetrocknet, bei ihrer geringen Tiefe, kaum bemerken würde. Rennell sagt mit Recht in sei - nem noch so wenig benutzten trefflichen Werke: Inve - stigation of the Currents of the Atlantic Ocean, 1832, p. 25, daß eingeschlossene Meere eine höhere Tempera - tur als unter gleichen Umständen der freie Ocean anneh - men. Capitain Gautier, dem wir gleichzeitig mit Smyth die schöne Aufnahme des Mittelmeeres verdanken, fand den 3. August 1819 und 24. Juni 1820 die Oberfläche des Mittelmeers (Lat 38° 46′ bis 39° 12′) zwischen 29° und 29°½, das ist 3° mehr als die mittlere Temperatur des Antillischen Meeres (Relat. hist. T. III Chap. 29 p. 518), und nur 1° weniger als je mit wohl vergliche - nen Thermometern nahe am Aequator das Meer befun - den worden ist. (Sur la bande d'eau la plus chaude l. c. Chap. 28 p. 498). Sie werden in meinen oben an - geführten Beobachtungen bemerkt haben, wie mächtig die hohe Sommertemperatur der Atmosphäre dieses Jahres auf die Sommertemperatur der Ostsee gewirkt hat. Ich fand auf offnem Meere in der Ostsee bei hohem Wellenschlage (nicht bei Windstille) 22°,2, unfern Swinemünde selbst 23°,2. Als Temperatur des August - und September-Mo - nats giebt Rennell (in seinem Atlas der Strömungen) für das Mittelmeer zwischen den Küsten von Oran, Gre - nada und Murcia 22° und 23°,8 als die gewöhnlichen Maxima des Jahres an, und welch ein Unterschied der umgebenden Feste! Die gewöhnliche Ostseetemperatur im freien und tiefen Meere soll im August 15° bis 17°,5 (also 6° weniger als im August 1834) seyn, während man dann, im (engeren) Sunde, bei Kopenhagen 22° bis 23°,7, und am Kattegat (unter Einwirkung des At - lantischen Oceans) kaum 16°,2 beobachtet. (Berghaus, Annal. Bd. IV S. 142.) In Danzig ist die mittlere Wärme des ganzen Sommers 16°,9, in Königsberg 15°,8, und zwar nach 18 und 21 Jahren vortrefflicher Beobachtun -227 gen. Für Danzig finde ich die mittlere Lufttemperatur des Augusts in den letzten 6 Jahren 16°,7. Ist dieß un - gefähr auch, wie sehr wahrscheinlich, das Medium Maxi - mum der Ostsee, das heißt die Temperatur der Ober - fläche des Meeres am Ende des August-Monats, wo das Maximum des Jahres eintritt, so erkennt man in dieser Zahl wieder den Einfluß der Beschränktheit eines fast mittelländischen Beckens. Da die Wintertemperatur der Ostsee zwischen 1°,7 und 2°,5 fällt, so ist wohl die mitt - lere Temperatur des Jahres in diesem Meere, zwischen 54° und 54°½ Breite, nicht unter 9° (des hunderttheili - gen Thermometers). Auch der scharfsinnige Kämtz fin - det für den Atlantischen Ocean, bei 54° Breite, durch Rechnung 9°,4, durch wirkliche Beobachtungen 10°,5. Für den Atlantischen Ocean nun ist der Unterschied zwi - schen der mittleren jährlichen Temperatur des Wassers und der Augusttemperatur (in der temperirten nördlichen Zone) etwas über 3°. (Kämtz, Lehrbuch der Meteo - rologie, Bd. II S. 115. 118.) In der Ostsee scheint die - ser Unterschied 16°,7 − 9°,2 = 7°,5 zu seyn. Im Mittel - ländischen Meere giebt Rennell für die Süd-Spanischen Küsten 23°½ und 24° für Ende August und Anfang Sep - tember an. Das sind wieder 8° mehr als die mittlere jährliche Temperatur des Meeres in dieser Breite, denn Neapel hat eine Lufttemperatur im Winter von 10°,3. im ganzen Jahre von 16°,8 (Breite 40°51′); Palermo hat, bei 38°6′ Breite, Wintertemperatur 11°,3; jährliche Temperatur 17°,4. Die eingeschlossenen Meere nehmen im Sommer an der Oberfläche eine weit höhere, im Win - ter eine weit niedere Temperatur an als das Weltmeer, und in höheren Breiten, z. B. in der Ostsee, welche noch fern von den Küsten gefriert, wächst die relative Erniedri - gung der Wintertemperatur.
Im September 1834.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Bemerkungen über die Temperatur der Ostsee.
Aus einem Briefe an den Herausgeber. Alexander von Humboldt. . 5 S. 1834. Annalen der Physik und Chemie (33) pp. 223-227.
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